ACHTES KAPITEL

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Aus: Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, Stuttgart 2002
(Anm.: Die Fußnoten sind weggelassen worden. Bei den Abbildungen bezeichnet die
Höhe der Kurven die Anzahl der Personen.)
ACHTES KAPITEL
Menschliche Natur
»>Gemäss der Natur< wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei
der Worte! Denkt Euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne
Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne
Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt
Euch die Indifferenz als Macht - wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz
leben?«
Friedrich Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«
Bis zu dieser Stelle habe ich davon gesprochen, daß sich die Menschenrechte stimmig aus
der menschlichen Natur ableiten lassen, ohne aber definiert zu haben, was ich unter
diesem Begriff verstehe. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen menschlicher
Natur, Werten und Politik ist es wohl begreiflich, daß der Begriff der menschlichen Natur
selbst während der letzten Jahrhunderte außerordentlich umstritten gewesen ist. Die
meisten Diskussionen über die menschliche Natur haben sich üblicherweise um die uralte
Frage gedreht, wo man denn die Grenzlinie zwischen Natur und Kultur oder Milieu
ziehen solle und was strenggenommen zum Bereich der Natur gehöre. Gegen Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts wurde diese Debatte durch eine andere Kontroverse abgelöst,
und dabei verlagerte sich der Schwerpunkt entschieden zugunsten jener Argumente, die
die Bedeutung des Milieus hervorhoben. Viele Diskutanten haben dabei mit
Entschiedenheit vorgebracht, das menschliche Verhalten sei derart formbar, daß der
Terminus menschliche Natur ein Begriff ohne Inhalt sei. Während die jüngsten
Fortschritte in den Biowissenschaften die zuletzt genannte Position immer unhaltbarer
gemacht haben, existiert doch die Einstellung weiter, die sich gegen das Konzept der
menschlichen Natur richtet: So hat beispielsweise in jüngster Zeit der Ökologe Paul
Ehrlich die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß die Leute ein und für allemal
aufhörten, von der menschlichen Natur zu sprechen, da es sich hier um eine Leerformel
handle.
Die Definition des Begriffs »menschliche Natur«, die ich verwenden werde, lautet wie
folgt: Die menschliche Natur ist die Summe von Verhaltensformen und Eigenschaften,
die für die menschliche Gattung typisch sind, sie ergibt sich eher aus genetischen
Umständen als aus Umweltfaktoren.
Das Wort »typisch« bedarf einer näheren Erläuterung. Ich benutze den Begriff in der
1
gleichen Weise, wie es Verhaltensforscher tun, wenn sie von einem »gattungstypischen«
Verhalten sprechen (beispielsweise sind Paarbindungen für Rotkehlchen und Drosseln,
nicht aber für Gorillas und OrangUtans typisch). Ein weitverbreitetes Mißverständnis
hinsichtlich der »Natur« von Tieren besteht darin, daß eine rigide genetische Bestimmung
unterstellt wird. In Wirklichkeit aber sind bei allen natürlichen Eigenschaften innerhalb
der gleichen Gattung beträchtliche Unterschiede festzustellen; natürliche Zuchtwahl und
evolutionäre Anpassung wären ausgeschlossen, wenn es anders wäre. Das gilt
insbesondere bei zivilisierten Lebewesen wie den Menschen: Da Verhaltensformen
erlernt und modifiziert werden können, ist die Vielfalt des Verhaltens hier auf jeden Fall
größer und wird das Umfeld eines Individuums umfassender widerspiegeln, als es bei
Tieren der Fall ist, die zu kulturellem Lernen nicht fähig sind. Was wir als das
Gattungstypische ansehen, ist also ein statistisches Kunstgebilde: Es bezieht sich auf
etwas, das dem Mittelwert der Verteilung von Verhaltensformen und Eigenschaften nahe
kommt.
Nehmen wir als Beispiel die menschliche Körpergröße. Augenscheinlich gibt es hier eine
beträchtliche Vielfalt; innerhalb einer bestimmten Population wird die Körperlänge dem
entsprechen, was die Statistiker als Normalverteilung bezeichnen (und in einer
glockenförmigen Kurve darstellen). Wenn wir die Körperlänge von Männern und Frauen
in den Vereinigten Staaten von heute grafisch veranschaulichen, so wird das ErgebVerteilung von Körpergrößen, 2000
Abbildung 1
Körpergröße
nis in etwa Abbildung 1 entsprechen (wobei die hier gezeigten Kurven nur der
Veranschaulichung dienen).
Diese Kurven machen uns vielerlei deutlich. Erstens gibt es so etwas wie eine »normale«
Länge des menschlichen Körpers nicht; die Verteilung der Körpergröße innerhalb einer
Population hat jedoch einen Mittelwert und einen Durchschnitt. Strenggenommen gibt es
also nicht so etwas wie eine »gattungstypische« Länge, es gibt vielmehr nur eine
gattungstypische Verteilung von Körpergrößen; wir alle wissen, daß es Zwerge und
Riesen gibt. Es existiert aber auch keine verbindliche Definition dessen, was ein Zwerg
oder was ein Riese ist. Ein Statistiker kann, wenn ihm das paßt, behaupten, das
Zwergentum beginne bei einer bestimmten Abweichung vom Mittelwert nach unten,
2
während es bei den Riesen um die entsprechende Abweichung vom Mittelwert nach oben
gehe. Weder Riesen noch Zwerge schätzen es, wenn sie als solche bezeichnet werden, da
man mit diesen Worten Abnormalität und Stigma assoziiert. Dabei gibt es keine
ethischen Gründe, Menschen dieser Art zu stigmatisieren. Das bedeutet allerdings nicht,
daß es sinnlos ist, über die gattungstypische Größe bei einer Population von Menschen zu
sprechen: Der Mittelwert der Verteilung beim Menschen wird sich vom Mittelwert der
Verteilung
Verteilung von Körpergrößen zu verschiedenen Zeiten
Abbildung 2
Körpergröße
bei Schimpansen und Elefanten unterscheiden, und dementsprechend kann es
Unterschiede bei den jeweiligen Glockenkurven geben. Gene spielen sowohl bei der
Bestimmung des Mittelwerts wie auch bei der Festlegung der Konturen der Kurven eine
Rolle; sie sind auch für die Tatsache verantwortlich, daß die Mittelwerte der Kurven von
Männern und Frauen sich voneinander unterscheiden.
Allerdings ist die Art, wie Natur und Milieu aufeinander einwirken, in der Praxis weit
komplizierter. Die mittleren Körpergrößen verschiedener Gruppen von Menschen
unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf den Faktor Geschlecht beträchtlich, sondern
auch wenn man die Rasse und die ethnische Gruppe berücksichtigt. Das ist in einem
beträchtlichen Maße auf die Umwelt zurückzuführen: Der Mittelwert der Körpergröße
von Japanern war über Generationen hinweg niedriger als der von Europäern, aber in der
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist er aufgrund besserer und anders gearteter Nahrung
gestiegen. Im allgemeinen haben die wirtschaftliche Entwicklung und die verbesserte
Ernährung überall auf der Welt zum Anstieg der Mittelwerte der Körperlänge geführt.
Wenn wir die Verteilung der Körperlängen zwischen den Jahren 1500 und 2000 in einem
typischen europäischen Land vergleichen, ergeben sich Kurven, die denen von Abbildung
2 entsprechen.
Es ist also keineswegs so, daß die Natur für eine einzige menschliche Mittellänge sorgt;
die Mittelwerte der Körperlänge weisen ihrerseits eine Normalverteilung auf, die von
Ernährungsweise, Gesundheit und anderen Umweltfaktoren abhängt. Seit dem Mittelalter
hat es eine beträchtliche Zunahme der Durchschnittsgröße der Menschen gegeben, das
wird jeder Museumsbesucher erkennen, wenn er sich mittelalterliche Ritterrüstungen
3
anschaut. Andererseits gibt es aber auch genetisch bestimmte Grenzen der möglichen
Varianten: Entzieht man einer Bevölkerung im Durchschnitt ein zureichendes Quantum
an Kalorien, dann wird sie eher verhungern als kleinwüchsiger werden, nimmt dagegen
die Einnahme von Kalorien über einen bestimmten Punkt hinaus zu, dann werden die
Menschen nicht größer, sondern korpulenter. (Und das ist, wie wir alle wissen, in einem
Großteil der entwickelten Welt heute der Fall.) Die durchschnittliche europäische Frau
des Jahres 2000 war beträchtlich größer als der Durchschnittsmann des Jahres 1500;
dennoch sind die Männer summa summarum immer noch größer als Frauen. Die
tatsächlichen Mittelwerte für jede gegebene Population und jede historische Phase
werden weitgehend durch die Umwelt bestimmt; aber der Gesamtspielraum möglicher
Abweichungen und die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau sind
Ergebnis ererbter Anlagen und somit der Natur.
Einigen wird auffallen, daß diese Art von statistischer Bestimmung der menschlichen
Natur sowohl vom Alltagsverständnis als auch von jenem Konzept von menschlicher
Natur abweicht, wie es Aristoteles und andere Philosophen vertreten haben. Es handelt
sich hier tatsächlich nur um einen präziseren Gebrauch des Begriffs. Wenn wir
beobachten, wie jemand ein Bestechungsgeld in Empfang nimmt, können wir
kopfschüttelnd dazu bemerken: »Es entspricht dem Wesen des Menschen, das Vertrauen
anderer Leute zu mißbrauchen«, und wenn Aristoteles in seiner »Nikomachischen Ethik«
darlegt, daß der Mensch »von Natur aus ein politisches Lebewesen« ist,
so bedeutet das keineswegs, daß entweder alle Menschen Schmiergeld annehmen oder
daß alle Menschen politisch sind. Wir kennen ehrliche Menschen, und wir kennen
Einsiedler; Behauptungen über die menschliche Natur beruhen entweder auf
Wahrscheinlichkeiten (also darauf, was die meisten Menschen zu den meisten Zeiten tun
werden), oder es handelt sich um Hypothesen, wie die Menschen wahrscheinlich auf ihre
Umwelt reagieren werden (»Wenn die Gelegenheit günstig ist, werden sich die meisten
bestechen lassen«).
WIDER DIE NATUR
Es existieren drei wichtige Gruppen von Argumenten, die Kritiker im Laufe der Zeit
vorgebracht haben, um die These zu untermauern, daß die traditionelle Vorstellung von
menschlicher Natur irreführend ist oder sich auf etwas bezieht, was überhaupt nicht
existiert. Die erste Kategorie hat mit der Behauptung zu tun, daß es fast keine allgemein
menschlichen Eigenschaften gibt, die sich auf eine gemeinsame Natur zurückführen
lassen, und daß gemeinsame Züge, soweit sie existieren, trivial sind (beispielsweise die
Aussage, daß in allen menschlichen Kulturen die Gesundheit der Krankheit vorgezogen
wird).
Der Ethiker David Hull hat beispielsweise behauptet, daß viele Merkmale, von denen es
heißt, sie seien allen Menschen gemeinsam und auf einzigartige Weise für unsere
Gattung charakteristisch, weder das eine noch das andere sind. Das gelte sogar für die
Sprache:
»Die menschliche Sprache ist nicht unter allen menschlichen Wesen
universell verbreitet. Es gibt Menschen, die weder etwas sprechen, noch
etwas verstehen, was man als Sprache bezeichnen könnte. In gewisser
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Weise sind solche Leute nicht >wirklich< Menschen, aber sie gehören der
gleichen biologischen Gattung wie der Rest von uns an [...1 Sie sind
potentiell Sprechende in dem Sinne, daß sie, hätten sie eine andere
genetische Ausstattung und wären sie der passenden Reihe von
Umwelteinflüssen ausgesetzt, imstande wären, Sprachfertigkeiten zu
erwerben, wie sie die übrigen von uns besitzen. Aber die gleiche
kontrafaktische Voraussetzung gilt auch für andere Gattungen. In diesem
Sinne besitzt auch ein Schimpanse die Fähigkeit, sich eine Sprache
anzueignen.«
Danach führt Hull aus, daß es eine Anzahl von Besonderheiten einer Gattung gibt, die
nicht einer Normalverteilung unterliegen und die man daher nicht im Sinne einer einzigen
mittleren- oder Standardabweichung beschreiben kann. Hier können die Blutgruppen als
Beispiel dienen: ein Individuum kann zu den Gruppen 0, A, B, AB und so weiter zählen,
niemals jedoch zu einer intermediären Gruppe zwischen 0 und A. Diese Gruppen
entsprechen distinkten Erbfaktoren innerhalb der menschlichen DNA, die entweder zum
Ausdruck kommen oder nicht. Man kann das mit Schaltern vergleichen, die man ein oder
ausschalten kann. Bestimmte Blutgruppen mögen in bestimmten Populationen mehr oder
weniger vorherrschen, aber es ist sinnlos, von einer gattungsspezifischen Blutgruppe zu
sprechen, weil Blutgruppen keine ununterbrochene Reihe bilden (wie unterschiedliche
Körpergrößen es tun). Andere Eigenschaften wie die Hautfarbe sind kontinuierlich auf
einer Skala zwischen hell und dunkel verteilt, aber sie konzentrieren sich je nach
rassischer Gruppe um eine Reihe von Spitzen- und Häufigkeitswerten.
Diese Argumentation gegen die Existenz allgemein menschlicher Gemeinsamkeiten ist
trügerisch, weil hier eine zu enge Definition von »allgemein« verwendet wird. Es ist
richtig, daß man nicht von einer »allgemeinen« oder mittleren Blutgruppe sprechen kann,
weil Blutgruppen dem entsprechen, was Statistiker eine kategoriale Variable nennen, also
ein Merkmal, das in mehrere ungeordnete, deutlich unterschiedene Kategorien fällt.
Ebenso ist es sinnlos, von einer »typischen« Hautfarbe zu reden. Aber viele andere
Charakteristika wie Größe oder Kraft, aber auch psychologische Merkmale wie
Intelligenz, Aggressivität oder Selbstwertgefühl bilden jeweils ein Kontinuum und
verteilen sich innerhalb einer gegebenen Population normal um einen bestimmten
Mittelwert. Das Maß, in dem eine Bevölkerung um diesen Mittelwert herum variiert (also
die sogenannte Standardabweichung) ist in gewissem Sinne ein Prüfstein dafür, wie
typisch dieser Mittelwert ist; je geringer die Standardabweichung, desto typischer der
Mittelwert.
Das ist der Zusammenhang, in dem man eine Vorstellung wie jene von den »allgemein
menschlichen Eigenschaften« begreifen kann. Ein Merkmal muß keineswegs eine
Varianzbreite (Standardabweichung) von null haben, um als universell zu gelten, da das
so gut wie nie vorkommt. Es gibt zweifellos einige Mutanten unter den weiblichen
Känguruhs, die ohne Beutel zur Welt kommen, es gibt auch einige Bullen mit drei
Hörnern an der Stirn. Doch die Tatsache, daß so etwas vorkommt, macht Behauptungen
nicht bedeutungslos, daß Beutel auf irgendeine Weise konstitutive Bestandteile von
Känguruhs bilden oder daß Bullen Lebewesen sind, die in der Regel zwei Hörner an der
Stirn tragen. Damit eine Eigenschaft als allgemein gelten kann, bedarf es eines einzigen
Mittel- oder Häufigkeitswerts, und es darf nur eine relativ kleine Standardabweichung
5
geben, so wie es bei Kurve 1 in Abbildung 3 der Fall ist.
Die zweite Variante der Kritik am Begriff der menschlichen Natur ist jene, die der
Genetiker Richard Lewontin im Laufe der letzten Jahre wiederholt vorgetragen hat.
Danach entscheidet der Genotypus (also die DNA einer Person) nicht vollständig über
deren Phänotyp (das heißt die tatsächliche Kreatur, die sich schließlich aus der DNA
entwickelt). Das besagt, daß selbst unsere physischen Erscheinungsformen und unser
Aussehen, ganz zu schweigen von unserer geistigen Beschaffenheit und unserem
Verhalten, eher von unserem Milieu als von den Erbfaktoren bestimmt werden. Gene
treten auf buchstäblich jeder Ebene der Entwicklung eines Organismus in
Wechselwirkung mit der Umgebung, und daher üben sie einen weit weniger
bestimmenden Einfluß aus, als viele Anhänger des Begriffs der menschlichen Natur
gewöhnlich behaupten.
Ein Beispiel hierfür haben wir bei den mittleren Körpergrößen bereits kennengelernt, die
teilweise durch die Natur bestimmt werden, zum anderen aber auch durch die
Zusammensetzung der Nahrung und andere Ernährungsfaktoren. Lewotin illustriert seine
These mit einer Reihe von Beispielen. Er führt aus, daß sogar Mäuse, die man durch
Züchtung genetisch identisch gemacht hat, unterschiedlich auf Umweltgifte reagieren und
daß die Fingerabdrücke von identischen Zwillingen niemals völlig deckungsgleich sind.
Es gibt sogar eine Pflanzenart, die im Gebirge wächst und die je nach der Höhe des
Standorts völlig anders aussieht. Bekanntlich werden sich zwei Babys mit derselben
genetischen Ausstattung körperlich und geistig ganz unterschiedlich herausbilden, je
nachdem, wie sich die schwangere Mutter verhält, ob sie trinkt, ob sie Medikamente
nimmt, ob sie sich angemessen ernährt und so weiter. Die Interaktion zwischen
Individuum und Umwelt beginnt also bereits einige Zeit vor der Geburt; Eigenschaften,
die wir gern aus der Natur ableiten, sind, folgt man dieser Argumentation, Produkt einer
komplexen Wechselwirkung zwischen Natur und Umwelt.
Diese spezielle Wiederholung der Kontroverse um Natur und Milieu läßt sich anhand von
unterschiedlich aussehenden Verteilungskurven veranschaulichen. So zeigt
beispielsweise die hoch aufragende Kurve 1 in Abbildung 3 eine hypothetische
Verteilung der Intelligenzquotienten innerhalb einer Population unter der
(unrealistischen) Voraussetzung, daß alle Individuen in identischen Milieus leben, was
solche Faktoren angeht, die Einfluß auf den IQ haben, wie beispielsweise Ernährung,
Bildung und dergleichen. Dies gibt natürliche oder genetische Varianten wider. Die
tatsächliche Verteilung von Intelligenzquotienten innerhalb einer Bevölkerung wird ganz
sicher eher der Kurve 2 ähneln, was die Tatsache reflektiert, daß die Gesellschaft die
einen bevorzugt, die anderen benachteiligt, in einer Weise, die Auswirkungen auf die
Intelligenz hat. Diese Kurve verläuft flacher, und hier gibt es mehr Individuen, die weiter
vom Mittelwert entfernt sind. Je größer die Unterschiede in der Form beider Kurven,
desto stärker ist der Einfluß des Milieus im Vergleich zur Vererbung.
Zwar besitzt Lewontins Argumentation ein gewisses Maß an Erklärungskraft, sie
widerlegt aber kaum den Begriff einer
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Verteilung des Intelligenzquotienten
Abbildung 3
Intelligenzquotient
menschlichen Natur. Wie sich bereits bei der Diskussion über die Körpergröße gezeigt
hat, können Umweltfaktoren die mittlere Länge des Menschen verändern, aber sie
können dessen Länge nicht über ein bestimmtes Maß hinaustreiben, noch können sie
dazu führen, daß Frauen im Durchschnitt größer als Männer sind. Diese Parameter
werden immer noch von der Natur bestimmt. Darüber hinaus gibt es häufig eine lineare
Beziehung zwischen Umwelt, Genotyp und Phänotyp, die bei Normalverteilung der
genetischen Varianten dafür sorgt, daß auch die Varianten der Phänotypen normal verteilt
sind. Das bedeutet: Je besser unsere Kost, desto größer werden wir (innerhalb unserer
gattungstypischen Grenzen) potentiell; die Verteilungskurven der Körpergröße haben
immer noch bestimmte Mittelwerte, trotz der Tatsache, daß sie vom Milieu beeinflußt
werden. Die meisten menschlichen Eigenschaften gleichen eben nicht jener
Gebirgspflanze, die je nach Höhenlage anders aussieht. Menschliche Babys entwickeln
keinen Pelz, wenn sie in kühlen Breiten aufwachsen, und sie bekommen auch keine
Kiemen, wenn sie in der Nähe des Meeres leben.
Die wirklich wichtige Auseinandersetzung dreht sich somit nicht um die Frage, ob die
Umwelt die Art von Verhaltensweisen und Eigenschaften beeinflußt, die für die Gattung
Mensch typisch sind, sondern um das Ausmaß dieser Einwirkung. Im zweiten Kapitel
wurde auf Herrnsteins und Murrays Behauptung in »The Bell Curve« eingegangen, daß
bis zu siebzig Prozent der Abweichungen bei Intelligenzquotienten in Amerika eher auf
die Vererbung als auf die Umwelt zurückzuführen sind. Lewontin und seine Kollegen
haben dagegen behauptet, der tatsächliche Wert liege beträchtlich niedriger, und letztlich
spielten Erbfaktoren bei der Festlegung des Intelligenzquotienten kaum eine Rolle. Hier
geht es um empirische Tatsachen und allem Anschein nach hat Lewontin Unrecht:
Innerhalb
des
Fachs
Psychologie
herrscht
auf
der
Grundlage
von
Zwillingsuntersuchungen Konsens, daß der Wert niedriger als die Schätzung von Murray
und Herrnstein, aber immer noch im Bereich von vierzig bis fünfzig Prozent liegt.
Das Ausmaß, in dem ein Merkmal oder eine Verhaltensform vererbbar ist, unterlegt
großen Schwankungen; der Geschmack in musikalischen Fragen wird fast ausschließlich
vom Milieu bestimmt, während ein Leiden wie die Huntington-Krankheit beinahe zu
hundert Prozent erblich ist. Das Maß an Vererbbarkeit eines bestimmten Merkmals zu
kennen, ist sehr wichtig, wenn es sich um einen bedeutenden Faktor wie den
7
Intelligenzquotienten handelt: jene Personen, die sich im Bereich über Kurve 1, aber
unterhalb von Kurve 2 befinden, wurden vermutlich nicht durch die Natur, sondern durch
Faktoren ihrer Umgebung dorthin verwiesen. Wenn dieser Bereich groß ist, dann besteht
erhebliche Hoffnung, durch eine Kombination von Ernährungsweise, Erziehung und
Sozialpolitik den Mittelwert der Kurve so verschieben zu können, daß sie eher Kurve 3
ähnelt.
Während Lewontins Behauptung, daß der Genotyp den Phänotyp nicht bestimmt, sich auf
alle Gattungen bezieht, trifft die dritte Gruppe von kritischen Einwänden gegen die
Vorstellung einer gattungsspezifischen Natur fast ausschließlich auf menschliche Wesen
zu.Menschen sind Kulturwesen, die ihr Verhalten auf der Grundlage von Lernen
verändern und das Erlernte auf nichtgenetische Weise an künftige Generationen
weitergeben können. Demzufolge ist die Vielfalt des Verhaltens beim Menschen weit
größer
als
bei
jeder
anderen
Gattung:
Die
Systeme
menschlicher
Verwandtschaftsverhältnisse reichen von komplizierten Klans und Geschlechtern bis zu
alleinerziehenden Elternteilen, und das ist mit den Verwandtschaftssystemen der Gorillas
und der Rotkehlchen nicht zu vergleichen. Paul Ehrlich, der gegen das Konzept der
menschlichen Natur scharf polemisiert, vertritt die Auffassung, daß es unserer Natur
entspricht, eine einzige Natur gar nicht zu besitzen. Daher argumentiert er: »Bürger alter
Demokratien haben eine andere Natur als Menschen, die es gewohnt sind, unter einer
Diktatur zu leben.« An anderer Stelle teilt er folgende Beobachtung mit: »Die Natur
vieler Japaner hat sich als Reaktion auf die Niederlage und auf die Offenbarung der
japanischen Kriegsverbrechen stark verändert.« Das erinnert an den bemerkenswerten
Satz in einem Essay von Virginia Woolf: »Im oder um den Dezember 1910 herum
änderte sich die menschliche Natur.«
Ehrlich erweckt einfach eine extreme Form der vor fünfzig Jahren weitverbreiteten
Ansicht wieder zum Leben, daß menschliches Verhalten sozial konstruiert sei. Diese
Auffassung ist in den letzten Jahrzehnten durch neue Forschungen immer tiefer
erschüttert worden. Die Tatsache, daß in der Massenpresse ständig von »Genen für« alles
mögliche, vom Brustkrebs bis zur Aggressivität, die Rede ist, hat den Menschen eine
falsche Auffassung von biologischer Bestimmung vermittelt, und daher ist es
möglicherweise verständlich, wenn jemand wie Ehrlich seine Leser gern daran erinnern
möchte, daß Kultur und soziale Konstruktion in unserem Leben weiterhin eine wichtige
Rolle spielen. Aber das Ergebnis, daß der Intelligenzquotient zu vierzig bis fünfzig
Prozent auf Vererbung beruht, enthält bereits eine Einschätzung des Einflusses der Kultur
auf den IQ und das bedeutet: Selbst wenn man die Kultur in Betracht zieht, gibt es doch
einen wichtigen Bestandteil des Intelligenzquotienten, der genetisch determiniert ist.
Die Annahme, es gebe überhaupt keine menschliche Natur, weil der Mensch ein
lernfähiges Kulturwesen ist, liegt grundsätzlich falsch, weil sie lediglich gegen einen
passend geschaffenen Pappkameraden schießt. Niemand, der sich je ernsthaft theoretisch
mit der menschlichen Natur auseinandergesetzt hat, hat geleugnet, daß Menschen
Kulturwesen sind oder daß sie sich Lernen, Bildung und Institutionen zunutze machen
können, um ihre Lebensgestaltung zu bestimmen. So behauptete beispielsweise
Aristoteles, die menschliche Natur führe uns nicht automatisch in der Weise zur vollen
Entwicklung, wie es bei einer Eichel geschieht, die am Eichbaum wächst. Das Gedeihen
der Menschen hänge von Tugenden ab, die die Menschen bewußt erwerben müssen: »Die
Tugenden entstehen in uns also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind
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vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die
Gewöhnung. « Dieser Reichtum der menschlichen Entwicklung spiegelt sich in einer
Vielfalt von rechtlichen Normen wider: »Vom Gerechten dagegen sehen wir, daß es sich
verändert.« Die Fortschritte des Rechtswesens machten es erforderlich, daß jemand
Gemeinwesen gründete und daß für diese Gemeinwesen solche Gesetze, die den
gegebenen Bedingungen genügten, schriftlich festgelegt wurden.Aristoteles schreibt
auch: »So ist etwa von Natur die rechte Hand stärker, obschon es möglich wäre, daß alle
Menschen beidseitig gewandt wären.« Kultur ergänzt also die Natur und kann sie sogar
überwinden. Daher gibt es im Denken Aristoteles' viel Raum für das, was wir heute
kulturelle Vielfalt und historische Entwicklung nennen.
Sowohl Platon als auch Aristoteles waren davon überzeugt, daß die Vernunft nicht
einfach aus einer Reihe von kognitiven Fähigkeiten besteht, die uns bei der Geburt zuteil
werden. Sie repräsentiere vielmehr eine Art von endlosem Streben nach Wissen und
Weisheit, das in der Jugend durch Bildung kultiviert werden müsse, im späteren Leben
komme dann die Anhäufung von Erfahrung hinzu. Aus der menschlichen Natur ergebe
sich nicht eine einzige, festgelegte Serie von, Institutionen oder eine eindeutig beste Art
zu leben im Sinne dessen, was Kant später als Apriori bezeichnete (also im Sinne von
mathematischer Beweisbarkeit). Sie erlaube es den Menschen jedoch, sich auf
philosophische Betrachtungen über das Wesen der Gerechtigkeit oder die beste Art zu
leben einzulassen, die sich auf ihre unveränderliche Natur und ihr sich stets veränderndes
Umfeld gründeten. Die Unabgeschlossenheit aller menschlichen Bemühungen um
Erkenntnis war vollständig mit dem Konzept der menschlichen Natur vereinbar tatsächlich war sie für die klassischen politischen Philosophen sogar ein entscheidender
Bestandteil dessen, was sie unter menschlicher Natur verstanden.
WAS IST ALSO UNTER MENSCHLICHER NATUR ZU VERSTEHEN?
Die Biowissenschaften haben den Umfang unseres empirischen Wissens über
menschliches Verhalten und menschliche Natur stark erweitert, und es lohnt durchaus,
sich noch einmal einige der klassischen Schilderungen der menschlichen Natur
anzuschauen, um herauszufinden, welche dem Ansturm neuer Einsichten standhalten,
welche sich eher als falsch erweisen und welche im Lichte neuer Erkenntnisse einer
Erweiterung bedürfen. Eine Reihe von Wissenschaftlern haben sich auf diesem Gebiet
bereits betätigt, dazu zählen Roger Masters, Edward O. Wilson und Michael Ruse, sowie
schließlich auch Larry Arnhart. Arnhart versucht zu zeigen, daß Darwin mit dem
ethischen Denken des Aristoteles vereinbar ist und daß die Ergebnisse der
darwinistischen Biologie von heute dazu dienen können, viele Annahmen Aristoteles'
über die natürliche Sittlichkeit zu unterstützen. Er führt zwanzig natürliche Bedürfnisse
als Universalien auf, die die menschliche Natur kennzeichnen.
Jede derartige Aufzählung wird wahrscheinlich umstritten sein; sie ist entweder zu kurz
und allgemein, oder sie ist zu spezifisch, und es mangelt ihr daher an
Allgemeingültigkeit. Für unseren gegenwärtigen Zweck ist eine umfassende Definition
weniger wichtig als die Bemühung, Merkmale ins Visier zu nehmen, die einzig bei der
Gattung Mensch anzutreffen sind, denn sie sind entscheidend für jedes Verständnis von
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Rechten und Würde der Menschen. Wir können mit dem Erkenntnisvermögen beginnen,
einem Wesensmerkmal unserer Gattung, auf das wir Menschen gern ganz besonders stolz
sind.
Keine tabula rasa mehr, der Tisch ist gedeckt
Wie wir noch sehen werden, betrifft vieles von dem, was wir in den letzten Jahren über
die menschliche Natur dazugelernt haben, die gattungstypische Weise, in der wir
begreifen, lernen und uns geistig entwickeln. Die Menschen besitzen ihre eigene Art des
Erkennens, die sich von jener der Menschenaffen und der Delphine unterscheidet. Sie ist
offen in dem Sinn, daß sie keinen einschränkenden Vorgaben in der Ansammlung des
Wissens unterliegt - aber sie ist dies nicht unbegrenzt.
Ein Beispiel, das sich in diesem Zusammenhang anbietet, ist die Sprache. Tatsächlich
sind menschliche Sprachen allgemein verbreitet, aber einer der größten Abgründe, die
menschliche Gruppen voneinander trennen, besteht in der Verschiedenheit der Sprachen.
Andererseits ist die Fähigkeit, Sprachen zu lernen, universell verbreitet und wird von
gewissen Eigentümlichkeiten des menschlichen Hirns bestimmt. 1959 formulierte der
Sprachwissenschaftler Noam Chomsky die These, es gebe grammatische
»Tiefenstrukturen«, die die grundlegende Syntax aller Sprachen bilden. Die Vorstellung,
diese Strukturen seien angeborene, genetisch programmierte Teile der Hirnentwicklung,
wird heute weithin akzeptiert. Die Gene und nicht die Kultur - sorgen dafür, daß die
Fähigkeit zum Erlernen von Sprachen irgendwann im ersten Jahr der Entwicklung eines
Kindes auftaucht, und sie schwindet, wenn das Kind das Ende der Reifezeit erreicht.
Die Vorstellung, daß es angeborene Formen menschlicher Wahrnehmung gibt, hat in den
letzten Jahren eine ungeheure Menge an empirischer Unterstützung erfahren, aber
zugleich war auch ein großes Maß an Widerstand zu verzeichnen. Die Gründe für diese
Gegenbewegung sind insbesondere im angelsächsischen Kulturkreis auf den anhaltenden
Einfluß von John Locke und der von ihm begründeten Schule des britischen Empirismus
zurückzuführen. Locke beginnt seinen »Versuch über den menschlichen Verstand« [»An
Essay Concerning Human Understanding«] mit der Behauptung, es befänden sich
keinerlei angeborene Vorstellungen im menschlichen Kopf, und das gelte insbesondere
für ethische Auffassungen. Genau hierin besteht Lockes berühmte tabula rasa: Das
menschliche Hirn ist demnach eine Art von Allzweck-Computer, der von außen
eindringende Wahrnehmungsdaten aufnehmen und verarbeiten kann. Aber zum Zeitpunkt
der Geburt sind die Datenbanken der Erinnerung vollkommen leer.
Lockes tabula rasa blieb bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine sehr anziehende
Vorstellung. Dann erfolgte der Angriff der Schule der Behavioristen unter John Watson
und B. F. Skinner. Letzterer entwickelte sogar eine besonders radikale Version des
Behaviorismus; er vertrat die Auffassung, es gebe keine gattungsspezifische Methode des
Lernens. Wenn man also beispielsweise Tauben mit den richtigen Anreizen und Strafen
dazu abrichten würde, dann könnten sie lernen, sich genausogut wie Menschenaffen und
Affen in einem Spiegel zu erkennen. Die moderne Kulturanthropologie akzeptiert die
Voraussetzung der tabula rasa ebenfalls; Anthropologen haben unter anderem behauptet,
daß Farbvorstellungen und Zeitbegriffe soziale Konstrukte sind, die man nicht in jeder
10
Kultur findet. Die Forschung auf diesem Feld und auf dem benachbarten Gebiet der
vergleichenden Kulturwissenschaften widmete sich während der letzten beiden
Generationen vorrangig den ungewöhnlichen, merkwürdigen oder überraschenden
kulturellen Praktiken. Das geschah unter der Lockeschen Prämisse, daß eine einzige
Ausnahme eine Regel insgesamt außer Kraft setzen könne.
Heute liegt die Vorstellung von einer tabula rasa in Trümmern. Forschungen auf dem
Gebiet der Neuropsychologie haben die leere Tafel durch ein modulares Organ ersetzt,
dessen hoch angepaßte kognitive Strukturen meist einzig bei der Gattung Mensch
auftreten. Es gibt tatsächlich so etwas wie angeborene Ideen - oder genauer gesagt ererbte gattungstypische Formen von Wahrnehmung sowie gattungsspezifische
emotionale Reaktionen auf Erkenntnisse.
Was Lockes Ansicht über angeborene Ideen angeht, so liegt die Problematik teilweise in
der Begriffsbestimmung: Er behauptet, nichts könne ererbt oder universell sein, wenn es
nicht von jedem einzelnen Mitglied einer Population geteilt werde. Übersetzt man Locke
in den statistischen Jargon vom Beginn dieses Kapitels, so argumentiert er praktisch, daß
eine natürliche oder angeborene Eigenschaft nur Varianten oder Standardabweichungen
von null kennt. Wie wir jedoch gesehen haben, gibt es in der Natur nichts, was dieser
Voraussetzung entspricht: Selbst zwei monozygote Zwillinge von identischem Genotyp
werden als Phänotypen einige Varianten aufweisen, die auf leicht unterschiedliche
Umstände im Mutterleib zurückzuführen sind.
Die Einwände Lockes gegen die Existenz von universellen sittlichen Grundsätzen leiden
unter einer ähnlichen Schwäche, da sie eine Nullvarianz voraussetzen. Er behauptet, die
Goldene Regel (also das Prinzip der Gegenseitigkeit) werde nicht von allen Menschen
eingehalten. Sie entspreche zwar einem zentralen Gebot des Christentums und anderer
Weltreligionen, werde jedoch in der Praxis von vielen verletzt. Er bemerkt, selbst die
Liebe der Eltern zu ihren Kindern und umgekehrt könne Ungeheuerlichkeiten wie
Kindesmord und bewußte Tötung von hochbetagten Eltern nicht vermeiden. Der
Kindesmord, so hält er fest, sei ohne Bedauern von den Mingreliern [Volksstamm im
Kaukasus], Griechen, Römern und anderen praktiziert worden.
Auch wenn aber sprachliche Ausformulierungen der Goldenen Regel vielleicht unter den
Kulturen nicht universell sind, so ist es das Prinzip der Gegenseitigkeit durchaus. Die
Arbeiten des Biologen Robert Trivers haben gezeigt, daß irgendeine Form von
Gegenseitigkeit nicht nur in verschiedenen menschlichen Kulturen zu beobachten ist,
sondern sich auch im Verhalten einer Vielzahl nichtmenschlicher Gattungen zeigt, was
auf genetische Ursprünge hinweist. In ähnlicher Weise erklärt die Theorie der
Verwandtenselektion die evolutionsgeschichtliche Entwicklung der Elternliebe.
Es gab in den letzten Jahren eine Reihe von Untersuchungen von Verhaltensforschern
über den Kindesmord, die zeigen, daß dieser in der Tierwelt wie auch in zahlreichen
menschlichen Kulturen weithin praktiziert wird. Keine dieser Tatsachen beweist jedoch,
was sie nach Ansicht von Locke belegen, denn je genauer man sich die konkrete Praxis
des Kindesmords ansieht, desto deutlicher wird, daß dieser durch außerordentliche
Umstände veranlaßt wird, die erklären, wie es dazu kommen kann, daß die
normalerweise starken Gefühle der elterlichen Liebe hintangestellt werden. Zu diesen
Emotionen zählt der Wunsch eines Stiefvaters oder eines neuen Partners, Nachkommen
des Rivalen auszuschalten, auch können Verzweiflung, Krankheit oder extreme Armut
der Mutter möglicherweise eine Rolle spielen, ebenso die kulturelle Bevorzugung von
11
männlichem Nachwuchs oder die Tatsache, daß der Nachkomme krank oder mißgebildet
ist. Es werden sich kaum Gesellschaften zu finden, in denen Kindesmord nicht in erster
Linie auf den untersten Stufen der sozialen Stufenleiter praktiziert wird. Dort aber, wo
die Mittel vorhanden sind, damit die Familien ihren Nachwuchs aufziehen können, setzen
sich fürsorgliche Instinkte durch. Kommt Kindesmord aber dennoch vor, dann geschieht
er, anders als Locke es sieht, selten »ohne Bedauern«. Um den Kindesmord steht es daher
nicht viel anders als um den Mord insgesamt: Dergleichen geschieht überall, wird aber
auch überall verurteilt oder nach Möglichkeit unterbunden.
Es gibt also, mit anderen Worten, einen natürlichen, menschlichen Sinn für Sittlichkeit,
der sich im Laufe der Zeit aus den Bedürfnissen der Hominiden heraus entwickelt hat, die
zu einer zutiefst sozialen Gattung werden sollten. Was die tabula rasa angeht, so hat
Locke in dem beschränkten Sinne recht, daß wir nicht mit vorgefertigten, abstrakten
sittlichen Vorstellungen zur Welt kommen. Es gibt jedoch dem Menschen angeborene
emotionale Reaktionen, die innerhalb der gesamten Gattung zur Herausbildung von
Moralvorstellungen relativ einheitlicher Art führen. Diese sind wiederum Teil dessen,
was Kant »transzendentale Einheit der Apperzeption« nannte, das bedeutet, menschliche
Formen, die Realität zu begreifen, die jenen Wahrnehmungen Ordnung und Bedeutung
geben. Kant war davon überzeugt, daß Raum und Zeit die einzig unausweichlichen
Strukturen der menschlichen Wahrnehmung seien, wir können diese Liste aber um eine
Reihe anderer Elemente erweitern. Wir sehen Farben, reagieren auf Gerüche, lesen in
Gesichtern, analysieren die Sprache nach Hinweisen auf Unglaubwürdigkeit, gehen
bestimmten Gefahren aus dem Wege, streben nach Gegenseitigkeit, üben Rache, spüren
Enttäuschung, sorgen für unsere Kinder und Eltern, spüren Abscheu vor Inzest und
Kannibalismus, schreiben Ereignissen eine Kausalität zu und vieles andere, weil die
Evolution den menschlichen Verstand programmiert hat, sich in dieser gattungstypischen
Weise zu verhalten. Und wie im Falle der Sprache müssen wir lernen, diese Fähigkeiten
durch Wechselwirkung mit unserer Umgebung zu üben, aber das Potential, sie zu
entwickeln, und die Art und Weise, wie sie sich entwickeln, sind von Geburt an
vorhanden.
DIE SONDERSTELLUNG DES MENSCHEN UND DIE RECHTE DER TIERE
Der Zusammenhang zwischen Rechten und gattungstypischem Verhalten wird besonders
deutlich, wenn wir uns der Problematik der Tierrechte zuwenden. Es gibt heute weltweit
eine starke Bewegung für die Rechte der Tiere, die danach strebt, das Los von Affen,
Hühnern, Nerzen, Schweinen, Rindern und anderen Tieren zu verbessern, die wir
schlachten und essen, mit denen wir experimentieren, deren Pelz wir tragen, die wir zu
Polsterwaren verarbeiten oder auf andere Weise eher als Mittel zum Zweck denn als
Selbstzweck behandeln. Der radikale Flügel dieser Bewegung hat gelegentlich bereits zur
Gewalt gegriffen, hat medizinische Forschungslabors attackiert und gegen
Geflügelverarbeitungsfabriken protestiert. Der Bioethiker Peter Singer hat seine Karriere
auf der Förderung der Tierrechte aufgebaut, außerdem kritisierte er den »Speziesismus«
der Menschheit - das heißt, die ungerechtfertigte Bevorzugung unserer eigenen
gegenüber anderen Spezies. All das führt uns zu der von James Watson aufgeworfenen
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Frage, die wir zuBeginn des siebten Kapitels stellten: Was gibt einem Salamander
Rechte?
Die einfachste und direkteste Antwort auf diese Frage, die vielleicht nicht für
Salamander, gewiß aber für Tiere mit höher entwickeltem Nervensystem gilt, lautet: Sie
können Schmerz empfinden und leiden. Dies ist eine ethische Aussage, die jeder
Tierbesitzer bestätigen kann, und die moralische Triebkraft hinter der Bewegung für
Tierrechte gründet sich auf die Intention, das Leiden der Tiere zu verringern. Unsere
größere Sensibilität in diesen Fragen leitet sich teilweise aus der allgemeinen Verbreitung
des Prinzips der Gleichheit auf unserem Globus ab, es ist aber auch das Ergebnis der
Anhäufung von mehr empirischem Wissen über Tiere.
Ein Großteil der Arbeit auf dem Gebiet der tierischen Verhaltensforschung führte im
Laufe der vergangenen Jahrzehnte tendenziell zur Auflösung der Trennungslinie
zwischen dem Menschen und den anderen animalischen Lebewesen. Selbstverständlich
lieferte Charles Darwin die theoretische Grundlage für die Auffassung, daß der Mensch
von den Affen abstamme und daß alle Arten einen kontinuierlichen
Modifizierungsprozeß durchmachen. Viele der Attribute, die wir einstmals ausschließlich
dem Menschen zugeschrieben haben - darunter Sprache, Kultur, Verstand, Bewußtsein
und dergleichen -, werden inzwischen als typisch für ein breites Spektrum
nichtmenschlicher Lebewesen angesehen.
So führt beispielsweise der Primatenforscher Frans de Waal aus, daß die Kultur - also die
Fähigkeit, angelernte Verhaltensweisen mit nichtgenetischen Methoden über
Generationen weiterzugeben - keine ausschließlich menschliche Errungenschaft ist. Dazu
verweist er auf das berühmte Beispiel der Kartoffeln waschenden Makaken, Affen, die
eine bestimmte kleine Insel in Japan bewohnen. In den fünfziger Jahren konnte eine
Gruppe japanischer Primatenforscher beobachten, wie ein bestimmter Makake
(sozusagen ein Albert Einstein unter ihnen) die Gewohnheit entwickelte, Kartoffeln in
einem Fluß zu waschen. Derselbe Affe entdeckte später, daß man Gerstenkörner aus dem
Sand lösen konnte, indem man ihn auswusch.
In beiden Fällen handelte es sich nicht um ein genetisch programmiertes Verhalten;
weder die Kartoffel noch die Gerste zählten zum gewohnten Futter der Makaken, und
solches Verhalten war zuvor nirgendwo beobachtet worden. Doch einige Jahre später
konnte man erneut feststellen, daß andere Makaken auf dieser Insel Kartoffeln wuschen
und Gerste vom Sand trennten. Inzwischen war jedoch der Affe, der diese Techniken
entdeckt hatte, längst tot, was darauf hindeutet, daß er sie seinen Artgenossen beigebracht
hatte, die sie wiederum an ihre Kinder weitergegeben hatten.
Schimpansen stehen den Menschen näher, als die Makaken es tun. Sie haben eine
Sprache, die aus Grunzlauten und Schreien besteht, und in Gefangenschaft hat man ihnen
beigebracht, eine begrenzte Zahl menschlicher Worte zu verstehen und sich darin
ausdrücken zu können. In seinem Buch »Unsere haarigen Vettern« beschreibt de Waal,
wie es einer Gruppe von männlichen Schimpansen in einem Gehege in den Niederlanden
gelingt, die Herrschaft über ihre Artgenossen zu erringen. Sie schließen Bündnisse, üben
Verrat aneinander, argumentieren, betteln und umschmeicheln einander in einer Weise,
die Machiavelli nicht fremd vorgekommen wäre. Sie scheinen sogar über einen gewissen
Sinn für Humor zu verfügen. So schreibt de Waal in seinem jüngsten Buch, »The Ape
and the Sushi Master«:
»Wenn Gäste auf der Forschungsstation des Yerkes Primate Center in der
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Nähe von Atlanta, wo ich tätig bin, eintreffen, dann suchen sie gewöhnlich
meine Elefanten auf. Oft eilt dann unser wichtigster Störenfried, ein
Weibchen mit Namen Georgia, zum Leitungshahn und füllt sich den
Mund mit Wasser, ehe sie eintreffen. Wenn es notwendig ist, wartet
Georgia einige Minuten lang mit geschlossenen Lippen, bis die Besucher
in der Nähe sind, dann gibt es schrilles Gekreisch, Lachen, Sprünge,
manchmal auch Stürze, wenn Georgia die Gäste plötzlich bespritzt.
Einmal war ich mit Georgia in einer ähnlichen Situation. Sie hatte vom
Hahn getrunken und schlich sich an mich heran. Ich blickte ihr direkt in
die Augen, zeigte mit dem Finger aufsie und sagte auf holländisch: >Ich
hab gesehen, was du gemacht hast!< Sie trat sogleich einen Schritt zurück,
ließ etwas Wasser aus dem Mund laufen und schluckte den Rest herunter.
Ich will damit keineswegs behaupten, daß sie die niederländische Sprache
versteht, aber sie muß gemerkt haben, daß ich erkannt hatte, was sie
beabsichtigte, und daß mit mir nicht leicht Schlitten fahren war. «
Georgia konnte offensichtlich nicht nur Späße machen, sie brachte auch Enttäuschung
zum Ausdruck, wenn sie erwischt wurde.
Tatsachen dieser Art werden nicht nur immer wieder angeführt, um den Begriff der
Tierrechte zu stützen, sie dienen auch dazu, den Anspruch des Menschen auf
Einzigartigkeit und eine Sonderstellung zu hinterfragen. Einige Wissenschaftler sind
darauf aus, traditionellen Ansprüchen auf menschliche Würde ihren Nimbus zu nehmen,
besonders wenn diese sich auf religiöse Argumente stützen. Wie sich im neunten Kapitel
zeigen wird, spricht immer noch sehr viel für die Idee der Menschenwürde, doch ist nicht
zu leugnen, daß sehr viele Tiere eine Anzahl von wichtigen Eigenschaften mit den
Menschen teilen. Menschen reden immer wieder gern rührselig von ihren »menschlichen
Gemeinsamkeiten«, aber dabei beziehen sie sich in vielen Fällen nur auf ein
gemeinsames animalisches Erbe. Elefanteneltern trauern allem Anschein nach beim
Verlust ihrer Kinder und geraten in höchste Erregung, wenn sie die sterblichen Überreste
eines anderen Elefanten finden. Von dort ist es nicht weit bis zu der Vorstellung, daß
menschliche Eltern, die um ein verlorenes Kind trauern oder beim Anblick eines
Leichnams Grauen verspüren, mit einem Elefanten etwas gemeinsam haben (und
paradoxerweise liegt wohl hier der Grund dafür, daß wir Tierschutzvereinen
»humanistische« Motive zubilligen).
Aber wenn Tiere ein »Recht« haben, nicht übermäßig zu leiden, so hängen Natur und
Grenzen dieses Rechts vollkommen von der empirischen Beobachtung dessen ab, was für
ihre Art typisch ist, also von einem unabhängigen Urteil über ihre jeweilige Natur. Soviel
ich weiß, hat sich nicht einmal der radikalste Tierrechtsaktivist für die Rechte von AidsViren und Kolibakterien ausgesprochen, die die Menschen Tag für Tag millionenfach zu
vernichten versuchen. Wir denken nicht daran, diesen Lebewesen Rechte zuzugestehen,
denn da sie kein Nervensystem besitzen, können sie mutmaßlich auch nicht leiden oder
sich ihrer Lage bewußt sein. Wir neigen dazu, Kreaturen, die ein Bewußtsein besitzen, in
dieser Hinsicht größere Rechte zuzuschreiben, weil sie wie wir Menschen imstande sind,
sich Leiden vorzustellen sowie Furcht und Hoffnung zu verspüren. Eine Unterscheidung
dieser Art kann etwa dazu dienen, die Rechte eines Salamanders anders zu sehen als jene
eines Hundes - was die Watsons dieser Welt sehr erleichtern wird.
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Doch selbst wenn wir die Tatsache akzeptieren, daß Tiere ein Recht haben, nicht unnötig
zu leiden, gibt es doch einen ganzen Bereich von Rechten, die man ihnen nicht
zugestehen kann, weil sie keine menschlichen Wesen sind. Wir würden nicht einmal
daran denken, beispielsweise Lebewesen das Wahlrecht zu geben, die als Gruppe nicht
imstande sind, die menschliche Sprache zu erlernen. Schimpansen können in einer
Sprache miteinander kommunizieren, die für ihre Art typisch ist, und sie können eine
sehr begrenzte Zahl von menschlichen Worten erlernen, wenn sie intensiv ausgebildet
werden, aber sie können nicht die menschliche Sprache beherrschen, und sie verfügen
schon gar nicht über eine umfassende menschliche Auffassungsgabe. Die Tatsache, daß
es auch einige Menschen gibt, die die menschliche Sprache nicht beherrschen, bestätigt
deren Relevanz für politische Rechte: Kinder besitzen kein Wahlrecht, weil sie als
Gruppe nicht über die kognitiven Fähigkeiten eines durchschnittlichen Erwachsenen
verfügen. In all diesen Fällen führt die gattungsspezifische Andersartigkeit zwischen
nichtmenschlichen Lebewesen einerseits und Menschen andererseits zu einem gewaltigen
Unterschied, in unserer Auffassung über ihre moralische Stellung.
Schwarze und Frauen besaßen früher in den Vereinigten Staaten kein Wahlrecht, da sie
angeblich nicht über die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten verfügten, es angemessen
auszuüben. Heute dürfen Schwarze und Frauen wählen, Schimpansen und Kinder
dagegen nicht. Der Grund dafür liegt in dem, was wir empirisch über die kognitiven und
sprachlichen Fähigkeiten in jeder dieser beiden Gruppen wissen. Die Zugehörigkeit zu
einer dieser Gruppen garantiert nicht, daß die individuellen Eigenschaften dem
Durchschnitt dieser Gruppen annähernd entsprechen (ich kenne eine Menge Kinder, die
sich bei Wahlen klüger als ihre Eltern verhalten würden), aber für praktische Zwecke ist
sie ein ausreichender Indikator.
Was ein Propagandist der Tierrechte wie Peter Singer »Speziesismus« nennt, bedeutet
daher nicht notwendigerweise ein auf Ignoranz und Eigeninteresse beruhendes Vorurteil
von Menschen, sondern dahinter verbirgt sich ein Glaube an die menschliche Würde, der
aufgrund empirisch gestützter Ansichten über die humanen Besonderheiten vertretbar
erscheint. Wir haben dieses Thema in Zusammenhang mit der Diskussion über die
menschliche Wahrnehmung angeschnitten. Aber wenn wir den Ursprung dieser
moralischen Überlegenheit des Menschen finden wollen, die uns über alle Lebewesen
stellt und uns untereinander als menschliche Wesen zu Gleichen macht, dann müssen wir
mehr über diese Untergruppe von Eigenschaften der menschlichen Natur wissen, die
nicht nur für unsere Gattung typisch sind, sondern überhaupt nur beim Menschen
vorkommen. Nur dann werden wir wissen, was wir am stärksten gegen zukünftige
Entwicklungen der Biotechnologie zu schützen haben.
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