Kapitel 4 Grundlagen der Maßtheorie 4.1 Das Maßproblem Das vielleicht ursprünglichste Problem der Geometrie ist das sogenannten Maßproblem, dessen Behandlung im Zentrum der folgenden drei Kapitel steht. Unsere hauptsächlichen Quellen sind dabei, ohne es im Text durchgängig zu erwähnen, ◦ ◦ ◦ ◦ ◦ Burk, F.E.: A garden of integrals Elstrodt, J.: Maß- und Integrationstheorie Evans, L.C.; Gariepy, R.F.: Measure theory and fine properties of functions Kurtz, D.S.; Swartz, C.W: Theories of integration Sauvigny, F.: Analysis 3 (Vorlesungen an der BTU Cottbus) Worum geht es? Ebenen, linear begrenzten geometrischen Figuren kann man durch geeignetes Zerlegen oder durch geeignetes Anfügen von Dreiecken oder Rechtecken einen Inhalt bzw. ein Maß zuordnen, wenn man nur ein solches Maß für Dreiecke und Rechtecke kennt. Den Inhalt krummlinig begrenzter Figuren, wie z.B. eines Kreises, kann man durch Einbzw. Umschreiben geeigneter n-Ecke ermitteln. Um eine erste Idee zu vermitteln, welche Schwierigkeiten uns jedoch bei der Suche nach einer solchen Maßfunktion entgegentreten, wollen wir folgender Idee nachgehen. Dabei beschränken wir uns zunächst auf den Fall eindimensionaler Mengen. Definition 4.1. Es bezeichne Ω ⊂ Rn eine beschränkte Menge. Dann heißt χ (x) := 1, falls x ∈ Ω 0, falls x ∈ Ω ihre charakteristische Funktion. 33 34 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE Wir kommen wir sofort auf das Riemannsche Integral zurück, dessen Konstruktion wir uns im vorigen Kapitel in Erinnerung gerufen haben. Könnte die Abbildung µ (Ω) := χ (x) dx Ω mit dem Riemannschen Integral sein? Ω χ (x) dx ein guter Kandidat für eine Maßfunktion Beispielsweise ermitteln wir für das kompakte Intervall [a, b] ⊂ R b µ ([a, b]) = 1 dx = b − a, a was natürlich dem erwarten Inhalt oder Maß des Intervalls [a, b] ⊂ R entspricht. Aber nicht jeder Teilmenge der reellen Zahlengeraden können wir auf diese Art sinnvoll einen Inhalt zuordnen. Als Gegenbeispiel“ betrachten wir die beschränkte Menge ” Ω := Q ∩ [0, 1], also alle rationalen Zahlen im kompakten Intervall [0, 1]. Die zu Ω gehörige charakteristische Funktion lautet 1, falls x ∈ Q . 0, falls x ∈ [0, 1] \ Q χ (x) = Diese heißt auch die Dirichletsche Sprungfunktion. Die Dirichletsche Sprungfunktion ist nun aber nicht Riemannintegrierbar, denn auf Grund der Dichtheit der rationalen Zahlen berechnen wir für ihr unteres Riemannsches Integral I ∗ χ (x) dx = 0, und zwar unabhängig von der Zerlegung des Intervalls [0, 1], während ebenso stets ∗ χ (x) dx = 1 I für ihr oberes Riemannsches Integral gilt. Dieses Beispiel zeigt bereits die in den folgenden Abschnitten zu diskutierende Problematik auf, nämlich 1. einmal die Konstruktion einer auf möglichst vielen Mengen wohldefinierten Maßfunktion, 2. und dann die Aussonderung nicht messbarer“ Mengen, für welche eine solche ” Maßfunktion nicht angegeben werden kann. Das sind die grundsätzlichen Fragen der geometrischen Maßtheorie. 4.2. JORDANINHALT UND RIEMANNINTEGRAL 35 4.2 Jordaninhalt und Riemannintegral Es sei Q = [a1 , b1 ] × [a2, b2 ] × . . . × [an, bn ] ⊂ Rn ein kompakter, n-dimensionaler Würfel mit dem elementargeometrischen Inhalt |Q| = (b1 − a1) · (b2 − a2) · . . . · (bn − an ), und es sei ferner Ω ⊂ Rn eine beliebige beschränkte Menge. Definition 4.2. Die beschränkte Menge Ω ⊂ Rn heißt Jordanmessbar, falls ihr n ◦ innerer Jordaninhalt λ∗ (Ω) := sup |ΣI | : Ω ⊃ ΣI = Qi , i=1 worin |ΣI | den elementargeometrischen Inhalt von ΣI angibt, und ihr n ◦ äußerer Jordaninhalt λ ∗ (Ω) := inf |ΣA | : Ω ⊂ ΣA = Qi i=1 gleich sind: λ (Ω) := λ∗ (Ω) = λ ∗ (Ω). Supremum und Infimum werden dabei über alle möglichen, endlich vielen Vereinigungen von n-dimensionalen Würfeln gebildet, die im ersten Fall Ω von innen, im zweiten Ω von außen approximieren. Wir betonen noch einmal, dass zur Definition dieser Inhalte endlich viele approximierende Würfel herangezogen werden. Wir notieren wichtige Eigenschaften des inneren und äußeren Jordaninhalts. Satz 4.1. 1. Für alle beschränkten Mengen Ω ⊂ Rn gilt 0 ≤ λ∗ (Ω) ≤ λ ∗ (Ω) < ∞ . 2. Jeder offene, halboffene, . . . und beschränkte Würfel Q ⊂ Rn ist Jordanmessbar mit dem Produkt der Seitenlängen als Jordaninhalt. 3. Ist Ω ⊂ Rn Jordanmessbar, so gibt es für jedes ε > 0 eine innere und eine äußere Würfelapproximation ΣI bzw. ΣA mit |ΣA | − |ΣI | < ε . 4. Eine Menge Ω ⊂ Rn mit λ ∗ (Ω) = 0 ist Jordanmessbar. Eine solche Menge heißt Jordansche Nullmenge. 5. Für alle Mengen Ω ⊂ Θ ⊂ Rn gelten λ∗ (Ω) ≤ λ∗ (Θ) sowie λ ∗ (Ω) ≤ λ ∗ (Θ). 36 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE Aufgabe 1. Beweisen Sie diesen Satz. Eine besonders wichtige Eigenschaft sei, ebenfalls ohne Beweis, mit dem folgenden Resultat hervorgehoben. Satz 4.2. Seien Ω1 , . . . , Ωn ⊂ Rn endlich viele und beschränkte Jordanmessbare Mengen. Dann ist auch deren Vereinigung Jordanmessbar, und es gilt die folgende Monotonieformel n λ (Ω1 ∪ . . . ∪ Ωn ) ≤ ∑ λ (Ωi ). i=1 Gleichheit gilt genau dann, wenn alle Ωi bis auf Jordansche Nullmengen voneinander disjunkt sind. In diesem Fall spricht man von endlicher Additivität. Ein isolierter Punkt im Rn besitzt außer der leeren Menge 0/ kein echte Teilmenge, so dass sein innerer Jordaninhalt offenbar verschwindet. Nach Approximation mit diesen Punkt einschließenden Würfeln, deren Längen gegen Null konvergieren, ermitteln wir desweiteren, dass auch sein äußerer Jordaninhalt gleich Null ist. Ein isolierter Punkt ist also eine Jordansche Nullmenge. Eine endliche Vereinigung voneinander isolierter Punkte ist nach vorigem Satz ebenso von verschwindendem Jordaninhalt. Aber wie sieht es mit einer abzählbaren Vereinigung von Punkten aus (die z.B. dicht liegen können)? Beispiel 1. Es sei Ω ⊂ R2 die Menge aller Punkte mit rationalen Koordinaten innerhalb des abgeschlossenen Rechtecks Q = [0, 1] × [0, 1]. Dann sind λ ∗ (Ω) = 1 und λ∗ (Ω) = 0. Also ist Ω nicht Jordanmessbar. Dieses Beispiel kennen wir natürlich schon aus dem vorigen Abschnitt, als wir uns von der Nicht-Riemannintegrierbarkeit der Dirichletschen Sprungfunktion überzeugt haben. Wie sich später herausstellen wird, enthält es bereits die wesentliche Idee zur richtigen Verallgemeinerung des Jordaninhalts. Tatsächlich gilt nun folgender grundlegende Satz 4.3. Die nichtnegative Funktion f : Ω → R ist genau dann Riemannintegrierbar, wenn ihre Ordinatenmenge O( f ) := (x, y) ∈ Rn+1 : x ∈ Ω, 0 ≤ y ≤ f (x) im Rn+1 Jordanmessbar ist. In diesem Falle gilt λ (O( f )) = f (x) dx. Ω Aufgabe 2. Beweisen Sie diesen Satz. 4.3. WAS SOLL EIN MASS LEISTEN? 37 Abschließend erwähnen wir den Satz 4.4. Eine beschränkte Teilmenge Ω ⊂ Rn ist genau dann Jordanmessbar, wenn ihr Rand eine Jordansche Nullmenge bildet. Auch dieses Ergebnis bleibt in unserer Vorlesung ohne Beweis, da es wesentlich von den Methoden der Riemannschen Integrationstheorie in mehreren Veränderlichen Gebrauch macht, die uns in ihrer Vollständigkeit nicht zur Verfügung stehen. 4.3 Was soll ein Maß leisten? Die beschriebenen Schwierigkeiten bez. der Messbarkeit“ beschränkter Mengen von ” rationalen Zahlen unter Benutzung des Riemannschen Integrals zwingen uns, doch genauer über die Konstruktion geeigneter Maßfunktionen nachzudenken. Welche Eigenschaften sollte eine solche Funktion eigentlich besitzen? Wir beschränken uns aus Gründen der Einfachheit wieder auf den eindimensionalen Fall und stellen folgende vorläufige Wunschliste“ auf: ” (W1) Wir wollen alle Teilmengen der reellen Zahlengeraden messen; auf jeden Fall aber möglichst viele. (W2) Das Maß einer Teilmenge einer umfassenden Menge darf nicht größer sein als das Maß der umfassenden Menge. (W3) Ein Punkt soll verschwindendes Maß besitzen. (W4) Das Maß eines Intervalls soll mit dessen (elementargeometrischer) Länge übereinstimmen. (W5) Translation (Verschiebung um einen festen Wert) eines Intervalls reeller Zahl soll dessen Maß nicht ändern. (W6) Das Maß eines Ganzen soll die Summe der Maße seiner disjunkten Teile sein. Leider kann es eine solche Abbildung nicht geben: So implizieren wohl der dritte Wunsch (W3) und der sechste Wunsch (W6), dass das Maß einer beliebigen Menge reeller Zahlen, die ja aus disjunkten Punkten“ besteht, verschwindet. Das widerspricht ” aber unserem Wunsch (W4). Wunsch (W6) spiegelt andererseits die Linearität und Additivität des Maßbegriffs wieder und soll deswegen nicht so einfach gestrichen werden. Hierin werden wir die Linearität und Additativität eines verallgemeinerten Integrals wiedererkennen. Als Ausweg bleibt, auf Linearität und Additivität natürlich zu bestehen, dafür aber den Wunsch aufzugeben, wirklich alle Mengen messen zu können. Das führt uns zum Begriff des Lebesgueschen Maßes, den wir nun im Detail kennenlernen wollen. KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 38 4.4 Lebesguemaß I: Definition Jede Menge reeller Zahlen kann überdeckt werden durch eine abzählbare Vereinigung offener Intervalle Ik . Das Maß |Ik | eines jeden solchen Intervalls lässt sich dabei elementargeometrisch verstehen. Eine solche Vereinigung ist sicherlich nicht eindeutig. Vielmehr können wir beliebig viele solcher Überdeckungen angeben. Von allen diesen wählen wir nun die kleinste ” mögliche Überdeckung“ aus und setzen ℓ∗ (Ω) := inf ∞ ∞ ∑ |Ik | : Ω ⊂ k=1 Ik , Ik offenes Intervall . k=1 Die Summation bzw. Vereinigung hierin werden über abzählbar viele Summanden bzw. Intervalle gebildet, unter Umständen also auch über abzählbar unendlich viele. Erinnern Sie sich: Zur Definition des Jordaninhalts haben wir lediglich endlich viele Intervalle zur Überdeckung zugelassen. Dieser scheinbar harmlose Unterschied ist fundamental! Definition 4.3. Es heißt ℓ∗ (Ω) ∈ [0, ∞] das äußere Lebesguesche Maß der Menge Ω. Dieser Maßbegriff wird im Zentrum unserer folgenden Untersuchungen stehen. Aber wie steht es mit unserer vorläufigen Wunschliste? Satz 4.5. Das äußere Lebesguemaß besitzt die folgenden Eigenschaften. 1. Für jede Menge Ω reeller Zahl existiert ℓ∗ (Ω). 2. Da eine beliebige Überdeckung einer Menge auch gleichzeitig Überdeckung einer Teilmenge ist, ist das Lebesguemaß monoton. 3. Die leere Menge 0/ ist Teilmenge jeder Menge. Da außerdem {x} ⊂ (x − ε , x + ε ) für jeden isolierten Punkt x ∈ R gilt, schließen wir ℓ∗ ({x}) = 0 sowie nach der / = 0. Monotonieeigenschaft ℓ∗ (0) 4. Da jedes offene und beschränkte Intervall (a, b) sich selbst überdeckt, gilt nach Definition ℓ∗ ((a, b)) ≤ b − a. Tatsächlich ist sogar ℓ∗ ((a, b)) = b − a. 5. Das Lebesguemaß ist translationsinvariant. Beweis. Wir zeigen nur die vierte Eigenschaft, genauer ℓ∗ ((a, b)) = b − a. Ist nämlich ∪∞ k=1 Ik eine offene Überdeckung des offenen Intervalls (a, b), so ist auch ∞ Ik ∪ (a − ε , a + ε ) ∪ (b − ε , b + ε ) k=1 mit beliebig kleinem ε > 0 eine offene Überdeckung des kompakten Intervalls [a, b]. Nach dem Überdeckungssatz von Heine und Borel können wir hieraus eine endliche Teilüberdeckung auswählen mit endlich vielen offenen Intervallen (an1 , bn1 ), . . . , (ank , bnk ) 4.5. LEBESGUEMASS II: ADDITIVITÄT 39 mit der Eigenschaft a n1 < a < b n1 , a n2 < b n1 < b n2 , . . . , a nk < b < b nk , die ebenfalls [a, b] überdeckt. Damit berechnen wir b − a = (b − ank ) + (ank − ank−1 ) + . . . + (an2 − a) ≤ (bnk − ank ) + (bnk−1 − ank−1 ) + . . . + (bn1 − an1 ) ∞ ≤ ∑ |Ik | + 4ε , k=1 denn die mittlere Summe in der zweiten Zeile kann wegen der Teilüberdeckungseigenschaft durch die unendliche, aber konvergente Summe aller |Ik | nach oben abgeschätzt werden. Also ist |b − a| = b − a auch eine untere Schranke für jede mögliche offene Überdeckung des offenen Intervalls (a, b), und daher folgern wir ℓ∗ ((a, b)) ≥ b − a. Zusammen mit ℓ∗ ((a, b)) ≤ b − a folgt ℓ∗ ((a, b)) = b − a. 4.5 Lebesguemaß II: Additivität Offen bleibt aber noch der Wunsch (W6) nach der Additivität: → Ist Ω1 , Ω2 , . . . eine abzählbare (oder eine endliche) Folge von Mengen, so fordern wir abzählbare Subadditivität ∞ ℓ∗ ∞ Ωk ≤ ∑ ℓ∗ (Ωk ), k=1 k=1 und falls die Ωk paarweise disjunkt sind, dann sogar abzählbare Additivität ∞ ℓ∗ ∞ Ωk k=1 = ∑ ℓ∗ (Ωk ). k=1 Tatsächlich existieren, wie G. Vitali im Jahre 1905 unter Verwendung des sogenannten Auswahlaxioms zeigen konnte, Teilmengen der reellen Zahlen, die sich unter dem Lebesguemaß nicht additiv verhalten. Für detaillierte Diskussionen hierzu verweisen wir auf Elstrodts Lehrbuch der Maß- und Integrationstheorie. Wir können aber stets folgendes zeigen: Satz 4.6. Es gilt Subadditivität. KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 40 Beweis. Betrachte dazu Mengen Ωk ∈ R mit ℓ∗ (Ωk ) < ∞ für alle k = 1, 2, . . . , sonst ist nämlich nichts zu beweisen. Auf Grund der Minimaleigenschaft des Lebesguemaßes finden wir dann zu vorgelegtem ε > 0 eine offene Überdeckung der einzelnen Ωk mit offenen Intervallen Ik , d.h. ∞ Ωk ⊂ Ikn , k = 1, 2, . . . , n=1 so dass ℓ∗ (Ωk ) ≤ ∞ ε ∑ |Ikn | < ℓ∗(Ωk ) + 2k , n=1 und zwar für alle k = 1, 2, . . . Jetzt betrachten wir wieder die gesamte Überdeckung ∞ ∪∞ k,n=1 Ikn von ∪k=1 Ωk und erhalten mit demselben Argument ∞ ℓ∗ ∞ Ωk k=1 ≤ ∞ ∞ ∞ k=1 k=1 1 ∞ ∑ ∑ |Ikn | < ∑ ℓ∗(Ωk ) + ε ∑ 2k = ∑ ℓ∗ (Ωk ) + ε . k=1 n=1 k=1 Hieraus folgt mit ε → 0 sofort die behauptete Subadditivität. 4.6 Lebesguemaß III: Lebesguemessbare Mengen Diejenigen Mengen reeller Zahlen zu charakterisierien, für welche sich das äußere Lebesguemaß abzählbar additiv verhält, ist 1914 dem griechischen Mathematiker Caratheodory gelungen. Die Idee ist, dass jede Menge C ⊂ R bez. einer Menge Ω in die Mengendurchschnitte C ∩ Ω und C ∩ Ωc zerlegt werden kann, C = (C ∩ Ω) ∪ (C ∩ Ωc ), was Caratheodory zum die gesamte Theorie tragenden Prinzip machte. Definition 4.4. (Caratheodorysches Messbarkeitskriterium) Eine Menge Ω reeller Zahlen heißt Lebesguemessbar genau dann, falls ℓ∗ (C) = ℓ∗ (C ∩ Ω) + ℓ∗(C ∩ Ωc ) für jede Menge C ⊂ R richtig ist. Beachten Sie, dass wegen C = (C ∩ Ω) ∪ (C ∩ Ωc ) die bereits nachgewiesene Subadditivität folgende Ungleichung liefert ℓ∗ (C) ≤ ℓ∗ (C ∩ Ω) + ℓ∗(C ∩ Ωc ). Zum Nachweis des Caratheodoryschen Kriteriums genügt es also i.A., sich von der inversen Ungleichung ℓ∗ (C) ≥ ℓ∗ (C ∩ Ω) + ℓ∗(C ∩ Ωc ) zu überzeugen. 4.6. LEBESGUEMASS III: LEBESGUEMESSBARE MENGEN 41 Satz 4.7. Folgende Mengen sind Lebesguemessbar ◦ die leere Menge 0, / ◦ die Menge R aller reellen Zahlen. Ist ferner die Menge Ω ⊂ R Lebesguemessbar, so auch ihr Komplement Ωc . Beweis. Wir berechnen nämlich mit der Subadditivität ℓ∗ (C) ≤ ℓ∗ (C ∩ 0) / + ℓ∗(C ∩ 0/ c ) = ℓ∗ (0) / + ℓ∗(C) = ℓ∗ (C) sowie / = ℓ∗ (C), ℓ∗ (C) ≤ ℓ∗ (C ∩ R) + ℓ∗(C ∩ Rc ) = ℓ∗ (C) + ℓ∗ (0) woraus die Lebesguemessbarkeit von 0/ und R folgen. Die Lebesguemessbarkeit des Komplements Ωc einer messbaren Menge Ω entnehmen wir sofort der Definition: ℓ∗ (C) = ℓ∗ (C ∩ Ω) + ℓ∗(C ∩ Ωc ) = ℓ∗ (C ∩ Ωc ) + ℓ∗(C ∩ Ω). Damit ist der Satz bewiesen. Wir wollen nun zeigen, dass auch nichtleere, beschränkte, offene Intervalle (a, b) ∈ R im Caratheodoryschen Sinne Lebesguemessbar sind. Dazu beachten wir (a, b) = (a, ∞) ∩ (−∞, b) und konzentrieren uns mit den folgenden Betrachtungen darauf, die Lebesguemessbarkeit von (a, ∞) nachzuweisen. Dann verifiziert man analog diese Eigenschaft für (−∞, b), und schließlich folgt die Messbarkeit von (a, b) (siehe hierzu unsere nachfolgenden Betrachtungen). Wir zeigen, dass ℓ∗ (C) ≥ ℓ∗ (C ∩ (a, ∞)) + ℓ∗ (C ∩ (a, ∞)c ) = ℓ∗ (C ∩ (a, ∞)) + ℓ∗ (C ∩ (−∞, a]) erfüllt ist. Die umgekehrte Ungleichung ist, wie oben festgestellt, nichts anderes als die Subadditivität des Lebesguemaßes. Wähle zu diesem Zweck eine offene Überdeckung ∪∞ k=1 Ik von C, so dass zu vorgegebenem ε > 0 gilt ℓ∗ (C) ≤ ∞ ∑ |Ik | ≤ ℓ∗ (C) + ε ; k=1 hier steht wieder die Infimumeigenschaft des Lebesguemaßes im Hintergrund. KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 42 Unter Beachtung der Monotonie (erste Ungleichung) und der Subadditivität (zweite Ungleichung) schätzen wir nun wie folgt ab ℓ∗ (C ∩ (a, ∞)) + ℓ∗(C ∩ (−∞, a]) ∞ ≤ ℓ∗ ∞ Ik ∩ (a, ∞) + ℓ∗ k=1 ∞ ∞ ≤ ∑ ℓ∗(Ik ∩ (a, ∞)) + ∑ ℓ∗ (Ik ∩ (−∞, a]) k=1 ∞ = k=1 ∞ ∑ |Ik ∩ (a, ∞)| + ∑ |Ik ∩ (−∞, a]| k=1 ∞ = Ik ∩ (−∞, a] k=1 k=1 ∑ |Ik | ≤ ℓ∗(C) + ε . k=1 Führen wir den Grenzwert ε → 0 aus, wird die Gültigkeit der gesuchten Ungleichung ersichtlich. Wir fassen zusammen: Als Lebesguemessbare Mengen im Caratheodoryschen Sinn haben wir bislang erkannt → die leere Menge; die Menge R; offene, beschränkte Intervalle und ihre Komplemente. Was können wir über die Lebesguemessbarkeit von Vereinigungen und Durchschnitte dieser Mengen aussagen? 4.7 Lebesguemaß IV: σ -Algebren Um dieser Frage näher zu kommen, benötigen wir die Definition 4.5. Es sei V ein beliebiger Raum. Ein System A von Teilmengen von V heißt eine σ -Algebra, falls folgende Eigenschaften richtig sind: 1. Die leere Menge 0/ gehört zu diesem System. 2. Mit einer zu A gehörenden Menge Ω ist auch Ωc ∈ A . 3. Sind endlich viele oder abzählbar unendlich viele Ω1 , Ω2 , . . . ∈ A , so ist auch Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . ∈ A . Auf Caratheodory geht nun folgender entscheidende Satz zurück. Satz 4.8. Das System aller Mengen Ω ⊂ R, welche das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen, bildet eine σ -Algebra A . Auf dieser ist das Lebesguesche äußere Maß ℓ∗ additiv. 4.7. LEBESGUEMASS IV: σ -ALGEBREN 43 Beweis. ∗ Wir gehen in mehreren Schritten vor. 1. Seien Ω1 und Ω2 zwei Lebesguemessbare Mengen. Dann berechnen wir unter Benutzung der Identitäten C ∩ (Ω1 ∪ Ω2 ) = (C ∩ Ω1 ) ∪ (C ∩ Ωc1 ∩ Ω2 ), C ∩ (Ωc1 ∩ Ωc2 ) = C ∩ (Ω1 ∪ Ω2 )c sowie der Subadditivität des äußeren Lebesguemaßes ℓ∗ (C) = = ≥ = ≥ ℓ∗ (C ∩ Ω1 ) + ℓ∗ (C ∩ Ωc1 ) ℓ∗ (C ∩ Ω1 ) + ℓ∗ ((C ∩ Ωc1 ) ∩ Ω2 ) + ℓ∗ ((C ∩ Ωc1 ) ∩ Ωc2 ) ℓ∗ ((C ∩ Ω1 ) ∪ (C ∩ Ωc1 ) ∩ Ω2 ) + ℓ∗ ((C ∩ Ωc1 ) ∩ Ωc2 ) ℓ∗ (C ∩ (Ω1 ∪ Ω2 )) + ℓ∗ (C ∩ (Ω1 ∪ Ω2 )c ) ℓ∗ (C). Also ist Ω1 ∪ Ω2 Lebesguemessbar. Da mit Ω1 und Ω2 aber auch Ωc1 sowie Ωc2 Lebesguemessbar sind, schließen wir wegen Ω1 ∩ Ω2 = (Ωc1 ∪ Ωc2 )c auf die Lebesguemessbarkeit des Durchschnitts Ω1 ∩ Ω2 . Auf diese Weise fortfahrend, zeigt man: Endliche Durchschnitte und endliche Vereinigungen sind also Lebesguemessbar. 2. Wir betrachten nun den Fall abzählbare Vereinigungen Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . und setzen voraus, dass die Ωk paarweise untereinander disjunkt sind. Wir beginnen mit (verwende Ω1 ∪ Ω2 als Vergleichsmenge C sowie die Lebesguemessbarkeit von Ω2 ) ℓ∗ (Ω1 ∪ Ω2 ) = ℓ∗ ((Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ω2 ) + ℓ∗ ((Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ωc2 ) = ℓ∗ (Ω2 ) + ℓ∗ (Ω1 ), denn wegen der Disjunktheit von Ω1 und Ω2 gelten (Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ω2 = Ω2 als auch Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ωc2 = Ω1 . Induktiv finden wir daher n ℓ∗ C ∩ n Ωk n = ℓ∗ C ∩ k=1 Ωk ∩ Ωn + ℓ∗ C ∩ k=1 = ℓ∗ (C ∩ Ωn ) + Ωk ∩ Ωcn k=1 n−1 n k=1 k=1 ∑ ℓ∗ (C ∩ Ωk ) = ∑ ℓ∗ (C ∩ Ωk ). Da nun n Ωk + ℓ∗ C ∩ k=1 Ωk k=1 c ∞ n ≥ c n ℓ∗ (C) = ℓ∗ C ∩ ∑ ℓ∗ (C ∩ Ωk ) + ℓ∗ C ∩ k=1 Ωk k=1 für alle n ∈ N, folgern wir ℓ∗ (C) ≥ k=1 ≥ ℓ∗ C ∩ c ∞ ∞ ∑ ℓ∗ (A ∩ Ωk ) + ℓ∗ Ωk C∩ k=1 ∞ Ωk k=1 + ℓ∗ C ∩ c ∞ Ωk k=1 , KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 44 womit die Lebesguemessbarkeit von Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . nachgewiesen ist. 3. Wir wollen nur die Additivität zeigen. Seien dazu Ik , k = 1, 2, . . . paarweise disjunkt, so gilt offenbar für fest gewähltes n ∈ N endliche Additivität, und der Subadditivität des Lebesguemaßes entnehmen wir ∞ n n ∑ ℓ∗ (Ik ) = ℓ∗ k=1 Ik ≤ ℓ∗ k=1 ∞ Ik ≤ k=1 ∑ ℓ∗ (Ik ), k=1 und zwar für alle n ∈ N. Die Behauptung folgt mit n → ∞. 4.8 Lebesguemaß V: Borelmengen Das äußere Lebesguemaß ist additiv auf Mengen aus der σ -Algebra A aller der Mengen, die das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen. Für eine solche besondere Menge Ω ⊂ A wollen wir in Zukunft das äußere Lebesguemaß einfach als ℓ(Ω) := ℓ∗ (Ω), Ω∈A, schreiben. Insbesondere sind beschränkte, offene Intervalle und ihre Komplemente in unserer σ -Algebra A enthalten. Definition 4.6. Der Durchschnitt aller σ -Algebren, die alle offenen Mengen enthalten, heißt die Borelsche σ -Algebra B, und ihre Elemente bezeichnen wir als Borelmengen. Unter der hier unbewiesenen Eigenschaft, dass ein solcher Schnitt wieder eine σ Algebra ist, schließen wir mit B⊂A auf die zweite wichtige Charakterisierung Lebesguemessbarer Mengen. Satz 4.9. Borelmengen reeller Zahlen sind Lebesguemessbar. Alle Borelmengen in R sind also Lebesguemessbar. Zu ihnen gehören → alle beschränkten offenen und alle beschränkten abgeschlossenen Teilmengen Ω ⊂ R; im Falle der Unbeschränktheit muss mit einem Ausschöpfungsprozess argumentiert werden; → ebenfalls ist jede Menge Borelmenge, die man als Vereinigung oder Durchschnitt von höchstens abzählbar vielen Borelmengen (z.B. offenen oder abgeschlossenen Mengen) darstellen kann. Beispiel 2. Wegen ∞ {x0 } = k=1 1 1 x0 − , x0 + k k sind Punkte {x0 } Lebesguemessbar mit Maß ℓ({x0 }) = 0. 4.9. APPROXIMATION MESSBARER MENGEN 45 4.9 Approximation messbarer Mengen Messbare Mengen können schließlich von außen bzw. innen von offenen bzw. abgeschlossenen Mengen approximiert werden. Satz 4.10. Sei Ω ⊂ R eine beliebige Menge. Dann sind folgende Aussagen äquivalent. (A1) Ω ist Lebesguemessbar im Caratheodoryschen Sinn. (A2) Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine offene Menge Σ ⊃ Ω mit ℓ∗ (Σ \ Ω) = ε . (A3) Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine abgeschlossene Menge Θ ⊂ Ω mit ℓ∗ (Ω \ Θ) < ε . Beweis. Wir zeigen nur die Richtung (A1) → (A2) : Die Lebesguemessbare Menge Ω ⊂ R kann von außen durch eine offene Menge Σ ⊂ R approximiert werden. Sei dazu ℓ(Ω) < ∞ vorausgesetzt.1 Zu vorgelegtem ε > 0 existiert zunächst eine Überdeckung Ω ⊂ I1 ∪ I2 ∪ . . . mit offenen Intervallen Ik ⊂ R, so dass ∞ ℓ(Ω) ≤ ℓ Ik < ℓ(Ω) + ε k=1 gemäß dem Infimumcharakter des äußeren Lebesguemaßes. Die abzählbare Vereinigung der Ik nehmen wir als Vergleichsmenge im Caratheodoryschen Messbarkeitskriterium, so dass wegen der Messbarkeit von Ω folgt ∞ ℓ ∞ Ik k=1 ∞ Ik ∩ Ω + ℓ =ℓ k=1 ∞ Ik \ Ω Ik \ Ω . = ℓ(Ω) + ℓ k=1 k=1 Subtraktion von ℓ(Ω) bringt ∞ ∞ Ik \ Ω ℓ k=1 Ik − ℓ(Ω) < ε , =ℓ k=1 und das zeigt die Behauptung. 4.10 Eine Nicht-Lebesguemessbare Menge Im Jahre 1905 konstruierte der italienische Mathematiker G. Vitali folgende nicht Lebesguemessbare Menge.2 1 Andernfalls 2 Wir führen wir die Argumentation für die ausschöpfenden Mengen Ωn := Ω ∩ [−n, n] durch. halten uns an die Ausführungen aus Timmann, S.: Repetitorium der Analysis 2. KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 46 Satz 4.11. Es sei vermöge x ∼ y ⇔ x−y ∈ Q eine Äquivalenzrelation in den reellen Zahlen R erklärt. Diejenige Menge Ω ⊂ [0, 1], die aus jeder solchen Äquivalenzklasse genau einen Vertreter enthält, ist nicht Lebesguemessbar. Beweis. ∗ Den Nachweis, dass ∼ tatsächlich eine Äquivalenzrelation darstellt, belassen wir als Übung. Für den Beweis der Nichtmessbarkeit gehen wir desweiteren in mehreren Schritten vor. 1. Wir zeigen, dass [0, 1] aus jeder Äquivalenzklasse von ∼ abzählbar unendlich viele Elemente enthält. Sei nämlich [x] = x + Q die Äquivalenzklasse eines beliebigen x ∈ R. Dann enthält die Menge [0, 1] − x = [−x, 1 − x] abzählbar viele Elemente q j ∈ Q. Für diese gilt q j + x ∈ [0, 1] ∩ [x]. 2. Wir zeigen, dass für alle r, s ∈ Q mit r = s gilt (r + Ω) ∩ (s + Ω) = 0. / Angenommen nämlich, es gibt ein Element x ∈ (r + Ω) ∩ (s + Ω). Dann existieren auch a, b ∈ Ω mit x = r + a und x = s + b. Es folgt a − b = s − r ∈ Q, also a ∼ b. Da aber Ω aus jeder Äquivalenzklasse genau ein Element enthält, schließen wir a = b und damit r = s. 3. Wir führen die abzählbare Menge ein Θ := r + Ω : |r| ≤ 1, r ∈ Q r und zeigen [0, 1] ⊂ Θ ⊂ [−1, 2]. Sei nämlich x ∈ [0, 1] beliebig gewählt. Sei ferner a ∈ Ω ∩ [x]. Dann ist a ∼ x, also auch x − a =: r ∈ Q. Wegen x, a ∈ [0, 1] folgt −1 ≤ r = x − a ≤ 1, also x = r + a ∈ Θ. Mit |r| ≤ 1 und a ∈ [0, 1] schließen wir −1 ≤ r + a ≤ 2, damit aber auch Θ ⊂ [−1, 2]. 4. Wäre nun Ω Lebesguemessbar, so hätten wegen der Translationsinvarianz des Lebesguemaßes alle Mengen r + Ω das gleiche Maß. Angenommen, es ist ℓ(Ω) = 0, so würde aus der abzählbaren Additivität folgen ℓ(Θ) = 0, was aber im Widerspruch zu [0, 1] ⊂ Θ steht. Also muss ℓ(Ω) > 0 sein. Dann hat aber wegen der abzählbaren Additivität die Menge Θ kein endliches Lebesguemaß im Widerspruch zu Θ ⊂ [−1, 2]. Damit ist gezeigt, dass Ω ⊂ [0, 1] nicht Lebesguemessbar ist. Um einen Vertreter jeder der im Beweis konstruierten Äquivalenzklassen auswählen zu können, verweist man auf das sogenannte Auswahlaxiom von Zermelo 1902, welches besagt, dass es zu jeder Kollektion von nichtleeren Mengen eine Auswahlfunktion gibt, die jeder dieser nichtleeren Mengen ein Element derselben Menge zuordnet, also auswählt. Es gibt tatsächlich Mengenkollektionen, für welche eine solche Auswahlfunktion nicht offensichtlich angebbar ist. Ihre Existenz wird dann durch das Auswahlaxiom postuliert. 4.11. LEBESGUEMESSBARE FUNKTIONEN 47 4.11 Lebesguemessbare Funktionen Wir übertragen nun die Lebesguemessbarkeit von Mengen auf die Lebesguemessbarkeit von Funktionen als Erweiterung der Stetigkeit. Vielleicht war Lebesgues Motivation in etwa wie folgt: Ist f : Ω → R stetig, so ist das Urbild offener Mengen unter der inversen Abbildung f −1 wieder offen (auf diese Bemerkung kommen wir im Beweis zu Satz 4.13 zurück). Andererseits lassen sich offene Intervalle als Vereinigung abzählbar vieler offener Intervalle Ik darstellen, und für die inversen Bilder gilt wieder ∞ ∞ f −1 Ik k=1 f −1 (Ik ). = k=1 Die für uns interessanten Eigenschaften werden also von f −1 realisiert. Sollte man daher den neuen Begriff der Messbarkeit von Funktionen ebenfalls über die Bilder unter der inversen Abbildung f −1 verstehen? Definition 4.7. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} heißt Lebesguemessbar, falls für alle c ∈ R die Menge {x ∈ Ω : f (x) > c} Lebesguemessbar ist. Tatsächlich gilt der Satz 4.12. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} ist Lebesguemessbar genau dann, wenn ◦ {x ∈ Ω : f (x) ≥ c} Lebesguemessbar ist für alle c, oder ◦ {x ∈ Ω : f (x) < c} Lebesguemessbar ist für alle c, oder ◦ {x ∈ Ω : f (x) ≤ c} Lebesguemessbar ist für alle c. Beweis. Betrachte folgende Mengen ∞ Ω1 := {x ∈ Ω : f (x) ≥ c} = x ∈ Ω : f (x) > c − k=1 1 , k Ω2 := {x ∈ Ω : f (x) < c} = Ω \ {x ∈ Ω : f (x) ≥ c}, ∞ x ∈ Ω : f (x) < c + Ω3 := {x ∈ Ω : f (x) ≤ c} = k=1 1 , k Ω4 := {x ∈ Ω : f (x) > c} = Ω \ {x ∈ Ω : f (x) ≤ c}. Die L-Messbarkeit von f impliziert die L-Messbarkeit von Ω1 als Durchschnitt abzählbar vieler offener Mengen, die L-Messbarkeit von Ω1 impliziert die der Komplementmenge Ω2 , die L-Messbarkeit von Ω2 impliziert die L-Messbarkeit von Ω3 als Durchschnitt abzählbar vieler offener Mengen, daraus folgt die L-Messbarkeit von Ω4 als Komplement von Ω3 , und das ist aber wieder die Definition der L-Messbarkeit der Funktion f . KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 48 4.12 Approximation messbarer Funktionen Wir stellen folgendes Resultat voran. Satz 4.13. Folgende Funktionen sind Lebesguemessbar: (i) stetige Funktionen auf Lebesguemessbaren Mengen; (ii) Riemannintegrierbare Funktionen auf Lebesguemessbaren Mengen. Beweis. Wir zeigen nur die Aussage (i), und das am Beispiel einer stetigen Funktion f : R → R. Es ist nämlich {x ∈ R : f (x) > c} das Urbild der offenen Menge (c, ∞), und wegen der Stetigkeit von f ist dieses Urbild offen und somit Lebesguemessbar. Satz 4.14. Es gelten die folgenden Aussagen. ◦ Ist f Lebesguemessbar, so auch | f |. Die Umkehrung dieser Aussage ist i.A. falsch. ◦ Sind f und g Lebesguemessbar, so auch max { f , g}, min { f , g}, insbesondere also auch f + := max { f , 0} und f − := min { f , 0}. ◦ Sind f (1) , f (2) , . . . Lebesguemessbar, so auch sup f (k) , k=1,2,... lim sup f (k) , k→∞ inf k=1,2,... f (k) , lim inf f (k) . k→∞ ◦ Sind f und g Lebesguemessbar, und ist F : R2 → R stetig, so ist auch die Komposition F( f , g) Lebesguemessbar. Insbesondere sind f + g, f · g usw. Lebesguemessbar. Beweis. ∗ Wir geben nur eine Idee zum dritten Punkt: Man überlege sich zunächst sup f (k) (x) > c = x∈Ω : k=1,2,... ∞ {x ∈ Ω : f (k) (x) > c} . k=1 Die rechte Seite dieser Mengenidentität ist aber Lebesguemessbar als abzählbarer Durchschnitt Lebesguemessbarer Mengen. Also ist die Funktion sup f (k) (x) k=1,2,... Lebesguemessbar. Aus (wieder Übung!) inf k=1,2,... − f (k) (x) f (k) (x) = − sup k=1,2,... entnehmen wir die Lebesguemessbarkeit des Infimums, und wegen lim sup f (k) (x) = k→∞ inf sup f ( j) k=1,2,... j≥k und lim inf f (k) (x) = sup inf f ( j) k→∞ k=1,2,... j≥k folgern wir die Lebesguemessbarkeit des Limes superior und Limes inferior. 4.12. APPROXIMATION MESSBARER FUNKTIONEN 49 Konvergiert eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen f (k) : Ω → R, wobei Ω ⊂ R Lebesguemessbar, gegen ein f : Ω → R, d.h. existiert der punktweise Grenzwert f (x) = lim f (k) (x), k→∞ so ist dieser natürlich gleich dem lim sup f (k) (x). k→∞ Also gilt auch der Satz 4.15. Ist { f (k) }k=1,2,... eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen auf einer Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ R, die punktweise gegen ein f : Ω → R konvergiert, so ist auch f Lebesguemessbar. Solche Eigenschaften besitzen Riemannintegrierbare Funktionen in der Regel nicht! Hier unser bekanntes Gegenbeispiel: Bezeichnet q1 , q2 , . . . eine Abzählung der rationalen Zahlen in (0, 1), so setzen wir für x = q1 , q2 , . . . , qk . sonst 1 0 f (k) (x) := Für jedes k = 1, 2, . . . gilt dann 1 f (k) (x) dx = 0, 0 aber die Grenzfunktion, d.h. die Dirichletsche Sprungfunktion, ist nicht mehr Riemannintegrierbar. Nach Lebesgue lassen sich messbare Funktionen auch durch sogenannte einfache Funktionen approximieren. Definition 4.8. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar und durch endlich viele, paarweise disjunkte Mengen Ωk wie folgt ausgeschöpft n Ω= Ωk . k=1 Unter einer einfachen Funktion verstehen wir einen Ausdruck der Form n Φ(x) = ∑ ck χΩk (x) k=1 mit reellen Zahlen ck und den charakteristischen Funktionen χΩk (x) = 1, falls x ∈ Ωk . 0, falls x ∈ Ωk KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE 50 Aufgabe 3. Einfache Funktionen sind Lebesguemessbar. Neben dieser Eigenschaft einfacher Funktionen, die wir als Übungsaufgabe belassen, gilt nun der folgende Satz 4.16. Sei f : Ω → R eine Lebesguemessbare Funktion auf einer Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ R. Dann existiert eine Folge {Φ(k) }k=1,2,... einfacher Funktionen auf Ω mit der Eigenschaft lim Φ(k) (x) = f (x) k→∞ für alle x ∈ Ω. Ist ferner f beschränkt auf Ω, so ist die Konvergenz gleichmäßig. Und ist f nichtnegativ, so kann die approximierende Folge einfacher Funktionen monoton wachsend gewählt werden. Beweis. Wir geben nur eine Beweisidee. Sei o.B.d.A. f (x) ≥ 0 für alle x ∈ Ω. Andernfalls betrachten wir die Zerlegung f (x) = | f (x)| + f (x) | f (x)| − f (x) − 2 2 einer beliebigen Funktion f in zwei positive Anteile, die jeweils Lebesguemessbar sind. Lebesgues ursprüngliche Approximation sieht nun wie folgt aus: Zerlege den Bildraum [0, ∞) der nichtnegativen Funktion f in halboffene Intervalle [0, ∞) = [0, 1) ∪ [1, 2) ∪ . . . ∪ [n − 1, n) ∪ [n, ∞), und betrachte hierauf eine verfeinerte Zerlegung in 2n + 2n + . . . + 2n + 1 = n · 2n + 1 disjunkte Teilintervalle. Setze dann Φ(n) := n·2n k−1 χΩn,k (x) + nχΘn (x) n k=1 2 ∑ mit den Lebesguemessbaren Teilmengen Ωn,k := x ∈ Ω : k k−1 ≤ f (x) ≤ n n 2 2 und Θn := [n, ∞). Also sind auch alle Φ(n) Lebesguemessbar. Nun überlege man sich | f (x) − Φ(n) (x)| ≤ 1 2n für alle x ∈ Ω \ Θn woraus die behauptete punktweise Approximation folgt. 4.13. DIE SÄTZE VON EGOROFF UND LUSIN 51 4.13 Die Sätze von Egoroff und Lusin Wir wollen ohne Beweis zwei wichtige Resultate vorbringen, welche für das Verständnis messbarer Funktionen unerlässlich sind. Das erste Resultat geht auf den russischen Mathematiker und Physiker D.F. Egoroff (1869-1931) zurück und besagt, dass punktweise Konvergenz messbarer Funktionen fast gleichmäßige“ Konvergenz bedeutet. ” Satz 4.17. Sei { f (k) }k=1,2,... eine Folge messbarer Funktionen, die auf Ω ⊂ R mit ℓ(Ω) < ∞ fast überall gegen eine Funktion f : Ω → R konvergiert, die endlich fast überall auf Ω ist. Für jedes ε > 0 existiert dann eine messbare Teilmenge Θ ⊂ Ω mit Lebesguemaß ℓ(Θ) < ε , so dass die Folge { f (k) }k=1,2,... auf Ω \ Θ gleichmäßig gegen f konvergiert. Die beiden Voraussetzungen ℓ(Ω) < ∞“ und | f (x)| < ∞“ fast überall in diesem Satz ” ” können nicht abgeschwächt werden, wie folgende Gegenbeispiele zeigen. Beispiel 3. Sei Ω = R, und sei { f (k) }k=1,2,... die Folge charakteristischer Funktionen auf den Intervallen Ik = [− 2k , 2k ] mit ℓ(Ik ) = k. Dann ist f (k) (x) → 1 für alle x ∈ R, aber die Konvergenz ist nicht gleichmäßig auf Mengen, deren Komplemente endliches Lebesguemaß besitzen. Also ist die Voraussetzung ℓ(Ω) < ∞ notwendig. Beispiel 4. Das vorige Beispiel können wir auch so formulieren: Auf Ω = R betrachten wir die Folge { f (k) }k=1,2,... charakteristischer Funktionen auf den Intervallen Ik = [k, k + 1] mit ℓ(Ik ) = 1. Dann konvergiert f (k) (x) für alle x ∈ R gegen Null, aber die Konvergenz ist nicht gleichmäßig auf Mengen R \ Θ mit einer beliebigen Menge Θ endlichen Lebesguemaßes. Beispiel 5. Kommen wir nun zur zweiten Voraussetzung: Es seien Ω = [0, 1] und f (k) (x) ≡ k auf Ω. Dann konvergiert diese Folge gegen ∞ auf [0, 1], und die Konvergenz kann nicht gleichmäßig sein. Also ist die Voraussetzung der Endlichkeit fast überall von f notwendig. Das zweite wichtige Resultat ist benannt nach dem russischen Mathematiker N.N. Lusin (1883-1950). Satz 4.18. Seien Ω ⊂ R Lebesguemessbar und f : Ω → R eine in Ω fast überall endliche Funktion. Dann gibt es zu jedem ε > 0 eine abgeschlossene Teilmenge Θ ⊂ Ω mit ℓ(Ω \ Θ) < ε , so dass die Einschränkung g := f |Θ von f auf Θ stetig ist. Diese Aussage bedarf einer Erklärung: Es wird nicht behauptet, dass f stetig auf Θ ist, sondern dass die Einschränkung f |Θ von f auf Θ stetig ist. Dazu folgendes Beispiel. 52 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE Beispiel 6. Es sei f die Dirichletsche Sprungfunktion auf ganz R. Sei ferner Σ eine offene Menge, welche die rationalen Zahlen Q enthält und die das Maß ℓ(Σ) < ε besitzt. Wir setzen Θ := Σc . Dann ist ℓ(R \ Θ) = ℓ(Σ) < ε , und da g := f |Θ ≡ 0, ist f |Θ auch stetig. Betrachten wir f jedoch als Funktion auf ganz R, so ist f sicher nicht stetig auf Θ. 4.14 Littlewoods drei Prinzipien Der britische Mathematiker J.E. Littlewood fasste die in den vorigen Paragraphen vorgestellten Eigenschaften Lebesguemessbarer Funktionen in drei Prinzipien“ wie folgt ” zusammen: 1. Jede messbare Menge ist fast eine endliche Vereinigung von Intervallen. 2. Jede messbare Funktion ist fast stetig. 3. Jede konvergente Folge messbarer Funktionen ist fast gleichmäßig konvergent. Das erste Prinzip ist Aussage (A2) aus dem obigen Abschnitt zur Approximation von Mengen: Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine offene Menge Σ ⊃ Ω mit ℓ∗ (Σ \ Ω) < ε . Ein solches Ω ⊂ R kann man nun durch abzählbar viele, paarweise durchschnittsfremder halboffener Intervalle [a, b) überdecken. Das zweite Prinzip ist der Satz von Lusin, das dritte Prinzip der Satz von Egoroff. Damit wollen wir unsere Untersuchungen zu Lebesguemessbaren Mengen und Funktionen abschließen und uns der Konstruktion des Lebesgueschen Integrals widmen.