Torben Fischer Judenbilder und literarischer Antisemitismus Bemerkungen zur Forschungsgeschichte Ausgangspunkte und Forschungsimpulse Die Geschichte der Erforschung literarisch vermittelter ,Judenbilder’ reicht weit zurück: Bereits Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts skizzierte Ludwig Geiger unter der weit gefassten Überschrift „Die Deutsche Literatur und die Juden“ die Grundzüge eines bis in die Gegenwart reichenden Forschungsprogramms; 1 sogar schon einige Jahre früher entstand eine erste Studie zu jüdischen Figuren auf dem Theater, der bis heute zahllose Arbeiten nachfolgten.2 Ungeachtet dieser langen Forschungsgeschichte, die hier nur exemplarisch und in aller Kürze vorgestellt werden kann, gehörten die Arbeiten zum „literarischen Antisemitismus“ in den letzten Jahren vielleicht zu den umstrittensten der Literaturwissenschaft überhaupt. Dies gilt spätestens, seitdem sich seit Ende der neunziger Jahre unübersehbar Studien mehrten, die nicht die gut erforschte deutsch-jüdische Literaturgeschichte fokussierten, sondern ausdrücklich den literarischen Imaginationen des und der ,Juden’ in Texten kanonischer deutschsprachiger Autoren nachspürten. Allein im Jahr 1998 erschienen für den Bereich des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts immerhin drei einschlägige Monographien zu Gustav Freytag, Theodor Fontane sowie Thomas und Heinrich Mann.3 Charakteristischerweise waren alle drei genannten Studien außerhalb des universitären literaturwissenschaftlichen Kontextes entstanden und wurden von den etablierten Autorenphilologien – vor allem in der Thomas und Heinrich Mann-Forschung – zumindest reserviert, wenn nicht gar offen ablehnend aufgenommen (oder aber ignoriert). Dabei war das Innovationspotential der Studien kaum von der Hand zu weisen: Martin Gubser stellte die Auseinandersetzung Gustav Freytags mit den Juden als erster zusammenhängend dar und formulierte einen – bei aller naheliegender Kritik – bedenkenswerten Kriterienkatalog zum „literarischen Antisemitismus“ (ein ursprünglich von Mark H. Gelber geprägter Begriff,4 der erst über Gubsers Dissertation Eingang in die deutsche Forschungslandschaft fand). Michael Fleischer widmete sich als einer der ersten eingehend den Kontexten vor allem des privaten Antisemitismus Theodor Fontanes und trug so indirekt zu einer kontroversen, aber äußerst produktiven Untersuchung von antisemitischen Einschlüssen auch im literarischen Werkes Fontanes bei.5 Nicht das geringste Verdienst der Monographie Rolf Thiedes war es schließlich, zu einem der meist gelesenen und interpretierten Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts, den „Buddenbrooks“, eine neue Lesart anzubieten, indem er nachdrücklich auf die jüdische Konnotation der Familie Hagenström – im Roman die neureichen, aufsteigenden Kontrastfiguren zu den Buddenbrooks – hinwies. Gleichzeitig sind die Schwächen aller drei Arbeiten, deren Rezeption und Ausrichtung gleichermaßen charakteristisch für die Forschungslage Ende der neunziger Jahre ist, mit dem zeitlichen Abstand von zehn Jahren nicht von der Hand zu weisen (man denke etwa an das Fehlen systematischer methodischer Überlegungen bei Thiede und Fleischer sowie an den überpointierten analytischen Pragmatismus bei Gubser) – ein 1 deutliches Zeichen dafür, dass die Forschung zu Judenbildern und zum literarischen Antisemitismus an Reflexionsschärfe gewonnen hat. Die Konjunktur von Arbeiten zum Thema seit Ende der neunziger Jahre, die sicherlich nicht zufällig in einen Zeitraum ausgeprägter erinnerungspolitischer Debatten fiel, konnte dabei auf kontinuierliche literaturwissenschaftliche Vorarbeiten seit den achtziger Jahren bauen. Die erscheinenden Sammel- und Tagungsbände dieses Zeitraums waren dabei allerdings nicht selten von einem Nebeneinander von Studien zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte und Arbeiten zur literarischen Imagination ,des Juden’, also dem, was als literarischer Antisemitismus bezeichnet werden könnte, geprägt. So versammelte die wichtige, von Stéphane Moses und Albrecht Schöne herausgegebene Dokumentation eines deutschisraelischen Symposiums Studien zu so disparaten Themenfeldern wie jüdischen Bibelübersetzungen ins Deutsche, jüdischen Autobiographien, zur jüdischen Goetheverehrung vor 1933, zu Kafka, Bloch, Benjamin und Celan;6 enthielt aber mit den Aufsätzen von Mark H. Gelber zum „Judendeutsch in der deutschen Literatur“, von Moshe Zimmermann zur „Literatur im Dienste des Antisemitismus“ und Manfred Karnick zum „,jüdischen Schicksal’ in deutscher Nachkriegsliteratur“ auch weiterführende Arbeiten zum literarischen Antisemitismus.7 Dieses Nebeneinander unterschiedlicher, eher diffus zusammenhängender For- schungsinteressen – hier die Auseinandersetzung mit den Bildern ,des Juden’ in Texten nicht-jüdischer Autoren, dort die Arbeiten zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte – unter der integrativ wirkenden Überschrift „Juden in der deutschen Literatur“ kann, neben der Tendenz zu summarischen, philologisch wenig befriedigenden Überblicksdarstellungen,8 als zentrales Charakteristikum dieser Forschungsphase angesehen werden.9 Markant lässt sich dies auch an der dreibändigen, von Hans Otto Horch und Horst Denkler herausgegebenen Symposiumsdokumentation zur „Conditio Judaica“ beobachten,10 die ihren thematischen Rahmen im Untertitel mit der Trias „Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur“ umriss. Erklärtes Ziel der Herausgeber war es, die Befunde stereotyp-negativer Judendarstellungen durch die Akzentuierung „des positiven Stellenwerts“ des Judentums als „religiöser und ethnisch-sozialer Gemeinschaft im Verlauf der historischen Entwicklung“ zu ergänzen11 und so in ein komplexeres, nicht vorrangig von Auschwitz her gedachtes Gesamtbild der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte zu integrieren. So wichtig und ertragreich diese Erweiterung der Forschungsperspektive auch war: Weitgehend unhinterfragt blieb dabei, ob der implizierte Zusammenhang als ein gleichrangiger und gegenseitiger zu denken wäre oder ob nicht vielmehr die jüdischen Selbstbilder (in Teilen) auf antisemitische Rhetoriken, die letzteren aber (vorrangig) nicht auf ,reale’ Juden, sondern auf von der empirischen Wirklichkeit losgelöst zu betrachtende Vorstellungen von ihnen reagierten. Gleichzeitig verhinderte das Nebeneinander verschiedener, unter dem Oberbegriff des „Juden in der Literatur“ vielleicht vorschnell harmonisierter Forschungsstränge, die Entstehung einer profilierten literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung, deren Notwendigkeit erst in den letzten Jahren – wenn auch noch immer begleitet von heftigen Abwehrbewegungen – in den Fokus rückte.12 Zeitlich wies die Forschung in den achtziger Jahren einen deutlichen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert auf, dessen Bedeutung für die Genese des modernen Antisemitismus es wie 2 keinen anderen Zeitabschnitt dafür prädestinierte, die Rolle der Literatur in diesem Prozess zu untersuchen. Allein zu den beiden fast schon als kanonisch zu bezeichnenden Romanen „Soll und Haben“ von Gustav Freytag und „Der Hungerpastor“ von Wilhelm Raabe erschienen eine Fülle von Arbeiten mit zum Teil disparaten Einschätzungen und Ergebnissen, die allerdings, gerade im Fall Gustav Freytags, die Gemeinsamkeit aufwiesen, einen starken Bezug zwischen den Ansichten und Einstellungen des empirischen Autors und seinen Texten herzustellen.13 Hauptziel der meisten Arbeiten dieser Phase – eine bis in Teile der heutigen Forschung weiterwirkende Kontinuität14 – war es, über literaturwissenschaftliche Analysen von Werken und ihren biographischen und literaturhistorischen Umfeldern zu einer Einschätzung zu gelangen, ob Autor und/oder Werk judenfeindliche Tendenzen nachgesagt werden könnten. Dass diese Frage, anders als in manch älterer Arbeit15 und von gewichtigen Ausnahmen einmal abgesehen,16 in den achtziger Jahren oftmals ablehnend beantwortet wurde, war sicherlich auch dem oben zitierten Bestreben geschuldet, die Geschichte der ,deutsch-jüdischen Symbiose’ nicht nur von ihrem katastrophischen Ende, sondern auch von ihren Möglichkeiten her zu schreiben17 – ein Befund, der daran gemahnt, dass die For- schungsgeschichte des (literarischen) Antisemitismus nicht nur einer wissenschaftlichen Eigenlogik gehorchte, sondern auch an die erinnerungs- und identitätsgeschichtlichen Dynamiken nach 1945 zurückgebunden blieb. Die auch durch literaturgeschichtliche Ausrichtung der Forschung nicht überwundene Autorzentrierung wurde seit Anfang der neunziger Jahre durch das Erscheinen von Studien zu systematischen Aspekten potentiell aufgebrochen; sichtbar wurden dabei nicht zuletzt die bislang häufig vernachlässigten Kontexte, in denen die Aktualisierungen und Fortschreibungen judenfeindlicher Stereotype in den Werken der viel diskutierten Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts standen. So erschloss Florian Krobb in einer Pionierarbeit das Motiv der ,schönen Jüdin’ in literarischen Texten vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert18 und unterstrich in seiner materialreichen Studie, die fast vierzig verschiedenen Romanen und Erzählungen Analysen widmete, den extensiven literarischen Rekurs auf die in sich widersprüchliche Figur.19 Matthias Richter legte 1995 eine Arbeit zur „Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933)“ vor, die bis heute das konkurrenzlose Standardwerk zu diesem wichtigen Thema darstellt.20 Richter vermochte in seiner sprach- und literaturwissenschaftlichen Studie nicht nur zu zeigen, welche Bedeutung der Sprache als zentralem Markierungsmerkmal jüdischer Figuren in literarischen Texten zukommt, wegweisend war vor allem sein konsequenter Bruch mit dem Ansatz älterer Arbeiten, ,jüdische’ Spracheigentümlichkeiten in literarischen Texten (vielleicht als Konsequenz der Fokussierung auf ,realistische’ Erzählkonzepte) über einen Abgleich mit den Sprechweisen von Juden in der außerliterarischen Wirklichkeit zu analysieren.21 Richters Begriff des „Literaturjiddischen“22 trägt demgegenüber der Fiktionalität der betrachteten literarischen Werke Rechnung und verweist zudem auf den wichtigen Umstand, dass für die Bewertung abweichenden Sprechens von literarischen Figuren der Abgleich mit den historischen Sprachrealitäten nur von bedingtem Aussagewert ist; vielmehr können lexikalische, syntaktische oder phonetische Abweichungen (oder aber deren Beschreibung auf der Ebene des Erzählerkommentars) auch und gerade dann Teil von Strategien der Sympathielenkung sein, wenn sie von den faktua3 len historischen Sprechgewohnheiten abweichen. Richters Arbeit besaß zudem den Vorzug, zu den wenigen Studien dieser Forschungsphase zu gehören, die dezidiert auch den Funktionen der möglicherweise antisemitischen Zuschreibungen nachgingen und die Analyse nicht mit Nachweis ihres Vorhandenseins abbrachen; eine Leitfrage, die dann in der Arbeit Mona Körtes zum „Ewigen Juden in der literarischen Phantastik“, wenn auch mit deutlich anderem methodischen und inhaltlichen Zugriff, weiterverfolgt wurde.23 Erklärtes Ziel der Arbeit von Körte war es, die verschiedenen literarischen Adaptionen des Ahasverus-Motives nicht vordergründig auf ihre jeweiligen antisemitischen Fortschreibungen, sondern auf ihre „poetologischen Möglichkeiten“ hin zu befragen, um so dem „alternativen Bedeutungsraum der Figur“ nachzuspüren.24 Körtes Studie zeigte damit erstmalig einen Weg auf, literarische Tradierungen antisemitischer Mythen ohne Rekurs auf einen motivgeschichtlichen Zugriff zu analysieren und bot damit zugleich der in den letzten Jahren verstärkten Selbstreflexion der Forschung zum literarischen Antisemitismus wichtige Anregungen. Desiderate und Perspektiven Die Feuilletondebatten um Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers (2002/2005)25 und um Klaus Brieglebs Streitschrift zur Gruppe 47 (2003)26 haben auf die Forschungen zum Phänomen des literarischen Antisemitismus zweifelsohne stimulierend gewirkt. Die Diskussionen verschärften noch einmal wie unter einem Brennglas die konträren Einschätzungen hinsichtlich der Relevanz und sogar der Berechtigung des Forschungsfeldes, die von der Forderung nach einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung bis hin zu einer vollständigen Ablehnung reichen. Nach wie vor gilt die Fiktionalität und Poetizität literarischer Texte manchen Literaturwissenschaftlern als immanenter Schutz vor ideologischer Verbrämung, sieht sich die Literaturwissenschaft in Teilen vorrangig der Bewahrung der Literatur vor den allzu schnellen Anfeindungen der modernen Mediengesellschaft und ihrer auf Publizität und Skandalisierung schielenden Debattenkultur verpflichtet.27 Dieser verbreiteten Ansicht hat Klaus-Michael Bogdal jüngst überzeugend entgegnet, dass gerade die Funktion der Literatur, alternative, mögliche Welten zu schaffen und damit einen gesellschaftlich geschützten Kommunikationsraum zu eröffnen, in dem gegenläufige Diskurse ihren Platz haben, die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Entwürfen erforderlich werden lässt: Nur so lange Literatur in diesem Sinne als Medium einer gesellschaftlichen Selbstverständigung dient, hat sie ihre Berechtigung noch nicht verloren – dies macht aber eine kritische und nicht bloß hagiographische Rezeption auch und gerade von zeitgenössischer Literatur erforderlich.28 Aus diesem einsichtigen Grund ist das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung zwingend weiter zu entwickeln. Eine entscheidende Bedeutung wird in der weiteren Ausformulierung dieses Forschungsfeldes die Frage haben, ob es gelingt, die widerstreitenden, meist implizit bleibenden Leitvorstellungen der Forschung zu einem sinnvollen Ganzen zu integrieren: Das methodisch oft nicht unproblematische Bestreben, zu klaren Bewertungen zu gelangen und literarische Texte auf ihren Beitrag zum antisemitische Diskurs hin zu befragen, steht der Fiktionalität der literarischen Texte und ihrem unbestreitbaren Vermögen, Zuschreibungen zu konterkarieren und „Ideologeme im Spiel der poetischen Reflexion in der Schwebe zu halten“,29 potentiell entgegen. Weder sollte sich die literaturwis4 senschaftliche Forschung auf die oben skizzierte Position eines Irrglaubens an die unbeschränkte Immunität ästhetischer Formationen zurückziehen (und so gleichzeitig einen Beitrag der Literaturwissenschaft zu einer kritischen Antisemitismusforschung negieren) noch sollte die Poetizität und Fiktionalität literarischer Texte im bloßen Nachweis stereotyper Zuschreibungen vorschnell vernachlässigt werden. Als Teil dieses Programms könnte es sich als sinnvoll erweisen, den nach wie vor ubiquitären Rückbezug des Textes auf den empirischen Autor zugunsten stärker diskursanalytisch operierender Ansätze aufzugeben,30 womit nicht zwangläufig verbunden sein müsste, den „Autor aus der Verantwortung zu entlassen“,31 sondern die Möglichkeit zu eröffnen, Fragen nach der individuellen Verantwortung schöpferischer Subjekte um solche gesellschaftspolitischer Dimension jenseits intentionaler Kurzschlüsse zu erweitern. Zugleich wäre die literaturwissenschaftliche in das Projekt einer kulturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung zu integrieren, die auf der Basis der breiten historiographischen Forschungsbefunde den fiktionalen, ästhetischen und bildlichen Figurationen des ,Jüdischen’ nachzugehen hätte. Dabei sollten die Impulse der kulturgeschichtlich interessierten Sprachwissenschaft, die sich schon in der Vergangenheit als fruchtbar erwiesen,32 ebenso aufgegriffen werden wie die bildwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Arbeiten zur diskursiven Hervorbringung ,des Juden’, vor allem insoweit sie sich mit der Konstruktion des ,jüdischen Körpers’ beschäftigen, an der die Literatur historisch ebenso Teil hatte wie die populäre Bildpublizistik.33 Dies hieße nicht notwendigerweise, hinter die berechtigte Kritik an der Dominanz motivgeschichtlicher Arbeiten zurückzufallen, die tatsächlich der Gefahr erliegen, judenfeindliche Zuschreibungen ungewollt zu perpetuieren.34 Eine wissenschaftliche Erforschung der ,Judenbilder’ in fiktionalen Kontexten dürfte diese nicht länger als stabile und unwandelbare ,Bausteine des Antisemitismus’ ansehen (und so der Gefahr erliegen, sie tendenziell in die ästhetischen Erzeugnisse hinein zu projizieren), sondern müsste auch den Wirkungen ihrer diskursiven Wandlungen und literarischen Aktualisierungen nachspüren. Naheliegend wäre es zudem, stärker als bislang geschehen auf die Ergebnisse und Befunde der Interkulturalitätsforschung zurückzugreifen, um zu einer präziseren Bestimmung der spezifischen Alterität ,des Juden in der Literatur’ in den jeweiligen Texten und Kontexten zu gelangen. Kaum minder profitieren könnte eine literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung zudem von einer stärkeren Reflexion ihrer eigenen disziplinären Grundlagen; insbesondere die in den letzten Jahren vorangetriebenen kulturwissenschaftlichen und kontextorientierten Ansätze in der Erzähltheorie bieten hier die Chance, die immanenten methodischen Probleme auf neuer Basis zu reflektieren.35 Eine nicht zu unterschätzende Problematik in der Ausformulierung einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung besteht sicherlich in der Tatsache, dass die für das Forschungsgebiet einschlägigen Arbeiten sich an den unterschiedlichsten Autoren und Zeiträumen abarbeiten – gerade die vermeintlichen Spezialstudien zu einzelnen Autoren aber waren es, die in den letzten Jahren das größte Innovationspotential bargen und die richtungsweisend für die Weiterentwicklung der Forschung wirken könnten. So entstanden in letzter Zeit, anders als den neunziger Jahren, kaum noch systematische Monographien zu übergeordneten Aspekten, dafür aber eine Reihe programmatisch zu verstehender Studien allein in der Thomas Mann-Forschung: So unterschiedlich die Ansätze und Ergebnisse dieser 5 Arbeiten vor allem von Heinrich Detering und Yayha Elsaghe auch sind, eint sie doch das gemeinsame Bestreben, die Auseinandersetzung mit dem Komplex des ,Jüdischen’ im Werk Thomas Manns als Teil eines literarischen Reflexionsprozesses zu verstehen, der bei Elsaghe stärker kontextualisierend und wertend auf die diskursiven Ausschlussmechanismen hin befragt wird, bei Detering dagegen vorrangig als Teil einer werkimmanenten Selbstreflexion verstanden wird.36 Auch wenn der (forschungs-)politische Rahmen der beiden Studien ein grundsätzlich anderer ist – „ideologiekritische Relektüre“ bei Elsaghe,37 Erhellung einer „zentrale[n] und produktive[n] Denkfigur“ bei Detering38 – gelingt es doch beiden Ansätzen mit je unterschiedlicher Akzentsetzung auf beeindruckende Art und Weise, die Auseinandersetzung mit dem Komplex des ,Jüdischen’ nicht nur in ihrer poetologischen und identitätsstiftenden Funktionalität, sondern auch in der Verschränkung mit anderen Konstruktionen von Alterität vorzuführen. So verstandene literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung müsste nicht nur – und vielleicht nicht einmal vorrangig – darauf abzielen, bei Fragen nach antisemitischen Intentionalitäten (auf der Text- oder Autorebene) zu möglichst klaren Ergebnissen zu gelangen, sondern hätte den Blick zu schärfen für die spezifisch literarischen Reflexions- und Ausschlussprozesse, die mit den ,Figurationen des Jüdischen’ einhergehen. Neben das Erkenntnisinteresse, ob es sich um einen antisemitischen Text (oder Autor) handelt, müsste der Versuch treten, zu bestimmen, welchen literarischen Reflexionsraum der Komplex des ,Jüdischen’ eröffnet und mit welchen anderen werkimanenten oder außerliterarischen Konstruktionen er in Beziehung gesetzt wird. Die pragmatische Frage nach möglicherweise antisemitischen Strukturen wäre so durch die hintergründige nach der literarischen Produktivität der erzählerischen Imagination des ,Anderen’ bzw. ,Eigenen’ zu ergänzen. 1 Ludwig Geiger: „Die Deutsche Literatur und die Juden“, Berlin 1910; Herbert Carrington: „Die Figur des Juden in der dramatischen Literatur des XVIII. Jahrhunderts“, Heidelberg 1897. – 2 Vgl. exemplarisch Hans-Joachim Neubauer: „Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert“, Frankfurt am Main, New York 1994; Anat Feinberg: „Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama“, Köln 1988 sowie zusammenfassend Hans-Peter Bayerdörfer: „Judenrollen und Bühnenjuden. Antisemitismus im Rahmen theaterwissenschaftlicher Fremdheitsforschung“, in: Mona Körte, Werner Bergmann (Hg.): „Antisemitismusforschung in den Wissenschaften“, Berlin 2004, S. 315-351. – 3 Vgl. Martin Gubser: „Literarischer Antisemitismus. Studien zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts“, Göttingen 1998; Michael Fleischer: „,Kommen Sie Cohn.’ Fontane und die ,Judenfrage’“, Berlin 1998; Rolf Thiede: „Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann“, Berlin 1998. – 4 Mark H. Gelber: What is Literary Antisemitism?“, in: „Jewish Social Studies“ 47 (1985), H. 1, S. 1-20. – 5 Vgl. meine Sammelrezension „Theodor Fontane, das Fremde und die Juden“, in: „Historische Literatur“ 3 (2005), H. 2, S. 142-146. – 6 Stéphane Moses, Albrecht Schöne (Hg.): „Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-isralisches Symposium“, Frankfurt am Main 1986. – 7 Vgl. Mark H. Gelber: „Das Judendeutsch in der deutschen Literatur. Einige Beispiele von den frühesten Lexika bis Gustav Freytag und Thomas Mann“, in: ebd., S. 162-178. Moshe Zimmermann (1986): „,Lessing contra Sem.’ Literatur im Dienste des Antisemitismus“, in: ebd., S. 179-194. Manfred Karnick (1986): „Die größere Hoffnung. Über ,jüdisches Schicksal’ in deutscher Nachkriegsliteratur“, in: ebd., S. 366-386. – 8 Vgl. Christiane Schmelzkopf: „Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945“, Hildesheim 1983; Margit Frank: „Das Bild des Juden in der deutschen Literatur im Wandel der Zeitgeschichte“, Freiburg 1987; Gustav Kahrs: „Das Bild des Juden in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“, Freiburg 1988. – 9 Vgl. als weiteres Beispiel für diese Tendenz Herbert A. Strauss, Christhard Hoffmann (Hg.): „Juden und Judentum in der Literatur“, München 1985. Erkennbar in der gleichen Tradition steht noch der von Willi Jasper et al. herausgegebene Band „Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur“, Wiesbaden 2006, der über zwanzig Jahre später den gleichen Titel wie der von Strauss und Hoffmann verantwortete Band trägt, sowie Willi Jasper: „Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos“, Berlin 2004 oder auch Ursula Schulze (Hg.): „Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen“, Tübingen 2002. – 10 Hans Otto Horch, Horst Denkler (Hg.): „Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und 6 deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg“, 2 Bde. Tübingen 1988/1989; Dies. (Hg.): „Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938“, Tübingen 1993. – 11 Ebd., Bd. 1, S. VIII. – 12 Vgl. zuletzt Klaus-Michael Bogdal et al. (Hg): „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz“, Stuttgart, Weimar 2007 sowie die programmatischen Aufsätze von Mona Körte: „Das ,Bild des Juden in der Literatur’. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung“, in: „Jahrbuch für Antisemitismusforschung“ 7 (1998), S. 140-150; „,Juden und deutsche Literatur’. Zu den Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik“, in: Dies., Werner Bergmann (Hg.): „Antisemitismusforschung in den Wissenschaften“, Berlin 2004, S. 353-375; Matthias N. Lorenz: „Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung“, in: „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ 59 (2007), H. 2, S. 142-154. – 13 Vgl. nur für diesen Zeitraum Hartmut Steinecke: „Gustav Freytag: Soll und Haben (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers“, in: Horst Denkler (Hg.): „Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen“, Stuttgart 1980, S. 138-152; Dieter Arendt: „,Nun auf die Juden!’ Figurationen des Judentums im Werk Wilhelm Raabes“, in: „Tribüne“ 19 (1980), H. 74, S. 108-140; Michael Schneider: „Apologie des Bürgers. Zur Problematik von Rassismus und Antisemitismus in Gustav Freytags Roman ,Soll und Haben’“, in: „Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft“ 25 (1981), S. 385-413; Leif Ludwig Albertsen: „Der Jude in der deutschen Literatur 1750-1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag“, in: „Arcadia“ 19 (1984), H. 1, S. 20-33; Hans Otto Horch: „Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe“, in: Strauss, Hoffmann (Hg.), „Juden und Judentum“, a.a.O., S. 140-171; Gelber, „Judendeutsch“, a.a.O.; Michael Schmidt: „Juden und ,unehrliche Leute’ im Werk Wilhelm Raabes“, in: Ders., Rainer Erb (Hg.): „Antisemitismus und Jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss“, Berlin 1987, S. 381-405; Egon Schwarz: „Das Bild der Juden in deutschen und französischen Romanen des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, in: Jürgen Kocka (Hg.): „Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich“, Band 2, München 1988, S. 421-450 (zu Freytag, Raabe und von Polenz); Klaus Christian Köhnke: „Ein antisemitischer Autor wider Willen. Zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben“, in: Horch, Denkler (Hg.), „Condito Judaica“, a.a.O., Bd. 2, S. 130-147; neuere Studien zu „Soll und Haben“ versammelt der von Florian Krobb herausgegebene Band „150 Jahre ,Soll und Haben’“, Würzburg 2005. – 14 Vgl. etwa die 2002 publizierte, vollständig unreflektierte und autorzentrierte Arbeit von Hannah Burdekin: „The Ambivalent Author. Five German Writers and their Jewish Characters, 1848-1914”, Oxford u.a. – 15 Vgl. v.a. die wichtige Studie von Hans Mayer: „Aussenseiter“, Frankfurt am Main 1975, S. 311-458; ferner George L. Mosse: „Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a ,Third Force’ in Pre-Nazi Germany”, London 1970; Pierre Angel: “Le personnage juif dans le Roman allemand (1855-1915)”, Paris u.a. 1973; Alfred D. Low: „Jews in the Eyes of the German. From the Enlightenment to Imperial Germany, Philadelphia 1979. – 16 Vgl. die einflussreichen Aufsätze zum literarischen Antisemitismus vor und nach 1945 von Ruth Klüger, später versammelt in „Katastrophen. Über deutsche Literatur“, Göttingen 1994. – 17 Vgl. programmatisch auch Hans Otto Horch: „Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der ,Allgemeinen Zeitung des Judentums’ (1837-1922), Frankfurt am Main u.a.1985, S. 240f. – 18 Florian Krobb: „Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg“, Tübingen 1993, vgl. als neuere, wenn auch weniger ertragreiche Arbeit zu diesem Themengebiet auch Elvira Grözinger: „Die Schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur“, Berlin 2003, S. 7-28. – 19 Gegen Krobbs Arbeit ließe sich allerdings nicht ganz zu Unrecht die von Mona Körte mehrfach pointiert formulierten Vorbehalte gegen motivgeschichtlichen Zugängen wenden. Die schiere Fülle der analysierten Romane und Erzählungen macht in Krobbs Zugriff eine differenzierte Analyse der literarischen Einzeltexte unter Einbezug ihrer spezifischen poetischen Eigenheiten nahezu unmöglich, auch wenn seine Arbeit über ein reine Deskription der Judenbilder hinaus geht (vgl. Mona Körte, ,Bild des Juden in der Literatur’, a.a.O.; Dies., ,Juden und deutsche Literatur’, a.a.O.). – 20 Matthias Richter: „Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Funktion“, Göttingen 1995. – 21 Vgl. etwa Peter Althaus: „Soziolekt und Fremdsprache. Das Jiddische als Stilmittel in der deutschen Literatur“, in: „Zeitschrift für deutsche Philologie“ 100 (1981), S. 212-232. Gelber, „Judendeutsch“, a.a.O. – 22 Vgl. Richter, „Sprache jüdischer Figuren“, a.a.O., S. 95-115. – 23 Mona Körte: „Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik“, Frankfurt am Main, New York 2000. – 24 Ebd., S. 18, 21. – 25 Vgl. aus der Fülle der Literatur hier nur Matthias N. Lorenz: „,Auschwitz drängt uns auf einen Fleck’. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser“, Stuttgart, Weimar 2005. – 26 Klaus Briegleb: „Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: ,Wie antisemitisch war die Gruppe 47?’“, Berlin 2003. 27 Vgl. etwa Dieter Borchmeyer, Helmuth Kiesel (Hg.): „Der Ernstfall. Martin Walsers ,Tod eines Kritikers’“, Hamburg 2003. 28 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung“, in: Ders. et al. (Hg.): „Literarischer Antisemitismus“, a.a.O., S. 5f. – 29 Vgl. hierzu die instruktiven Hinweise ebd., S. 9-12. – 30 Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten, a.a.O., S. 324. – 31 Mona Körte: „Judaeus ex machina und ,jüdisches perpetum mobile’. Technik oder Demontage eines Literarischen Antisemitismus, in: Bogdal et al. (Hg.), „Literarischer Antisemitismus“, a.a.O., S. 67. – 32 Vgl. Nicoline Hortzitz:„,Früh-Antisemitismus“ in Deutschland (1789-1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, Tübingen 1988; Dies.: „Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450-1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, Heidelberg 2005; Dietz Bering: „Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812-1933, Stuttgart 1987; Ders.: „Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels“, Stuttgart 1991 sowie jüngst die umfassende und 7 ertragreiche Studie von Hans Peter Althaus: „Mauscheln. Ein Wort als Waffe“, Berlin, New York 2002. – 33 Vgl. aus der Fülle der einschlägigen Literatur Sander L. Gilman: „The Jew’s Body“, New York u.a. 1991; Ders. et al. (Hg.): „Der ,schejne Jid’. Das Bild des ,jüdischen Körpers’ in Mythos und Ritual“, Wien 1998; Michaela Haibl: „‚Zerrbild als Stereotyp’. Visuelle Darstellungen von Juden zwischen 1850 und 1900“, Berlin 2000; Julia Schäfer: „Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933“, Frankfurt am Main, New York 2005. Die intermediale Dimension der Konstruktion ,des Juden’ ist bislang gleichwohl nur in Ansätzen erforscht; insbesondere zur Filmgeschichte fehlen systematische Arbeiten. – 34 Vgl. Anm. 19. – 35 Dies kann hier nur angedeutet werden; viele der neueren, kontextorientierten Ansätze der Erzähltheorie sind in zwei von Ansgar und Vera Nünning herausgegebenen Bänden versammelt: „Neue Ansätze in der Erzähltheorie“, Trier 2002 und „Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär“, Trier 2002; weiterführende Ansätze zu einer „Narratologie des Antisemitismus“ formuliert Franka Marquardt: „Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften“, Münster u.a. 2003, insb. S. 27-38. – 36 Vgl. Yahya Elsaghe: „Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ,Deutsche’“, München 2000, v.a. aber Ders.: „Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen“, Köln u.a. 2004; Heinrich Detering: „,Juden, Frauen, Litteraten’. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann“, Frankfurt am Main 2005; einen Überblick über die neueren Positionen der Thomas Mann-Forschung vermittelt der von Manfred Dierks und Ruprecht Wimmer herausgegebene Tagungsband „Thomas Mann und das Judentum“, Frankfurt am Main 2004. – 37 Elsaghe, „Thomas Mann“, a.a.O., S. 1. – 38 Detering, „,Juden’“, a.a.O., S. 187. 8