Fall Meyer-Fürst, (neues verurteilendes Bezirksgerichtsurteil). Dazu

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A Verdeckte Recherche
Verdeckte Recherche – wenn schon, dann mit Augenmass
Gerichte sollten auch die Wächterfunktion der Medien berücksichtigen
Von Peter Studer*
Inhaltsübersicht
Einleitung
I.
Vertrauensprinzip und Kontrollprinzip als normative Grundlagen
A. Das Vertrauensprinzip, ein gesellschaftlicher und juristischer Grundwert
1. Die "kommunikative Wende" in der Diskursethik
2. Das Vertrauensprinzip in der Rechtsauslegung
B. Das Kontrollprinzip, "Wachhunde der Demokratie" – eine Funktion der Medien
C. Um welche Normen des schweizerischen Rechts geht es?
1. Rechtsnormen im Strafgesetz (StGB)
2. Rechtsnormen im Zivilgesetzbuch (ZGB)
3. Normen freiwilliger Selbstregulierung (Journalistenkodex des Schweizer Presserats)
II. Neuere schweizerische Gerichtsurteile und Stellungnahmen des Schweizer Presserats
A. Bundesgerichtsurteil vom 7. 10. 2008, BGE 6B_225/2008
("Versicherungsvertreter")
1. Sachverhalt und Begründung
2. Kommentare
B. Bundesgerichtsurteil vom 16. 5. 2001, BGE 127 IV 166 ("Grenzübertritt")
C. Bezirksgericht Zürich, Einzelrichteramt, Urteil vom 28. 5. 2009
("Schönheitschirurgen")
Exkurs: Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 15. 1. 1984,
BVerfG 1 BvR 272/81 ("Wallraf-Urteil")
D. Stellungnahme des Schweizer Presserats 51/2007 ("Schönheitschirurgen")
E. Stellungnahme des Schweizer Presserats 50/2005 ("Klosterbeichte")
III. Zusammenfassung und Vorschlag
__________________________________________________________________________
* Dr. iur., Dr. iur. h.c., Rechtsanwalt. Ehemaliger Chefredaktor des "Tages-Anzeigers"
(1978/87) und des Schweizer Fernsehens SF (1989/99). Präsident des Schweizer Presserats
(2001/07). Autor von Medienrecht für die Praxis (mit Rudolf Mayr von Baldegg), 3. Aufl.
2006, und zahlreicher Aufsätze.
1
Einleitung
In den Jahren seit 2000 hat die Praxis der verdeckten journalistischen Recherche nicht nur
Redaktionen und Presserat – die freiwillige medienethische Selbstregulierung der
Journalistenverbände - , sondern auch die Gerichte beschäftigt. Ein Bundesgerichtsurteil aus
dem Jahr 2008, das heftige Diskussionen ausgelöst hat, liegt vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg (BGE 6B_225/2008).1 Dieses Urteil
soll hier im Kontext dargestellt werden ("Versicherungsvertreter", unten II A). Ein anderes ist
erst von einem Einzelrichter beurteilt worden und wird sich wohl auf dem Rechtsweg
verfolgen lassen ("Schönheitschirurgen", unten II B).
Bei der Recherche geht es darum, "Aussagen über reales Geschehen" zu beschaffen und zu
beurteilen, "die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden". Der
recherchierende Journalist "fragt, er bohrt, er geht den Geschehnissen auf den Grund".2
"Verdeckt" nennt die Branche eine Recherche dann, wenn sie mit einem Täuschungsmanöver
einher geht: Der Reporter tarnt seine Identität und seinen Beruf; er schlüpft in die Rolle eines
andern, um Informationen zu erlangen, die er als deklarierter Medienrechercheur kaum
bekäme.
Es gibt eher harmlose Fälle im Fernsehunterhaltungsbereich: Die von Kurt Felix zelebrierte
"Versteckte Kamera" hat Publikumsangehörige oder Prominente in fingierten Situationen
gefilmt, sie in einer Samstagabendsendung vorgeführt und hernach die verlegen mitlachenden
Betroffenen live vorgestellt. Als "Rechtssuchende" getarnte Journalisten der
Konsumentenzeitschrift "Beobachter" stellten Anwälten knifflige Fallfragen und publizieren
hernach ihre Rangliste mit Namen. Ein SF-Reporter gewann den Präsidenten der SVP dafür,
mit einem unauffälligen Mikrofon am Revers die Gespräche im und um den Nationalratssaal
aufzuzeichnen; das Parlamentsbüro reklamiert; der Sender entschuldigt sich. Wir lassen diese
und weitere Konstellationen beiseite, um uns der "versteckten Kamera" und den beiden
erwähnten Gerichtsfällen zuzuwenden.
Der kritische Konsumentenjournalismus hat sich der "versteckten Kamera" oft bedient, um
Handwerker in einer präparierten Wohnung zu testen und zu filmen. Die verfremdete
Darstellung eines von "Kassensturz" verdeckt gefilmten Versicherungsberaters löste den
erwähnten Bundesgerichtsentscheid aus (unten II A). Die anonymisierte "Miss Aargau" als
Lockvogel – begleitet von einer als "Freundin" getarnten "Kassensturz"-Reporterin mit
versteckter Kamera – liess Schönheitschirurgen zu wohl kaum nötigen Eingriffen raten (unten
II C). Inzwischen hat der Chefredaktor des Schweizer Fernsehens SF Recherchen mit
versteckter Kamera vorläufig untersagt.
Welche Rechts- und Ethikfragen stellen sich? Wie sind die einschlägigen Gerichtsurteile zu
bewerten? Die Interessenabwägung ist oft vertrackt. Letzlich geht es um Vertrauen und
Misstrauen, um echte oder angebliche Übelstände und deren Aufklärung, um Privatsphäre und
deren nötige oder leichtfertige Bedrohung.
1
2
Unten II A.
HALLER, Recherchieren, 5; zweiter Satz aus Hallers früherer Auflage, zit. bei RUSS-MOHL, Journalismus, 140.
2
I.
Vertrauensprinzip und Kontrollprinzip als normative Grundlagen
A.
Das Vertrauensprinzip, ein gesellschaftlicher und juristischer
Grundwert
Wo finden wir das Vertrauensprinzip im gesellschaftlichen Bereich? Der Rechtsphilosoph
JÖRG PAUL MÜLLER hat belegt, wie die auf Einzelsubjekte bezogene ethische Argumentation
von IMMANUEL KANT in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ersetzt wurde: JÜRGEN
HABERMAS, KARL-OTTO APEL und KARL JASPERS vollzogen eine "kommunikative Wende",
indem sie den Blick vom "isolierten Subjekt" lösten und auf die Gemeinschaft, auf die
"Zwischenmenschlichkeit" richteten. Statt des kategorischen Imperativs als verpflichtender
Norm des Einzelnen liefern Dialoge und Diskurse – soweit richtig geführt – die Masstäbe
sozialer Normierung.3 Zentrales Thema ist die Formulierung von Diskursregeln, die sich
durch "Anerkennung und Ernstnehmen der andern Gesprächsteilnehmer" auszeichnen.
"Grund der Bindungswirkung von Verständigungen ist das Vertrauen, das solidarische
Menschen in die – expliziten oder impliziten - Zusicherungen der andern setzen dürfen"
(Vertrauensprinzip).4 Gewaltfreiheit und Wahrhaftigkeit bilden die Basis solchen Vertrauens.
"Wahrhaftig sind die Äusserungen eines Sprechers, wenn er weder sich noch andere
täuscht…man kann Wahrhaftigkeit nicht begründen, sondern nur zeigen".5
Nach dem so definierten diskursethischen Vertrauensprinzip wären die "Täuschungsmanöver"
(vgl. oben, Einleitung), die mit der verdeckten Recherche einhergehen, in der
gesellschaftlichen Lebenswelt zum vorneherein illegitim. Der verdeckt operierende
massenmediale Rechercheur gibt ja bewusst vor, ein anderer zu sein, als er ist. Bleibt
abzuklären, ob solche Illegitimität zum Schutz höherrangiger Werte im Einzelfall "heilbar"
sein könnte.
Im rechtlichen Bereich finden sich auf oberster Ebene deutliche Bekenntnisse zum
Vertrauensprinzip. Sie richten sich an Staat und Private: "Staatliche Organe und Private
handeln nach Treu und Glauben" (Art. 5 III und – als individueller Anspruch – Art. 9 BV).
Seit über hundert Jahren gilt die "fundamentale Rechtsregel"6 von Art. 2 II ZGB für alle
Rechtsbereiche:
Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und
Glauben zu handeln.
Dieser Grundregel, die sich in den meisten Rechtsordnungen findet, entspricht das Verbot des
"offenbaren Rechtsmissbrauchs" (Art. 2 III ZGB). Für unsere Sachverhalte heisst das: Man
kann sich nicht einfach auf die Medienfreiheit berufen, um täuschende Recherchepraxis zu
begründen. Das Gebot von Treu und Glauben "tritt bei der Rechtsausübung stets zu den
konkreten Bestimmungen hinzu und verlangt ein 'anständiges Verhalten ' ".
Laut Bundesgericht ist die Willenserklärung einer Partei - dazu gehört auch die
Bitte um ein Recherchegespräch – "so auszulegen, wie sie vom Empfänger in guten Treuen
verstanden werden durfte".7 Nach dem Motto der informationellen Selbstbestimmung muss
3
J.P. MÜLLER, Demokratische Gerechtigkeit, 53 ff mit zahlreichen Quellenhinweisen.
J.P. MÜLLER, Demokratische Gerechtigkeit, 72.
5
Zitate von Habermas in J.P. MÜLLER, Demokratische Gerechtigkeit, 66.
6
FORSTMOSER, Einführung, 233
7
FORSTMOSER, Einführung, 236; BGE 113 II 50.
4
3
jedes Individuum bestimmen können, mit wem und unter welchen Bedingungen es
kommuniziert.
B
Das Kontrollprinzip."Wachhunde der Demokratie" – eine Funktion
der Medien
Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt in ihrem umfangreichen Art. 10 die
Kommunikationsfreiheiten in besonderem Masse – nämlich die Freiheit der
Meinungsäusserung, die Informationsfreiheit, die Kommunikation durch Massenmedien
sowie Teile der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.8 Staatliche Eingriffe in die
Kommunikationsfreiheiten sind zwar möglich (Art. 10 II EMRK), doch vor allem hinsichtlich
der Medienfreiheit nur unter strengen Bedingungen. Denn der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) schreibt den Massenmedien eine besondere Rolle zu: Mit der
Medienfreiheit korrespondiert ein Recht der Öffentlichkeit, informiert zu werden; und in ihrer
funktionalen Rolle als "public watchdog" sind Presse, Radio und Fernsehen hier die
bedeutendsten Akteure. Enge Grenzen zieht der EGMR der Vorzensur ("prior restraints");
aber auch nachträgliche Eingriffe dürfen aktives Rechercheure nicht abschrecken ("chilling
effect"). Anderseits pocht der EGMR auch immer wieder auf die Pflichten und
Verantwortlichkeiten, die den Massenmedien obliegen. Die Rechte anderer sind zu schützen;
bei der Interessenabwägung fällt auch die Art der Darstellung ins Gewicht. 9
Das Schweizerische Bundesgericht und die herrschende Lehre haben die
Kommunikationsfreiheit der Bundesverfassung seit jeher im Lichte der Kontrollfunktion
interpretiert (heute Art. 16 – Meinungs- und Informationsfreiheit; Art. 17 - Medienfreiheit,
Zensurverbot; Art. 93 III – Unabhängigkeit und Programmautonomie für Radio und
Fernsehen). Bereits 1911 schrieb das Bundesgericht, es gehöre zur Aufgabe der Presse, über
Staatsverwaltung und Staatsfinanzen "Aufschluss zu verlangen". Die Wächterfunktion bezieht
sich aber "auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens und umfasst neben ökonomischer und
gesellschaftlicher insbesondere auch politische Macht".10 Daraus könnten sogar einzelne
Journalisten einen subjektiven Anspruch auf Information ableiten – das sei ein "notwendiger
Reflex" der Wächterfunktion des Mediensystems.11
In der Regel berufen sich aber beide Seiten auf die Bundesverfassung: Individuum oder
Unternehmen pochen auf den ihnen zugesicherten Schutz ihrer Privatsphäre (Art. 13 BV);
Journalisten und Medienhäuser auf Medienfreiheit und "Wächterfunktion" (Art. 16 f BV). Am
Richter ist es dann, die Interessenabwägung im Einzelfall, bezogen auf den gesetzlichen
Persönlichkeits- und Ehrenschutz, in aller Sorgfalt vorzunehmen. Noch besser wäre es
freilich, wenn die Journalistinnen und ihre Kader das schon selber bei der Vorbereitung ihrer
Berichte täten.
Die schweizer Gerichte haben 2008/2009 den Einsatz der versteckten Kamera durch die
Anwendung an sich begründeter Bedingungen so gut wie verboten. Angesichts der verpönten
"prior restraints" und "chilling effects" wird in der Folge zu prüfen sein, ob diese
Einschränkung mit der schweizerischen und europäischen Grundrechtspraxis vereinbar ist.
8
GRABENWARTER, EMRK, RZ 23/1.
GRABENWARTER, EMRK, Rz. 23/46
10
BGE 37 I 381 ("Murtenbieter"); MÜLLER / SCHÄFER, Grundrechte, 439.
11
MÜLLER / SCHÄFER (MIT FRANZ ZELLER), Grundrechte, 446, 538.
9
4
C.
Um welche Gesetzesnormen des schweizerischen Rechts geht es?
1.
Rechtsnormen im Strafgesetz (StGB)
In den 1960er Jahren hat der Strafgesetzgeber den kommunikationstechnischen Neuerungen
Rechnung getragen und den strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz ergänzt. Schützenswertes
Rechtsgut ist die "Unbefangenheit der menschlichen Kommunikation in der Privatsphäre".12
Für die verdeckte Medienrecherche interessiert uns zunächst Art. 179 ter StGB, wonach
bestraft wird, "wer als Gesprächsteilnehmer ein nichtöffentliches Gespräch, ohne die
Einwilligung der andern daran Beteiligten, auf einen Tonträger aufnimmt (I) und …Dritten
zugänglich macht (II). Hauptakteure der verdeckten Recherche sind ja der Rechercheur, der
ein Gespräch unter falscher Flagge führt, mitsamt den Kadern, die ihn anleiten und
unterstützen. Schwerste Strafe auf Antrag: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. (Art. 179 bis
StGB betrifft die weniger häufige Aufnahme eines fremden Gesprächs, etwa durch vorgängig
eingeschaltete Telefonabhöranlagen oder gepflanzte Wanzen).
Bei Art. 179 quater wird bestraft, wer "eine Tatsache aus dem Geheim- [oder abgeschirmten
Privatbereich] eines andern ohne dessen Zustimmung mit einem Aufnahmegerät beobachtet
oder auf einen Bildträger aufnimmt und…Dritten bekanntgibt". Höchststrafe: Freiheitsstrafe
bis zu drei Jahren.
2.
Rechtsnormen im Zivilgesetzbuch
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch schützt seit anfang des 20. Jahrhunderts ausdrücklich die
Persönlichkeit:
Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an
der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen.
Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, [oder] durch ein
überwiegendes… öffentliches Interesse … gerechtfertigt ist.
Der Gesetzgeber wollte es (1907) den Gerichten und der Lehre überlassen, "Persönlichkeit"
und "Verletzung" zu präzisieren. Heute ist anerkannt, dass das "einheitliche Rechtsgut" der
Persönlichkeit aus zahlreichen "Facetten" besteht, die es ausmachen. In unserem Thema sind
von besonderer Bedeutung: Das Recht am eigenen Bild, am eigenen Wort, auf Achtung der
Privatsphäre, auf Ehre in einem weiten, auch beruflichen und wirtschaftlichen Sinne (dazu
insbesondere noch, wettbewerbsbezogen, das Verbot unlauterer Beeinflussung des
Wettbewerb, Art. 3 UWG; und, datenbearbeitungsspezifisch, das Verbot unlauterer
Datenbeschaffung, Art. 4 III DSG). Unter "Verletzung" ist nicht jede Beeinträchtigung oder
unwillkommene Berührung zu verstehen; es muss eine "gewisse Intensität, ein eigentliches
Eindringen" stattfinden.13. Geprüft wird die Persönlichkeitsverletzung in einem zweistufigen
Verfahren: 1. Ist eine Persönlichkeitsfacette verletzt? 2. Falls ja: Wird die Verletzung
allenfalls durch einen Rechtfertigungsgrund "geheilt"?14
12
BaslerKomm/ StGB II, VON INS/WYDER, Art. 179 bis N 3
BaslerKomm/ ZGB I, MEILI, Art. 28 N 19 ff und 38.
14
HAUSHEER/AEBI-MÜLLER, Personenrecht, Rz 12.14
13
5
3.
Normen freiwilliger Selbstregulierung der Medien (Journalistenkodex des
Schweizer Presserats)
Der Schweizer Presserat wird von allen vier Journalistenverbänden (seit 1999) und von den
Verlegerverbänden sowie von der SRG (seit 2008) getragen. Er versteht sich als ein
freiwilliges medienethisches Selbstkontrollorgan der publizistischen Medienarbeit
(www.presserat.ch). Jährlich behandelt er an die hundert Beschwerden von Betroffenen und
Medienrezipienten (Jedermannsbeschwerde). Seine einzige formelle Sanktion ist die sofortige
Publikation der abschliessenden "Stellungnahme", die auf Eingaben des Beschwerdeführers
und des Medienhauses abstellt. Das Verdikt – nach meist ausführlicher Begründung – kann
nur lauten: Journalistenkodex verletzt oder nicht verletzt.
Journalistenpflicht Nr. 4: (Journalisten) bedienen sich bei der Beschaffung von Informationen, Tönen
Bildern… keiner unlauteren Methoden ….
Dazu kommen kommentierende Richtlinien. 4. 1 – Verschleierung des Berufs:
Es ist unlauter, bei der Beschaffung von Informationen … den Beruf als Journalistin/Journalist zu
verschleiern.
Kommentierende Richtlinie 4.2.– Verdeckte Recherchen:
Verdeckte Recherchen sind ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an
den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise
beschafft werden können. Sie sind weiter zulässig, wenn Ton- oder Bildaufnahmen Journalisten
gefährden würden …. Besondere Beachtung ist der Wahrung des Persönlichkeitsschutzes von zufällig
anwesenden Personen zu schenken ….
II.
Neuere schweizerische Gerichtsurteile und Stellungnahmen des
Schweizer Presserats
A.
Bundesgerichtsurteil vom 7. 10. 2008, BGE 6B_225/2008
("Versicherungsvertreter)
1.
Sachverhalt und Begründung
Inspiriert durch Jahresberichte der Ombudsstelle für Privatversicherungen und Protestbriefen
von Zuschauern nahm sich die SF-Konsumentensendung "Kassensturz" der Beratungsqualität
von Kundenbesuchern an. Redaktionsleiter und Chefredaktor waren einverstanden, dass
konkrete Beratungsgespräche von Versicherungsberatern mit einer als Kundin posierenden
Mitarbeiterin audiovisuell aufgezeichnet werden sollten. Schauplatz des Tests vom 26. 2.
2003 mit versteckter Kamera: Eine präparierte Privatwohnung. Hinter der Wand sassen eine
Redaktorin und ein unabhängiger Versicherungsexperte. Die Regie schaltete zwischen
Wohnzimmer und Beobachtungsraum hin und her. Thema war eine gemischte
Lebensversicherung der Säule 3 a.
Der letzte und besonders negativ aufgefallene Berater X – er hatte der "Kundin" sogleich das
Du angeboten, schwere objektive Beratungsfehler begangen und zuletzt noch einen Nebenjob
als Acquisiteurin angeboten – verzichtete auf die nachträglich angebotene Aussage. Er verbat
sich jegliche Verwendung der Aufnahmen. Dennoch enthielt die "Kassensturz"-Sendung vom
25. 3. 2003 Ausschnitte aus dem Gespräch. Die Firma wurde beiläufig erwähnt – nicht aber
der Name des Beraters. Die Redaktion hatte zudem sein Gesicht verschleiert und seine
6
Stimme verstellt. X. klagte gegen Chefredaktor, Redaktionsleiter und Redaktorin. Der
Einzelrichter des Bezirks Dielsdorf sprach die Angeklagten jedoch frei. Nicht so das Zürcher
Obergericht: Es verurteilte sie wegen Aufnehmens fremder Gespräche (Art. 179 bis StGB)
und den "Lockvogel" wegen Aufnehmens eines mitgeführten Gesprächs (179 ter) sowie
wegen Verletzung des Privatbereichs durch Aufnahmegeräte (179 quater). Die Beteiligten
wurden mit bedingten Geldstrafen von fünf bis 15 Tagessätzen in unterschiedlicher Höhe
bestraft.
Das Bundesgericht wies die Behauptung der "Kassenstürzer" zurück, die Gespräche in der
präparierten Wohnung hätten ja gar keine Aspekte eines geheimen oder geschützten Bereichs
des Versicherungsmanns betroffen; Tatbestandselement ist laut Bundesgericht nur, dass das
Gespräch als ein "nichtöffentliches" stattgefunden hatte (Art. 179 bis und te StGB). Alle vier
Angeklagten hätten in der einen oder andern Weise bei der Planung oder Aufnahme
mitgewirkt, die "Lockvogel"-Kundin jedenfalls im Sinne von Art.179 ter – als einzige
Gesprächsteilnehmerin neben dem Versicherungsmann.
Könnten sich die "Kassenstürzer" auf den "aussergesetzlichen" – weil, anders als Art. 28 II
ZGB, im Strafgesetz unerwähnten – Rechtfertigungsgrund der "Wahrung berechtigter
Interessen" berufen? Das war die eigentliche Crux des Bundesgerichtsurteils.
Es sei unabdingbar gewesen, konkrete Beratungsgespräche, ja gerade dieses aufzuzeichnen,
um den Misstand zu dokumentieren – Wachhundfunktion – und bei allfälligen Klagen zu
beweisen. Ohne eine solche Aufzeichnung stünde Aussage gegen Aussage. Soweit der
"Kassensturz".
Das Bundesgericht erinnerte zunächst an zwei Präjudizien im Medienbereich aus dem Jahr
2001, worin es den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter
Interessen zurückhaltend und streng definiert hatte.15 Die Straftat müsse
- "ein zur Erreichung des berechtigten Ziels notwendiges und angemessenes Mittel" sein,
- insoweit "den einzig möglichen Weg" darstellen und
- "offenkundig weniger schwer wiegen als die Interessen, welche der Täter zu wahren sucht".
Nicht die Berechtigung verdeckter Recherchen an sich, sondern einzig der konkrete Fall sei
zu entscheiden. "Grundsätzlich" könne ein "erhebliches Interesse" der Öffentlichkeit an
Informationen aus schlecht verlaufenen Versicherungsberatungen herrschen; dieses Interesse
möge schwerer wiegen als die Verletzung der Rechtsgüter eines stimmverfremdeten Beraters
[Einspruch: Auch sein Name war nicht genannt und – vor allem – sein Gesicht unkenntlich
gemacht]. Aber war die strafbare Aufzeichnung wirklich ein "notwendiges Mittel zur
Erreichung des angestrebten berechtigten Ziels" – "nicht auf andere Weise zu erreichen"? Das
Bundesgericht verlangt: Wie beim Notstand dürfe die Gefahr für das öffentliche Interesse
"nicht anders abwendbar sein".
15
BGE 127 IV 166 ("Grenzübertritt"); das im neuen Bundesgerichtsurteil erstgenannten Präjudizentscheid
(BGE127 IV 122 ("Anstiftung zur Amtsgeheimnisverletzung") hatte der EGRMR längst als grundrechtswidrig
beurteilt. Zum Entscheid "Grenzübertritt" sogleich unten B.
7
Eigentlich – so das Bundesgericht – sei nur ein einziger Versicherungsvertreter beweisbar
problematisiert. Ein faules Ei der Branche? Dass es solche gebe, sei "eine banale Tatsache".
Es sage nichts über das "Ausmass schlechter Beratungsgespräche". [Einspruch: Da waren die
wiederholten Jahresberichte der Versicherungsombudsfrau deutlich; leider lasse sich jeweils
nichts beweisen. Und "Kassensturz" hatte sieben Beratungsgespräche aufgenommen, aber die
Defizite nur ausschnittweise gezeigt]. Journalistinnen müssten in der Lage sein, nach dem
Beratungsgespräch die Defizite "aufgrund von Notizen sinngemäss zu protokollieren". Das
Publikum würde ihnen sowieso "eher Glauben schenken" als Versicherungsvertretern. Bildund Tonaufnahmen und deren Ausstrahlung gegen das Gesetz seien hiefür "nicht notwendig".
Im Prozess "Aussage gegen Aussage"? "Nichts Ungewöhnliches". Damit müssten auch
Presseleute leben. Ein "Beweisnotstand" liege nicht vor. – Das Bundesgericht wies die
Beschwerden in den Hauptpunkten ab.
2.
Reaktionen
Die Reaktionen auf das Urteil waren kontrovers, mehrheitlich aber schroff ablehnend. In
seinem Newsletter 17/2008 monierte der Chefredaktor SF – einer der Verurteilten - , das
Bundesgericht habe weder die die Aussagen der Privatversicherungs-Ombudsfrau noch die
siebenteilige Testreihe des "Kassensturz" gewürdigt. Das Darstellungsverfahren "Pars pro
toto" – die Illustrierung von Dauerthemen an typischen Einzelfällen – sei für Medien und
Justiz unter gewissen Bedingungen legitim. Wenn in Fernsehdokumentationen anders als ab
Notizblock des Zeitungsreporters ein stringenterer Beweis möglich sei, dürfe das dem neueren
Medium Fernsehen doch nicht verwehrt werden.16 – Der Doyen des schweizerischen
Medienstrafrechts, der emeritierte Fribourger Professor Franz Riklin, attestierte dem neuen
Entscheid ein "lebensfremdes Medienverständnis". Der Eingriff in die Rechte des
Versicherungsmanns sei "relativ geringfügig gewesen" – Aufnahme im Hinblick auf eine
völlig anonymisierte Veröffentlichung. Das Bundesgericht habe die richtigerweise begrenzte
Berufung auf höhere Interessen bis auf eine "Killerfloskel" eingeengt. Gerade bei
audiovisuellen Medien habe der EGMR schon 1994 anerkannt, dass sich der Journalist nicht
auf trockene Protokollierungen zurückziehen müsse. Übrigens könne auch der
Zeitungsjournalist im Notfall mit an sich verbotenen Aufzeichnungen Beweis führen 17
Andere Staatsrechtler hoben im Briefwechsel mit dem Schreibenden das mangelnde
Verständnis für die Beweisnot bei Kundenbesprechungen unter vier Augen oder die
Angewiesenheit des Fernsehens auf "direkte Augenzeugenschaft" hervor – wenn es denn als
"public watchdog" funktionieren solle. – Der Schreibende bedauerte, dass sich das
Bundesgericht um eine echte Interessenabwägung gedrückt habe: Der Versicherungsberater
sei "in guten Treuen nicht identifizierbar" und damit die Verletzung seiner Ansprüche minim
gewesen. Weshalb überging das Gericht das vom "Kassensturz" hier für einmal vorbildlich
respektierte Verhältnismässigkeitsgebot? Dem Schreibenden widersprach freilich der Anwalt
des obsiegenden Versicherungsmannes: Ein einstimmig gefälltes Urteil der [diesmal bloss
dreiköpfigen] Richterbank, das sich auf den klaren Gesetzeswortlaut stützte, dürfe doch nur
"in den seltensten Fällen" befremden. Die "Kassenstürzer" hätten die Bedingungen der
übergesetzlichen Rechtfertigung insgesamt verfehlt. 18. - Die Zeitschrift plädoyer schliesslich
nominierte den Bundesgerichtsentscheid für die Auszeichnung "Fehlurteil des Jahres".19
Inzwischen hat die SRG beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde
16
HALDIMANN, Chefredaktor SF, in seinem "Newsletter" 17/2008
RIKLIN, medialex 2008, 184; EGMR Jersild c. Dänemark 23. 9. 1994, Nr. 15890/89
18
STUDER, NZZ vom 24. 10. 2008; FILLI, NZZ vom 14. 11. 2009
19
PLÄDOYER, 1/09
17
8
gegen das Bundesgerichtsurteil eingelegt – Jedenfalls sah sich Chefredaktor Haldimann
veranlasst, den Einsatz versteckter Kamera im Informationsbereich vorläufig zu untersagen.
Hintergrund: Bevor der Strassburger EGMR auf "prior restraint" und "chilling effect" erkennt,
würden einheimische Gerichte wohl stets dem Bundesgericht folgen.
B.
Bundesgerichtsurteil vom 16. 5. 2001, BGE 127 IV 166
"(Grenzübertritt")
Am 26. 1. 1999 hatte die Polizei 16 Ausländer an der grünen Grenze nahe bei Chiasso
festgenommen. Einer von ihnen – mit fiktivem albanischem Namen – war der italienische
Recherchejournalist Fabrizio Gatti,20 der kurz darauf im "Corriere della Sera" einen brisanten
Erlebnisbericht publizierte. Darin kritisierte er den Umgang der Tessiner Zöllner mit
Asylbewerbern. Das Appellationsgericht des Kantons büsste ihn mit 250 Franken wegen
illegalen Grenzübertritts.
Das Bundesgericht hielt den Tatbestand von Art. 23 I des ANAG (Gesetz über Niederlassung
und Aufenthalt von Ausländern) für erfüllt. Könnte sich Gatti auf den ungeschriebenen
aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen? Vgl.
die bundesgerichtliche Definition, zitiert oben II A 1.
Dieser Ausnahmegrund müsse restriktiv angewandt werden, sagte das Gericht. An sich wiege
der verfassungsmässige Anspruch auf Information in Migrationssachen schwerer als der
behördliche Anspruch , den Grenzübertritt eines italienischen Staatsbürgers zu kontrollieren.
Das vom Rechercheur gewählte Mittel des illegalen Grenzübergangs sei dem Ziel angepasst
gewesen. Aber beim Grenzübergang habe es sich nicht um das einzige verfügbare Mittel
gehandelt. Es wäre möglich gewesen, die zahlreichen Beteiligten nach ihrer Rückkehr in
Italien zu befragen. Gewiss, der Artikel hätte anders ausgesehen; die Informationssuche wäre
mühsamer gewesen. Aber das geschützte Ziel ist nicht der "journalistische Effekt", sondern
die "objektive Information des Publikums". Die Rechtsverletzung hätte sich erübrigt. Die
"Wachhundfunktion" allein rechtfertigt noch keine Rechtsverletzung irgendwelchen Kalibers.
Eine solche wäre nur als "ultima ratio", zur Beschaffung von Informationen mit "wirklich
erstrangiger Bedeutung" hinzunehmen. Um solche handle es sich hier nicht. Dieser Artikel
beschreibe Elemente einer menschlichen Tragödie in einem "skandalisierenden Ton". Der
Geringfügigkeit der Rechtsverletzung entspreche die niedrige Strafe.
Schon damals waren die Reaktionen harsch. Prof. Franz Riklin nimmt die Hürden des
aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrunds – ähnlich jenen des Notstands – zwar hin. Aber er
stösst sich an der konkreten Auslegung: Gatti sei es ja nicht darum gegangen, die
schützenswerten Interessen hinter dem ANAG zu durchkreuzen. Überdies müssten Gesetze
im Einzelfall grundrechtskonform – also medienfreiheitlich – ausgelegt werden. Die
Schilderung direkter Erlebnisse sei aussagekräftiger als eine nachträgliche Befragung. 21 Der
Schreibende verwies auf die aus Karl R. Poppers Kritischem Rationalismus abgeleiteten
20
Das Medienmagazin SSM GAZETTE (heute EDITO) brachte in der Nummer 4/05 einen ausführlichen Bericht
über den Rechercheur Gatti, in der Nummer 1/07 ein Interview mit ihm.
21
RIKLIN, Anmerkung zum BGE [127 IV 166], in: medialex 2001/175
9
Handwerksregeln: "Zu den Beobachtungsgrundsätzen gehört die Priorität der
Primärerfahrung, also der erlebten Recherche, vor der Sekundärerfahrung". Gewiss hätte der
Schweizer Presserat diese verdeckte Recherche als handwerklich akzeptabel bezeichnet (vgl.
die Journalistenregeln sogleich oben, I C 3).22
C.
Bezirksgericht Zürich, Einzelrichteramt, Urteil vom 28. 5. 2009
Ende 2006/Anfang 2007 hatte die SF-Redaktion "Kassensturz" in drei SchönheitschirurgiePraxen während fingierten Patientengesprächen Aufnahmen mit versteckter Kamera gemacht.
Sie wurden in zwei Sendungen ausgestrahlt. Am 14. 5. 2009 fand die Hauptverhandlung zur
Anklage der Staatsanwaltschaft Zürich statt. Angeklagt waren Chefredaktor, Redaktionsleiter,
eine "Miss Argovia" als"Lockvogel", die sich mit einem fingierten Wunsch nach
Körperkorrekturen vor zwei Schönheitschirurgen und einer Praxishilfe produzierte, sowie
zwei mitwirkende Redaktorinnen. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen mehrfaches
unbewilligtes Abhören und Aufnehmen von teils fremden, teils mit geführten Gesprächen vor
(Art. 179 bis, ter StGB). Dazu kam mehrfache Verletzung des Privatbereichs durch
Aufnahmegeräte (Art. 179 quater StGB). Wie schon im Fall Versicherungsvertreter (BGE
6B_225/2008, oben II A) nahm der Richter Mittäterschaft der beteiligten "Kassenstürzer"
sowie des "Lockvogels" an.
Fehlte es, wie der Verteidiger mit Hinweis auf einen Presseratsentscheid ausführte (unten II
D), an der "Nichtöffentlichkeit" der abgehörten Gespräche? Der Richter fand, ein "Gespräch
im Rahmen eines Arztbesuchs" sei "immer von Intimität geprägt", ob nun die Arztassistentin
Zutritt habe oder nicht. Die Aufnahmen mit Kamera (Art. 179 quater StGB) hatten im
"äusserst delikaten" Beziehungsbereich zwischen Arzt und Patient stattgefunden, in dem ja
auch die ärztliche Schweigepflicht gegeben ist. Die Praxisassistentin habe nicht nur
pflegerische Empfehlungen abgegeben, sondern eigene Erfahrungen zu dem von ihr erlebten
"Fettabsaugen" beigesteuert. Das alles gehöre dem "Privatbereich" gemäss Art. 179 quater an
und sei dem Publikum weitergegeben worden. Chefredaktor und Redaktionsleiter stimmten
jedem Teilakt zu. Damit sei der objektive Tatbestand erstellt. Die "Freundin" (aufnehmende
Reporterin) kannte die mögliche Widerrechtlichkeit; der "Lockvogel" gab an, geglaubt zu
haben, dass solche Aufnahmen bei öffentlichem Interesse zulässig seien. Sie nahmen
subjektiv zumindest in Kauf, unerlaubte Aufnahmen zu machen und weiterzugeben. Auch
Chefredaktor und Redaktionsleiter wussten um alle objektiven Tatbestandselemente , was sie
subjektiv zu Mittätern machte. Nur ein Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB) lag nicht vor, weil
die Täuschungsarbeit der verdeckt eindringenden Journalisten keinen Abwehrwillen der
ahnungslosen Ärzte hervorrief.
Lagen Rechtfertigungsgründe vor? Auf Rechtsirrtum plädierten die Angeklagten, weil kurz
vor dem Tatmoment im oben geschilderten Fall "Versicherungsvertreter" (oben II A) ein
erstinstanzlicher Freispruch des Bezirksgerichts Dielsdorf ergangen war. Aber – erwiderte der
Einzelrichter – bereits hatte die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt; und im übrigen hatte
"Kassensturz" im Fall Versicherungsvertreter den Kläger nahezu unkenntlich gemacht. Eine
Einwilligung der einen Praxishilfe und des einen Arztes (Meyer-Fürst) hinsichtlich der
Ausstrahlung lagen nicht vor. Der andere Arzt hatte immerhin in die Ausstrahlung eines
22
STUDER, Recherchierjournalismus und Berufsethik, ,in: medialex 2002/74 Zitat aus KUNCZIK / ZIPFEL,
Publizistik, 1. Aufl., 283
10
zweiten nachträglichen Gesprächs eingewilligt, was bezüglich des ersten widerrechtlichen
Gesprächs vor versteckter Kamera eine gewisse Verwirrung schaffen mochte.
Zum übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund des berechtigten Interesses brachten die
"Kassenstürzer" vor, es gehe um einen industrieähnlichen Medizinbereich mit mehreren
Millionen Franken Umsatz; diesem Umsatz aber lägen sehr oft ungenügende
Patientengespräche zugrunde. Es komme übereilt zu Operationen und Operationsfehlern, was
Patientenorganisationen bezeugten. Davor habe "Kassensturz" warnen wollen. Das schaffe ein
manifestes öffentliches Interesse. Da sei der Einsatz versteckter Kamera ein notwendiges,
angemessenes Recherchemittel – die einzige Möglichkeit, Gesprächsinhalte zu belegen.
Der Richter hielt sich an die oben geschilderte bundesgerichtliche Definition
("Versicherungsvertreter", II A 1). Überdies seien die Risiken einer Schönheitsoperation
hinlänglich bekannt: Das könne durch Recherchen durchaus vertieft werden, aber der Einsatz
einer persönlichkeitsverletzenden versteckten Kamera sei "nicht absolut nötig" – schon gar
nicht beim positiv beurteilten ersten Arzt und seiner Assistentin. Beim zweiten Arz, dem
einschlägig bekannten Dr. Meyer-Fürst, möge der Verdacht auf Pfusch und Belästigungen
"deutlich höher einzustufen" sein. Aber die Mittelanwendung mit der unverstellten
langdauernden Vorführung des Arztes sei "an sich nicht verhältnismässig gewesen". Der
Richter schilderte dann ein ganzes Panorama alternativer Recherchetechniken mit
Protokollierungen, Fachkommentaren, Berichten des "Lockvogels", nachgestellten Szenen.
Im Alltag würden eindrückliche Recherchen publiziert und ausgestrahlt, ohne dass gleich
auch noch "der strikte Bild- und Tonbeweis geführt werde". Überhaupt könne in der
Brustbefingerung und Beratung des Arztes "kein solch gravierender Misstand" erblickt
werden, dass eine Ausstrahlung "zwingend nötig" erschiene.
Somit gebe es keinen Raum für Strafbefreiungsgründe. Bei der Strafbemessung fielen die
Führungspositionen von Chefredaktor und Redaktionsleiter erschwerend ins Gewicht. Dem
"Lockvogel" und der ihr mitgegebenen "Freundin", einer Stagiaire, seien Unerfahrenheit
zugutezuhalten. Der "Lockvogel" sowie die angeklagten "Kassenstürzer" wurden mit bedingt
ausgesprochenen Geldstrafen zwischen 15 niedrigen bis zu 25 höheren Tagessätzen belegt.
Zivilforderungen sind auf den Zivilweg verwiesen. Der Anwalt des Fernsehens SF hat
Berufung erklärt.
Exkurs: Wallraf-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts
vom 25. 1. 1984
Leitsätze
1. Das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 I ) gewährleistet auch die Vertraulichkeit der Arbeit von
Zeitungsredaktionen …
2. a) Die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter …Informationen wird vom Schutz der Meinungsfreiheit
erfasst….
b) In Fällen, in denen der Publizierende sich die Informationen widerrechtlich …in der Absicht verschafft hat,
sie gegen den Getäuschten zu verwerten, hat die Veröffentlichung grundsätzlich zu unterbleiben. Eine Ausnahme
11
gilt nur, wenn die Bedeutung der Informationen …für die öffentliche Meinungsbildung einseitig die Nachteile
überwiegt, welche der Rechtsbruch für die Betroffenen und für die Rechtsordnung nach sich ziehen. …
Sachverhalt, Begründung und Kommentar
Die Klägerin – der deutsche Medienkonzern Springer – verlegt unter anderem die "Bild"Zeitung. Die Beklagten: Der Verleger des Buchs "Der Aufmacher – der Mann, der bei 'Bild'
Hans Esser war" und dessen Verfasser Günter Wallraff, der sich als 'Hans Esser' von "Bild"
für fünf Monate hatte anstellen lassen. Aus der Vorbemerkung zum Buch: 'Doch wurde nichts
erfunden oder hinzugedichtet. Äusserungen …habe ich teils direkt mitgeschrieben, teils…in
Gedächtnisprotokollen festgehalten. Sie erscheinen im Buch zumeist in wörtlicher Rede…".
Springer hatte sich mit Verbotsanträgen gegen verschiedene Textstellen gewehrt, die
Redaktionskonferenzen, Aufträge ('Machen Sie bloss kein soziales Thema draus!...Suchen Sie
jetzt mal einen der schönsten Gartenzwerge…') und Anekdoten wiedergaben.
- Für Springers Antrag, die Schilderung einer Redaktionskonferenz im Buch zu sperren,
zeigten die Verfassungsrichter Verständnis. Wallraff sei in die redaktionelle
Vertraulichkeitssphäre eingedrungen. Deren Wahrung komme zum Schutz der
Redaktionsmitglieder, der Informanten, des Unternehmens elementare Bedeutung zu. Eine
Redaktion, in der es keine 'freie Rede' mehr gebe, werde kaum das Notwendige leisten. Weder
die Meinungsfreiheit noch die Pressefreiheit schützen rechtswidrige Beschaffung von
Informationen durch "Einschleichen" und illegales Vorgehen.
- Anderseits fällt die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen laut
Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich der Pressefreiheit. Zur Kontrollaufgabe der
Presse gehöre es, auf Misstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen. Zwar ist die
Veröffentlichung widerrechtlich beschaffter Information verpönt. Eine Ausnahme soll aber
gelten: Wenn die Bedeutung solcher Information für die öffentliche Meinungsbildung
eindeutig die Nachteile überwiegt, welche der Rechtsbruch für den Betroffenen und die
Geltung der Rechtsordnung nach sich ziehen wird. Es müsse sich um Missstände von
erheblichem Gewicht handeln, an deren Aufdeckung ein überragendes öffentliches Interesse
besteht. Genau solche Missstände im zynischen Umgang mit "Medienopfern" und politischen
Kontroversen hatte Wallraff in seinem Buch über die Innereien der Produktion von "Bild"
nachgewiesen. Es sei angesichts der Bedeutung der Medien für Gesellschaft und Staat
wichtig, davon zu erfahren, bestätigten die Verfassungsrichter.
Dieses bemerkenswerte höchstrichterliche Urteil beruft sich also mit entgegengesetztem
Ergebnis auf unterschiedliche Perspektiven der Medienfreiheit: (Nur) Wallraffs Ausplauderei
einer Redaktionskonferenz, an der gar nichts nach Missstand Riechendes verhandelt worden
war, begründete eine Verurteilung. In allen andern Punkten wurde Wallraff freigesprochen. 23
23
1 BvR 272/81 vom 25. 1. 1984; HALLER, Recherchieren, S. 145 f. Haller, einst selber erfolgreicher
Recherchierjournalist, nennt die Arbeit mit versteckter Kamera übrigens problematisch: Viele
Fernsehmagazinjournalisten setzten sie "für beliebige Effekte – manchmal auch fürs Recherchieren – ein und
reklamierten es dann als Interesse an Aufklärung…Eine Gratwanderung zwischen Voyeurismus und
aufdeckender Dokumentation" (S. 148). Er zitiert übrigens die Überführung eines deutschen
Schönheitschirurgen, der allerdings den Frauen gebrauchte Brustimplantate eingesetzt und an Kassen/Steueramt
vorbei "schwarze Rechnungen" versandt hatte (1992).
12
D.
Stellungnahme des Schweizer Presserats 51/2007
("Schönheitschirurgen")
Kurz nach der Testserie des "Kassensturz" mit Schönheitschirurgen (2006/7, vgl. oben), wo es
um die Thesen schlechter Beratung und unnötiger Operationen ging, aber noch vor ersten
Gerichtsurteilen legte ein unbeteiligter Schönheitschirurg Beschwerde beim Presserat ein, und
zwar im Sinne einer Jedermannsbeschwerde. Die Verwendung einer versteckten Kamera bei
Arztkonsultationen verstosse klar gegen die Richtlinie 7.1. (Respekt vor der Privatsphäre). Es
werde ja nur die ärztliche Indikation gegenüber mündigen Personen und nicht etwa
kriminelles Verhalten der Ärzte aufgedeckt.
Der Presserat erinnerte zunächst an seine Richtlinien zur verdeckten Recherche (oben, I C 3).
Die Richtlinie 7.1. sei der falsche Anknüpfungspunkt: Eine Arztpraxis erscheine
grundsätzlich als ein "Gewerbebetrieb wie etwa eine Schreinerei" (!). Auch Gewerbebetriebe
seien privat, und der Gewerbetreibende könne bestimmen, wen er als Kunde/Kundin bediene.
Aber es handle sich in der Regel nicht um das Privatleben der Gewerbetreibenden. Das gelte
auch für eine Arztpraxis. Es gebe zwar die Privat- und Geheimsphäre der Patientinnen; aber
gerade sie habe "Kassensturz" geschützt, denn der "Lockvögel" sei ja einverstanden gewesen,
und ihre Brustpartie habe die Redaktion mit Unschärfen "züchtig verhüllt". (Von der später
klagenden Praxisassistentin war nicht die Rede – trotz Erwähnung "zufällig Anwesender" in
der Richtlinie). "Kassensturz" habe unwidersprochen mahnend Zahlen erwähnt: 35 000
ästhetisch-medizinische Behandlungen, 700 Millionen Franken geschätzte Kosten, ein halbes
Prozent der Schweizer Bevölkerung betroffen, laufende Debatten um untergewichtige Models
usw. Das konstituiere ein hohes öffentliches Interesse.
"Wenn es darum geht, die Qualität ärztlicher Beratungsgespräche zu untersuchen, gibt es
kaum einen andern Weg als die verdeckte Recherche. Denn nur am eigenen Leib – allenfalls
am Leib einer einverstandenen Hilfsperson – lässt sich erfahren, wie Schönheitschirurgen
vorgehen". Nach berufsethischen Kriterien sei die verdeckte Recherche zulässig gewesen –
nicht nur der Einsatz eines "Lockvogels", sondern auch die filmische Aufzeichnung.
Und das Fairnessgebot der Anhörung von Betroffenen (Richtlinie 3.8.)? Zwei der acht Ärzte
machten von ihrem Recht auf das eigene Bild Gebrauch und untersagten erfolgreich die
Verwendung der verdeckt gefilmten Passagen. Meyer-Fürst hingegen erschien minutenlang
auf dem Bildschirm – trotz seiner Abmahnung. Andere äusserten sich nachträglich vor der
Kamera [einer erwartete, nur mit seiner Rechtfertigung und nicht mit der verdeckten
Aufnahme im Beitrag vorzukommen].
Nicht befasst hatte sich der Presserat mit dem Problem der Verhältnismässigkeit: War es
notwendig, Meyer-Fürst derart lange, sarkastisch (im Off-Kommentar) und mit weit
zurückliegenden unbewiesenen Behauptungen einer Belästigung vorzuführen – ohne den
Versuch einer Anonymisierung? Der Arzt hatte jede Stellungnahme verweigert und sich die
Ausstrahlung verbeten. – Beschwerde abgewiesen.
13
E. Stellungnahme des Schweizer Presserats 50/2005 ("Klosterbeichte")
Unter dem Titel "Herr Vergib mir!" veröffentlichte das inzwischen eingegangene
Nachrichtenmagazin "Facts" "ein längst fälliges Plädoyer für die Beichte". Die Journalistin
bekannte, sich zum ersten mal seit Jahren in einen Beichstuhl [des Klosters Einsiedeln]
gesetzt zu haben. Wegen der "Entweihung eines heiligen Sakraments" habe sie ein schlechtes
Gewissen und werde vermutlich "noch einmal herkommen, um das zu beichten". Der Abt des
Klosters Einsiedeln beschwerte sich beim Presserat, die Journalistin habe Sakrament und
Seelsorger missbraucht, bloss um "Fakten" für eine "Story" zu sammeln. Die
Voraussetzungen für eine Verschleierung des Berufs seien nicht gegeben gewesen (Richtlinie
4.1., oben I C 3). "Facts" replizierte, ein theoretisches Gepräch mit einem katholischen
Seelsorger über die Beichte hätte "das persönliche Erleben der Beichte" nicht ersetzen
können, und der Bericht sei in respektvollem Ton verfasst gewesen. Den Seelsorger habe man
in der Anonymität belassen.
Im Mittelpunkt der Überlegungen des Presserats stand die Frage, ob und wie eine verdeckte
Recherche bei einer Beichte zulässig sei. An sich könne kein Thema zum vorneherein mit
einem Rechercheverbot belegt werden. Gerade bei höchstpersönlichen Situationen biete sich
der Erlebnisbeichte oft als journalistisch richtige Form an. Und doch seien die
Voraussetzungen in jedem einzelnen Fall zu prüfen. Hier gewichte der Presserat das
journalistische Interesse – Vermittlung der subjektiven Erfahrung einer jungen urbanen Frau –
eindeutig schwächer als das Vertrauen des Beichtvaters, im Beichtstuhl nicht getäuscht zu
werden. Es handle sich um ein bloss höchst allgemeines gesellschaftliches Interesse der
Journalistin; für Aufdeckung von Misständen oder Warnung des Publikums gebe es keinen
Grund. Die Journalistin hätte diesen Mangel nur "heilen" können, wenn sie sich dem
Getäuschten offenbart und von diesem die Publikationserlaubnis erhalten hätte. – Beschwerde
berechtigt, Journalistenkodex – wenn auch nicht gravierend – verletzt.
III.
Zusammenfassung und Vorschlag
Zweifellos gibt es zahlreiche offene und anonym ausgesprochene Alltagsangebote, die der
Journalist professionell bearbeitet, ohne seine berufliche Identität bekanntzugeben: Der
Testesser im Gastro-Restaurant, der Theaterkritiker, der Käufer im Obst- oder Schuhgeschäft,
der prospektschwenkende Nutzer eines Ferienhotels. Wenn der Journalist nun aber hinter die
Kulissen blicken oder vertrauliche Zusatzinformationen erhalten will (Preisgestaltung,
Führungsproblme, familiäre Umstände)? Dann ist er verpflichtet, sich vorzustellen und die
allgemeine oder besondere Stossrichtung seiner Recherche zu nennen. Soviel ergibt sich aus
dem Vertrauensprinzip im gesellschaftlichen Verkehr und aus dem Prinzip der
informationellen Selbstbestimmung seines Gegenübers (oben I A).
Der Journalistenkodex hat dies im Verbot, den Beruf "zu verschleiern", als medienethische
Berufsregel festgehalten (oben I C 3).
14
In schneidender Schärfe hatte das deutsche Bundesverfassungsgericht 1984 (oben II Exkurs)
die Handlungskonsequenz definiert: Wenn der Publizierende sich die Informationen
widerrechtlich – unlauter – verschafft hat, also unter Täuschung des Gesprächspartners, darf
er die Informationen grundsätzlich nicht gegen den Getäuschten verwenden. "Die
Veröffentlichung hat grundsätzlich zu unterbleiben". Ausnahme: Die Bedeutung der unter
Täuschung erlangten Information überwiegt für die Öffentlichkeit einseitig die Nachteile, die
der Rechtsbruch für die Betroffenen nach sich zieht. Ausnahmen sind nach allgemeinen
Rechtsgrundsätzen nicht einfach einschränkend auszulegen, sondern" nach Sinn und Zweck
einer gesamten Regelung"24. Sinn und Zweck des "Wallraf"-Urteils ist es, Vertrauensprinzip
und Kontrollprinzip im Bereich der Medien aufeinander abzustimmen. Es geht nämlich um
eine Kollision von Verfassungsprinzipien, die für die Medienpraxis bedeutsam sind.25
Das schweizerische Bundesgericht wie auf der rein ethischen Ebene auch der
Journalistenkodex haben dann die Operationalisierung verfeinert (oben II A 1; I C 3):
- Mittel, um ein "berechtigtes Ziel" zu erreichen: Das Ziel muss ein positives Vorzeichen
haben, kann also nicht einfach in der Rache an andern oder im Kitzel voyeuristischer Gafferei
bestehen. Regelmässig wird hier die "Wachhundrolle" als werterhaltende Intervention in
einem gesellschaftlich oder politisch wichtigen Sachverhaltskomplex angerufen. Die
Täuschung muss notwendig sein, um dieses berechtigte, also wertvolle, Ziel zu erreichen.
Besonders oft sehen Journalisten aber über das Kriterium der Angemessenheit hinweg. Sie
müssen das Ziel so verfolgen, dass der oft unvermeidliche Schaden für Dritte so gering als
möglich ausfällt. Beispiel: Verschleierung des Gesichts, Verstellung der Stimme, keine
Namensnennung beim Versicherungsvertreter (oben II A 1). Stattdessen suchen Reporter und
Produzent oft nicht einfach eine mediengerechte, sondern darüber hinaus eine kitzelnde und
aufpeitschende Darstellung. Beispiel: Der hämisch formulierte Tadel an der medizinisch an
sich neutralen Brustbetastung des Arztes Meyer-Fürst (die ihm im "Blick" den Übernamen
"Busengrabscher" eintrug; oben II C). Auf solche Versuchungen weist auch der führende
deutsche Recherchetheoretiker MICHAEL HALLER eindringlich hin (oben, Fussnote 23 zum
Fall Wallraff).
- Die täuschende Recherche muss insoweit "den einzig möglichen Weg" darstellen. Hier
darf auch an die Richterschaft appelliert werden. Diese Voraussetzung ist mediengerecht zu
interpretieren. Es wäre dysfunktional, die "Wachhunde" Radio und Fernsehen auf die
Plattform der Zeitung einzugrenzen und verdeckte Recherchen nur mit Block und Bleistift,
nicht aber mit Mikrofon und Kamera zuzulassen. Auch wer die Fernsehkamera einsetzt, soll
sachgerecht informieren (so schon Art. 93 BV, bis hinunter zu den hausinternen
publizistischen Leitlinien von SF).
Verräterisch ist da die Formel, die das Bundesgericht in 127 IV 166 verwendete: Der Vorwurf
einer (unzulässigen) Effekthascherei soll nicht aus der Wahl des Mediums oder Gefässes
(hier: Reportage im "Corriere della Sera"), sondern allenfalls konkret aus sensationalistischer
und schädigender Umsetzung abgeleitet werden.
- Das verletzte Rechtsgut, also meist die konkrete Ausprägung der Privatsphäre, muss –
wie schon im deutschen Wallraff-Urteil unterstrichen – weniger schwer wiegen als die vom
24
25
GEIGER, Irrtum, 77
Basler Komm/ StGB I, SEELMANN, Art. 14 N 26
15
Rechercheur begangene Unlauterkeit. Diese Bedingung hielten die meisten Bewerter des
Urteils "Versicherungsvertreter" (oben II A) seitens des "Kassensturz" für erfüllt: Gesicht
verschleiert, Stimme verstellt, Name zurückbehalten. (Zur Perfektion fehlte nur, dass einmal
beiläufig die Firma genannt wurde; sie klagte aber in der Folge nicht). Zwar hat "Kassensturz"
hier die Hälfte des Schutzguts von Art. 179 ter StGB 26 tangiert, nämlich die Unbefangenheit
der vom Vertreter bereits arg missbrauchten Kommunikation; nahezu unberührt blieb jedoch
die andere, gewichtigere Hälfte, die Privatsphäre des Agenten. "Kassensturz" wollte hingegen
eine ganz präzise, wenig bekannte Gefahr beleuchten, die von der Versicherungsombudsfrau
und von Anwälten mannigfach belegt ist: Dass im Versicherungskomplex durch krass
inkompetente und einschmeichelnde Beratung unter vier Augen grosses Unheil angerichtet
wird. Und zwar gegenüber unerfahrenen Ratsuchenden, die nachher nichts beweisen können,
weil –anders als bei einem schönheitschirurgischen Kunst- oder Ermessensfehler – nachher
keine Spuren offenliegen.
Im Vergleich vor uns haben wir, wie sich schon aus den Reaktionen ergab, einen Fall
notwendiger und angemessener verdeckter Recherche (Versicherungsvertreter). Und einen
höchst problematischen Fall, wo exemplarische Wichtigkeit des Schutzguts und
Angemessenheit der Recherche keineswegs klar sind (Schönheitschirurgen). In einem grossen
Rechtfertigungsinterview des Redaktionsleiters war denn auch Angemessenheit des
Persönlichkeitseingriffs kein Thema.27 Schon die Medienmacher müssen sich genau
überlegen: Vertrauensmissbrauch der verdeckten Recherche legitim oder illegitim? Nur so
können sie den oft wenig medienverständigen Gerichtsverfahren vorbeugen.
Literatur
MATHIS BERGER/SANDRO MACCHIACCHINI (Hrsg.), Populäre Irrtümer im Urheberrecht, Zürich 2008
PETER FORSTMOSER, Einführung in das Recht, Bern 2003
CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., Wien 2007
MICHAEL HALLER, Recherchieren, 7. Aufl., Konstanz 2008
HEINZ HAUSHEER/REGINA E. AEBI-MÜLLER, Das Personenrecht des Schweizerischen
Zivilgesetzbuchs, 2. Aufl. Bern 2008
HEINRICH HONSELL/NEDIM PETER VOGT/THOMAS Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar zum
Zivilgesetzbuch I, 3.Aufl. Zürich 2006
JÖRG PAUL MÜLLER/MARKUS SCHEFER (MITARBEIT FRANZ ZELLER), Grundrechte in der Schweiz,
26
27
Basler Komm/StGB VON INS/WYDER, Art. 179 bis N 3
PERSOENLICH.COM 14. 5. 2009, Redaktionsleiter "Kassensturz" im Interview
16
4. Aufl. Bern 2008
JÖRG PAUL MÜLLER, Demokratische Gerechtigkeit, München 1993
MARCEL ALEXANDER NIGGLI/HANS WIPRÄCHTIGER (Hrsg), Basler Kommentar zum Strafrecht I und
II, 2. Aufl. 2007
STEPHAN RUSS-MOHL, Journalismus, Frankfurt 2003
17
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