Survol de la littérature antique Cours bilingue I Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung DUENOS-Inschrift (auf einem Trinkgefäss mit drei kleinen Schalen) IOUE│SATDEIUOSQOIMEDMITATNEITEDENDOCOSMISUIRCOSIED ASTEDNOISIOPETOITESIAIPACARIUOIS DUENOSMEDFECEDENMANOMEINOMDUENOINEMEDMALOSTATOD iouesât deiuôs qoi mêd mitât nei têd endô cosmis virgô siêd as(t) têd n’oisi opet oit esiâi pâcâ riuois duenos mêd fêced en mânôm meinôm duenôi nê mêd malos tatôd Es schwört bei den Göttern, der mich schenkt: Wenn das Mädchen nicht nett zu dir ist, und wenn es nicht wünscht, dich mitzunehmen, nimm (das) für sie mit, befriedige sie in Strömen. Ein Ehrenmann hat mich hergestellt, zum glückbringenden Geschenk (?) für einen Ehrenmann; nicht soll mich ein Schlechter stehlen! 8. Die archaische Literatur 8.1. Fragmente aus den Annalen des Ennius fr. 1 Skutsch Musae, quae pedibus magnum pulsatis Olympum Naevius fr. 64,2 flerent divae Camenae Naevium poetam fr. 2 Skutsch somno leni placidoque revinctus fr. 3 Skutsch visus Homerus adesse poeta fr. 12 Skutsch latos per populos res atque poemata nostra … clara cluebunt Musen, die ihr mit den Füssen den Ehrwürdigen stampft, den Olymp (Muses, vous qui piétinez le sol du vénérable Olympe) es beweinen die göttlichen Camenae den Dichter Naevius von sanftem und ruhigem Schlaf übermannt (gagné par un sommeil doux et calme) im Traumbild mir der Dichter Homer erschien (en rêve m'apparut le poète Homère) Weithin bei allen Völkern wird man unsere ruhmreichen Taten und Dichtung / … besingen. (Au loin chez tous les peuples, on chantera nos exploits et nos poèmes) Survol de la littérature antique Cours bilingue II Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung fr. 18 Skutsch transnavit cita per teneras caliginis auras sie durchflog schnell die zarten Schwaden des nebligen Dunkels (et rapidement, elle traversa les airs délicats assombris par la brume) fr. 19 Skutsch constitit inde loci propter sos dia dearum sie trat von da neben die ihren, die hehre Göttin (de là, elle se dressa à côté des siens, la vénérable déesse) fr. 20 Skutsch est locus, Hesperiam quam mortales perhibebant es gibt ein Land, das die Sterblichen Abendland nannten (il existe un endroit que les mortels nommaient le pays du couchant) fr. 21 Skutsch Saturnia terra das Land des Saturn la terre de Saturne fr. 22 Skutsch quam prisci, casci populi, tenuere Latini fr. 31 Skutsch olli respondit rex Albai Longai das vor vielen Jahren das uralte Volk der Latiner beherrschte (qu'occupèrent jadis les Latins, ce peuple des temps très anciens) ihm antwortete der König von Alba Longa (alte Hauptstadt von Latium) (le roi d'Alba Longa lui répondit) fr. 32 Skutsch accipe daque fidem foedusque feri bene firmum fr. 72-91 Skutsch Curantes magna cum cura tum cupientes regni dant operam simul auspicio augurioque. In †monte Remus auspicio sedet atque secundam solus avem servat. at Romulus pulcer in alto quaerit Aventino, servat genus altivolantum. Certabant urbem Romam Remoramne vocarent. Omnibus cura viris uter esset induperator. Nimm an und erwidere den Treueschwur und schliess das Bündnis, das gut gefestigte. (Donnons-nous mutuellement la parole; conclus le pacte, solidement ancré.) Mit grosser Sorgfalt besorgen sie alles und im Verlangen / nach dem Königreich verlegen sie sich beide zugleich auf Vogelschau und prophetische Zeichen. / Auf dem Hügel setzt sich Remus nieder zur Vogelschau und beobachtet / den glückbringenden Vogel allein. Der edle Romulus hingegen hält auf dem hohen / Aventin Ausschau, er beobachtet das Ge- Survol de la littérature antique Cours bilingue III Expectant veluti consul quom mittere signum volt, omnes avidi spectant ad carceris oras quam mox emittat pictos e faucibus currus: Sic expectabat populus atque ore timebat rebus utri magni victoria sit data regni. Interea sol albus recessit in infera noctis. Exin candida se radiis dedit icta foras lux et simul ex alto longe pulcerrima praepes laeva volavit avis. simul aureus exoritur sol cedunt de caelo ter quattuor corpora sancta avium, praepetibus sese pulcrisque locis dant. Conspicit inde sibi data Romulus esse propritim auspicio regni stabilita scamna solumque. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung schlecht der in der Höhe Fliegenden. / Sie stritten darum, ob sie der Stadt den Namen Rom oder Remora geben sollten. / Aller Männer Sorge war es, welcher der beiden ihr Herrscher würde. Angespannt warten sie: Wie wenn der Konsul <im Zirkus> sich anschickt, das Zeichen / zu geben und alle gespannt auf die Seile der Schranke der Rennbahn schauen, / wie bald sie die buntbemalten Wagen aus ihrem Schlund entlasse. / So erwartete das Volk gespannt, und bangende Hoffnung stand in ihrem Gesicht: / Welchem von beiden geben die Ereignisse den Sieg und damit das erhabene Königtum? / Inzwischen zog sich die fahle Sonne zurück in das unterirdische Reich der Nacht. / Als dann das helle Tageslicht, von den Strahlen getroffen, hervortrat, da flog zugleich weit oben ein wunderschöner, glückverheissender / Vogel von links heran. Die Sonne steigt golden empor, und gleichzeitig / erscheinen am Himmel dreimal vier heilige Leiber / von Vögeln; in glückverheissende und edle Gefilde begeben sie sich. / Es ersieht daraus Romulus, dass ihm gegeben ist zu eigen, / durch die Vogelschau gefestigt, des Königreiches Thron und Boden. 8.2. Plautus, Aulularia, 1–39. 79–119 Guter Hausgeist (aus Euclios Haus tretend). 5 10 15 20 LAR FAM. Ne quis miretur qui sim, paucis eloquar. ego Lar sum familiaris ex hac familia unde exeuntem me aspexistis. hanc domum iam multos annos est cum possideo et colo patri avoque iam huius qui nunc hic habet. sed mí avos huius obsecrans concredidit thensaurum aúri clam omnis: in medio foco defodit, venerans mé ut id servarem sibi. is quoniam moritur (ita avido ingenio fuit), numquam indicare id filio voluit suo, inopemque optavit potius eum relinquere, quam eum thensaurum commonstraret filio; agri reliquit ei non magnum modum, quo cum labore magno et misere viveret. ubi is óbiit mortem qui mihi id aurum credidit, coepi observare, ecqui maiorem filius mihi honorem haberet quam eius habuisset pater. atque ille vero minus minusque impendio curare mínusque me impertire honoribus. item a me contra factum est, nam item obiit diem. is ex se húnc reliquit qui hic nunc habitat filium pariter moratum ut pater avosque huius fuit. Damit sich keiner wundert, wer ich sei, will ich es kurz sagen. Ich bin der Lar familiaris des Hauses. aus dem ihr mich habt treten sehen. Dieses Haus besitze und hege ich schon viele Jahre, [5] schon für den Vater und Grossvater dessen, der es jetzt bewohnt. Der Grossvater von diesem nun vertraute mir unter Beschwörungen einen Goldschatz an, ohne dass sonst jemand davon erfuhr. Er vergrub ihn mitten im Herd und bat mich dringend, ihn ihm zu beschützen. Und da er starb — so geizig war er —, [10] wollte er nicht, dass dies je dem Sohn mitgeteilt würde. Er wollte ihn lieber arm zurücklassen, als dass er den Schatz dem Sohn gezeigt hätte. Er hinterliess ihm ein kleines Stück Land, damit er davon mit grosser Mühe und elend leben sollte. [15] Seitdem nun der gestorben war, der mir dies Gold anvertraut hatte, begann ich zu beobachten, ob der Sohn mich mehr in Ehren halten würde als der Vater. Und der gab noch viel weniger für mich aus und zollte mir noch weniger Verehrung. [20] Das vergalt ich ihm, denn er starb ebenso arm. Der hinterliess nun diesen Sohn, der jetzt hier Survol de la littérature antique Cours bilingue 25 30 35 39 IV huic filia una est. ea mihi cottidie aut ture aut vino aut aliqui semper supplicat, dat mihi coronas. eius honoris gratia feci, thensaurum ut hic reperiret Euclio, quo illam facilius nuptum, si vellet, daret. nam eam compressit de summo adulescens loco. is scit adulescens quae sit quam compresserit, illa illum nescit, neque compressam autem pater. eam ego hódie faciam ut hic senex de proxumo sibi uxórem poscat. id ea faciam gratia, quo ille eam facilius ducat qui compresserat. et hic qui poscet eam sibi uxorem senex, is adulescentis illius est avonculus, qui illam stupravit noctu, Cereris vigiliis. sed hic senex iam clamat intus ut solet. anum foras extrudit, ne sit conscia. credo aurum inspicere volt, ne subreptum siet. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung wohnt und ebenso geartet ist wie sein Vater und Grossvater. Er hat eine einzige Tochter. Die opfert mir täglich Weihrauch oder Wein oder fleht immer irgendwie zu mir, [25] schmückt mich mit Kränzen. Ihr zuliebe habe ich es so eingerichtet, dass hier Euclio den Schatz fand, damit er, wenn er will, sie leichter verheiraten kann. Denn ein junger Mann aus bestem Haus hat sie vergewaltigt. Der Jüngling weiss, wen er verführt hat. [30] Das Mädchen kennt ihn nicht, und der Vater weiss nicht einmal von der Vergewaltigung. Ich werde es heute so fügen, dass hier der Nachbar, ein älterer Mann, um ihre Hand anhält. Das werde ich zu dem Zweck tun, dass der, der sie verführt hat, sie leichter bekommt. Und der Alte, der um ihre Hand anhalten wird, [35] ist der Onkel jenes jungen Mannes, der sie nachts vergewaltigt hat, beim Ceresfest. — Aber hier im Haus schreit schon wieder wie gewöhnlich der Alte. Er stösst die alte Dienerin heraus, damit sie nichts bemerkt. Ich glaube, er will sein Gold inspizieren, ob es nicht gestohlen ist. Euclio kommt aus dem Haus. 80 85 90 95 100 EUC. Nunc defaecato demum animo egredior domo, postquam perspexi salva esse intus omnia. redi nunciam intro atque intus serva. STAPH. Quippini? ego intus servem? an ne quis aedes auferat? nam hic apud nos nihil est aliud quaesti furibus, ita inaniis sunt oppletae atque araneis. EUC. Mirum quin tua me causa faciat Iuppiter Philippum regem aut Dareum, trivenefica. araneas mihi ego illas servari volo. pauper sum; fateor, patior; quod di dant fero. abi intro, occlude ianuam. iam ego hic ero. cave quemquam alienum in aedis intro miseris. quod quispiam ignem quaerat, extingui volo, ne causae quid sit quod te quisquam quaeritet. nam si ignis vivet, tu extinguere extempulo. tum aquam aufugisse dicito, si quis petet. cultrum, securim, pistillum, mortarium, quae utenda vasa semper vicini rogant, fures venisse atque abstulisse dicito. profecto in aedis meas me absente neminem volo intro mitti. atque etiam hoc praedico tibi, si Bona Fortuna veniat, ne intro miseris. STAPH. Pol ea ipsa credo ne intro mittatur cavet, nam ad aedis nostras numquam adit, quamquam prope est. EUC. Jetzt kann ich endlich erheiterten Sinnes das Haus verlassen, [80] nachdem ich mich vergewissert habe, dass drinnen alles in Ordnung ist. Geh jetzt wieder hinein und pass drinnen auf. STA. Warum denn nicht? — Ich soll drinnen aufpassen? Etwa dass nicht einer das Haus wegträgt? Denn hier bei uns ist für Diebe nichts anderes zu holen, so voll ist alles von Leere und Spinnweben. EUC. [85] Ein Wunder, dass Jupiter aus mir nicht deinetwegen einen König Philipp oder Dareus macht, du Erzhexe! Ich will, dass jene Spinnweben mir bewacht werden. Ich bin ein armer Mann, gewiss; ich füge mich und trage, was die Götter geben. Geh hinein und schliess die Haustür. Ich bin bald wieder da. [90] Lass ja keinen Fremden ins Haus hinein. Wenn jemand Feuer haben will, so will ich, dass es gelöscht wird, damit es keinen Grund gibt, dich anzubetteln. Also, wenn Feuer brennt, lösch es sofort. Dann, wenn jemand Wasser will, sag, es sei ausgelaufen. [95] Was Messer, Beil, Mörserkeule, Mörser und Gefässe betrifft, die die Nachbarn gerne pumpen, so sag, Diebe seien gekommen und hätten alles fortgeschleppt. Jedenfalls will ich, dass in mein Haus, während ich fort bin, niemand hineingelassen wird; und Survol de la littérature antique Cours bilingue 105 110 115 119 V EUC. Tace atque abi intro. STAPH. Taceo atque abeo.- EUC. Occlude sis fores ambobus pessulis. iam ego hic ero. discrucior animi, quia ab domo abeundum est mihi. nimis hercle invitus abeo. sed quid agam scio. nam noster nostrae qui est magister curiae dividere argenti dixit nummos in viros; id si relinquo ac non peto, omnes ilico me suspicentur, credo, habere aurum domi. nam non est veri simile, hominem pauperem pauxillum parvi facere quin nummum petat. nam nunc cum celo sedulo omnis, ne sciant, omnes videntur scire et me benignius omnes salutant quam salutabant prius; adeunt, consistunt, copulantur dexteras, rogitant me ut valeam, quid agam, quid rerum geram. nunc quo profectus sum ibo; postidea domum me rursum quantum potero tantum recipiam. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung ich befehle dir sogar dies: [100] Wenn selbst die Göttin Bona Fortuna käme, lass sie nicht hinein. STA. Beim Pollux, die wird sich hüten, hereingelassen zu werden; denn zu uns kommt sie nie, mag auch ihr Tempel in der Nähe sein. EUC. Schweig und geh hinein. STA. Ich schweige ja und gehe. EUC. Schliess bitte die Tür mit beiden Riegeln, ich bin gleich wieder da. (Staphyla ab ins Haus) [105] Ich martere mich ab, weil ich das Haus verlassen muss. Zu ungern gehe ich weg, beim Herkules. Aber ich weiss, warum ich es tue. Denn unser Bezirksvorstand sagte, er verteile Geld unter die Leute. Wenn ich da fehle und es nicht beanspruche, werden alle, [110] glaube ich, sofort den Verdacht haben, ich hätte Gold im Haus. Denn es ist unwahrscheinlich, dass ein Armer ein Weniges geringschätzt und auf einen Pfennig verzichtet. Denn jedesmal, wenn ich es jetzt eifrig verheimliche, damit es nicht alle wissen, scheinen es doch alle zu wissen und alle grüssen mich freundlicher, [ 115] als sie mich früher grüssten. Sie treten zu mir, bleiben stehen, drücken mir die Hand, sie erkundigen sich nach meiner Gesundheit, fragen, wie es gehe, was ich treibe. — Jetzt will ich meinen Weg fortsetzten. Danach werde ich, so schnell ich kann, nach Hause zurückkehren. (Übersetzung: Astrid und Hubert Petersmann) Survol de la littérature antique Cours bilingue VI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 9. Die republikanische Literatur: Cicero und Caesar 9.1.1. Cicero, De oratore 1, 1-5. 16-23 (1) Cogitanti mihi saepe numero et memoria vetera repetenti perbeati fuisse, Quinte frater, illi videri solent, qui in optima re publica, cum et honoribus et rerum gestarum gloria florerent, eum vitae cursum tenere potuerunt, ut vel in negotio sine periculo vel in otio cum dignitate esse possent; ac fuit cum mihi quoque initium requiescendi atque animum ad utriusque nostrum praeclara studia referendi fore iustum et prope ab omnibus concessum arbitrarer, si infinitus forensium rerum labor et ambitionis occupatio decursu honorum, etiam aetatis flexu constitisset. (2) Quam spem cogitationum et consiliorum meorum cum graves communium temporum tum varii nostri casus fefellerunt; nam qui locus quietis et tranquillitatis plenissimus fore videbatur, in eo maximae moles molestiarum et turbulentissimae tempestates exstiterunt; neque vero nobis cupientibus atque exoptantibus fructus oti datus est ad eas artis, quibus a pueris dediti fuimus, celebrandas inter nosque recolendas. (3) Nam prima aetate incidimus in ipsam perturbationem disciplinae veteris, et consulatu devenimus in medium rerum omnium certamen atque discrimen, et hoc tempus omne post consulatum obiecimus eis fluctibus, qui per nos a communi peste depulsi in nosmet ipsos redundarent. Sed tamen in his vel asperitatibus rerum vel angustiis temporis obsequar studiis nostris et quantum mihi vel fraus inimicorum vel causae amicorum vel res publica tribuet oti, ad scribendum potissimum conferam; (4) tibi vero, frater, neque hortanti deero neque roganti, nam neque auctoritate quisquam apud me plus valere te potest neque voluntate. Ac mihi repetenda est veteris cuiusdam memoriae non sane satis explicata recordatio, sed, ut arbitror, apta ad id, quod requiris, ut cognoscas quae viri omnium Sooft ich daran denke und mir die alten Zeiten ins Gedächtnis rufe, scheint es mir stets, mein Bruder Quintus, dass die Menschen damals besonders glücklich waren; sie durften in dem besten Staat, im Glanz ihrer Ehren und des Ruhmes ihrer Taten ihr Leben in solchen Bahnen führen, dass sie sich ihrer Tätigkeit ohne Gefahr und ihrer Musse mit Würde widmen konnten. Es gab auch einmal eine solche Zeit, in der ich glauben durfte, dass auch mir einmal fast alle das Recht zugestehen würden, ein Leben in Ruhe zu beginnen und mich den edlen Studien zuzuwenden, die uns beiden am Herzen liegen, wenn die endlose Mühsal der Verpflichtungen des Forums und die Beanspruchung durch die Bewerbung um ein Amt mit dem Abschluss der Ämterlaufbahn, der auch ein Wendepunkt des Lebens ist, zur Ruhe käme. (2) Doch meine hoffnungsvollen Überlegungen und Pläne liess das schwere Unheil der allgemeinen politischen Entwicklung und besonders mein eigenes, vielfaches Missgeschick zunichte werden; denn dort, wo mir ein Ort voll Ruhe und Frieden zu winken schien, erwuchsen mir die schwersten Sorgenlasten und die wildesten Unwetter. Ja, ich kam trotz des heissen Wunsches nicht einmal in den Genuss der Musse, um die Wissenschaften zu betreiben, denen ich von Kindheit an ergeben war, und sie gemeinsam mit dir wiederum zu pflegen. (3) Denn mit dem ersten Abschnitt meines Lebens geriet ich mitten in die stürmische Umwälzung der alten Ordnung, das Amt des Konsuls führte mich geradewegs in eine allgemeine Krise, und die gesamte Zeit nach meinem Konsulat widmete ich nur dem Kampf gegen die Fluten, die ich daran gehindert hatte, alles zu verheeren, um selbst von ihnen überschwemmt zu werden. Doch trotzdem möchte ich selbst unter diesen widrigen, beengenden Umständen meinen Studien nachgehen und das, was mir die Bosheit meiner Feinde, die Interessen meiner Freunde und die Politik an Freizeit übrig lassen, vor allem auf schriftstellerische Tätigkeit verwenden. (4) Für dich jedoch, mein Bruder, deine Mahnungen und Bitten, bin ich immer da; denn es gibt niemanden, der bei mir durch sein Ansehen und durch sein Verlangen mehr vermag als du. So muss ich denn die nicht ganz klare, doch, wie ich glaube, für das, was du wissen willst, geeignete Erinnerung an eine schon Survol de la littérature antique Cours bilingue eloquentissimi clarissimique senserint de omni ratione dicendi. (5) Vis enim, ut mihi saepe dixisti, quoniam, quae pueris aut adulescentulis nobis ex commentariolis nostris incohata ac rudia exciderunt, vix <sunt> hac aetate digna et hoc usu, quem ex causis, quas diximus, tot tantisque consecuti sumus, aliquid eisdem de rebus politius a nobis perfectiusque proferri; solesque non numquam hac de re a me in disputationibus nostris dissentire, quod ego eruditissimorum hominum artibus eloquentiam contineri statuam, tu autem illam ab elegantia doctrinae segregandam putes et in quodam ingeni atque exercitationis genere ponendam. […] Sed enim maius est hoc quiddam quam homines opinantur, et pluribus ex artibus studiisque conlectum. […] (17) Est enim et scientia comprehendenda rerum plurimarum, sine qua verborum volubilitas inanis atque inridenda est, et ipsa oratio conformanda non solum electione, sed etiam constructione verborum, et omnes animorum motus, quos hominum generi rerum natura tribuit, penitus pernoscendi, quod omnis vis ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut sedandis aut excitandis expromenda est; accedat eodem oportet lepos quidam facetiaeque et eruditio libero digna celeritasque et brevitas et respondendi et lacessendi subtili venustate atque urbanitate coniuncta; (18) tenenda praeterea est omnis antiquitas exemplorumque vis, neque legum ac iuris civilis scientia neglegenda est. Nam quid ego de actione ipsa plura dicam? quae motu corporis, quae gestu, quae vultu, quae vocis conformatione ac varietate moderanda est; quae sola per se ipsa quanta sit, histrionum levis ars et scaena declarat; in qua cum omnes in oris et vocis et motus moderatione laborent, quis ignorat quam pauci sint fuerintque, quos animo aequo spectare possimus? Quid dicam de thesauro VII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung recht alte Begebenheit auffrischen, damit du die Ansicht der grössten und glanzvollsten Redner über die gesamte Redekunst erfährst. (5) Du willst ja, wie du mir oft sagtest, dass ich über eben dieses Thema ein ausgefeilteres, vollkommeneres Werk vorlege; denn was aus den Entwürfen meiner Kindheit oder frühen Jugend versehentlich bekanntgeworden ist, entspricht in seiner Unvollkommenheit und Roheit kaum meinem Alter und der Erfahrung, die ich bei so vielen bedeutenden Prozessen, die ich führte, gewonnen habe. Zuweilen pflegst du auch in unseren Gesprächen über dieses Thema anderer Auffassung als ich zu sein; denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setze höchste Bildung auf wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermassen auf Begabung und praktische Übung zu gründen. […] Freilich ist dieses Feld ja umfangreicher, als die Menschen glauben, und es besteht aus einer grösseren Anzahl von Fächern und Wissenschaften. […] (17) Gilt es doch, sich ein Wissen von sehr vielen Dingen anzueignen, ohne das die blosse Wortgewandtheit leer und lächerlich erscheint, der Rede selbst nicht nur durch die Auswahl der Worte, sondern auch durch ihre Fügung die rechte Form zu geben und alle Regungen des Herzens, die die Natur den Menschen gab, genau zu untersuchen; denn alle Wirkung und Methode der Redekunst hat sich in der Besänftigung oder Erregung der Zuhörer zu erweisen. Dazu gehört noch ein gewisser Charme und Witz, Bildung, die eines freien Mannes würdig ist, sowie Schlagfertigkeit und Kürze bei Erwiderungen und Attacken, mit der sich feine Anmut und Eleganz verbindet. (18) Weiterhin muss man die gesamte alte Zeit und das Material der Präzedenzfälle beherrschen und darf die Kenntnis der Gesetzte und des bürger-lichen Rechts nicht unbeachtet lassen. Was soll ich da noch auf den Vortrag selbst eingehen? Er muss durch die Bewegung des Körpers, durch Mienen- und Gebärdenspiel, durch Ausdruck und Abwechslung der Stimme das rechte Mass erhalten; wieviel allein schon das an sich bedeutet, lehrt die schlichte Schauspielkunst und das Theater. Wer wüsste denn nicht, wie gering die Anzahl derer, die vor unseren Augen Gnade finden, ist und war, obwohl sie sich doch alle um den rechten Ausdruck des Gesichts, der Stimme und der Bewegung mühen? Was soll ich über die Schatz- Survol de la littérature antique Cours bilingue rerum omnium, memoria? Quae nisi custos inventis cogitatisque rebus et verbis adhibeatur, intellegimus omnia, etiam si praeclarissima fuerint in oratore, peritura. (19) Quam ob rem mirari desinamus, quae causa sit eloquentium paucitatis, cum ex eis rebus universis eloquentia constet, in quibus singulis elaborare permagnum est, hortemurque potius liberos nostros ceterosque, quorum gloria nobis et dignitas cara est, ut animo rei magnitudinem complectantur neque eis aut praeceptis aut magistris aut exercitationibus, quibus utuntur omnes, sed aliis quibusdam se id quod expetunt, consequi posse confidant. (20) Ac mea quidem sententia nemo poterit esse omni laude cumulatus orator, nisi erit omnium rerum magnarum atque artium scientiam consecutus: etenim ex rerum cognitione efflorescat et redundet oportet oratio. Quae, nisi res est ab oratore percepta et cognita, inanem quandam habet elocutionem et paene puerilem. (21) Neque vero ego hoc tantum oneris imponam nostris praesertim oratoribus in hac tanta occupatione urbis ac vitae, nihil ut eis putem licere nescire, quamquam vis oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac polliceri videtur, ut omni de re, quaecumque sit proposita, ornate ab eo copioseque dicatur. (22) Sed quia non dubito quin hoc plerisque immensum infinitumque videatur, et quod Graecos homines non solum ingenio et doctrina, sed etiam otio studioque abundantis partitionem iam quandam artium fecisse video neque in universo genere singulos elaborasse, sed seposuisse a ceteris dictionibus eam partem dicendi, quae in forensibus disceptationibus iudiciorum aut deliberationum versaretur, et id unum genus oratori reliquisse; non complectar in his libris amplius, quam quod huic generi re quaesita et multum disputata summorum hominum prope consensu est tributum; VIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung kammer aller Dinge, das Gedächtnis, sagen? Wenn es nicht wie ein Wächter für die Entdeckungen und erdachten Argumente und Formulierungen hinzugezogen würde, so wären offensichtlich alle Qualitäten des Redners, und seien sie auch noch so glänzend, dem Untergang geweiht. (19) Deswegen wollen wir nicht mehr verwundert fragen, was der Grund für die geringe Zahl gewandter Redner ist, da die Beredsamkeit aus der Gesamtheit aller der Bereiche besteht, deren Beherrschung jeweils für sich schon sehr viel bedeutet; und wir wollen lieber unsere Kinder und die anderen, an deren Ruhm und Geltung uns gelegen ist, ermahnen, dass sie die Grösse des Gegenstandes erfassen und sich nicht einbilden, sie könnten das erstrebte Ziel mit Hilfe der Vorschriften, Lehrer oder Übungen erreichen, deren alle sich bedienen, sondern mit ganz anderen. (20) Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhms erreichen, ohne sämtliche bedeutenden Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muss die Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen. Hat sich der Redner die Sache nicht ganz angeeignet, so bietet seine Rede nur leeres und beinahe kindisches Geschwätz. (21) Ich will jedoch gerade unseren Rednern bei den Ansprüchen, die das Leben in Rom an sie stellt, keine so grosse Last aufbürden, dass ich glaubte, sie müssten alles wissen, obwohl gerade im Begriff des Redners und dem Anspruch, gut zu reden, das Unterfangen und die Verheissung zu liegen scheint, über jedwedes Thema, das sich stellen mag, wortreich und wirkungsvoll zu reden. (22) Ich zweifle freilich nicht daran, dass dieser Anspruch den meisten unermesslich und grenzenlos erscheint, und sehe, dass bereits die Griechen in ihrem Überfluss — nicht nur an Geistesgaben und an theoretischen Kenntnissen, sondern auch an Freizeit und an Eifer — eine gewisse Einteilung in Fachgebiete vorgenommen haben und sich nicht je-weils auf dem gesamten Gebiet betätigten, sondern den Teil der Rede, der zu den öffentlichen Erörterungen der Gerichtsverhandlungen und der Beratungen gehört, von ihren übrigen Formen abtrennten und diese Gattung allein dem Redner vorbehielten. Darum will ich in diesen Büchern nicht mehr erfassen als das, was dieser Gattung in gründlichen Erörterungen und Untersuchungen von massgeblichen Männern fast einstimmig zugewiesen wurde. Survol de la littérature antique Cours bilingue (23) repetamque non ab incunabulis nostrae veteris puerilisque doctrinae quendam ordinem praeceptorum, sed ea, quae quondam accepi in nostrorum hominum eloquentissimorum et omni dignitate principum disputatione esse versata; non quo illa contemnam, quae Graeci dicendi artifices et doctores reliquerunt, sed cum illa pateant in promptuque sint omnibus, neque ea interpretatione mea aut ornatius explicari aut planius exprimi possint, dabis hanc veniam, mi frater, ut opinor, ut eorum, quibus summa dicendi laus a nostris hominibus concessa est, auctoritatem Graecis anteponam. IX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung (23) Ich will auch nicht mit einem Katalog von Regeln wieder bei den Anfangsgründen unseres alten Schulunterrichts beginnen, sondern mit dem, was einmal — wie ich hörte — im Kreis führender Redner und hochgestellter Persönlichkeiten unseres Landes besprochen wurde. Nicht dass ich das verachtete, was uns griechische Theoretiker und Lehrer in der Kunst der Rede hinterlassen haben; da ihre Lehren aber offen vor aller Augen liegen und durch eine Erklärung von meiner Seite weder wirkungsvoller zu entfalten noch klarer auszudrücken sind, wirst du, mein Bruder, es mir wohl verzeihen, dass mir die Männer, denen unsere Landsleute den höchsten Ruhm der Redekunst zusprachen, mehr gelten als die Griechen. (Übersetz.: Anton D. Leeman) 9.1.2. Cicero, In Catilinam 1–3 1 1. Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? quam diu etiam furor iste tuus nos eludet? quem ad finem sese effrenata iactabit audacia? Nihilne te nocturnum praesidium Palati, nihil urbis vigiliae, nihil timor populi, nihil concursus bonorum omnium, nihil hic munitissimus habendi senatus locus, nihil horum ora voltusque moverunt? Patere tua consilia non sentis, constrictam iam horum omnium scientia teneri coniurationem tuam non vides? Quid proxima, quid superiore nocte egeris, ubi fueris, quos convocaveris, quid consili ceperis quem nostrum ignorare arbitraris? 2. O tempora, o mores! Senatus haec intellegit, consul videt; hic tamen vivit. Vivit? immo vero etiam in senatum venit, fit publici consili particeps, notat et designat oculis ad caedem unum quemque nostrum. Nos autem fortes viri satis facere rei publicae videmur, si istius furorem ac tela vitamus. Ad mortem te, Catilina, duci iussu consulis iam pridem oportebat, in te conferri pestem quam tu in nos omnis iam diu machinaris. 3. An vero vir amplissimus, P. Scipio, pontifex maximus, Ti. Gracchum mediocriter labefactantem statum rei publicae privatus interfecit: Catilinam orbem terrae caede atque incendiis vastare cupientem nos consules perferemus? […]. Fuit, fuit ista quondam in hac re publica virtus ut viri fortes acrioribus suppliciis civem perniciosum quam acerbissimum hostem coercerent. Habemus senatus 1 (1) Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen? Erschütterte dich nicht der nächtliche Posten auf dem Palatin, nicht die Wachen in der Stadt, nicht die Furcht des Volkes, nicht die Zusammenkunft aller Rechtschaffenen, nicht diese fest verwahrte Stätte der Senatssitzung, nicht die Mienen und Blicke der Anwesenden? Spürst du nicht, dass deine Anschläge aufgedeckt sind? Siehst du nicht, dass die Kenntnis aller derer, die hier sind, deine Verschwörung bereits gebändigt hat? Was du in der letzten, was in der vorletzten Nacht getan, wo du dich befunden, wen du herbeigerufen, was für einen Entschluss du gefasst hast, wer von uns, glaubst du, wüsste das nicht? (2) Welche Zeiten, welche Sitten! Der Senat bemerkt's, der Konsul sieht's: doch dieser Mann lebt. Er lebt? Schlimmer noch: er kommt gar in den Senat, er nimmt teil am Staatsrat, seine Augen bezeichnen und bestimmen einen jeden von uns für den Mord. Doch wir mutigen Männer glauben dem Staatswohl Genüge zu tun, wenn wir dem Wüten und den Waffen dieses Gesellen ausweichen. Zum Tod hätte man dich schon längst, Catilina, auf Befehl des Konsuls abführen, auf dich das Verderben lenken sollen, das du gegen uns alle seit langem anstiften willst. (3) Der Oberpriester P. Scipio, ein Mann von grösstem Ansehen, hat, ohne eine Amtsgewalt zu besitzen, Ti. Gracchus getötet, der nur mit Massen an der Staatsverfassung zu rütteln suchte; da sollen wir, die Konsuln, Catilina ertragen, der mordend und bren- Survol de la littérature antique Cours bilingue X consultum in te, Catilina, vehemens et grave, non deest rei publicae consilium neque auctoritas huius ordinis: nos, nos, dico aperte, consules desumus. Catilina im Senat 2 (4) Decrevit quondam senatus uti L. Opimius consul videret ne quid res publica detrimenti caperet: nox nulla intercessit: interfectus est propter quasdam seditionum suspiciones C. Gracchus, clarissimo patre, avo, maioribus, occisus est cum liberis M. Fulvius consularis. Simili senatus consulto C. Mario et L. Valerio consulibus est permissa res publica: num unum diem postea L. Saturninum tribunum plebis et C. Servilium praetorem mors ac rei publicae poena remorata est? At vero nos vicesimum iam diem patimur hebescere aciem horum auctoritatis. Habemus enim eius modi senatus consultum, verum inclusum in tabulis, tamquam in vagina reconditum, quo ex senatus consulto confestim te interfectum esse, Catilina, convenit. Vivis, et vivis non ad deponendam, sed ad confirmandam audaciam. Cupio, patres conscripti, me esse clementem, cupio in tantis rei publicae periculis non dissolutum videri, sed iam me ipse inertiae nequitiaeque condemno. (5) […] Verum ego hoc quod iam pridem factum esse oportuit certa de causa nondum adducor ut faciam. Tum denique interficiere, cum iam nemo tam improbus, tam perditus, tam tui similis inveniri poterit qui id non iure factum esse fateatur. (6) Quam diu quisquam erit qui te defendere audeat, vives, et vives ita ut nunc vivis, multis meis et firmis praesidiis obsessus ne commovere te contra rem publicam possis. Multorum te etiam oculi et aures non sentientem, sicut adhuc fecerunt, speculabuntur atque custodient. 3 Etenim quid est, Catilina, quod iam amplius exspectes, si neque nox tenebris obscurare coetus nefarios nec privata domus parietibus continere voces Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung nend die Welt zu verwüsten trachtet? […] Es gab sie einst, es gab in unserem Staatswesen diese Entschlossenheit; tatkrätige Männer zügelten den schädlichen Bürger mit härteren Strafen als den bittersten Feind. Wir haben einen Senatsbeschluss wider dich, Catilina, wirksam und scharf; dem Staat fehlt nicht der Rat noch die Vollmacht dieser Versammlung: wir, ich gesteh es offen, wir, die Konsuln, lassen es fehlen. 2 (4) Einst beschloss der Senat, der Konsul L. Opimius solle Sorge tragen, dass der Staat keinen Schaden leide. Keine Nacht verging: getötet war, da einiger Verdacht aufrührerischer Umtriebe bestand, C. Gracchus, der Sohn, Enkel und Abkömmling hochberühmter Männer; erschlagen war mitsamt seinen Kindern der ehemalige Konsul M. Fulvius. Durch einen ähnlichen Senatsbeschluss wurde der Staat den Konsuln C. Marius und L. Valerius überantwortet: hat daraufhin der Tod, die Strafe des Staates, den Volkstribunen L. Saturninus und den Prätor C. Servilius auch nur einen Tag warten lassen? Wir indessen dulden bereits den zwanzigsten Tag, dass die Klinge der vom Senat erteilten Vollmacht abstumpft. Denn wir haben ja einen derartigen Senatsbeschluss; er liegt jedoch verriegelt in der Kanzlei; er steckt wie ein Schwert in der Scheide. Hiernach hättest du auf der Stelle tot sein sollen, Catilina. Du aber lebst, und du lebst nicht, um von deiner Verwegenheit abzulassen, sondern um dich darin bestärkt zu fühlen. Ich wünsche milde zu sein, versammelte Väter, ich wünsche andererseits, dass es nicht heisst, ich hätte mich in einer deratigen Notlage des Staates unachtsam verhalten; doch nunmehr muss ich mich selbst der Untätigkeit und Fahrlässigkeit bezichtigen. (5) […] Doch mich veranlasste ein bestimmter Grund, noch nicht zu tun, was schon längst hätte getan sein sollen. Du wirst erst dann hingerichtet, wenn sich niemand mehr ausfindig machen lässt, so schlecht, so verworfen, so sehr dir ähnlich, dass er nicht zugäbe, dies sei zu Recht geschehen. (6) Solange jemand für dich einzutreten wagt, wirst du leben, und du wirst so leben, wie du jetzt lebst: von meinen zahlreichen und starken Mannschaften niedergehalten, so dass du keine Hand gegen den Staat zu rühren vermagst. Vieler Augen und Ohren werden dich, ohne dass du es merkst, wie bisher beobachten und überwachen. 3 Denn worauf wartest du noch weiter, Catilina, wenn nicht die Finsternis der Nacht die ruchlosen Zusammenkünfte in Dunkel hüllen noch ein Privathaus die Survol de la littérature antique Cours bilingue coniurationis tuae potest, si inlustrantur, si erumpunt omnia? Muta iam istam mentem, mihi crede, obliviscere caedis atque incendiorum. Teneris undique; luce sunt clariora nobis tua consilia omnia, quae iam mecum licet recognoscas. XI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Stimmen deiner Verschwörung in seinen Wänden bergen kann, wenn alles ans Licht kommt, alles hervorbricht? Ändere nunmehr deinen Plan, hör auf mich; entschlage dich des Mordens und Brennens. Man hat dich überall gefasst, alle deine Anschläge sind für uns so klar wie der Tag: du magst sie dir jetzt mit meiner Hilfe ins Gedächtnis zurückrufen. (Übersetzung: Anton D. Leeman) Kopf Ciceros 9.2. Hirtius, De bello Gallico 8,7 erat autem in Caesare cum facultas atque elegantia summa scribendi, tum verissima scientia suorum consiliorum explicandorum. Er besass nicht nur schriftstellerische Begabung und einen höchst eleganten Stil, sondern auch grösste Erfahrung darin, seine Pläne klar darzulegen. 9.3.1. Caesar, De bello Gallico 1,1,1-7 1 (1) Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. (2) hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt. Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit. (3) horum omnium fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt minimeque ad eos mercatores saepe commeant atque ea, quae ad effeminandos animos pertinent, important proximique sunt Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum continenter bellum gerunt. (4) qua de causa Helvetii quoque reliquos Gallos virtute praecedunt, quod fere cotidianis proeliis cum Germanis contendunt, cum aut suis finibus eos prohibent aut ipsi in eorum finibus bellum gerunt. (5) eorum una pars, quam Gallos obtinere dictum est, initium capit a flumine Rhodano, continetur Garunna flumine, Oceano, finibus Belgarum, attingit etiam ab Sequanis et Helvetiis flumen Rhenum, vergit ad septentriones. (6) Belgae ab extremis Galliae finibus oriuntur, pertinent ad inferiorem partem fluminis Rheni, spectant in septentrionem et orientem solem. (7) Aquitania a Garunna flumine ad Pyrenaeos montes et eam partem Oceani, quae est ad Hispaniam, pertinet, spectat inter occasum solis et septentriones. 1 (1) Das Gesamtgebiet Galliens zerfällt in drei Teile: in dem einen leben die Belger, in einem zweiten die Aquitaner und im dritten die Völker, die in der Landessprache Kelten heissen, bei uns jedoch Gallier. (2) Sie unterscheiden sich alle nach Sprache, Tradition und Recht. Der Fluss Garonne trennt das Gebiet der Gallier von dem der Aquitaner, während die Flüsse Marne und Seine ihr Land gegen das der Belger abgrenzen. (3) Die Belger sind von allen erwähnten Stämmen die tapfersten, weil sie von der verfeinerten Lebensweise und hochentwickelten Zvilisation der römischen Provinz am weitesten entfernt sind. Denn nur sehr selten gelangen Händler zu ihnen mit Waren, die die Lebensweise verweichlichen können. Zudem leben sie in unmittelbarer Nähe der Germanen, die das Gebiet jenseits des Rheins bewohnen und sich ständig im Kriegszustand mit den Belgern befinden. (4) Aus demselben Grund übertreffen auch die Helvetier die übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie fast täglich mit den Germanen zu kämpfen haben. Denn entweder müssen sie Einfälle der Germanen in ihr Gebiet abwehren, oder aber sie kämpfen selbst auf germanischem Gebiet. (5) Der Teil des Landes, in dem, wie schon gesagt, die Gallier leben, beginnt an der Rhône und wird durch die Garonne, den Ozean und das Gebiet der Belger begrenzt. Er berührt sogar in näch- Survol de la littérature antique Cours bilingue XII Büste von Caesar Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung ster Nachbarschaft zum Land der Sequaner und Helvetier den Rhein und erstreckt sich dann nach Norden. (6) Das Gebiet der Belger beginnt am äussersten Ende Galliens und erstreckt sich bis zum Unterlauf des Rheins. Es liegt gegen Nordosten. (7) Aquitanien erstreckt sich von der Garonne bis zu den Pyrenäen und zu dem Teil des Ozeans, der auch die spanische Küste berührt. Es weist nach Nordwesten. (Übersetzung: Anton D. Leeman) 9.3.2. Caesar, De bello Gallico 4,20–25 4,20 (1) Exigua parte aestatis reliqua Caesar, etsi in his locis, quod omnis Gallia ad septentriones vergit, maturae sunt hiemes, tamen in Britanniam proficisci contendit, quod omnibus fere Gallicis bellis hostibus nostris inde subministrata auxilia intellegebat et, (2) si tempus anni ad bellum gerendum deficeret, tamen magno sibi usui fore arbitrabatur, si modo insulam adisset, genus hominum perspexisset, loca portus aditus cognovisset. (3) quae omnia fere Gallis erant incognita. neque enim temere praeter mercatores adit ad illos quisquam, neque iis ipsis quicquam praeter oram maritimam atque eas regiones, quae sunt contra Galliam, notum est. […] 21 (1) Ad haec cognoscenda, priusquam periculum faceret, idoneum esse arbitratus C. Volusenum cum navi longa praemittit, (2) huic mandat uti exploratis omnibus rebus ad se quam primum revertatur. […] (9) Volusenus perspectis regionibus omnibus, quantum ei facultatis dari potuit, qui navi egredi ac se barbaris committere non auderet, quinto die ad Caesarem revertitur, quaeque ibi perspexisset, renuntiat. 22 (1) Dum in his locis Caesar navium parandarum causa moratur, ex magna parte Morinorum ad eum legati venerunt, qui se de superioris temporis consilio excusarent, quod homines barbari et nostrae consuetudinis imperiti bellum populo Romano fecissent, seque ea quae imperasset facturos pollicerentur. (2) hoc sibi Caesar satis opportune accidisse arbitratus, quod neque post tergum hostem relinquere volebat 4,20 (1) Obwohl sich der Sommer dem Ende zuneigte und der Winter in dieser Gegend sehr früh beginnt, da Gallien in den nördlichen Breiten liegt, wollte Caesar unbedingt nach Britannien aufbrechen, weil er immer wieder sah, dass in fast allen gallischen Kriegen die Feinde von dort mit Hilfstruppen unterstützt wurden. (2) Auch wenn die Jahreszeit es nicht mehr erlaubte, einen Krieg zu führen, glaubte er dennoch, es bringe für ihn Vorteile mit sich, wenn er nur auf der Insel landete, die Menschen dort genauer kennenlernte und Informationen über die Gegend, die Häfen und die übrigen Landungsmöglichkeiten sammelte. (3) Das alles war den Galliern in der Regel nicht bekannt. Ausser Handlsleuten ist niemand sonst so verwegen, die Bewohner dieser Insel aufzusuchen, und selbst diese kennen nur die Küste und die Gegend, die Gallien gegenüber liegt. […] 21 (1) Er hielt es daher für angebracht, C. Volusenus mit einem Kriegsschiff vorauszuschicken, um dies zu erforschen, bevor er sich in irgendeine Gefahr begab. (2) Er beauftragte ihn, alles auszukundschaften und dann so schnell wie möglich zu ihm zurückzukehren. […] (9) Volusenus nahm die gesamten Gebiete in Augenschein, so gut es einem Mann gelingen konnte, der nicht wagte, das Schiff zu verlassen und sich damit den Barbaren auszuliefern. Nach vier Tagen kehrte er zu Caesar zurück und berichtete, was er dort gesehen habe. 22 (1) Während sich Caesar in dieser Gegend aufhielt, um die Flotte zusammenzustellen, kamen von einem grossen Teil der Moriner Gesandte zu ihm, um sich für die Pläne, die sie in der vergangenen Zeit verfolgt hatten, zu entschuldigen und darzulegen, dass sie Krieg gegen das römische Volk geführt hätten, weil sie als barbarische Völker nicht mit unseren Gewohnheiten vertraut gewesen seien. Sie versprachen, alle Forderungen Caesars in Zukunft zu erfüllen. Survol de la littérature antique Cours bilingue neque belli gerendi propter anni tempus facultatem habebat neque has tantularum rerum occupationes Bri-tanniae anteponendas iudicabat, magnum iis numerum obsidum imperat. […] 23 (1) His constitutis rebus nactus idoneam ad navigandum tempestatem tertia fere vigilia naves solvit equitesque in ulteriorem portum progredi et naves conscendere et se sequi iussit. (2) a quibus cum paulo tardius esset administratum, ipse hora diei circiter quarta cum primis navibus Britanniam attigit atque ibi in omnibus collibus expositas hostium copias armatas conspexit. (3) cuius loci haec erat natura atque ita montibus angustis mare continebatur, uti ex locis superioribus in litus telum adigi posset. (4) hunc ad egrediendum nequaquam idoneum locum arbitratus, dum reliquae naves eo convenirent, ad horam nonam in ancoris exspectavit. (5) interim legatis tribunisque militum convocatis, et quae ex Voluseno cognovisset et quae fieri vellet ostendit. […] 24 (1) At barbari consilio Romanorum cognito, praemisso equitatu et essedariis, quo plerumque genere in proeliis uti consuerunt, reliquis copiis subsecuti nostros navibus egredi prohibebant. (2) erat ob has causas summa difficultas, quod naves propter magnitudinem nisi in alto constitui non poterant, militibus autem ignotis locis, impeditis manibus, magno et gravi onere armorum pressis simul et de navibus desiliendum et in fluctibus consistendum et cum hostibus erat pugnandum, (3) cum illi aut ex arido aut paulum in aquam progressi omnibus membris expeditis, notissimis locis audacter tela conicerent et equos insuefacto incitarent. (4) quibus rebus nostri perterriti atque huius omnino generis pugnae imperiti non eadem alacritate ac studio, quo in pedestribus uti proeliis consuerant, utebantur. XIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung (2) Caesar hielt dies für ein glückliches Zusammentreffen, weil er in seinem Rücken keinen Feind zurücklassen wollte, auf Grund der Jahreszeit jedoch auch keine Gelegenheit mehr hatte, sich kriegerisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Auch war er der Ansicht, dass die Beschäftigung mit so geringfügigen Angelegenheiten hinter dem Zug nach Britannien zurückzustehen habe. Daher befahl er ihnen nur, eine grosse Zahl von Geiseln zu stellen. […] 23 (1) Sobald nach Anordnung dieser Massnahmen günstiges Wetter für die Seefahrt eintrat, liess er etwa um die 3. Nachtwache die Schiffe ablegen. Vorher befahl er den Reitern, in den anderen Hafen vorzurücken, sich dort an Bord zu begeben und ihm zu folgen. (2) Während sie diesen Befehl etwas zu zögernd ausführten, kam Caesar selbst schon etwa um die 4. Stunde des Tages mit den ersten Schiffen an der britannischen Küste an und stellte fest, dass dort auf allen Anhöhen bewaffnete feindliche Truppen aufgestellt waren. (3) Dieser Ort war dergestalt beschaffen, dass man, da die Berge sehr nahe ans Meer heranrückten, den Strand von den Höhen aus mit Wurfgeschossen erreichen konnte. (4) Da Caesar diese Stelle als Landeplatz für völlig ungeeignet heilt, liess er Anker werfen und wartet bis zur 9. Stunde darauf, dass die übrigen Schiffe dort einträfen. (5) In der Zwischenzeit versammelte er die Legaten und Militärtribunen und erklärte ihnen, was er von Volusenus erfahren hatte und was nun geschehen sollte. […] 24 (1) Die Barbaren durchschauten jedoch den Plan der Römer, schickten ihre Reiterei und die Kriegswagen voraus, die sie in Kämpfen in der Regel einzusetzen pflegten, und folgten mit den übrigen Truppen unverzüglich nach. Sie hinderten unsere Soldaten am Verlassen der Schiffen, (2) so dass die Lage für uns sehr schwierig wurde, denn die Schiffe konnten wegen ihres Ausmasses nur in grösserer Tiefe vor Anker gehen, während unsere Soldaten das Gelände nicht kannten und ihre Hände nicht gebrauchen konnten, weil sie mit dem Gewicht der vielen Waffen belastet waren. Trotzdem sollten sie zugleich von den Schiffen springen, im Wasser Halt finden und mit den Feinden kämpfen. (3) Diese waren mit der Gegend wohlvertraut, befanden sich im Trockenen oder waren nur wenig ins Wasser vorgerückt, so dass sie alle ihre Glieder frei gebrauchen konnten. Sie schleuderten kühn ihre Wurfgeschosse und trieben ihre Pferde an, die an diese Kampfesweise gewöhnt waren. (4) Das alles versetzte unsere Soldaten in Panik, und da sie in dieser Art von Kampf völlig Survol de la littérature antique Cours bilingue 25 (1) Quod ubi Caesar animadvertit, naves longas, quarum et species erat barbaris inusitatior et motus ad usum expeditior, paulum removeri ab onerariis navibus et remis incitari et ad latus apertum hostium constitui atque inde fundis, sagittis, tormentis hostes propelli ac submoveri iussit. (2) quae res magno usui nostris fuit. nam et navium figura et remorum motu et inusitato genere tormentorum permoti barbari constiterunt ac paulum modo pedem rettulerunt. (3) at nostris militibus cunctantibus maxime propter altitudinem maris, qui decimae legionis aquilam ferebat, obtestatus deos ut ea res legioni feliciter eveniret, 'desilite' inquit 'commilitones, nisi vultis aquilam hostibus prodere; ego certe meum rei publicae atque imperatori officium praestitero.' (4) hoc cum voce magna dixisset, se ex navi proiecit atque in hostes aquilam ferre coepit. (5) tum nostri cohortati inter se, ne tantum dedecus admitteretur, universi ex navi desiluerunt. XIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung unerfahren waren, gingen sie nicht mit derselben Lebhaftigkeit und Begeisterung vor, die sie gewöhnlich zeigten, wenn zu Fuss gekämpft wurde. 25 (1) Als Caesar dies bemerkte, liess er die leichter zu manövrierenden Kriegsschiffe, deren Anblick dem Feind ungewohnter war, etwas von den Lastschiffen wegrudern, ihre Geschwindigkeit erhöhen und vor der offenen Flanke des Feindes vor Anker gehen. Von hier aus sollten die Soldaten die Feinde mit Schleudern, Bogen und schweren Geschützen zurücktreiben und in die Flucht schlagen. (2) Diese Massnahme erwies sich für uns als sehr nützlich, denn die Form der Schiffe, die Bewegung der Ruder und die ungewohnten, schweren Geschütze beeindruckten die Feinde so, dass sie stehenblieben und, wenn auch nur wenig, zurückwichen. (3) Als unsere Soldaten vor allem wegen der Tiefe des Wassers immer noch zögerten, beschwor der Adlerträger der 10. Legion die Götter, der Legion einen glücklichen Ausgang dieses Unternehmens zu gewähren, und rief: »Springt herab, Kameraden, wenn ihr den Adler nicht den Feinden ausliefern wollt. Ich jedenfalls werde meine Pflicht gegen den Staat und gegen den Feldherrn erfüllen«. (4) Sobald er dies mit lauter Stimme gerufen hatte, sprang er vom Schiff und trug den Adler gegen die Feinde voran. (5) Da feuerten sich unsere Soldaten gegenseitig an, eine derartige Schande nicht zuzulassen, und sprangen alle vom Schiff. (Übersetzung: Anton D. Leeman) Survol de la littérature antique Cours bilingue XV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 10. Die römische Lyrik: Horaz und Properz 10.1.1. Horaz, Saturae 1,1,1-22 5 10 15 20 Qui fit, Maecenas, ut nemo, quam sibi sortem seu ratio dederit seu fors obiecerit, illa contentus vivat, laudet diversa sequentis? 'o fortunati mercatores' gravis annis miles ait, multo iam fractus membra labore; contra mercator navim iactantibus Austris: 'militia est potior. quid enim? concurritur: horae momento cita mors venit aut victoria laeta.' agricolam laudat iuris legumque peritus, sub galli cantum consultor ubi ostia pulsat; ille, datis vadibus qui rure extractus in urbem est, solos felicis viventis clamat in urbe. cetera de genere hoc-adeo sunt multa-loquacem delassare valent Fabium. ne te morer, audi, quo rem deducam. si quis deus 'en ego' dicat 'iam faciam quod voltis: eris tu, qui modo miles, mercator; tu, consultus modo, rusticus: hinc vos, vos hinc mutatis discedite partibus. eia, quid statis?' nolint. atqui licet esse beatis. quid causae est, merito quin illis Iuppiter ambas iratus buccas inflet neque se fore posthac tam facilem dicat, votis ut praebeat aurem? Horaz Wie kommt es, Maecenas, dass keiner mit dem Los, da ihm vernünftige Wahl gegeben oder auch der Zufall zugeworfen hat, zufrieden lebt, vielmehr diejenigen glücklich preist, die ganz anderen Dingen nachgehen? »O, die Kaufleute haben es gut!« seufzt unter der Last [5] seiner Jahre der Soldat, dessen Körperkraft durch die viele Mühsal gebrochen ist. Dagegen der Kaufmann, wenn die Südwinde sein Schiff hin und her werfen: »Das Kriegshandwerk ist besser. Nicht wahr? Es kommt zum Treffen. Eine Stunde gibt den Ausschlag: Da kommt ein rascher Tod oder ein froher Sieg.« Den Bauern preist der Kenner von Recht und Gesetz glücklich, [10] sobald beim Hahnenschrei der Ratsuchende an seine Tür klopft. Jener aber, der Bürgen gestellt hat und vom Lande in die Stadt zitiert wurde, ruft laut, nur die Städter hätten es gut. Weitere Beispiele dieser Art könnten — so zahlreich sind sie — den geschwätzigen Fabius zur Erschöpfung bringen. Damit ich dich nicht aufhalte, höre, [15] worauf ich hinaus will. Wenn ein Gott sagen würde: »Bitte schön, ich will jetzt machen, was ihr wollt: Du, eben noch Soldat, wirst ein Kaufmann sein; du, eben noch Rechtskundiger, ein Bauer. Geht ihr von hier, ihr von da mit vertauschten Rollen hinweg. Hei! Was steht ihr noch?« Sie hätten keine Lust. Dabei steht ihnen der Weg zu ihrem Glück offen. [20] Wie sollte Iuppiter nicht mit Recht im Zorn auf sie beide Backen aufblasen und erklären, er werde nie wieder so entgegenkommend sein, Gebeten Gehör zu schenken? (Übersetzung: M. von Albrecht) 10.1.2. Horaz, Saturae 1.6,1-17. 71-99 Non quia, Maecenas, Lydorum quidquid Etruscos (nach antiker Ansicht stammten die Etrusker aus Lydien, Kleinasien) 5 incoluit finis, nemo generosior est te, nec quod avus tibi maternus fuit atque paternus olim qui magnis legionibus imperitarent, ut plerique solent, naso suspendis adunco ignotos, ut me libertino patre natum. cum referre negas, quali sit quisque parente natus, dum ingenuus, persuades hoc tibi vere, ante potestatem Tulli atque ignobile regnum (der sechste römische König, Servius Tullius, stammte von einer gefangenen Sklavin ab) Von allen lydischen Siedlern, die je in ertruskischen Landen wohnten, ist keiner von edlerer Abkunft als du, mein Maecenas; unter die Ahnen, sowohl deiner Mutter als auch deines Vaters, zählst du Männer, die einstmals gewaltigen Heeren geboten haben: [5] Doch siehst du nicht, wie die meisten, mit gerümpfter Nase herab auf Namenlose wie mich, eines Freigelassenen Sohn nur. Ist einer frei durch Geburt, sei die Stellung des Vaters belanglos, sagst du und bist also völlig zu Recht überzeugt, dass, schon ehe einst aus dem Dunkel ein Tullius zu mächtiger Herrschaft emporstieg, [10] oft genug Männer, die Survol de la littérature antique Cours bilingue 10 XVI multos saepe viros nullis maioribus ortos et vixisse probos amplis et honoribus auctos; contra Laevinum, Valeri genus, unde Superbus Tarquinius regno pulsus fugit, unius assis (Publius Valerius Laevinus, ein adliger Lump, führte seine Familie auf P. Valerius Poplicola zurück, der Traquinius Superbus vertrieben und die Republik mitbegründet hatte) 15 75 80 85 90 95 non umquam pretio pluris licuisse, notante iudice quo nosti, populo, qui stultus honores saepe dat indignis et famae servit ineptus, qui stupet in titulis et imaginibus. causa fuit pater his; qui macro pauper agello noluit in Flavi ludum me mittere, magni quo pueri magnis e centurionibus orti laevo suspensi loculos tabulamque lacerto ibant octonos referentes idibus aeris, sed puerum est ausus Romam portare docendum artis quas doceat quivis eques atque senator semet prognatos. vestem servosque sequentis, in magno ut populo, siqui vidisset, avita ex re praeberi sumptus mihi crederet illos. ipse mihi custos incorruptissimus omnis circum doctores aderat. quid multa? pudicum, qui primus virtutis honos, servavit ab omni non solum facto, verum opprobrio quoque turpi nec timuit, sibi ne vitio quis verteret, olim si praeco parvas aut, ut fuit ipse, coactor mercedes sequerer; neque ego essem questus. at hoc nunc laus illi debetur et a me gratia maior. nil me paeniteat sanum patris huius, eoque non, ut magna dolo factum negat esse suo pars, quod non ingenuos habeat clarosque parentes, sic me defendam. longe mea discrepat istis et vox et ratio. nam si natura iuberet a certis annis aevum remeare peractum atque alios legere, ad fastum quoscumque parentes optaret sibi quisque, meis contentus honestos fascibus et sellis nollem mihi sumere, demens iudicio volgi, sanus fortasse tuo, quod nollem onus haud umquam solitus portare molestum (Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht) Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung keine Vorfahren von Rang und Bedeutung hatten, ehrbar ihr Leben führten und hohe Würden erlangten, während Laevinus — obgleich er ein Nachkomme des Valerius war, der den Tarquinius Superbus vom Thron in die Fremde verjagt hat — deshalb niemals einen einzigen Heller mehr galt, [15] nicht einmal beim Volk, dessen Urteil du kennst: Dumm verleiht es oft Ehren an Leute, die es nicht verdienen, kriecht töricht vor grossen Namen im Staub und weidet sich staunend an Inschrift und Ahnenbild. […] All dies dank ich dem Vater. Sein Besitz war nur klein, und knapp auch sein Einkommen. Trotzdem schickte er mich nicht in die Schule des Flavius, welche grossspurige Söhne von grossmächtigen Hauptleuten besuchten, links am Arm beladen mit einem Rechenkästchen und der Tafel, [75] brav ihre acht As als Gebühr zur Monatsmitte entrichtend. Nein, er fand Mut, seinen Jungen nach Rom in die Schule zu geben, Künste zu lernen, wie jeder Senator und Ritter sie seinen Sprösslingen beibringen lässt. Hätte jemand im Getriebe der Grossstadt auf meine Kleidung geachtet und auf mein Sklavengefolge, so hätte er wohl gedacht, [80] ein altes Erbgut erlaube mir solcherlei Aufwand. Unbestechlichster Hüter auf dem Weg zu den Lehrern war mir der Vater höchstselbst. Wozu viele Worte? Die Reinheit, vornehmste Zierde der Tugend, bewahrte er nicht nur vor allem schimpflichen Tun, sondern hielt ihr auch Verleumdung ferne [85] und hegte keineswegs Sorge, man könnte es ihm später zum Vorwurf machen, dass ich bescheidenem Erwerb nachging, als Ausrufer oder, wie er, als Makler; ich selber hätte nicht Klage geführt. Umso grösser sind das Lob und der Dank, die ich jetzt meinem Vater schulde. Unverstand wäre es, wenn mir solch eine Herkunft missfiele, [90] und deshalb mag ich mich nicht wie die meisten verteidigen, welche betonen, ihre Schuld sei es nicht, dass sie freigeborener, berühmter Eltern entbehrten. Meine Rede und Denkart ist von jenen bei weitem verschieden. Denn wenn die Natur für jeden verfügte, nach bestimmten Jahren den Lebensweg neu zu durchmessen [95] und sich andere Eltern zu suchen, so wie er sie sich nach seinem Stolz wünscht: ich wäre mit den meinen zufrieden und wollte mir keine wählen, die in Ämtern und Würden sind. Das schiene wohl töricht in den Augen der Menge, in deinen vielleicht doch vernünftig, weil ich — nie daran gewöhnt — verzichte, lästige Bürde zu tragen. Survol de la littérature antique Cours bilingue XVII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 10.1.3. Epod. 6 Quid inmerentis hospites vexas canis, ignavus adversum lupos? quin huc inanis, si potes, vertis minas et me remorsurum petis? nam qualis aut Molossus aut fulvos Lacon, Was fällst du, Hund, den Wandrer an, der nichts getan, Und vor dem Wolfe kneifst du feig? Warum richtest du deine eitlen Drohungen nicht hierher Und suchst mich, der ich dich widerbeiss? Wie ein Molosser, wie ein falber Sparterhund, (Die Molosser, ein epirotischer Volksstamm, und die Spartaner waren bekannt für ihre Hirtenhundezucht.) amica vis pastoribus, agam per altas aure sublata nivis, quaecumque praecedet fera; tu, cum timenda voce complesti nemus, proiectum odoraris cibum. cave cave, namque in malos asperrimus parata tollo cornua, qualis Lycambae spretus infido gener aut acer hostis Bupalo. Des Hirtenvolkes starker Freund, Jag ich mit hochgespitztem Ohr durch tiefen Schnee Vor mir dahin jedwedes Wild. Du aber erfüllst mit furchtbarem Bellen den Hain, Bevor du dann hingeworfenem Frass nachspürst. Nimm dich in acht! Der Schurken grimmer Feind, erheb Ich flugs das kampfbereite Horn, Gleich des Lykambes schnöd verschmähtem Schwiegersohn, Gleich dem ergrimmten Feind von Bupalos. (Lykambes wurde von Archilochos, weil er ihm seine Tochter Neobule als Gattin verwehrte, dermassen geschmäht, dass er sich mitsamt seiner Tochter erhängt haben soll. – Der Bildhauer Bupalos war das Opfer der Gedichte des Hipponax) an si quis atro dente me petiverit, inultus ut flebo puer? Oder sollte ich, wenn ein schwarzer Zahn micht packt, Ungerächt weinen wie ein Kind? (Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht) Molossische Jagdhunde 10.1.4. Carmen 1,9 Vides ut alta stet nive candidum Soracte nec iam sustineant onus (1) Siehst du Soractes Gipfel im tiefen Schnee Erglänzen, siehst die Wälder die Bürde nur (freistehender Hügel nördlich von Rom) silvae laborantes geluque flumina constiterint acuto. Mit Mühe tragen und im scharfen Froste die Fluten zu Eis gerinnen? dissolve frigus ligna super foco large reponens atque benignius deprome quadrimum Sabina, o Thaliarche, merum diota. (»Festführer«) (2) Die Kälte banne! Schicht auf dem Herd empor Das Brennholz! Lass vierjähriges Rebenblut Nun reichlicher, mein Thaliarchus, Aus dem sabinischen Kruge fliessen! permitte divis cetera, qui simul stravere ventos aequore fervido deproeliantis, nec cupressi nec veteres agitantur orni. (3) Das andre stell den Göttern anheim: Wenn sie Dem Sturm gebieten, der in des Meeres Gebraus Sich austobt, regen die Zypressen, Regen sich nimmer die alten Eschen. Survol de la littérature antique Cours bilingue XVIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung quid sit futurum cras, fuge quaerere, et quem Fors dierum cumque dabit, lucro adpone, nec dulcis amores sperne puer neque tu choreas, (4) Was morgen sein wird, meide zu fragen! Sieh In jedem Tage, den das Geschick dir schenkt, Gewinn! Verschmäh auch, Jüngling, nicht die Wonnen der Liebe und nicht das Tanzen, donec virenti canities abest morosa. nunc et campus et areae lenesque sub noctem susurri conposita repetantur hora, (5) Solang die Knie frisch und das Alter fern, Das grämliche! Jetzt sollst du zu Spiel und Kampf Und um die festgesetzte Stunde Abends zu süssem Geflüster eilen! nunc et latentis proditor intumo gratus puellae risus ab angulo pignusque dereptum lacertis aut digito male pertinaci. (6) Wenn aus dem Winkel holdes Gelächter dann Verrät, wo sich dein Mädchen verborgen hält, So raub ein Pfand von ihrem Arme, Oder vom Finger: Er sträubt sich wenig. (Übersetzung: M. von Albrecht) 10.1.5. Carmen 3,30 Exegi monumentum aere perennius regalique situ pyramidum altius, quod non imber edax, non aquilo impotens possit diruere aut innumerabilis Also schuf ich ein Mal dauernder noch als Erz, majestätischer als der Pyramiden Bau, das kein Regen zernagt, rasenden Nordwindes Wut nicht zu stürzen vermag, noch der Jahrhunderte annorum series et fuga temporum. non omnis moriar multaque pars mei vitabit Libitinam: usque ego postera crescam laude recens, dum Capitolium unzählbare Reihen oder der Zeiten Flucht. Nein, ich sterbe nicht ganz, über das Grab hinaus bleibt mein edleres Ich; und in der Nachwelt noch wächst mein Name, so lang, als mit der schweigenden scandet cum tacita virgine pontifex: dicar, qua violens obstrepit Aufidus et qua pauper aquae Daunus agrestium regnavit populorum, ex humili potens Jungfrau (= Vestalin) zum Kapitol wandelt der Pontifex. Dereinst wird man sagen, wo der Aufidus wild braust und wo, an Quellen arm, einst Daunus das ländliche Volk beherrscht, habe ich mich erhoben vom Staub, (Aufidus: grösster Fluss Apuliens —> Adria; Daunus: sagenhafter süditalischer König, Vater von Turnus, des Rivalen von Aeneas) princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos. sume superbiam quaesitam meritis et mihi Delphica lauro cinge volens, Melpomene, comam. der ich als erster Roms Liedern äolische Klänge verlieh. Nimm den erhabenen Preis, den mein Wirken verdient, winde, Melpomene, huldreich mir um das Haupt delphischen Lorbeerzweig! (Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht) (Melpomene: Muse der lyrischen Dichtung = «Singende») Melpomene Sappho und Alkaios Survol de la littérature antique Cours bilingue XIX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 10.1.6. Ars poetica 263–74. 361–65 265 270 361 365 non quivis videt inmodulata poemata iudex et data Romanis venia est indigna poetis. idcircone vager scribamque licenter? an omnis visuros peccata putem mea, tutus et intra spem veniae cautus? vitavi denique culpam, non laudem merui. vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. at vestri proavi Plautinos et numeros et laudavere sales, nimium patienter utrumque, ne dicam stulte, mirati, si modo ego et vos scimus inurbanum lepido seponere dicto legitimumque sonum digitis callemus et aure. […] ut pictura poesis: erit quae, si propius stes, te capiat magis, et quaedam, si longius abstes; haec amat obscurum, volet haec sub luce videri, iudicis argutum quae non formidat acumen; haec placuit semel, haec deciens repetita placebit. Nicht jeder Richter durchschaut eine schlecht komponierte Dichtung, und römischen Dichtern gewährte man unwürdige Nachsicht. Lass ich deshalb mich gehen und schreibe nach Willkür? Oder soll ich glauben, [265] dass alle meine Fehler erkennen, und nur darauf achten, ja nicht die Grenze zu überschreiten, in der ich noch Nachsicht erhoffen kann? Dann habe ich Tadel vermieden, aber nicht Lob mir verdient. Rollt nur die griechischen Muster auf mit fleissiger Hand bei Nacht und bei Tage! Doch eure Urgrossväter lobten die Rhythmen des Plautus [270] und seine Witze, bewunderten beides allzu geduldig — um nicht zu sagen: einfältig —, wofern wir, ich und ihr, zwischen geschmacklosem Witz und spritzigem zu unterscheiden verstehen und den vorschriftsmässigen Klang mit Fingern und Ohr beherrschen. […] Eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst; dieses liebt das Dunkel, dies will bei Lichte beschaut sein und fürchtet nicht den Scharfsinn des Richters; dieses hat einmal gefallen, doch dieses wird, noch zehnmal betrachtet, gefallen. (Übersetzung: M. von Albrecht) Illustration von Yngve Berg zu Goethes IV. Elegie Survol de la littérature antique Cours bilingue XX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 10.2.1. Sextus Propertius, Elegie 1,1 5 10 Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis, contactum nullis ante cupidinibus. tum mihi constantis deiecit lumina fastus et caput impositis pressit Amor pedibus, donec me docuit castas odisse puellas improbus, et nullo vivere consilio. ei mihi, iam toto furor hic non deficit anno, cum tamen adversos cogor habere deos. Milanion nullos fugiendo, Tulle, labores saevitiam durae contudit Iasidos. (Milanion liebte die wilde, männerverachtende Jägerin Atalante, Tochter des Iasos; Tullus: Freund und Adressat der Gedichte) nam modo Partheniis amens errabat in antris, (arkadisches Gebirge) rursus in hirsutas ibat et ille feras; ille etiam Hylaei percussus vulnere rami (Kentaur, Rivale des Milanion) 15 20 saucius Arcadiis rupibus ingemuit. ergo velocem potuit domuisse puellam: tantum in amore fides et benefacta valent. in me tardus Amor non ullas cogitat artes, nec meminit notas, ut prius, ire vias. at vos, deductae quibus est pellacia lunae et labor in magicis sacra piare focis, en agedum dominae mentem convertite nostrae, et facite illa meo palleat ore magis! tunc ego crediderim Manes et sidera vobis posse Cytinaeis ducere carminibus. (Cytae: Stadt in der Heimat der mythischen Zauberin Medea) 25 30 35 aut vos, qui sero lapsum revocatis, amici, quaerite non sani pectoris auxilia. fortiter et ferrum saevos patiemur et ignes, sit modo libertas quae velit ira loqui. ferte per extremas gentes et ferte per undas, qua non ulla meum femina norit iter. vos remanete, quibus facili deus annuit aure, sitis et in tuto semper amore pares. nam me nostra Venus noctes exercet amaras, et nullo vacuus tempore defit Amor. hoc, moneo, vitate malum: sua quemque moretur cura, neque assueto mutet amore torum. quod si quis monitis tardas adverterit aures, heu referet quanto verba dolore mea! Cynthia war's, die zuerst mich Armen gepackt mit den Äuglein, / Mich, der nimmer zuvor war von Begierden berührt. / Da hat zu Boden den Blick des beharrlichen Stolzes geschlagen / Amor und mich bedrängt, auf mein Haupt die Füsse gesetzt, (5) bis er mich gelehrt, die züchtigen Mädchen zu hassen, / der Böse, und zu leben hinfort ohne Plan. / Und schon hat mich die Wut dieses Jahr hindurch nicht verlassen, / obwohl das Geschick mir feindliche Götter schafft. / Milanion scheute keine Mühe, o Tullus, um (10) die Grausamkeit der Iasos-Tochter zu besiegen. / Denn sinnlos bald irrte er umher in Parthenius' Grotten, / er wagte es, dem borstigen Wild mutig zu zeigen den Blick, / niedergeschmettert auch einst von Hylaeus' mächtiger Keule, / lag er verwundet und stöhnte auf dem arkadischen Fels. (15) Schliesslich gelang es ihm, das flüchtige Mädchen zu bezwingen: / Bitten und Wohltat sind in der Liebe äusserst hilfreich. / In mir hat Amor, langsam und träge, keinerlei Kunst noch ersonnen / und hat die Wege, die er vorher noch gekannt, vergessen. / Drum ihr, die ihr den Mond vom Himmel mit täuschender Kunst zieht, (20) und auf magischem Herd Opfer zu weihen versteht, / auf denn, wendet mir jetzt das Gemüt meiner Geliebten zu / und erwirkt, dass ihr Antlitz noch mehr erbleicht als das meinige. / Dann, dann glaube ich euch gern, dass ihr Gestirne und Ströme / mit kytaiischem Lied nach Gefallen herbeilockt. (25) Und ihr, liebe Freunde, die ihr den Gefallenen zu spät zur Pflicht ruft, / sucht rettenden Beistand für die leidende Brust! / Mutig will ich Stahl, will Qualen des Feuers erdulden, / steht mir nur frei zu reden, was der Zorn mir eingibt. / Führt mich weg durch entfernt wohnende Völker, durch die Wogen des Meeres, (30) dass keine Frau den Weg finde, den ich nahm. / Ihr aber bleibt, die freundlichen Ohres der Gott zunickend erhört, / möget ihr verharren in verlässlicher Liebe! / Mich quält unsere Venus mit bitteren Nächten der Trübsal, / rastlos übt sich an mir Amor zu jeglicher Zeit. (35) Meidet mir dieses Geschick und haltet nur stets an der alten / Treue, nicht soll der Gunst traute Gewohnheit den Ort ändern. / Denn wer solcherlei Rat zu spät ein folgsames Ohr leiht, / ach! mit welchen Schmerzen wird er einst meine Worte zurückrufen! (Übersetzung nach M. von Albrecht) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 10.2.2. Elegie 1,3 Qualis Thesea iacuit cedente carina languida desertis Cnosia litoribus; (Gnossierin: Ariadne, Tochter von Minos) qualis et accubuit primo Cepheia somno libera iam duris cotibus Andromede; (Cepheus: König von Äthiopien; Andromeda: war an einen Felsen gefesselt, um einem Seeungeheuer vorgeworfen zu werden; sie wurde von Perseus befreit) 5 nec minus assiduis Edonis fessa choreis qualis in herboso concidit Apidano: (Edonis: Thrakerin = Bacchantin; Apidanus: Fluss in Thessalien) 10 talis visa mihi mollem spirare quietem Cynthia consertis nixa caput manibus, ebria cum multo traherem vestigia Baccho, et quaterent sera nocte facem pueri. hanc ego, nondum etiam sensus deperditus omnis, molliter impresso conor adire toro; et quamvis duplici correptum ardore iuberent hac Amor hac Liber, durus uterque deus, (Liber: italischer Fruchtbarkeitsgott —> Bacchus —> Wein) 15 20 subiecto leviter positam temptare lacerto osculaque admota sumere tarda manu, non tamen ausus eram dominae turbare quietem, expertae metuens iurgia saevitiae; sed sic intentis haerebam fixus ocellis, Argus ut ignotis cornibus Inachidos. (Argus: hundertäugiger Wächter, bewacht die Inachustochter Io, die in eine Kuh verwandelte Geliebte des Zeus) et modo solvebam nostra de fronte corollas ponebamque tuis, Cynthia, temporibus; et modo gaudebam lapsos formare capillos; nunc furtiva cavis poma dabam manibus: (Liebessymbol, Mythos des Göttinnenstreits —> Parisurteil) 25 30 35 40 omnia quae ingrato largibar munera somno, munera de prono saepe voluta sinu; et quotiens raro duxti suspiria motu, obstupui vano credulus auspicio, ne qua tibi insolitos portarent visa timores, neve quis invitam cogeret esse suam: donec diversas praecurrens luna fenestras, luna moraturis sedula luminibus, compositos levibus radiis patefecit ocellos. sic ait in molli fixa toro cubitum: 'tandem te nostro referens iniuria lecto alterius clausis expulit e foribus? namque ubi longa meae consumpsti tempora noctis, languidus exactis, ei mihi, sideribus? o utinam talis perducas, improbe, noctes, me miseram qualis semper habere iubes! nam modo purpureo fallebam stamine somnum, rursus et Orpheae carmine, fessa, lyrae; interdum leviter mecum deserta querebar externo longas saepe in amore moras: So wie die Gnossierin einst hinschmachtend am einsamen Ufer / lag, als Theseus' Schiff schon den Gestaden entwich; / wie die Tochter des Cepheus wohl zuerst sank in die Arme des Schlafs, / Andromeda, als sie von der rauhen Klippe befreit war; (5) wie die Edonerin auch vom unablässigen Chortanz / endlich ermüdet entschlief im Gras des Apidanus; / also schien auch Cynthia mir sanft Ruhe zu atmen, / wie sie ihr schlummerndes Haupt stützte auf den / schwankenden Arm; / als ich mit schleppendem Schritt vom reichlichen Bacchus berauscht kam, (10) spät noch bei Nacht die Fackeln schwenkte der Diener Geleit. / Noch nicht ganz der Besinnung beraubt, wagte ich mich / dem Lager zu nahen, das sanft schwoll um die schöne Gestalt. / Doch wiewohl ich vom doppelten Brand im Innern erglühend — / Amor und Liber gebot; mächtige Herrscher fürwahr! — (15) leicht die Ruhende mit zärtlichen Armen umfassen wollte, / die Hand ihr nahte, um Küsse und Kampf zu nehmen, / wagte ich es dennoch nicht, der Herrin Ruhe zu stören, / aus Angst vor dem schmähenden Zorn, den ich öfters schmerzlich empfand. / Doch ich hing an ihr, die Augen starr auf sie gerichtet, (20) ganz wie Argus einst, nichts ahnend, am Horn der Io. / Jetzt löste ich von meiner Stirn die Kränze / und wand sie dir, Cynthia, um dein lockiges Haupt. / Bald dann freute ich mich, dir die gelösten Locken zu ringeln, / bald legte ich dir Äpfel geheim in die Höhlung der Hand. (25) Ich überhäufte den unempfindlichen Schlaf mit allerlei Geschenken, / doch von der schwellenden Brust rollten sie wieder herab. / Und sooft dir ein Seufzer mit leiser Bewegung entfloh, / erschrak ich, töricht, über den nichtigen Laut, / ob nicht vielleicht ein böser Traum dir Schrecken erregte, (30) ob nicht vielleicht ein anderer dich gegen deinen Willen sich zu eigen machte. / Siehe, da blickte der Mond durch das Fenster — / neidischer Mond, warum hast du nicht länger zugewartet? — / und sein flüchtiger Glanz öffnet die schlummernden Augen; / also sprach sie, gestützt auf den schwellenden Pfühl: (35) »Hat dich endlich der anderen Stolz mir wieder gegeben, / die dich höhnend vertrieb und dir die Türe verschloss? / Denn wo hast du den Grossteil der Nacht verbracht, die doch mir gehört, / ermattet nun? Ach! sieh, schon verbleichen die Gestirne. / Mögest du, Schurke, die Nacht so verbringen, / wie du sie mir zumutest, mir armen. (40) Denn bald wollte ich durch Arbeit am purpurnen Webstuhl den Schlaf / überwinden, bald mit Gesang zur orphi- Survol de la littérature antique Cours bilingue 45 dum me iucundis lassam Sopor impulit alis. illa fuit lacrimis ultima cura meis.' XXII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung schen Leier, müde wie ich war. / Bald dann klagte ich leise bei mir, allein und verlassen, / wie oft du bei einer anderen Geliebten so lange verweiltest, / bis mich der Schlaft umfing, erschöpft wie ich war, mit seinen schmeichelnden Flügeln. (45) Dies war die letzte Klage, die weinend ich sprach.« (Übersetzung nach M. von Albrecht) Goethe, Der Besuch Meine Liebste wollt ich heut' beschleichen, Aber ihre Türe war verschlossen. "Hab' ich doch den Schlüssel in der Tasche! Öffn' ich leise die geliebte Türe!" Auf dem Saale fand ich nicht das Mädchen, Fand das Mädchen nicht in ihrer Stube. Endlich, da ich leis' die Kammer öffne, Find ich sie, gar zierlich eingeschlafen, Angekleidet, auf dem Sofa liegen. Bei der Arbeit war sie eingeschlafen; Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte Zwischen den gefaltnen zarten Händen; Und ich setzte mich an ihre Seite, Ging bei mir zu Rat, ob ich sie weckte. Da betrachtet' ich den schönen Frieden, Der auf ihren Augenlidern ruhte: Auf den Lippen war die stille Treue, Auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause, Und die Unschuld eines guten Herzens Regte sich im Busen hin und wieder. Jedes ihrer Glieder lag gefällig, Aufgelöst vom süßen Götterbalsam. Freudig saß ich da, und die Betrachtung Hielte die Begierde, sie zu wecken, Mit geheimen Banden fest und fester. "O du Liebe," dacht' ich, "kann der Schlummer, Der Verräter jedes falschen Zuges, Kann er dir nicht schaden, nichts entdecken, Was des Freundes zarte Meinung störte? "Deine holden Augen sind geschlossen, Die mich offen schon allein bezaubern; Es bewegen deine süßen Lippen Weder sich zur Rede noch zum Kusse; Aufgelöst sind diese Zauberbande Deiner Arme, die mich sonst umschlingen, Und die Hand, die reizende Gefährtin Süßer Schmeicheleien, unbeweglich. "Wär's ein Irrtum, wie ich von dir denke, Wär es Selbstbetrug, wie ich dich liebe, Müßt' ich's jetzt entdecken, da sich Amor Ohne Binde neben mich gestellet." Lange saß ich so und freute herzlich Ihres Wertes mich und meiner Liebe; Schlafend hatte sie mir so gefallen, Daß ich mich nicht traute, sie zu wecken. Leise leg' ich ihr zwei Pomeranzen Und zwei Rosen auf das Tischchen nieder; Sachte, sachte schleich' ich meiner Wege. "Öffnet sie die Augen, meine Gute, Gleich erblickt sie diese bunte Gabe, Staunt, wie immer bei verschloßnen Türen Dieses freundliche Geschenk sich finde. "Seh' ich diese Nacht den Engel wieder, O, wie freut sie sich, vergilt mir doppelt Dieses Opfer meiner zarten Liebe!" Survol de la littérature antique Cours bilingue XXIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11. Das römische Epos: Vergil und Ovid 11.1.1. Vergil, Aeneis 1,1-33 5 10 15 20 25 30 Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio; genus unde Latinum Albanique patres atque altae moenia Romae. Musa, mihi causas memora, quo numine laeso quidve dolens regina deum tot voluere casus insignem pietate virum, tot adire labores impulerit. tantaene animis caelestibus irae? Urbs antiqua fuit (Tyrii tenuere coloni) Karthago, Italiam contra Tiberinaque longe ostia, dives opum studiisque asperrima belli, quam Iuno fertur terris magis omnibus unam posthabita coluisse Samo. hic illius arma, hic currus fuit; hoc regnum dea gentibus esse, si qua fata sinant, iam tum tenditque fovetque. progeniem sed enim Troiano a sanguine duci audierat Tyrias olim quae verteret arces; hinc populum late regem belloque superbum venturum excidio Libyae; sic voluere Parcas. id metuens veterisque memor Saturnia belli, prima quod ad Troiam pro caris gesserat Argisnecdum etiam causae irarum saevique dolores exciderant animo; manet alta mente repostum iudicium Paridis spretaeque iniuria formae et genus invisum et rapti Ganymedis honores: his accensa super iactatos aequore toto Troas, reliquias Danaum atque immitis Achilli, arcebat longe Latio, multosque per annos errabant acti fatis maria omnia circum. tantae molis erat Romanam condere gentem. Waffen besinge ich und ihn, der zuerst vor Troias Gestaden / durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner / Küsten erreicht; den lange durch Meer und Länder umhertrieb / Göttergewalt, wegen des dauernden Grolls der erbitterten Iuno. (5) Vieles erduldete er auch im Krieg, bis er die Stadt gegründet / und die Penaten nach Latium gebracht hatte; von dort stammt das Volk der Latiner, / Albas Väter, und Roms hochragende Mauern. / Sag mir an, o Muse, weshalb, verletzt in der Gottheit / oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten (10) Mann so viel Drangsal bestehen und Mühen erdulden / liess. Ist wirklich der Zorn so gross in den himmlischen Seelen? / Fern gegenüber Italiens Strand und der Mündung des Tiber / lag vor Alters die Stadt / Karthago — tyrische Kolonisten / wohnten daselbst — an Besitztum reich und geübt in des Krieges rauhem Geschäft. (15) Sie erkor, so sagt man, Iuno vor allen / Ländern, vor Samos selbst, sich zum Sitz. Hier hatte sie die Waffen, / hier den Wagen; die Herrschaft der Welt, wenn das Schicksal es wollte, / hier zu begründen, war damals schon ihr heisses Verlangen. / Aber sie hatte vernommen, dass ein Stamm aus troischem Blute (20) spross, bestimmt, dereinst zu zerstören die tyrische Stadtburg. / Von ihm werde ein Geschlecht, weit herrschend und stolz in den Waffen, / kommen, dem Libyerland zum Verderben: so spännen die Parzen. / Dieses befürchtend und stets sich erinnernd des früheren Krieges, / den sie zuerst bei Troia für das teuere Argos geführt hatte — (25) denn noch waren die Gründe des Zorns und die grimmigen Schmerzen / nicht aus dem Geist gelöscht; sie bewahrt im tiefen Gemüte / das Urteil des Paris und der Schönheit schnöde Verachtung, / all das verhasste Geschlecht, Ganymedes' Raub und Erhebung: / Darum entbrannt jagt jetzt Saturnia über die Tiefen, (30) was von Troern den Griechen entging und dem grimmen Achilles, / und wehrte sie weit von Latium ab; mehrere Jahre lang / irrten sie, verfolgt vom Geschick, ringsum durch alle Meere. / Solch mühseliges Geschäft war die Stiftung des Römergeschlechts. (Übersetzung nach M. von Albrecht) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11.1.2. Vergil, Aeneis 1,227-296 230 235 240 245 250 atque illum (= Iovem) talis iactantem pectore curas tristior et lacrimis oculos suffusa nitentis adloquitur Venus: 'o qui res hominumque deumque aeternis regis imperiis et fulmine terres, quid meus Aeneas in te committere tantum, quid Troes potuere, quibus tot funera passis cunctus ob Italiam terrarum clauditur orbis? certe hinc Romanos olim volventibus annis, hinc fore ductores, revocato a sanguine Teucri, qui mare, qui terras omnis dicione tenerent, pollicitus - quae te, genitor, sententia vertit? hoc equidem occasum Troiae tristisque ruinas solabar fatis contraria fata rependens; nunc eadem fortuna viros tot casibus actos insequitur. quem das finem, rex magne, laborum? Antenor potuit mediis elapsus Achivis Illyricos penetrare sinus atque intima tutus regna Liburnorum et fontem superare Timavi, unde per ora novem vasto cum murmure montis it mare proruptum et pelago premit arva sonanti. hic tamen ille urbem Pataui sedesque locavit Teucrorum et genti nomen dedit armaque fixit Troia, nunc placida compostus pace quiescit: nos, tua progenies, caeli quibus adnuis arcem, navibus (infandum!) amissis unius ob iram prodimur atque Italis longe disiungimur oris. hic pietatis honos? sic nos in sceptra reponis?' Enée blessé 255 260 Olli subridens hominum sator atque deorum vultu, quo caelum tempestatesque serenat, oscula libavit natae, dehinc talia fatur: 'parce metu, Cytherea, manent immota tuorum fata tibi; cernes urbem et promissa Lavini moenia, sublimemque feres ad sidera caeli magnanimum Aenean; neque me sententia vertit. hic tibi (fabor enim, quando haec te cura remordet, longius et volvens fatorum arcana movebo) bellum ingens geret Italia populosque ferocis contundet moresque viris et moenia ponet, Da Jupiter nun in der Brust solcherlei Sorgen bewegte, / nahet bekümmert, den strahlenden Blick mit Tränen umgossen, / Venus und redet ihn an: »O du, der du die Angelegenheiten der Menschen und Götter (230) mit ewigem Gebote lenkst und sie mit dem Blitze schreckst, / was hat mein Aeneas an dir so Grosses verschuldet, / was die Troer, für die, nachdem sie schon so viele Tote betrauert, / der gesamte Erdkreis Italiens wegen verschlossen bleibt? / Und doch sollten von hier die Römer einst mit kreisenden Jahren, (235) sollten die Feldherrn kommen, von Teukros' wiedererwecktem Stamm, / die das Meer und alle Länder fest hielten im Gehorsam / — so versprachst du. Was hat dir den Sinn, o Erzeuger, geändert? Dadurch tröstete ich mich ob Troias Fall und der schmerzlichen Trümmer, / indem ich Geschick mit Geschick wog; (240) aber dasselbe Schicksal verfolgt auch jetzt die durch so viel Nöte getriebenen Männer. Wann machst du den Mühen, o erhabener König, ein Ende? / Konnte doch, mitten entschlüpft durch das Heer der Achiver, Antenor / /in die illyrische Bucht eindringen und bei dem versteckten / Reich der Liburner vorbei und Timavus' Quellen gelangen, (245) der mit lautem Getöse des Bergs sich jäh in das Meer stürzt, / durch neun Mündungen und das Gefilde mit rauschender Flut deckt! / Und hier baute er die Stadt Patavium, gründete Sitze hier / für die Teukrer, benannte das Volk und hing die trojanischen / Waffen auf, er, der jetzt ausruht, in Frieden bestattet. (250) Wir, dein Geschlecht, dem du selbst die Himmelshöhe gewährtest, / werden, o Schmach, nach der Schiffe Verlust um einer einzigen Zorn / verraten und weit von den italischen Küsten verschlagen. / Soll das der Lohn für unsere Frömmigkeit sein? Verleihst du so uns das Szepter? / Und mild lächelt sie an der Erzeuger der Menschen und Götter (255) mit einem Blick, der Himmel und Wetter erheitert. / Sanft dann küsste er die Tochter auf den Mund und sprach: »Lass von der Furcht, Cytherea, unwandelbar bleibt der Deinen / Schicksal; du wirst noch die Stadt Laviniums und die verheissenen / Mauern sehen. Du trägst empor zu den Sternen des Himmels (260) den erhabenen Aeneas; mein Sinn hat sich nicht geändert. / Er — ich will es gestehn, da dich solche Sorge plagt, ja, ich will das verhüllte Geschick noch weiter entrollen — / wird noch gewaltige Kriege führen in Italien und wilde Völker / bändigen, Gesetze geben den Männern Survol de la littérature antique Cours bilingue 265 270 275 280 285 290 295 XXV tertia dum Latio regnantem viderit aestas ternaque transierint Rutulis hiberna subactis. at puer Ascanius, cui nunc cognomen Iulo additur (Ilus erat, dum res stetit Ilia regno), triginta magnos volvendis mensibus orbis imperio explebit, regnumque ab sede Lavini transferet, et Longam multa vi muniet Albam. hic iam ter centum totos regnabitur annos gente sub Hectorea, donec regina sacerdos Marte gravis geminam partu dabit Ilia prolem. inde lupae fulvo nutricis tegmine laetus Romulus excipiet gentem et Mavortia condet moenia Romanosque suo de nomine dicet. his ego nec metas rerum nec tempora pono: imperium sine fine dedi. quin aspera Iuno, quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat, consilia in melius referet, mecumque fovebit Romanos, rerum dominos gentemque togatam. sic placitum. veniet lustris labentibus aetas cum domus Assaraci Pthiam clarasque Mycenas servitio premet ac victis dominabitur Argis. nascetur pulchra Troianus origine Caesar, imperium Oceano, famam qui terminet astris, Iulius, a magno demissum nomen Iulo. hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum accipies secura; vocabitur hic quoque votis. aspera tum positis mitescent saecula bellis: cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus iura dabunt; dirae ferro et compagibus artis claudentur Belli portae; Furor impius intus saeva sedens super arma et centum vinctus aënis post tergum nodis fremet horridus ore cruento.' Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung und schützende Mauern errichten, (265) bis ihn in Latium drei Sommer als König gesehen haben, / dreimal ins Winterlager zogen die gebändigten Rutuler. / Aber der Knabe Ascanius, der den Beinamen Iulus / erhält — Ilus war er, solange das Reich von Ilium blühte, — / wird dreissig Jahre lange der Monde / Kreislauf (270) mit Herrschergewalt füllen, sein Reich von Laviniums Sitz / weiter verlegen, und Alba Longa mit grosser Macht befestigen. / Drei Jahrhunderte lang wird die Herrschaft ununterbrochen andauern / unter des Hektor Geschlecht, bis die fürstliche Priesterin endlich, / Ilia, schwanger von Mars, ein Zwillingspaar auf die Welt bringt. (275) Von da führt glückverheissend im rotbraunen Fell der Wölfin / Romulus den Stamm weiter. Er wird die Mavortischen Mauern / gründen und die Römer nach dem eigenen Namen heissen. / Diesen bestimme ich kein Ziel ihrer Taten und keine Zeiten: Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen verliehen. Selbst Juno, die harte, (280) welche durch Meer und Land und Himmel Entsetzen verbreitet, wird zu besserem Rat gelangen, und zusammen mit mir die Römer / unterstützen, die Beherrscher der Welt und das Volk, das die Toga trägt. / So ist es beschlossen. Einst wird im Laufe der Jahrhunderte die Zeit kommen, / da Assaracus' Haus Phthias und das erlauchte Mykene (285) unter das Joch beugt und als Herr dem geknechteten Argos gebietet. Dann sprosst auf aus dem schönen Geschlecht der troianische Caesar, / dessen Gebot bis zum Ozean, dessen Ruhm zum Himmel reicht, / Iulius: sein Name entstammt vom grossen Iulus. / Ihn wirst du einst, beschwert mit den Trophäen des Ostens, im Himmel (290) fröhlich empfangen. Auch er wird mit Gelübden angerufen werden. / Dann, von den Kriegen erlöst, wird das rauhe Zeitalter sanfter: / die ehrwürdige Fides (Treue) und Vesta (Göttin des Herdes), Quirin (der zum Gott erhobene Romulus) zusammen mit seinem Bruder Remus / geben die Gesetze; mit Stahl und klemmenden Riegeln / bleiben die Tore des Kriegs geschlossen; drin sitzt die verruchte / Wut grimmig auf den Waffen und, mit ehernen Knoten / hinter dem Rücken gebunden, schnaubt das Scheusal mit blutigem Schlund.« (Übersetzung nach M. von Albrecht) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXVI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11.1.3. Vergil, Aeneis 1,736–756 740 745 750 755 dixit et in mensam laticum libavit honorem primaque, libato, summo tenus attigit ore; tum Bitiae dedit increpitans; ille impiger hausit spumantem pateram et pleno se proluit auro; post alii proceres. cithara crinitus Iopas personat aurata, docuit quem maximus Atlas. hic canit errantem lunam solisque labores, unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes, Arcturum pluviasque Hyadas geminosque Triones, quid tantum Oceano properent se tingere soles hiberni, vel quae tardis mora noctibus obstet; ingeminant plausu Tyrii, Troesque sequuntur. nec non et vario noctem sermone trahebat infelix Dido longumque bibebat amorem, multa super Priamo rogitans, super Hectore multa; nunc quibus Aurorae venisset filius armis, nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles. 'immo age et a prima dic, hospes, origine nobis insidias' inquit 'Danaum casusque tuorum erroresque tuos; nam te iam septima portat omnibus errantem terris et fluctibus aestas.' Sagt es und feuchtet den Tisch mit des Weinstocks heiliger Spende, / kostet als erste den Trank, netzt kaum nur eben die Lippe, / reicht ihn mit fröhlichem Wort dem Bibias. Dieser, nicht träge, / schlürfte aus dem goldenen Rund in vollen Zügen die Schaumflut. (740) Andere tun es ihm nach. Zur goldenen Zither hebt Iopas, / der lockige, an, was ihn der mächtige Atlas gelehrt hat. / Er singt vom Wechsel des Monds, von den Mühen der wandernden Sonne, / woher der Menschen Geschlecht und das Kleinvieh, woher Regen und Blitz, / und Arcturus und Regengestirn und die beiden Trionen, (240) singt, warum mit dem Herbst in den Ozean früher das Tageslicht niedertaucht, / und was die verspäteten Nächte zurückhält. / Beifall klatscht das Tyrervolk, ihm folgen die Troer. / Derweil verbringt die Nacht mit vielen Gesprächen / die unglückselige Dido, sie trinkt in langen Zügen die Liebe, (750) will von Priamus viel, will viel von Hektor vernehmen. / Fragt nach Aurorens Sohn und dem Harnisch, den er getragen, / forscht nach dem Wagengespann Diomedes, dem Wuchs des Achilles. / »Wahrlich«, so bittet sie, »Gast, heb an vom ersten Beginn, / nenne der Danaer List, erzähl der Deinen Verhängnis und (755) dein eigenes Verschulden. Schon ist's der siebte Sommer, / der dich im Erdenrund umtreibt durch Länder und Meere.« (Übersetzung nach R.A. Schröder) 5 Survol de la littérature antique Cours bilingue XXVII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11.1.4. Vergil, Aeneis 4,642–705 645 650 655 660 665 670 675 680 685 690 at trepida et coeptis immanibus effera Dido sanguineam volvens aciem, maculisque trementis interfusa genas et pallida morte futura, interiora domus inrumpit limina et altos conscendit furibunda rogos ensemque recludit Dardanium, non hos quaesitum munus in usus. hic, postquam Iliacas vestis notumque cubile conspexit, paulum lacrimis et mente morata incubuitque toro dixitque novissima verba: 'dulces exuviae, dum fata deusque sinebat, accipite hanc animam meque his exsolvite curis. vixi et quem dederat cursum Fortuna peregi, et nunc magna mei sub terras ibit imago. urbem praeclaram statui, mea moenia vidi, ulta virum poenas inimico a fratre recepi, felix, heu nimium felix, si litora tantum numquam Dardaniae tetigissent nostra carinae.' dixit, et os impressa toro 'moriemur inultae, sed moriamur' ait. 'sic, sic iuvat ire sub umbras. hauriat hunc oculis ignem crudelis ab alto Dardanus, et nostrae secum ferat omina mortis.' dixerat, atque illam media inter talia ferro conlapsam aspiciunt comites, ensemque cruore spumantem sparsasque manus. it clamor ad alta atria: concussam bacchatur Fama per urbem. lamentis gemituque et femineo ululatu tecta fremunt, resonat magnis plangoribus aether, non aliter quam si immissis ruat hostibus omnis Karthago aut antiqua Tyros, flammaeque furentes culmina perque hominum volvantur perque deorum. audiit exanimis trepidoque exterrita cursu unguibus ora soror foedans et pectora pugnis per medios ruit, ac morientem nomine clamat: 'hoc illud, germana, fuit? me fraude petebas? hoc rogus iste mihi, hoc ignes araeque parabant? quid primum deserta querar? comitemne sororem sprevisti moriens? eadem me ad fata vocasses, idem ambas ferro dolor atque eadem hora tulisset. his etiam struxi manibus patriosque vocavi voce deos, sic te ut posita, crudelis, abessem. exstinxti te meque, soror, populumque patresque Sidonios urbemque tuam. date, vulnera lymphis abluam et, extremus si quis super halitus errat, ore legam.' sic fata gradus evaserat altos, semianimemque sinu germanam amplexa fovebat cum gemitu atque atros siccabat veste cruores. illa gravis oculos conata attollere rursus deficit; infixum stridit sub pectore vulnus. ter sese attollens cubitoque adnixa levavit, ter revoluta toro est oculisque errantibus alto Dido aber, erhitzt und wild durch das grause Beginnen, / rollte den blutunterlaufenen Blick; um die bebenden Wangen / bläulich gefleckt und blaß von dem nah schon drohenden Tode (645) stürzt sie durch die innere Tür des Hofs und steigt, rasend, auf den hohen / Holzstoß hinauf. Dann entblößt sie die Dardanerklinge, / die sie nicht zu solchem Gebrauch sich erbeten, / sieht die troischen Kleider und erkennt das bekannte / Lager, da weilte sie ein wenig, sinnend und weinend; (650) dann sank sie hin auf das Kissen und sprach noch die letzten Worte: / »Reste, so teuer mir einst, solang es Gott und das Schicksal / zuließ, nehmt den Geist jetzt auf und erlöst mich von der Qual. / Mein Leben ist abgeschlossen, ich habe die Bahn, die das Schicksal mir bestimmte, durchlaufen, / unter die Erde hinab steigt bald mein erhabener Schatten. (655) Herrlich erhebt sich die Stadt, mein Werk; ich sah deren Mauern, / habe den Gatten gerächt und den felndlichen Bruder gezüchtigt. / Glücklich, ach allzu glücklich, / hätten sich der Dardaner / Kiele niemals unseren Gestaden genaht.« / So sprach sie und drückte ihr Gesicht tief in das Kissen. »Zwar sterbe ich ohne Vergeltung. (660) Doch will ich sterben, und so geh ich gern hinab zu den Schatten. Trinke den Feuerschein auf offenem Meer mit den Augen / der Troer, und mein Tod begleite ihn als unheilkündendes Zeichen.« / Während sie noch rief, lag sie schon zusammengesunken / unter dem Stahl da. So sahen sie die Frauen: das Schwert (665) noch schäumend von Blut und die Hände befleckt. Da schallt / durch die hohen / Hallen der Lärm, das Gerücht durchtobt die Gassen der Stadt. / Stöhnen und Wehgeschrei und Weibergeheul in den Häusern / tobt durcheinander. es hallt von den Klagen des Himmelsgewölbe, / grad, als wäre der Feind in der Stadt, als stürzte ganz (670) Karthago oder die alte Tyros in Schutt, als wälzten sich die Flammen / wild durch die Giebel der Menschen und der Götter. / Es hörte es, gleichsam entseelt, die Schwester und lief rasend herbei, / die Wangen zerkratzt, die Brust mit Schlägen geschändet. / Sie stürzt sich mitten hinein und ruft die Sterbende mit ihrem Namen: (675) »Dies also, Schwester, war es? Schändlichem Betrug setztest du mich aus? / Dies war es, wozu der Scheiterhaufen, dies, wozu Feuersbrunst und Altar dienten? / Was soll ich Verlaßene zuerst klagen? Der Schwester Begleitung / hat dein Scheiden verschmäht? Hättest du mich gerufen, mit dir zu sterben, / dann hätte der Schmerz Survol de la littérature antique Cours bilingue 695 700 705 XXVIII quaesivit caelo lucem ingemuitque reperta. tum Iuno omnipotens longum miserata dolorem difficilisque obitus Irim demisit Olympo quae luctantem animam nexosque resolveret artus. nam quia nec fato merita nec morte peribat, sed misera ante diem subitoque accensa furore, nondum illi flavum Proserpina vertice crinem abstulerat Stygioque caput damnaverat Orco. ergo Iris croceis per caelum roscida pennis mille trahens varios adverso sole colores devolat et supra caput astitit. 'hunc ego Diti sacrum iussa fero teque isto corpore solvo': sic ait et dextra crinem secat, omnis et una dilapsus calor atque in ventos vita recessit. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung durch das Schwert uns beide zur gleichen Stunde getroffen. (680) Und nun türmte ich selber den Stoß, habe selber der Heimat / Götter berufen und ließ dich grausam enden und einsam! / Ausgelöscht hast du, Schwester, dich und mich, dein Volk und deine Väter / von Tyros, deine Stadt. – Bringt Wasser, daß ich die Wunden / wasche und den letzten Hauch, wenn sie noch atmet, (685) vom Munde küsse.« – Sprach es und hat die steilen Stufen erklommen, / hält mit Armen und Schoß die sterbenden Schwester umfangen, / traurig bemüht, mit den Kleidern das dunkle Blut zu stillen. / Jene versucht's und hebt die schweren Lider, vermag es nicht / und sinkt hin: inmitten der Brust gähnt klaffend die Wunde. (690) Dreimal hob sie sich auf und stützte sich wankend im Lager, / dreimal sank sie zurück aufs Bett. Mit irrenden Augen / sucht sie im Himmel das Licht, seufzt, wenn sie es gewahr wird. / Endlich erbarmt sich die allmächtige Juno der langen Leiden / und des verzögerten Todes und sendet Iris vom Olymp, (695) daß sie den ringenden Geist entbinde und die Glieder löse. / Denn weil weder Geschick noch eigene Schuld sie getötet, / sondern bevor ihre Tage gezählt, unzeitiger Wahnsinn, / hatte Proserpina ihr noch nicht vom Scheitel die blonde Locke / geraubt und zum Styx ihr Haupt, in den Orcus verbannt. (700) Drum flog Iris, betaut, auf Safranflügeln hernieder, / unter der Sonne Gesicht in tausend Farben gekleidet, / stand ihr zu Häupten und sprach: »Diese bring ich dem Dis (Unterweltsgott) / als heilige Spende, sie mir befohlen, und löse dich also vom Leibe.« / Sagt es, ergreift und schneidet das Haar. Im selben Moment (705) schwindet die Wärme dahin und das Leben kehrt zu den Winden zurück. (Übersetzung nach M. v. Albrecht und R.A. Schröder) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXIX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11.2.1. Ovid, Amores 1,1,1–30 5 10 15 20 25 30 Arma gravi numero violentaque bella parabam edere, materia conveniente modis. par erat inferior versus; risisse Cupido dicitur atque unum surripuisse pedem. 'Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris? Pieridum vates, non tua turba sumus. quid, si praeripiat flavae Venus arma Minervae, ventilet accensas flava Minerva faces? quis probet in silvis Cererem regnare iugosis, lege pharetratae Virginis arva coli? crinibus insignem quis acuta cuspide Phoebum instruat, Aoniam Marte movente lyram? sunt tibi magna, puer, nimiumque potentia regna; cur opus adfectas, ambitiose, novum? an, quod ubique, tuum est? tua sunt Heliconia tempe? vix etiam Phoebo iam lyra tuta sua est? cum bene surrexit versu nova pagina primo, attenuat nervos proximus ille meos; nec mihi materia est numeris levioribus apta, aut puer aut longas compta puella comas.' Questus eram, pharetra cum protinus ille soluta legit in exitium spicula facta meum, lunavitque genu sinuosum fortiter arcum, 'quod' que 'canas, vates, accipe' dixit 'opus!' Me miserum! certas habuit puer ille sagittas. uror, et in vacuo pectore regnat Amor. Sex mihi surgat opus numeris, in quinque residat: ferrea cum vestris bella valete modis! cingere litorea flaventia tempora myrto, Musa, per undenos emodulanda pedes! Waffen in schwerem Takt und gewaltsame Kriege zu singen / war ich gerüstet; dem Stoff sollte sich fügen die Form; / gleich lang waren die Verse; da soll Cupido gelacht haben, und immer / stahl aus dem zweiten des Paars einen der Füsse der Schalk. (5) »Wer gab, wilder Gesell, dir Recht auf meine Gedichte? / Den Pieriden geweiht bin ich als Dichter, nicht dir! / Raubt auch Venus vielleicht die Waffen der blonden Minerva? / Facht der Fackeln Glut Minerva, die bonde, vielleicht? Wer fände es erlaubt, wenn Ceres im Bergwald herrschte? (10) Wenn die beköcherte Jungfrau den Fluren das Gesetz gäbe? Rüstet mit spitzigem Speer wohl einer den lockenumwallten / Phoebus Apollo, und bewegt Mars die böotische Lyra? / Gross, o Knabe, ist dein Reich, zu mächtig ist deine Herrschaft! / Weshalb, Ehrgeiziger, strebst du neuem Beginnen nach? / Oder gehört alles, was überall ist, dir? (15) Ist dein die Bergschlucht des Helikon? Kaum noch die Leier Apolls, scheint es, ist vor dir sicher. / Als mit dem ersten Vers mein Lied sich trefflich emporschwang, / wurden die Sehnen sogleich mir beim zweiten geschwächt. / Und doch fehlt mir ein passender Stoff für die leichteren Rhythmen, (20) ein Knabe, ein schmuckes Mädchen mit wallendem Haar.« / Also klagte ich; da löste er sofort den Köcher, / wählte ein Geschoss daraus, mir zum Verderben bestimmt, krümmt kraftvoll mit dem Knie zur Halbmondsform den Bogen, / spricht: »Hier nimm für dich, Dichter, den passenden Stoff!« (25) Weh mir Armen! Es hat gar sichere Pfeile der Knabe! / Ich brenne, in meiner leeren Brust herrscht Amor. / Mit sechs Füssen beginne ich mein Lied; es endet mit fünfen. / Eiserne Kriege mit euren Rhythmen, lebt wohl! / Jetzt mit der Myrte vom Strand umkränze die goldenen Schläfen, (30) Muse, der nun in elf Takten erklinge das Lied. (Übersetzung nach M. v. Albrecht) 11.2.2. Ovid, Metamorphosen 1,1–37. 69–88 5 In nova fert animus mutatas dicere formas corpora; di, coeptis (nam vos mutastis et illas) adspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen! Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum unus erat toto naturae vultus in orbe, quem dixere chaos: rudis indigestaque moles nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem non bene iunctarum discordia semina rerum. Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter – habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt mein Beginnen mit eurem göttlichen Atem und führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Ursprung der Welt bis zu meiner eigenen Zeit! Ehe es Meer, Land und den Himmel gab, der alles umschließt, (5) hatte die ganze Natur rinsgum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos; eine rohe, un- Survol de la littérature antique Cours bilingue 10 15 20 25 30 35 70 75 nullus adhuc mundo praebebat lumina Titan, nec nova crescendo reparabat cornua Phoebe, nec circumfuso pendebat in aere tellus ponderibus librata suis, nec bracchia longo margine terrarum porrexerat Amphitrite; utque erat et tellus illic et pontus et aer, sic erat instabilis tellus, innabilis unda, lucis egens aer; nulli sua forma manebat, obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno frigida pugnabant calidis, umentia siccis, mollia cum duris, sine pondere, habentia pondus. Hanc deus et melior litem natura diremit. nam caelo terras et terris abscidit undas et liquidum spisso secrevit ab aere caelum. quae postquam evolvit caecoque exemit acervo, dissociata locis concordi pace ligavit: ignea convexi vis et sine pondere caeli emicuit summaque locum sibi fecit in arce; proximus est aer illi levitate locoque; densior his tellus elementaque grandia traxit et pressa est gravitate sua; circumfluus umor ultima possedit solidumque coercuit orbem. Sic ubi dispositam quisquis fuit ille deorum congeriem secuit sectamque in membra coegit, principio terram, ne non aequalis ab omni parte foret, magni speciem glomeravit in orbis. tum freta diffundi rapidisque tumescere ventis iussit et ambitae circumdare litora terrae. […] Vix ita limitibus dissaepserat omnia certis, cum, quae pressa diu fuerant caligine caeca, sidera coeperunt toto effervescere caelo; neu regio foret ulla suis animalibus orba, astra tenent caeleste solum formaeque deorum, cesserunt nitidis habitandae piscibus undae, terra feras cepit, volucres agitabilis aer. XXX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung geordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche Samen von Dingen, die keinen rechten Zusammenhang hatten. Noch kein Titan spendete der Welt Licht, (10) kein Phoebe ließ ihr Mondhorn immer wieder aufs neue nachwachsen. Keine Tellus schwebte in der Luft, die sich um sie ergießt, und hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht; keine Amphitrite hatte die Arme weit um den Rand der Länder gespannt. Zwar gab es da Erde, Wasser und Luft; (15) doch konnte man auf der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht. Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege stand eines dem anderen, weil in ein und demselben Körper Kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit Trockenem, Weiches mit Hartem, Schwereloses mit Schwerem. (20) Diesen Streit schlichtet Gott und die bessere Natur. Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von der Erde die Gewässer, und er sonderte von der dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen Haufen genommen hatte, trennte er sie räumlich und verband sie so in einträchtigem Frieden. (25) Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht ihr die Luft, was die Leichtigkeit und auch was den Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie zog die wuchtigen Elemente an sich und wurde durch die eigene Schwere nach unten gedrückt. Ringsum strömte das Feuchte, (30) nahm den Rand in Besitz und umschloß das feste Erdenrund. Kaum hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte – das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen, damit sie auf allen Seiten gleich sei, und gab ihr die Gestalt einer großen Kugel. (35) Dann gebot er den Meeren, sich weithin zu ergießen, von stürmischen Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten der Erde rings zu umfließen. […] Kaum hatte er so alles durch klar umrissene Grenzen aufgegliedert, als plötzlich die Sterne, die lange von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen waren, (70) am ganzen Himmel aufzuglühen begannen. Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei, die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, die Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche Luft. (75) Survol de la littérature antique Cours bilingue 80 85 XXXI Sanctius his animal mentisque capacius altae deerat adhuc et quod dominari in cetera posset: natus homo est, sive hunc divino semine fecit ille opifex rerum, mundi melioris origo, sive recens tellus seductaque nuper ab alto aethere cognati retinebat semina caeli. quam satus Iapeto, mixtam pluvialibus undis, finxit in effigiem moderantum cuncta deorum, pronaque cum spectent animalia cetera terram, os homini sublime dedit caelumque videre iussit et erectos ad sidera tollere vultus: sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus induit ignotas hominum conversa figuras. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und imstande, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt, sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, (80) noch Samen des verwandten Himmels zurückbehiehlt; diese mischte der Sproß des Iapetus mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt zur Erde blicken, gab er dem Menschen ein nach oben schauendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel zu sehen (85) und das Gesicht aufrecht zu den Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an. (Übersetzung M. v. Albrecht) 11.2.3. Ovid, Metamorphosen 10,1–77 (Beginn der Orpheussage: Orpheus und Eurydike) Inde per inmensum croceo velatus amictu aethera digreditur Ciconumque Hymenaeus ad oras tendit et Orphea nequiquam voce vocatur. (Hymenaeus [Hochzeitsgott] hatte mit Venus und Iuno am Hochzeitsfest von Iphis und Ianthe teilgenommen. – Cicones: thrak. Volk) 5 adfuit ille quidem, sed nec sollemnia verba nec laetos vultus nec felix attulit omen. fax quoque, quam tenuit, lacrimoso stridula fumo usque fuit nullosque invenit motibus ignes. exitus auspicio gravior: nam nupta per herbas dum nova Naïadum turba comitata vagatur, (Naïades: Fluss-, Quell- und Seenymphen) 10 occidit in talum serpentis dente recepto. quam satis ad superas postquam Rhodopeius auras deflevit vates, ne non temptaret et umbras, (Rhodope: thrakisches Gebirge [Thrakien = Heimat des O.) ad Styga Taenaria est ausus descendere porta (Tainaron, südliches Vorgebirge Lakoniens, Eingang zur Unterwelt) 15 perque leves populos simulacraque functa sepulcro Persephonen adiit inamoenaque regna tenentem (Persephone, Tochter des Iuppiter und der Ceres, von Pluto geraubt) 20 umbrarum dominum pulsisque ad carmina nervis sic ait: 'o positi sub terra numina mundi, in quem reccidimus, quicquid mortale creamur, si licet et falsi positis ambagibus oris vera loqui sinitis, non huc, ut opaca viderem Tartara, descendi, nec uti villosa colubris (Tartaros: Totenreich) terna Medusaei vincirem guttura monstri: (Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, Urenkel der Medusa) 25 causa viae est coniunx, in quam calcata venenum vipera diffudit crescentesque abstulit annos. posse pati volui nec me temptasse negabo: Von dort schreitet Hymenaeus in seinem Krokusgelben Gewand durch den unermesslichen Äther; er eilt zu den Gestaden der Ciconen; dorthin ruft ihn Orpheus' Stimme, doch vergebens. Anwesend war er zwar, (5) doch brachte er nicht die gewohnten Segensworte, keine fröhlichen Gesichter, kein glückliches Omen; auch die Fackel in seiner Hand zischte immerfort; nur tränenerregender Rauch, keine Flamme entstieg ihr, mochte man sie noch so sehr schwingen. Der Ausgang war schlimmer als das Vorzeichen; denn während die Neuvermählte, von der Schar der Naiaden begleitet, durch die Wiesen streifte, (10) starb sie, weil eine Schlange sie in die Ferse gebissen hatte. Nachdem sie der Seher vom Rhodopegebirge an den Lüften des Himmels zur Genüge beweint hatte, wollte er es auch noch mit dem Schattenreich versuchen. So wagte er durch die taenarische Pforte zur Styx hinabzusteigen. Mitten durch die schwerelosen Völker und die Schattenbilder der Bestatteten (15) kam er bittend zu Persephone und zu dem König im unwirtlichen Reich, dem Herrn der Schatten. Dann schlug er zum Liede die Saiten und sang: »O ihr Gottheiten der unterirdischen Welt, in die wir zurückfallen, wir, alles Sterbliche, was entsteht! Ist es erlaubt und gestattet ihr mir, ohne Trug und Umschweife (20) die Wahrheit zu sagen, so wisst: Ich bin nicht hier herabgestiegen, um den finsteren Tartarus zu sehen, nicht, um die drei Hälse des medusischen Höllenhundes zu fesseln, an denen Schlangen als Zotteln hängen. Der Grund meiner Fahrt ist meine Gattin; Survol de la littérature antique Cours bilingue 30 35 40 XXXII vicit Amor. supera deus hic bene notus in ora est; an sit et hic, dubito: sed et hic tamen auguror esse, famaque si veteris non est mentita rapinae, vos quoque iunxit Amor. per ego haec loca plena timoris, per Chaos hoc ingens vastique silentia regni, Eurydices, oro, properata retexite fata. omnia debemur vobis, paulumque morati serius aut citius sedem properamus ad unam. tendimus huc omnes, haec est domus ultima, vosque humani generis longissima regna tenetis. haec quoque, cum iustos matura peregerit annos, iuris erit vestri: pro munere poscimus usum; quodsi fata negant veniam pro coniuge, certum est nolle redire mihi: leto gaudete duorum. Talia dicentem nervosque ad verba moventem exsangues flebant animae; nec Tantalus undam (Tantalus: Büssergestalt der Unterwelt) captavit refugam, stupuitque Ixionis orbis, (Ixion: König der Lapithen; in der Unterwelt an ein Rad geschmiedet, weil er sich der Iuno bemäChtigen wollte) nec carpsere iecur volucres, urnisque vacarunt Belides, inque tuo sedisti, Sisyphe, saxo. (Belides: Enkelinnen des Königs Belus von Ägypten, nach ihrem Vater Danaos auch Danaiden genannt. Sie töteten ihre Männer in der Hochzeitsnacht und mussten ewig Wasser in ein leckes Fass schöpfen. – Sisyphus: Sohn des Aeolus, des Königs der Winde; König von Korinth, verschlagen und gewalttätig, von Theseus getötet und in der Unterwelt verdammt, einen Felsblock bergauf zu rollen, der stets kurz vor dem Gipfel zurückrollt.) 45 tunc primum lacrimis victarum carmine fama est Eumenidum maduisse genas, nec regia coniunx (Eumenides: Erinnyen, die Bluträcherinnen) 50 sustinet oranti nec, qui regit ima, negare, Eurydicenque vocant: umbras erat illa recentes inter et incessit passu de vulnere tardo. hanc simul et legem Rhodopeius accipit heros, ne flectat retro sua lumina, donec Avernas exierit valles; aut inrita dona futura. (der Averner See in Campanien, ein 55 60 65 Eingang zur Unterwelt) Carpitur adclivis per muta silentia trames, arduus, obscurus, caligine densus opaca, nec procul afuerunt telluris margine summae: hic, ne deficeret, metuens avidusque videndi flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est, bracchiaque intendens prendique et prendere certans nil nisi cedentes infelix arripit auras. iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?) supremumque 'vale,' quod iam vix auribus ille acciperet, dixit revolutaque rursus eodem est. Non aliter stupuit gemina nece coniugis Orpheus, quam tria qui timidus, medio portante catenas, colla canis vidit, quem non pavor ante reliquit, quam natura prior saxo per corpus oborto, (unbekannte Sage) Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung eine Viper, auf die sie trat, hat Gift in ihr Blut gespritzt und ihr die jungen Jahre geraubt. (25) Ich wollte es ertragen und bekenne: Ich hab's versucht; doch Amor hat gesiegt. In der Oberen Welt ist dieser Gott wohlbekannt; ob er es auch hier ist, weiss ich nicht. Doch ich vermute, dass er es auch hier ist; denn, sofern die alte Sage von dem Raub nicht erlogen ist, hat auch euch Amor vereint. Bei diesen Gefilden voller Angst, (30) bei diesem riesigen Chaos und dem Schweigen des öden Reiches bitte ich euch: Macht Eurydikes übereilten Tod rückgängig! Alles ist euch verfallen, und nach kurzem Aufenthalt eilen wir früher oder später zu ein und demselben Wohnsitz. Wir alle streben hierher; dies ist unser letztes Heim, (35) und ihr herrscht am längsten über das Menschengeschlecht. Auch Eurydike wird euch gehören, wenn sie die Jahre, die ihr zustehen, vollendet hat und reif ist. Ich bitte euch nicht, sie mir zu schenken, nur zu leihen. Verweigert aber das Geschick meiner Gattin die Gnade, bin ich fest entschlossen, nicht zurückzukehren: Freut euch dann über den Tod zweier Menschen!« (40) Während er so sang und zu seinen Worten die Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen, Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht die Leber des Tityos, die Beliden liessen ihre Krüge stehen, und du, Sisyphus, sassest auf deinem Stein. (45) Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil der Gesang sie überwältigte. Weder die Königin noch der Herrscher der Untertwelt bringen es über sich, die Bitte abzuschlagen, und sie lassen Eurydike rufen. Sie befand sich unter den neuangekommenen Schatten, kam heran, und die Wunde erlaubte ihr nur langsam zu schreiten. (50) Orpheus vom Rhodopegebirge erhält sie unter der Bedingung, nicht zurückzublicken, bevor er die Täler des Avernus verlassen habe – sonst werde das Geschenk zunichte. Der Pfad führte sie durch die Totenstille bergan; steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt. (55) Schon waren sie nicht weit vom Rand der Erdoberfläche entfernt _– besorgt, sie könne ermatten, und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll Liebe den Blick, und alsbald glitt sie zurück. Sie streckt die Arme aus, will sich ergreifen lassen, will ergreifen und erhascht doch nichts, die Unselige, als flüchtige Lüfte. (60) Schon starb sie zum zweiten Mal, doch mit keinem Wort klagte sie über ihren Gatten – denn worüber hätte sie klagen sollen als darüber, dass sie geliebt wurde? –, sprach ein letztes Survol de la littérature antique Cours bilingue 70 XXXIII quique in se crimen traxit voluitque videri Olenos esse nocens, tuque, o confisa figurae, infelix Lethaea, tuae, iunctissima quondam pectora, nunc lapides, quos umida sustinet Ide. (Olenos/Lethaea: ein Phrygier, Gemahl der Lethaea; mit dieser in einen Stein im Idagebirge verwandelt) Orantem frustraque iterum transire volentem portitor arcuerat: septem tamen ille diebus squalidus in ripa Cereris sine munere sedit; (Ceres: Demeter, Göttin des Ackerbaus. Ihre Gaben sind Getreide, Brot und andere Speisen) 75 cura dolorque animi lacrimaeque alimenta fuere. esse deos Erebi crudeles questus, in altam se recipit Rhodopen pulsumque aquilonibus Haemum. (Erebus: die Unterwelt – Haemus: das Balkangebirge) Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Lebewohl, das er kaum noch hören konnte, und sank wieder an denselben Ort zurück. Über den zweifachen Tod seiner Gattin war Orpheus so entsetzt (65) wie der Mann, der voll Grauen die drei Hälse des Höllenhundes – den mittleren in Ketten – erblickte und den die Angst nicht eher verliess als seine bisherige Natur, da sein Leib zu Stein wurde, oder wie Olenus, der den Vorwurf auf sich selbst lenkte und als der Schuldige gelten wollte, und du, (70) unglückliche Lethaea – allzu viel hast du dir auf deine Schönheit eingebildet –; einst wart ihr zwei engverbundene Herzen, jetzt seid ihr Steine auf dem quellenreichen Ida. Den Bittenden, der vergeblich noch einmal ans andere Ufer wollte, hatte der Fährmann abgewiesen; dennoch sass Orpheus von Trauer entstellt sieben Tage lang am Ufer, ohne Ceres' Gaben zu geniessen. (75) Sorge, Seelenschmerz und Tränen waren seine Speise. Er klagt über die Grausamkeit der Götter des Erebus und zieht sich auf die hohe Rhodope und den sturmgepeitschten Haemus zurück. (Übersetzung M. v. Albrecht) Orpheus, Eurydike und Hermes, der Psychopompos (›Seelengeleiter‹) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 11.2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97 'Quas quia Pygmalion aevum per crimen agentis (quas = Propoetides: Mädchen auf Zypern, die Venus verachten; Pygmalion. zyprischer Bildhauer) 245 250 255 260 viderat, offensus vitiis, quae plurima menti femineae natura dedit, sine coniuge caelebs vivebat thalamique diu consorte carebat. interea niveum mira feliciter arte sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci nulla potest, operisque sui concepit amorem. virginis est verae facies, quam vivere credas, et, si non obstet reverentia, velle moveri: ars adeo latet arte sua. miratur et haurit pectore Pygmalion simulati corporis ignes. saepe manus operi temptantes admovet, an sit corpus an illud ebur, nec adhuc ebur esse fatetur. oscula dat reddique putat loquiturque tenetque et credit tactis digitos insidere membris et metuit, pressos veniat ne livor in artus, et modo blanditias adhibet, modo grata puellis munera fert illi conchas teretesque lapillos et parvas volucres et flores mille colorum liliaque pictasque pilas et ab arbore lapsas Heliadum lacrimas; ornat quoque vestibus artus, (Heliadum lacrimas: Töchter des Sonnengottes; sie weinten um ihren Bruder Phaethon, bis sie in Pappeln verwandelt wurden; ihre Tränen wurden zu Bernstein) 265 dat digitis gemmas, dat longa monilia collo, aure leves bacae, redimicula pectore pendent: cuncta decent; nec nuda minus formosa videtur. conlocat hanc stratis concha Sidonide tinctis adpellatque tori sociam adclinataque colla mollibus in plumis, tamquam sensura, reponit. Miniatur, 15. Jh. Pygmalion 270 275 280 'Festa dies Veneris tota celeberrima Cypro venerat, et pandis inductae cornibus aurum conciderant ictae nivea cervice iuvencae, turaque fumabant, cum munere functus ad aras constitit et timide "si, di, dare cuncta potestis, sit coniunx, opto," non ausus "eburnea virgo" dicere, Pygmalion "similis mea" dixit "eburnae." sensit, ut ipsa suis aderat Venus aurea festis, vota quid illa velint et, amici numinis omen, flamma ter accensa est apicemque per aera duxit. ut rediit, simulacra suae petit ille puellae incumbensque toro dedit oscula: visa tepere est; Weil Pygmalion sah, wie diese Frauen (= Propoetiden) ihr Leben verbrecherisch zubrachten, blieb er einsam und ehelos, abgestossen von den Fehlern, (245) mit denen die Natur das Frauenherz so freigebig beschenkt hat, und schon lange teilte kein Weib mehr sein Lager. Inzwischen bearbeitete er mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit schneeweisses Elfenbein, gab ihm eine Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann, und verliebte sich in sein eigenes Geschöpf. (250) Es sieht aus wie ein wirkliches Mädchen! Du möchtest glauben, sie lebe, wolle sich bewegen – nur die Sittsamkeit halte sie zurück. So vollkommen verbirgt sich im Kunstwerk die Kunst! Pygmalion steht bewundernd davor, und gierig trinkt seine Brust das Feuer in sich hinein, das von dem Scheinbild ausgeht. Oft legt er prüfend die Hände an das Geschöpf, ob es (255) Fleisch und Blut sei oder Elfenbein, und will immer noch nicht wahrhaben, dass es nur Elfenbein ist. Küsse gibt er und glaubt sie erwidert; er redet mit dem Bild, er hält es im Arm. Rührt er es an, so ist ihm, als drückten sich seine Finger in den Körper ein; ja, er fürchtet, an den Gliedern, die er presst, möchten blaue Male entstehen. Bald schmeichelt er, bald bringt er (260) Gaben, wie sie ein Mädchenherz erfreuen: Muscheln, geschliffene Steinchen, kleine Vögel, Blumen in tausenderlei Farben, Lilien, bunte Bälle und Bernstein, vom Baum getropfte Tränen der Sonnentöchter. er schmückt ihr die Glieder mit Gewändern, die Finger mit Edelsteinen, den Hals mit langen Ketten. (265) Am Ohr hängt eine zierliche Perle, an der Brust ein Geschmeide. Alles steht ihr, aber auch nackt erscheint sie nicht weniger schön. Er legt sie auf Decken, die mit sidonischem Purpur gefärbt sind, nennt sie seine Gemahlin, die sein Lager teilt, und bettet den geneigten Nacken, als müsse es dieser spüren, auf weichen Flaum. (270) Der Feiertag der Venus, den ganz Cypern festlich begeht, war gekommen. Schon waren die Opferkühe, deren krumme Hörner Gold überzog, in den schneeweissen Nacken getroffen, niedergestürzt, und Weihrauch stieg empor: Da trat Pygmalion, nachdem er der heiligen Pflicht genügt hatte, zum Altar und sprach zaghaft: »Ihr Götter, könnt ihr alles gewähren, (275) so soll meine Gattin« – er wagte nicht zu sagen: »das elfenbeinerne Mädchen sein«; darum sprach er nur: »dem Mädchen aus Elfenbein gleichen!« Venus, die Goldene, erriet – war sie doch selbst bei ihrem Fest zugegen –, was Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXV admovet os iterum, manibus quoque pectora temptat: temptatum mollescit ebur positoque rigore subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole (Hymettos: Berg in Attika; durch Bienenzurcht berühmt) 285 290 295 cera remollescit tractataque pollice multas flectitur in facies ipsoque fit utilis usu. dum stupet et dubie gaudet fallique veretur, rursus amans rursusque manu sua vota retractat. corpus erat! saliunt temptatae pollice venae. tum vero Paphius plenissima concipit heros verba, quibus Veneri grates agat, oraque tandem ore suo non falsa premit, dataque oscula virgo sensit et erubuit timidumque ad lumina lumen attollens pariter cum caelo vidit amantem. coniugio, quod fecit, adest dea, iamque coactis cornibus in plenum noviens lunaribus orbem illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung mit diesem Wunsch gemeint war. Und zum Zeichen, dass die Gottheit ihm hold sei, stieg dreimal die Flamme züngelnd in die Luft empor. (280) Als er nach Hause kam, zog es ihn zu seinem Mädchenbild. Er warf sich auf das Lager und küsste sie. Da war ihm, als sei sie warm. Wieder legt er Mund an Mund und tastet mit der Hand nach der Brust. Er tastet noch, da wird das Elfenbein weich, verliert seine Starreit, weicht zurück und gibt den Fingern nach, so wie Wachs vom Hymettus (285) an der Sonne geschmeidig wird, sich unter dem Druck des Daumens zu tausenderlei Gestalten formen lässt und in der Hand des Bildners immer bildsamer wird. Pygmalion staunt. Er traut seiner Freude noch nicht und fürchtet, er täusche sich. Wieder und wieder prüft der Liebende mit der Hand sein Wunschbild. Fleisch und Blut ist's; mit dem Daumen prüfte er, wie es in den Adern pocht. (290) Da dankt der Held von Paphos der Venus mit Worten, die aus vollstem Herzen strömen, und presst den Mund endlich auf wirkliche Lippen. Das Mädchen hat den Kuss empfunden, sie ist errötet! Jetzt hebt sie scheu zu seinem Auge ihr Auge empor – und zugleich mit dem Himmel erblickt sie den Mann, der sie liebt. (295) Der Ehe, die sie gestiftet, steht die Göttin bei. Schon haben sich die Hörner des Mondes neunmal zur vollen Scheibe gerundet, da gebiert sie Paphos, nach der die Insel benannt ist. (Übersetzung M. v. Albrecht) Falconet (18. Jh.), Pygmalion und Galateia Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXVI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 12. Die kaiserzeitliche Prosa (I): Seneca(s), Quintilian 12. 1. Seneca Maior, Controversiae 10,5,12-18 Parrhasius, pictor Atheniensis (von Ephesus, 2. H. 5. Jh. v. Chr., neben Zeuxis und Apelle wohl der bedeutendste Maler des antiken Griechnlands) , cum Philippus (Philipp II. von Makedonien [359–36 v. Chr.], der Vater von Alexander dem captivos Olynthios venderet, emit unum ex iis senem; perduxit Athenas; torsit et ad exemplar eius pinxit Promethea (Sohn des Titanen Iapetos; stahl Grossen) Zeus das Feuer, um es den Menschen zu bringen —> wurde deshalb an einen Felsen geschmiedet und dadurch gefoltert, dass ihm ein Adler täglich die Leber zerfleischte, diese nachts stets wieder nachwuchs) . Olynthius in tormentis perit. Ille tabulam in templo Minervae posuit. Accusatur rei publicae laesae. […] (12) Hanc controversiam magna pars declamatorum sic dixit velut <non> controversiam divideret sed accusationem, quomodo solent ordinare actionem suam in foro qui primo loco accusant; in scholastica, quia non duobus dicitur locis, semper non dicendum tantum sed respondendum est. Obiciunt quod hominem torserit, quod Olynthium, quod deorum supplicia imitatus sit, quod tabulam in templo Minervae posuerit. Si Parrhasius responsurus non est, satis bene dividunt. Nihil est autem turpius quam aut eam controversiam declamare in qua nihil ab altera parte responderi possit, aut non refellere si responderi potest. (13) Gallio fere similem divisionem in Parrhasio habuit ei quam habuerat in illa controversia cuius mentio est in hoc ipso libro, de illo qui debilitabat expositos, detractis quibusdam. Divisit autem sic: an laesa sit res publica. Quid perdidit? inquit; nihil. (Nondum de iure controversiam facio.) Perdidit unum senem Olynthus. Fac Atheniensem: non ages mecum rei publicae laesae si Atheniensem senatorem occidero, sed caedis. 'Ita; verum opinio Athenarum corrumpitur; misericordia semper censi sumus.' Numquam unius <male> facto publica fama corrumpitur; solidior est opinio Atheniensium quam ut labefactari illo modo possit. (14) 'Laesa est' inquit 'res publica.' Laesa non <est>, ut existimo. Aliquis Olynthio depositum negaverit: videbitur hominem, non rem publicam laesisse. 'Laesisti' inquit 'rem publicam quod hanc picturam in templo posuisti.' Laedunt rem publicam qui aliquid illi auferunt, non qui adiciunt, qui diruunt templa, non qui ornant. Peccaverunt ergo et sacerdotes, qui tabulam receperunt. Quare tamen non reciperent? Deorum adulteria picta sunt, positae sunt picturae Herculis liberos occidentis (in einem von Hera herbeigeführten jedoch Es soll um eine Klage wegen Verbrechen gegen den Staat gehen: Der athenische Maler Parrhasius erwarb, als Philipp die olynthischen Kriegsgefangenen verkaufte, einen von diesen, einen schon alten Mann; er brachte ihn nach Athen; er folterte ihn und malte nach seinem Vorbild einen Prometheus. Der Olynthier starb unter der Folter. Jener stellte das Gemälde im Tempel der Athene auf. Er wird wegen Verbrechen gegen den Staat angeklagt. […] (12) Diesen Stretifall hat ein grosser Teil der Rechtslehrer so behandelt, dass sie ihn nicht als Streitfall, sondern als Anklage gliederten, wie man gewöhnlich seine Rede vor Gericht einteilt, wenn man bei der Anklage zuerst das Wort hat; in einem Schulvortrag muss man jedoch, da nicht auf beiden Seiten gesprochen wird, grundsätzlich nicht nur plädieren, sondern auch gegenplädieren. Sie werfen ihm vor, er habe einen Menschen gefoltert, dazu einen Olynthier, er habe Strafen der Götter abgebildet, er habe das Gemälde im Tempel der Athene aufgestellt. Wenn Parrhasius auf seine Antwort verzichtet, ist diese Einteilung gut genug. Nichts ist jedoch hässlicher, als einen Streitfall vorzutragen, in dem man für die Gegenseite nichts antworten kann oder aber, wenn etwas zu antworten ist, dies nicht widerlegen kann. (13) GALLIO gebrauchte im Fall des Parrhasius, abgesehen von einigen Auslassungen, eine annähernd ähnliche Einteilung, wie er sie in dem hier im gleichen Buch erwähnten Streitfall über jenen Mann gebraucht hatte, der ausgesetzte Kinder verkrüppelte. Er gliederte nämlich folgerdermassen: Zur Frage, ob ein Verbrechen gegen den Staat vorliege: »Was hat dieser verloren? Antwort: Nichts. (Ich behandle noch nicht das Problem von Recht und Unrecht.) Olynth hat einen alten Mann verloren. Setz' an seine Stelle einen Athener: Du wirst nicht wegen eines Verbrechens gegen den Staat mit mir prozessieren, wenn ich einen athenischen Senator umgebracht habe, sondern wegen Mordes. ›Ja, aber das Ansehen von Athen wird geschädigt; wir sind immer für unser Mitgefühl geachtet worden.‹ Der Ruf eines Staates wird nie durch die Untat eines einzelnen geschädigt; das Ansehen der Athener ist zu fest gegründet, als dass es auf diese Weise zum Wanken gebracht werden könnte. (14) ›Der Staat ist geschädigt.‹ Dies ist er nicht, wie ich meine. Angenommen, jemand verweigert einem Olynthier die Herausgabe eines hinterlegten Wertgegenstandes, dann wird man davon ausgehen, er habe nicht ein Verbrechen gegen den Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXVII Anfall von Wahnsinn soll Herakles die Kinder aus seiner . (15) Deinde: an ob id accusari possit laesae rei publicae quod illi facere licuit. Ea lege persequere quae non licuit. Dicis mihi: 'hoc facere non oportet.' Huic rei aestimatio inmensa est. Itaque nulla vindicta est; et id tantum punitur quod non licet. Satis abundeque <est> si opifex rerum imperitus ad legem innocens est. An hoc ei facere licuerit. Hoc in illa dividitur: an Olynthius apud Atheniensem, etiam antequam fieret decretum, <servus esse non potuerit>. Servus, inquit, est meus, quem ego belli iure <possideo. Rata autem esse quae parta sunt belli iure> vobis, Athenienses, expedit: alioqui imperium vestrum in antiquos fines redigitur; quidquid est, bello partum [et] est. (16) Contra ait: Ille servos alii emptori potest esse, Atheniensi non. Quid enim si Atheniensem a Philippo emisses? Atqui sciebas Olynthios coniunctos nobis esse foedere. Ut scias, inquit, servos fuisse, decretum postea factum est Atheniensium quo iuberentur et liberi et cives esse. Quare hoc illis ius, si iam habebant, dabatur? Deinde: an decreto hoc non contineatur, ut liberi fiant, sed ut esse liberi iudicentur. Hoc censuimus, Olynthios cives nostros esse: ita et ille civis noster fuit. Non, inquit; nam decretum in futurum factum est. Num, quisquis Olynthium servum habuit, accusabitur quod civem in sua servitute tenuerit? Si quis tunc inter necessaria servilium officiorum ministeria percussit aut cecidit, iniuriarum accusabitur? Atqui, quantum ad ius attinet, nihil interest occiderit an ceciderit; nam aut nec caedere licuit aut occidere. ersten Ehe mit Megara getötet haben) Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Staat, sondern einen Menschen begangen. ›Du hast ein Verbrechen gegen den Staat begangen, indem du dieses Gemälde in einem Tempel aufgestellt hast.‹ Ein Verbrechen, gegen den Staat begehen die, welche ihm etwas wegnehmen, nicht welche ihm etwas geben, welche die Tempel zerstören, nicht welche sie schmücken. Dann hätten sich ja auch die Priester vergangen, die das Gemälde angenommen haben. Warum jedoch hätten sie es nicht annehmen sollen? Man hat Ehebrüche von Göttern gemalt, Gemälde von Hercules, wie er seine Kinder tötet, in Tempeln aufgestellt.« (15) Dann die Frage, ob er wegen Verbrechens gegen den Staat angeklagt werden kann, wenn er etwas getan hat, was erlaubt war. »Mit Hilfe des Gesetzes verfolge die Dinge, die unerlaubt waren. Du sagst zu mir: ›Dies sollte man nicht tun.‹ Unter diesem Gesichtspunkt ist der Ermessensspielraum grenzenlos. Deshalb gibt es dafür keine Strafverfolgung, und es wird nur das geahndet, was unerlaubt ist. Es genügt vollkommen, wenn ein in praktischen Dingen unerfahrener Künstler nach dem Gesetz unschuldig ist.« Zur Frage, ob ihm seine Tat erlaubt war. Dies wird in folgende Punkte gegliedert: Konnte ein Olynthier etwa bei einem Athener, bevor der Beschluss gefasst wurde, nicht auch Sklave sein? »Der Sklave gehört mir; ich besitze ihn nach Kriegsrecht. Dass aber der rechtmässige Erwerb im Krieg Gültigkeit behält, ihr Athener, ist in eurem Interesse. Andernfalls wird euer Reich auf seine alten Grenzen beschränkt: Es ist ja ausnahmslos im Krieg erworben.« (16) Dagegen: »Jener kann der Sklave jedes anderen Käufers sein, nicht jedoch eines Atheners. Was wäre, wenn du einen Athener von Philipp gekauft hättest? Du wusstest ja doch, dass die Olynthier mit uns durch einen Vertrag verbunden sind.« »Damit du weisst, dass sie Sklaven waren: Nachher wurde der Beschluss der Athener gefasst, wonach sie frei sein und das Bürgerrecht besitzen sollten. Wozu wurde jenen dieses Recht gegeben, wenn sie es bereits besassen?« Sodann: Ist in dem Beschluss etwa nicht enthalten, dass sie künftig frei sein, sondern dass sie als bereits frei gelten sollten? »Wir haben beschlossen, die Olynthier seien unsere Mitbürger: So war auch jener unser Mitbürger.« »Nein, denn der Beschluss wurde für die Zukunft gefasst. Willst du etwa, dass dies auch für die Vergangenheit Recht sein soll? Wird etwa jeder, der einen Olynthier als Sklaven hatte, jetzt angeklagt werden, weil er einen Mitbürger bei sich als Sklaven gehalten habe? Wenn ihn einer damals bei den notwendigen Verrichtungen der Sklavenpflichten gestossen oder geschlagen hat, wird er wegen einer Rechtsverletzung angeklagt wer- Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXVIII (17) A parte Parrhasii fecit hunc colorem: emptum esse a Parrhasio senem inutilem, expiraturum; si verum, inquit, vultis, non occidit illum, sed deficientis et alioqui expiraturi morte usus est. Torsit, inquit, tamen: si lucri causa, obice; nempe huius crudelitatis pretium Athenae habent. In argumentis dixit quantum semper artibus licuisset: medicos, ut vim ignotam morbi cognoscerent, viscera rescidisse; hodie cadaverum artus rescindi ut nervorum articulorumque positio cognosci possit. Albucius hoc colore: calamitosum fuisse, orbum, palam mortem optantem: nec aliter illum Philippus vendidisset nisi putasset illi poenam esse vivere. (18) Silo Pompeius putabat commodius esse si hoc animo isset ad auctionem Parrhasius, ut aliquem in hunc usum emeret. Poterit enim videri elegisse vilissimum et maxime inutilem. Fusco Arellio placebat emptum quidem illum in alios usus, sed, cum deficeret et mori vellet, in id quod unum ex cadavere artifex <petere> poterat inpensum. Gallio ad neutrum se alligavit nec dixit quo animo emisset, <sed> Gallionis color intolerabilis est; dixit enim senem ex noxiis Olynthiis <se> emisse; quod si illi licet fingere, non video quare non eadem opera dicat et conscium proditionis Lastheni fuisse (ein angesehener Olynthier, der, durch Geld bestochen, seine Vaterstadt an Philipp verriet) et se poenae causa torsisse. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung den? Soweit es ja doch auf das Recht ankommt, ist es unerheblich, ob er ihn erschlug oder nur schlug; entweder war es nicht erlaubt, ihn zu schlagen, oder aber es war auch erlaubt, ihn zu töten.« (17) Von der Seite des Parrhasius aus entwarf er folgende Entschuldigung: Parrhasius habe eine nutzlosen, dem Tode nahen Greis gekauft: »Wenn ihr die Wahrheit wollt: Er tötete ihn nicht, sondern er nutzte den Tod eines Geschwächten und ohnehin dem Tod Geweihten. ›Jedoch: Er folterte ihn.‹ Wenn um des Gewinnes willen, wirf es ihm vor; natürlich sieht Athen für diese Grausamkeit eine Geldstrafe vor.« Unter seinen Beweisgründen führte er an, wieviel den Künsten immer erlaubt gewesen sei: Ärzte hätten, um die unbekannte Wirkung einer Krankheit aufzudecken, Eingeweide aufgeschnitten; heute würden Glieder von Leichen aufgeschnitten, damit man die Lage von Sehnen und Gelenken erkennen könne. ALBUCIUS benutzte folgende Entschuldigung: Er sei unglücklich gewesen, verlassen, habe offen den Tod herbeigesehnt. Philipp hätte ihn sonst nicht verkauft, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, weiterzuleben sei für ihn eine Strafe. (18) SILO POMPEIUS hielt es für geschickter, wenn Parrhasius mit der Absicht zur Auktion gegangen wäre, sich jemanden für diesen Zweck zu kaufen. Dann könne man nämlich davon ausgehen, er habe den billigsten und nutzlosesten ausgesucht. FUSCUS ARELLIUS hielt es für gut, jener sei zwar für andere Zwecke gekauft worden, aber als er schwächer wurde und sterben wollte, sei er für den Zweck verwendet worden, den ein Künstler allein durch einen Leichnam erreichen konnte. GALLIO schloss sich keinem von beiden an und sagte auch nicht, mit welcher Absicht er ihn gekauft hätte, doch kann Gallios Entschuldigung nicht anerkannt werden: Er sagte nämlich, Parrhasius habe den Greis aus der Zahl der schuldigen Olynthier gekauft; denn wenn es jenem erlaubt ist, dies zu erfinden, sehe ich nicht, warum er nicht mit dem gleichen Kunstgriff sagen könnte, dieser sei Mitwisser der Verschwörung des Lasthenes gewesen und Parrhasius habe ihn zur Strafe gefoltert. (Übersetzung Walter Kiessel) Survol de la littérature antique Cours bilingue XXXIX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 12. 2. 1. Seneca der Jüngere, De vita beata 2 Cum de beata vita agetur, non est quod mihi illud discessionum more respondeas: 'haec pars maior esse videtur.' Ideo enim peior est. Non tam bene cum rebus humanis agitur ut meliora pluribus placeant: argumentum pessimi turba est. (2) Quaeramus ergo quid optimum factu sit, non quid usitatissimum, et quid nos in possessione felicitatis aeternae constituat, non quid vulgo, veritatis pessimo interpreti, probatum sit. Vulgum autem tam chlamydatos quam coronatos voco; non enim colorem vestium quibus praetexta sunt corpora aspicio. Oculis de homine non credo, habeo melius et certius lumen quo a falsis vera diiudicem: animi bonum animus inveniat. Hic, si umquam respirare illi et recedere in se vacaverit, o quam sibi ipse verum tortus a se fatebitur ac dicet: (3) 'quidquid feci adhuc infectum esse mallem, quidquid dixi cum recogito, mutis invideo, quidquid optavi inimicorum execrationem puto, quidquid timui, di boni, quanto levius fuit quam quod concupii! Cum multis inimicitias gessi et in gratiam ex odio, si modo ulla inter malos gratia est, redii: mihi ipsi nondum amicus sum. Omnem operam dedi ut me multitudini educerem et aliqua dote notabilem facerem: quid aliud quam telis me opposui et malevolentiae quod morderet ostendi? (4) Vides istos qui eloquentiam laudant, qui opes sequuntur, qui gratiae adulantur, qui potentiam extollunt? omnes aut sunt hostes aut, quod in aequo est, esse possunt; quam magnus mirantium tam magnus invidentium populus est. Quin potius quaero aliquod usu bonum, quod sentiam, non quod ostendam? ista quae spectantur, ad quae consistitur, quae alter alteri stupens monstrat, foris nitent, introrsus misera sunt.' Wenn es um das glückliche Leben geht, gibt es keinen Anlass, dass du mir wie bei Abstimmungen antwortest: »Diese Gruppe scheint grösser zu sein«; deswegen ist sie nämlich schlechter. So gut steht es mit den Problemen des Menschen nicht, dass das Bessere der Mehrheit gefällt: Beweis für das Schlechteste ist die Masse. (2) Fragen wir also, was am besten zu tun sei, nicht was am nützlichsten, und was uns in den Besitz dauernden Glückes setze, nicht, was von der Masse, der Wahrheit schechtestem Deuter, gebilligt wird. Masse aber nenne ich ebenso Menschen im Prunkgewand wie gekrönte Häupter; nicht die Farbe der Kleidung nämlich, mit der die Körper verhüllt sind, beachte ich; den Augen schenke ich, wenn es um einen Menschen geht, keinen Glauben, ich habe ein besseres und zuverlässigeres – geistiges – Auge, mit dem ich von Falschem das Echte unterscheide; den Wert der Seele finde die Seele! Wenn sie jemals aufzuatmen und sich in sich selbst zurückzuziehen Gelegenheit hat, wie wird sie, sich selber die Wahrheit abringend, gestehen und sagen: (3) »Was immer ich bisher getan habe, ich wollte lieber, es sollte ungeschehen sein; wenn ich, was immer ich gesagt habe, bedenke, beneide ich die zur Sprache nicht fähigen Tiere, was immer ich gewünscht habe, erachte ich für der Feinde Verwünschung, was immer ich gefürchtet habe – gute Götter! –, wieviel besser war es, als was ich begehrt habe! Mit vielen habe ich in Feindschaft gelebt, und zu Einvernehmen bin ich auch aus Hass (wenn überhaupt irgendein Einvernehmen zwischen schlechten Menschen besteht) zurückgekehrt: Mir selber bin ich noch kein Freund. Alle Mühe habe ich mir gegeben, mich von der Menge abzuheben und durch irgendeinen Vorzug bemerkenswert zu machen – was habe ich anderes getan, als mich Geschossen auszusetzen und der Böswilligkeit zu zeigen, wie sehr sie beissen könne? (4) Siehst du jene, die meine Redegabe loben, die meinem Reichtum nachjagen, die um meinen Einfluss schmeicheln, die meine Macht rühmen? Alle sind sie Feinde, oder, was das gleiche ist, können es sein: Wie gross die Schar der Bewunderer, so gross ist die Menge der Neider. Warum suche ich nicht lieber irgendein erprobtes Gut, das ich empfinden, nicht eines, das ich vorzeigen kann? Das, was man sieht, wobei man stehenbleibt, was einer dem anderen staunend zeigt – aussen ist es voller Glanz, inwendig erbärmlich.« (Übersetzung Walter Kiessel) Survol de la littérature antique Cours bilingue XL Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 12. 2. 2. Seneca der Jüngere, Epistulae 41 Seneca Lucilio suo salutem (1) Facis rem optimam et tibi salutarem si, ut scribis, perseveras ire ad bonam mentem, quam stultum est optare cum possis a te inpetrare. Non sunt ad caelum elevandae manus nec exorandus aedituus ut nos ad aurem simulacri, quasi magis exaudiri possimus, admittat: prope est a te deus, tecum est, intus est. (2) Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos; hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse tractat. Bonus vero vir sine deo nemo est: an potest aliquis supra fortunam nisi ab illo adiutus exsurgere? Ille dat consilia magnifica et erecta. In unoquoque virorum bonorum (quis deus incertum est) habitat deus. (Verg. Aen. 8,352) (3) Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam altitudinem egressis frequens lucus et conspectum caeli <densitate> ramorum aliorum alios protegentium summovens, illa proceritas silvae et secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam densae atque continuae fidem tibi numinis faciet. Si quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit, non manu factus, sed naturalibus causis in tantam laxitatem excavatus, animum tuum quadam religionis suspicione percutiet. Magnorum fluminum capita veneramur; subita ex abdito vasti amnis eruptio aras habet; coluntur aquarum calentium fontes, et stagna quaedam vel opacitas vel immensa altitudo sacravit. (4) Si hominem videris interritum periculis, intactum cupiditatibus, inter adversa felicem, in mediis tempestatibus placidum, ex superiore loco homines videntem, ex aequo deos, non subibit te veneratio eius? non dices, 'ista res maior est altiorque quam ut credi similis huic in quo est corpusculo possit'? (5) Vis isto divina descendit; animum excellentem, moderatum, omnia tamquam minora transeuntem, quidquid timemus optamusque ridentem, caelestis potentia agitat. Non potest res tanta sine adminiculo numinis stare; itaque maiore sui parte illic est unde descendit. Quemadmodum radii solis contingunt quidem terram sed ibi sunt unde mittuntur, sic animus magnus ac sacer et in hoc demissus, ut propius divina nossemus, conversatur quidem nobiscum sed haeret origini suae; illinc pendet, illuc spectat ac nititur, nostris tamquam melior interest. (6) Quis est ergo hic animus? qui nullo bono nisi suo nitet. Quid enim est stultius quam in homine aliena laudare? quid eo dementius qui ea miratur quae ad alium transferri protinus possunt? Non faciunt meliorem equum aurei freni. Aliter leo aurata iuba mittitur, dum contractatur et ad Seneca seinem Lucilius Gesundheit (1) Du tust etwas Vorzügliches und für Dich Heilsames, wenn Du – wie du schreibst – weiterhin fortschreitest zu sittlicher Vervollkommnung, die zu wünschen töricht ist, da Du sie von Dir selbst erlangen kannst. Man braucht nicht die Hände zum Himmel zu erheben noch den Tempelwächter anzuflehen, dass er uns zum Ohr des Götterbildes vorlasse, als ob wir dann besser erhört werden könnten: Nahe ist Dir der Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er. (2) So sage ich, Lucilius: ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer schlechten und guten Taten Beobachter und Wächter: Wie er von uns behandelt wird, so behandelt er selber uns. Ein guter Mensch aber ist niemand ohne den Gott: Oder kann einer über das Schicksal, wenn nicht von ihm unterstützt, sich erheben? Er gibt Ratschläge, die hochherzig und aufrecht: In jedem guten Menschen – (welcher Gott, ist ungewiss) wohnt ein Gott. (3) Wenn Du einen von alten und über die übliche Grösse hinausgewachsenen Bäumen bestandenen Hain findest, der den Anblick des Himmels durch die Dichte einander gegenseitig verdeckender Zweige verhindert – diese Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes und die Verwunderung über den in einer offenen Landschaft so dichten und ununterbrochenen Schatten wird in Dir den Glauben an göttliches Walten wecken. Wenn eine Höhle, tief aus den Felsen ausgewaschen, den Berg über sich trägt, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch Kräfte der Natur zu solcher Weite ausgehöhlt, wir sie Deine Seele durch eine Ahnung von Gottesfurcht erbeben lassen. Bedeutender Flüsse Quellen verehren wir; das unvermittelte Hervorbrechen eines starken Stromes aus dem Verborgenen besitzt Altäre; verehrt werden die Quellen heisser Gewässer, und manche Seen hat entweder schattiges Dunkel oder unergründliche Tiefe geheiligt. (4) Wenn Du einen Menschen siehst, unerschrocken angesichts von Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die Götter, wird Dich nicht Ehrfurcht vor ihm ankommen? Wirst Du nicht sagen: » Diese Haltung ist grösser und erhabener, als dass man sie mit diesem bedeutungslosen Körper, in dem sie wohnt, für vereinbar halten könnte«? (5) Göttliche Kraft ist in ihn eingegangen: Die Seele, überragend, massvoll, alles als gleichsam zu unbedeutend übergehend, was immer wir fürchten und wünschen, belächelnd, belebt eine himmlische Macht. Eine derartige Seele kann Survol de la littérature antique Cours bilingue patientiam recipiendi ornamenti cogitur fatigatus, aliter incultus, integri spiritus: hic scilicet impetu acer, qualem illum natura esse voluit, speciosus ex horrido, cuius hic decor est, non sine timore aspici, praefertur illi languido et bratteato. (7) Nemo gloriari nisi suo debet. Vitem laudamus si fructu palmites onerat, si ipsa pondere eorum quae tulit adminicula deducit: num quis huic illam praeferret vitem cui aureae uvae, aurea folia dependent? Propria virtus est in vite fertilitas; in homine quoque id laudandum est quod ipsius est. Familiam formonsam habet et domum pulchram, multum serit, multum fenerat: nihil horum in ipso est sed circa ipsum. (8) Lauda in illo quod nec eripi potest nec dari, quod proprium hominis est. Quaeris quid sit? animus et ratio in animo perfecta. Rationale enim animal est homo; consummatur itaque bonum eius, si id inplevit cui nascitur. Quid est autem quod ab illo ratio haec exigat? rem facillimam, secundum naturam suam vivere. Sed hanc difficilem facit communis insania: in vitia alter alterum trudimus. Quomodo autem revocari ad salutem possunt quos nemo retinet, populus inpellit? Vale. XLI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung nicht ohne Stütze durch göttliches Walten Bestand haben: Daher ist sie mit ihrem grössten Teil dort, von wo sie herabgestiegen. Wie die Sonnenstrahlen die Erde gewiss berühren, aber dort zu Hause sind, von wo sie ausgesandt werden, so die Seele, gross, heilig und hierher herabgesandt, damit wir das Göttliche näher erkennen: Sie verkehrt zwar mit uns, aber behält den Zusammenhang mit ihrem Ursprung: Von dort ist sie abhängig, dorthin blickt und strebt sie, an unseren Dingen hat sie gleichsam als ein höheres Wesen Anteil. (6) Was ist also diese Seele? Sie hat Glanz durch kein Gut ausser dem ihr eigenen. Was nämlich ist törichter, als an einem Menschen nicht zu ihm Gehöriges zu loben? Was unsinniger als einer, der das bewundert, was sofort einem anderen übertragen werden kann? Ein Pferd machen goldene Zügel nicht besser. Anders wird ein Löwe mit vergoldeter Mähne in die Arena geschickt, während er gestreichelt und, ermüdet, zur Geduld, Schmuck hinzunehmen, gezwungen wird, anders ein ungepflegter, von unversehrter Wildheit: Dieser freilich, im Angriff jäh, wie ihn die Natur gewollt hat, ansehnlich durch seine schreckliche Gestalt, deren Zierde es ist, nicht ohne Furcht angesehen zu werden, wird jenem verweichlichten und mit Gildflitter behängten vorgezogen. (7) Niemand darf sich, ausser des Eigenen, rühmen. Den Weinstock loben wir, wenn er mit Frucht die Zweige belastet, wenn er eben die Stützen durch das Gewicht dessen, was er trägt, niederbiegt: Wird ihm einer jenen Weinstock vorziehen, von dem goldene Trauben, goldene Blätter herbhängen? Eigentümlicher Vorzug ist beim Weinstock Fruchtbarkeit: Auch beim Menschen muss man das loben, was seinem Wesen eigen ist. Eine ansehnliche Dienerschaft hat er und ein schönes Haus, viel sät er, viel Geld verleiht er: Nichts davon ist in ihm, sondern nur um ihn. (8) Lobe an ihm, was weder entrissen noch gegeben werden kann, was Eigentum des Menschen ist. Du fragst, was das sei? Die Seele und die Vernunft, in der Seele zur Reife gekommen. Ein vernunftbegabtes Wesen ist nämlich der Mensch: Vollendet wird daher sein Vorzug, wenn er das erfüllt hat, wozu er geboren wird. Was ist es aber, was von ihm diese Vernunft verlangt? Ein sehr leichtes Verhalten, gemäss der eigenen Natur zu leben. Aber das macht die allgemeine Unvernunft sehr schwierig: In Fehlverhalten stürzen wir einer den anderen. Wie aber können die wieder zur Rettung geführt werden, welche niemand zurückhält, welche die Masse verleitet? Leb' wohl. (Übersetzung Walter Kiessel) Survol de la littérature antique Cours bilingue XLII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 12. 3. Quintilian, Institutio oratoria 12,1,1–13 (1) Sit ergo nobis orator quem constituimus is qui a M. Catone (M. Porcius Cato Censorius (234–149 v. Chr.), kompormissloser Verfechter altrömischer Sittenstrenge) finitur vir bonus dicendi peritus, verum, id quod et ille posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique vir bonus: id non eo tantum quod, si vis illa dicendi malitiam instruxerit, nihil sit publicis privatisque rebus perniciosius eloquentia, nosque ipsi, qui pro virili parte conferre aliquid ad facultatem dicendi conati sumus, pessime mereamur de rebus humanis si latroni comparamus haec arma, non militi. (2) Quid de nobis loquor? Rerum ipsa natura, in eo quod praecipue indulsisse homini videtur quoque nos a ceteris animalibus separasse, non parens sed noverca fuerit si facultatem dicendi sociam scelerum, adversam innocentiae, hostem veritatis invenit. Mutos enim nasci et egere omni ratione satius fuisset quam providentiae munera in mutuam perniciem convertere. (3) Longius tendit hoc iudicium meum. Neque enim tantum id dico, eum qui sit orator virum bonum esse oportere, sed ne futurum quidem oratorem nisi virum bonum. Nam certe neque intellegentiam concesseris iis qui proposita honestorum ac turpium via peiorem sequi malent, neque prudentiam, cum in gravissimas frequenter legum, semper vero malae conscientiae poenas a semet ipsis inproviso rerum exitu induantur. (4) Quod si neminem malum esse nisi stultum eundem non modo a sapientibus dicitur sed vulgo quoque semper est creditum, certe non fiet umquam stultus orator. Adde quod ne studio quidem operis pulcherrimi vacare mens nisi omnibus vitiis libera potest: primum quod in eodem pectore nullum est honestorum turpiumque consortium, et cogitare optima simul ac deterrima non magis est unius animi quam eiusdem hominis bonum esse ac malum: (5) tum illa quoque ex causa, quod mentem tantae rei intentam vacare omnibus aliis, etiam culpa carentibus, curis oportet. Ita demum enim libera ac tota, nulla distringente atque alio ducente causa, spectabit id solum ad quod accingitur. (6) Quod si agrorum nimia cura et sollicitior rei familiaris diligentia et venandi voluptas et dati spectaculis dies multum studiis auferunt (huic enim rei perit tempus quodcumque alteri datur), quid putamus facturas cupiditatem avaritiam invidiam, quarum inpotentissimae cogitationes somnos etiam ipsos et illa per quietem visa perturbent? (7) Nihil est enim tam occupatum, tam multiforme, tot ac tam variis adfectibus concisum atque laceratum quam mala mens. Nam et cum insidiatur, spe curis labore (1) Für uns soll also der Redner, den wir heranbilden wollen, von der Art sein, wie ihn Marcus Cato définiert: ›ein Ehrenmann, der reden kann‹ – unbedingt jedoch das, was in Catos Definition am Anfang steht und auch seinem Wesen nach das Wichtigere und Grössere ist: Ein Ehrenmann. Und dies nicht nur deshalb, weil es, wenn die Redegewalt unseren Redner zum Schlechten ausrüstete, nichts Verderblicheres für die Interessen der Gemeinschaft und des einzelnen gäbe als die Berdesamkeit, und wir selbst, die wir, was Menschenkraft vermag, für die Redegabe zu leisten versucht haben, den Interessen der menschlichen Gesellschaft die schlechtesten Dienste erwiesen, wenn wir unsere Waffen für einen Räuber schmiedeten und nicht für einen Soldaten. (2) Doch warum von uns reden? Würde ja die Natur selbst mit der Gabe, die sie doch offenbar vor allem dem Menschen verliehen und womit sie uns von den anderen Lebewesen geschieden hat, nicht als Mutter, sondern als Stiefmutter gehandelt haben, wenn sie wirklich die Redegabe als Helfershelferin bei Verbrechen, als Gegnerin der Unschuld und Feindin der Wahrheit erfunden hat. Denn stumm geboren zu werden und alle Vernunft zu entbehren wäre besser gewesen, als die Gaben der Vorsehung zum Verderben gegeneinanderzukehren. (3) Weiter noch geht, was ich mit dieser Feststellung meine: Ich sage nämlich nicht nur, dass, wer ein Redner ist, ein Ehrenmann sein muss, sondern dass auch nur ein Ehrenmann überhaupt ein Redner werden kann. Denn gewiss würde man doch Menschen, die, wenn ihnen der Weg zur Ehre und zur Schande freistünde, den schlechteren Weg einschlagen wollten, weder Verstand zuerkennen noch Klugheit, wenn sie so oft gegen die schwersten strafen der Gesetze, in jedem Fall jedoch gegen die Folter des schlechten Gewissens sich einem unabsehbaren Geschick aussetzten. (4) Wenn aber niemand schlecht sein kann, ohne zugleich töricht zu sein, wie es nicht nur die Philosophen lehren, sondern auch immer die Überzeugung des Volkes war, so wird gewiss niemals ein Tor ein Redner werden. Hinzu kommt, dass selbst die Hingabe an die herrlichste aller Studienaufgaben nur ein von allen Lastern freier Geist aufzubringen vermag; zunächst schon deshalb, weil es in derselben Brust das Zusammenwirken von Gutem und Schändlichem nicht gibt und derselbe Geist sowenig gleichzeitig das Beste und Schlechteste zu ersinnen vermag, wie derselbe Mensch zugleich gut und schlecht sein kann; (5) sodann auch aus dem Grunde, weil das Denken, das auf eine so grosse Aufgabe gerichtet ist, Survol de la littérature antique Cours bilingue XLIII distringitur, et, etiam cum sceleris compos fuit, sollicitudine, paenitentia, poenarum omnium expectatione torquetur. Quis inter haec litteris aut ulli bonae arti locus? Non hercule magis quam frugibus in terra sentibus ac rubis occupata. (8) Age, non ad perferendos studiorum labores necessaria frugalitas? Quid ergo ex libidine ac luxuria spei? Non praecipue acuit ad cupiditatem litterarum amor laudis? Num igitur malis esse laudem curae putamus? Iam hoc quis non videt, maximam partem orationis in tractatu aequi bonique consistere? Dicetne de his secundum debitam rerum dignitatem malus atque iniquus? (9) Denique, ut maximam partem quaestionis eximam, demus, id quod nullo modo fieri potest, idem ingenii studii doctrinae pessimo atque optimo viro: uter melior dicetur orator? Nimirum qui homo quoque melior. Non igitur umquam malus idem homo et perfectus orator. (10) Non enim perfectum est quicquam quo melius est aliud. Sed, ne more Socraticorum nobismet ipsi responsum finxisse videamur, sit aliquis adeo contra veritatem opstinatus ut audeat dicere eodem ingenio studio doctrina praeditum nihilo deteriorem futurum oratorem malum virum quam bonum: convincamus huius quoque amentiam. (11) Nam hoc certe nemo dubitabit, omnem orationem id agere ut iudici quae proposita fuerint vera et honesta videantur. Utrum igitur hoc facilius bonus vir persuadebit an malus? Bonus quidem et dicet saepius vera atque honesta. (12) Sed etiam si quando aliquo ductus officio (quod accidere, ut mox docebimus, potest) falso haec adfirmare conabitur, maiore cum fide necesse est audiatur. At malis hominibus ex contemptu opinionis et ignorantia recti nonnumquam excidit ipsa simulatio: inde inmodeste proponunt, sine pudore adfirmant. (13) Sequitur in iis quae certum est effici non posse deformis pertinacia et inritus labor: nam sicut in vita, ita in causis quoque spes improbas habent; frequenter autem accidit ut iis etiam vera dicentibus fides desit videaturque talis advocatus malae causae argumentum. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung von allen, selbst den nicht mit einer Schuldfrage verbundenen Sorgen frei sein muss. Denn so nur wird es frei und ausschliesslich, ohne durch irgendeinen Anlass zerstreut und auf anderes abgelenkt zu werden, nur das Ziel im Auge behalten, dem es zustrebt. (6) Wenn aber schon zu starke Beschäftigung mit der Gutswirtschaft, nervenaufreibenden Sorge um den Familienbesitz, Jagdleidenschaft, und die Hingabe an die Festspielveranstaltungen den Studien viel Zeit rauben – denn dem Studium geht die Zeit verloren, die man einer andern Beschäftigung widmet –, was, glauben wir, werden hierin erst Begehrlichkeit, Habgier und Neid verursachen, die unsere Gedanken so masslos beschäftigen, dass sie selbst unsere Schlummerstunden und was uns beim Ruhen im Traum erscheint, beunruhigen? (7) Denn es gibt nichts, das so zu schaffen macht, in so vielfältiger Form, so vielen und verschiedenen Gefühlsregungen unser Gemüt zerspaltet und zerreisst wie schlechte Gedanken. Denn wenn sie auf die Untat lauern, quälen sie sich mit Hoffnung, Mühe und Sorgen; und auch wenn die Tat vollbracht ist, peinigt sie die Unruhe, Reue und die Aussicht auf alle möglichen Strafen. Wo bleibt hierbei eine Stätte für wissenschaftliche Muse oder irgendwelche edle Geistesarbeit ? Doch wahrhaftig nicht mehr als seine Stätte für Fruchtertrag in einem Boden, der von Disteln und Dornen starrt. (8) Doch weiter: Bedarf es nicht, um den Anstrengungen der Studien gewachsen zu sein, einer schlichten Lebensführung? Was ist also zu erhoffen bei der Gier nach Wollust und Lebensgenuss? Ist nicht die Ruhmesliebe ein vorzüglicher Anreiz zur Lust an literarischer Betätigung? Können wir denn also glauben, dass schlechten Menschen etwas am Ruhme liegt? Sieht denn weiter nicht Auch ein jeder, dass die Rede zum grössten Teil in der Behandlung des Billigen und Guten besteht? Wird aber hierüber der schlecht und unbillig Denkende so reden, wie er es der Würde dieser Gegenstände schuldig ist? (9) Schliesslich wollen wir – um einmal den wichtigsten Teil der Frage beiseite zu lassen – ein Zugeständnis machen, das unter keinen Umständen möglich ist, und annehmen, der schlechteste und der beste Mensch besässen gleichviel Begabung, Lerneifer und Bildung: Wer von ihnen wird dann als der bessere Redner bezeichnet werden? Natürlich doch der, der Auch als Mensch der bessere ist. So wird also niemals ein schlechter Mensch zugleich ein vollkommener Redner sein. (10) Denn es kann nichts vollkommen sein, das durch etwas Besseres übertroffen wird. Jedoch, damit es nicht so aussieht, als hätten wir, wie Survol de la littérature antique Cours bilingue Büste eines Gelehrten oder eines Redners XLIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung die Sokratiker, uns die Antwort selbst zurechtgemacht, möge jemand so gegen die Wahrheit verstockt sein, dass er sich zu behaupten erkühnt, ausgestattet mit der gleichen Begabung, dem gleichen Lerneifer und der gleichen Bildung werde ein schlechter Mensch kein geringerer Redner sein als ein guter, so wollen wir auch einen solchen Menschen seiner Unverstandes überführen. (11) Denn das wird ja wohl gewiss niemand bezweifeln, dass jede Rede das Ziel hat, dass dem Richter ihre Ausführungen wahr und anständig erscheinen. Wird nun davon leichter ein guter Mensch überzeugen oder ein schlechter? Der gute wird doch öfter Wahres und Anständiges sprechen. (12) Jedoch, auch wenn er einmal, durch eine Verpflichtung veranlasst – was, wie wir bald zeigen werden, geschehen kann – fälschlich diesen Eindruck zu erwecken sucht, so muss seine Ausführung zwangsläufig mit grösserer Glaubwürdigkeit Gehör finden. Schlechten Menschen dagegen missglückt bei ihrer Geringschätzung der geltenden Ansichten und ihrer Unkenntnis des Rechten zuweilen sogar die Verstellung. Dann gehen sie in ihrem Beweisziel masslos, in ihrer Beweisführung ganz ohne Takt und Anstand vor. (13) So ergibt sich bei dem, was sie gewiss ja doch erreichen können, nur hässliche Rechthaberei und vergebliche Mühe. Denn wie im Leben, so haben sie auch bei Prozessen unbillige Erwartungen. Häufig aber kommt es vor, dass ihnen, selbst wenn sie die Wahrheit sprechen, die Glaubwürdigkeit fehlt und ein solcher Rechtsbeistand als Beweis erscheint für eine schlechte Sache. (Übersetzung Walter Kiessel) Survol de la littérature antique Cours bilingue XLV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 13. Die kaiserzeitliche Prosa (II): Plinius, Tacitus 13. 1. 1. Plinius, epist. 6,20 C. PLINIVS TACITO SUO SALUTEM (1) ais te adductum litteris quas exigenti tibi de morte avunculi mei (= Plinius der Ältere) scripsi, cupere cognoscere, quos ego Miseni relictus (= Stadt am Nordrand des Golfes von Neapel; der dazugehörige Hafen war Hauptstützpunkt der römischen Flotte im Tyrrhenischen Meer) (id enim ingressus abruperam) non solum metus verum etiam casus pertulerim. 'Quamquam animus meminisse horret, … incipiam.' (= Verg. Aen. 2,12–13) (2) Profecto avunculo ipse reliquum tempus studiis (ideo enim remanseram) impendi; mox balineum cena somnus inquietus et brevis. (3) Praecesserat per multos dies tremor terrae, minus formidolosus quia Campaniae solitus; illa vero nocte ita invaluit, ut non moveri omnia sed verti crederentur. (4) Inrupit cubiculum meum mater; surgebam invicem, si quiesceret excitaturus. Resedimus in area domus, quae mare a tectis modico spatio dividebat. (5) Dubito, constantiam vocare an imprudentiam debeam (agebam enim duodevicensimum annum): posco librum Titi Livi, et quasi per otium lego atque etiam ut coeperam excerpo. Ecce amicus avunculi qui nuper ad eum ex Hispania venerat, ut me et matrem sedentes, me vero etiam legentem videt, illius patientiam securitatem meam corripit. Nihilo segnius ego intentus in librum. (6) Iam hora diei prima, et adhuc dubius et quasi languidus dies. Iam quassatis circumiacentibus tectis, quamquam in aperto loco, angusto tamen, magnus et certus ruinae metus. (7) Tum demum excedere oppido visum; sequitur vulgus attonitum, quodque in pavore simile prudentiae, alienum consilium suo praefert, ingentique agmine abeuntes premit et impellit. Egressi tecta consistimus. (8) Multa ibi miranda, multas formidines patimur. Nam vehicula quae produci iusseramus, quamquam in planissimo campo, in contrarias partes agebantur, ac ne lapidibus quidem fulta in eodem vestigio quiescebant. (9) Praeterea mare in se resorberi et tremore terrae quasi repelli videbamus. Certe processerat litus, multaque animalia maris siccis harenis detinebat. Ab altero latere nubes atra et horrenda, ignei spiritus tortis vibratisque Gaius Plinius grüsst seinen (Freund) Tacitus (1) Du schreibst mir, der Brief, in welchem ich Dir auf Einen Wunsch vom Ende meines Onkels berichte habe, wecke in Dir das Verlangen zu erfahren, welche Ängste, welche Gefahren ich, in Nisenum zurückgeblieben, ausgestanden habe, denn als ich darauf zu sprechen kann, habe ich abgebrochen. »Wenngleich Schauer mich fasst und Entsetzen, will ich beginnen.« (2) Als mein Onkel fort war, verwendete ich den Rest des Tages auf meine Studien, weswegen ich ja daheim geblieben war; dann Bad, Abendessen, kurzer, unruhiger Schlaf. (3) Vorausgegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstösse – Campanien ist ja daran gewöhnt –; in jener Nacht wurden sie aber so stark, dass man glauben musste, alles bewege sich nicht nur, sondern stehe auf dem Kopfe. (4) Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer; ich wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns auf den Vorplatz des Hauses, der in mässiger Ausdehnung das Meer von den Baulichkeiten trennte. (5) Ich weiss nicht, soll ich es Gleichmut oder Unüberlegtheit nennen – ich war ja erst 18 Jahre alt –: Ich lasse mir ein Buch des Titus Livius bringen, lese, als hätte ich nichts Besseres zu tun, exzerpieren auch, wie ich begonnen hatte. Da kommt ein Freund meines Onkels, der kürzlich bei ihm aus Spanien eingetroffen war, und als er mich und meine Mutter dasitzen sieht, mich sogar lesend, schilt er ihre Gleichgültigkeit, meine Unbekümmertheit; trotzdem blieb ich bei meinem Buche. (6) Es war bereits um die erste Stunde, und der Tag kam zögernd, sozusagen schläfrig herauf. Die umliegenden Gebäude waren schon stark in Mitleidenschaft, gezogen, und obwohl wir uns auf freiem, allerdings beengtem Raum befanden, empfanden wir starke und begründete Furcht, dass sie einstürzen könnten. (7) Jetzt erst schien es uns ratsam, die Stadt zu verlassen. Eine verstörte Menschenmenge schliesst sich uns an, lässt sich – was bei einer Panik beinahe wie Klugheit aussieht – lieber von fremder statt von der eigenen Einsicht leiten und stösst und drängt uns in endlosem Zuge mit sich fort. (8) Als wir die Häuser hinter uns hatten, blieben wir stehen. Da sahen wir allerlei Sonderbares, Beklemmendes geschehen. Die Wagen, die wir hatten herausbringen lassen, rollten hin und her, obwohl sie auf ganz ebenem Terrain Survol de la littérature antique Cours bilingue XLVI discursibus rupta, in longas flammarum figuras dehiscebat; fulguribus illae et similes et maiores erant. (10) Tum vero idem ille ex Hispania amicus acrius et instantius 'Si frater' inquit 'tuus, tuus avunculus vivit, vult esse vos salvos; si periit, superstites voluit. Proinde quid cessatis evadere?' Respondimus non commissuros nos ut de salute illius incerti nostrae consuleremus. (11) Non moratus ultra proripit se effusoque cursu periculo aufertur. Nec multo post illa nubes descendere in terras, operire maria; cinxerat Capreas et absconderat, Miseni quod procurrit abstulerat. (12) Tum mater orare hortari iubere, quoquo modo fugerem; posse enim iuvenem, se et annis et corpore gravem bene morituram, si mihi causa mortis non fuisset. Ego contra salvum me nisi una non futurum; dein manum eius amplexus addere gradum cogo. Paret aegre incusatque se, quod me moretur. (13) Iam cinis, adhuc tamen rarus. Respicio: densa caligo tergis imminebat, quae nos torrentis modo infusa terrae sequebatur. 'Deflectamus' inquam 'dum videmus, ne in via strati comitantium turba in tenebris obteramur.' (14) Vix consideramus, et nox non qualis inlunis aut nubila, sed qualis in locis clausis lumine exstincto. Audires ululatus feminarum, infantum quiritatus, clamores virorum; alii parentes alii liberos alii coniuges vocibus requirebant, vocibus noscitabant; hi suum casum, illi suorum miserabantur; erant qui metu mortis mortem precarentur; (15) multi ad deos manus tollere, plures nusquam iam deos ullos aeternamque illam et novissimam noctem mundo interpretabantur. Nec defuerunt qui fictis mentitisque terroribus vera pericula augerent. Aderant qui Miseni illud ruisse illud ardere falso sed credentibus nuntiabant. (16) Paulum reluxit, quod non dies nobis, sed adventantis ignis indicium videbatur. Et ignis quidem longius substitit; tenebrae rursus cinis rursus, multus et gravis. Hunc identidem adsurgentes Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung standen, und blieben nicht einmal auf demselben Fleck, wenn wir Steine unterlegten. (9) Ausserdem sahen wir, wie das Meer sich in sich selbst zurückzog und durch die Erdstösse gleichsam zurückgedrängt wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt und hielt zahllose Seetiere auf dem trockenen Sande fest. Auf der andern Seite eine schaurige, schwarze Wolke, kreuz und quer von feurigen Schlangenlinien durchzuckt, die sich in lange Flammengarben spalteten, Blitzen ähnlich, nur grösser. (10) Da drängte wieder der Freund aus Spanien heftiger und dringender: »Wenn dein Bruder, dein Onkel noch lebt, möchte er auch euch lebend wiedersehen; ist er tot, war es gewiss sein Wunsch, dass ihr am Leben bliebet! Was säumt ihr also, euch zu retten?« Wir erwiderten, wir könnten es nicht über uns gewinnen, an uns zu denken, solange wir über sein Schicksal im ungewissen seien. (11) Er liess sich nicht länger halten, stürzte davon und entzog sich im gestreckten Lauf der Gefahr. Nicht lange danach senkte sich jene Wolke auf die Erde, bedeckte das Meer, hatte bereits Capri eingehüllt und unsichtbar gemacht, hatte das Kap Misenum unsern Blicken entzogen. (12) Da bat und drängte meine Mutter, befahl mir schliesslich, mich irgendwie in Sicherheit zu bringen ; ich als junger Mann könne es noch, sie, alt und gebrechlich, werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht meinen Tod verschuldet habe. Ich dagegen: Ich wolle mit ihr zusammen am Leben bleiben; damit fasste ich sie bei der Hand und nötigte sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Widerstrebend fügte sie sich und machte sich Vorwürfe, dass sie mich aufhalte. (13) Schon regnete es Asche, doch zunächst nur dünn. Ich schaute zurück: Im Rücken drohte dichter Qualm, der uns, sich über den Erdboden ausbreitend, wie ein Giessbach folgte. »Lass uns vom Wege abgehen«, rief ich, »solange wir noch sehen können, sonst kommen wir auf der Strasse unter die Füsse und werden im Dunkeln von der mitziehenden Masse zertreten.« (14) Kaum hatten wir uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer schreien: Die einen riefen nach ihren Eltern, die andern nach ihren Kindern, wieder andre nach ihren Männern oder Frauen und suchten sie an der Stimme zu erkennen; die einen beklagten ihr Unglück, andre das der Ihren; manche flehten aus Angst vor dem Tode um Tod; (15) viele beteten zu den Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt herein- Survol de la littérature antique Cours bilingue XLVII excutiebamus; operti alioqui atque etiam oblisi pondere essemus. (17) Possem gloriari non gemitum mihi, non vocem parum fortem in tantis periculis excidisse, nisi me cum omnibus, omnia mecum perire misero, magno tamen mortalitatis solacio credidissem. (18) Tandem illa caligo tenuata quasi in fumum nebulamve discessit; mox dies verus; sol etiam effulsit, luridus tamen qualis esse cum deficit solet. Occursabant trepidantibus adhuc oculis mutata omnia altoque cinere tamquam nive obducta. (19) Regressi Misenum curatis utcumque corporibus suspensam dubiamque noctem spe ac metu exegimus. Metus praevalebat; nam et tremor terrae perseverabat, et plerique lymphati terrificis vaticinationibus et sua et aliena mala ludificabantur. (20) Nobis tamen ne tunc quidem, quamquam et expertis periculum et exspectantibus, abeundi consilium, donec de avunculo nuntius. Haec nequaquam historia digna non scripturus leges et tibi scilicet qui requisisti imputabis, si digna ne epistula quidem videbuntur. Vale. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung gebrochen. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mit erfundenen, erlogenen Schreckensnachrichten die wirkliche Gefahr übersteigerten. Einige behaupteten, in Misenum sei dies und das eingestürzt, anderes stehe in Flammen – blinder Lärm, aber sie fanden Glauben. (16) Dann hellte es sich ein wenig auf, doch war es anscheinend nicht das Tageslicht, sondern ein Vorbote des nahenden Feuers. Aber das Feuer blieb in ziemlicher Entfernung stehen; es wurde wieder dunkel, wieder fiel Asche, dicht und schwer, die wir fortgesetzt aufstehend, abschüttelten; wir wären sonst verschüttet und durch ihre Last erdrückt worden. (17) Ich könnte damit prahlen, dass sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer, kein verzagtes Wort entrungen hat, hätte ich nicht – ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein im Tode wirksamer Trost – fest geglaubt, ich ginge mit allem und alles mit mir zugrunde. (18) Endlich wurde der Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald wurde es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. Den noch verängstigten Augen erschien alles ver-wandelt und mit einer hohen Aschenschicht wie mit Schnee überzogen. (19) Wir kehrten nach Misenum zurück, machten uns notdürftig wieder zurecht und verbrachten eine unruhige Nacht, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Die Furcht überwog, denn die Erdstösse hielten an, und viele Leute, wie wahnsinnig von schreckenerregenden Prophezeiungen, witzelten über ihr und der andern Unglück. (20) Wir aber konnten uns, obwohl wir die Gefahr aus eigener Erfahrung kannten und weiter auf sie gefasst waren, nicht entschliessen wegzugehen, ehe wir nicht Nachricht von meinem Onkel hatten. Dies alles gehört gewiss nicht in ein Geschichtswerk, und so wirst Du es lesen, ohne Gebrauch davon zu machen; aber Du hast ja danach gefragt und hast es somit Dir selbst zuzuschreiben, wenn es Dir nicht einmal einen Brief zu verdienen scheint. Leb’ wohl! (Übersetzung Walter Kiessel) 13. 1. 2. Plinius, epist. 10,96 et 10,97 C. PLINIVS TRAIANO IMPERATORI (1) Sollemne est mihi, domine, omnia de quibus dubito ad te referre. Quis enim potest melius vel cunctationem meam regere vel ignorantiam instruere? Cognitionibus de Christianis interfui numquam: ideo nescio quid et quatenus aut puniri soleat aut quaeri. (2) Nec mediocriter haesitavi, sitne aliquod discrimen aetatum, an quamlibet teneri nihil a robustioribus Gaius Plinius an Kaiser Trajan (1) Ich habe es mir zur Regel gemacht, Herr, alles, worüber ich im Zweifel bin, Dir vorzutragen. Wer könnte denn besser mein Zaudern lenken oder meine Unwissenheit belehren? Gerichtsverhandlungen gegen Christen habe ich noch nie beigewohnt; deshalb weiss ich nicht, was und wieweit man zu strafen oder zu untersuchen pflegt. (2) Ich war auch ziemlich Survol de la littérature antique Cours bilingue XLVIII differant; detur paenitentiae venia, an ei, qui omnino Christianus fuit, desisse non prosit; nomen ipsum, si flagitiis careat, an flagitia cohaerentia nomini puniantur. Interim, <in> iis qui ad me tamquam Christiani deferebantur, hunc sum secutus modum. (3) Interrogavi ipsos an essent Christiani. Confitentes iterum ac tertio interrogavi supplicium minatus: perseverantes duci iussi. Neque enim dubitabam, qualecumque esset quod faterentur, pertinaciam certe et inflexibilem obstinationem debere puniri. (4) Fuerunt alii similis amentiae, quos, quia cives Romani erant, adnotavi in urbem remittendos. Mox ipso tractatu, ut fieri solet, diffundente se crimine plures species inciderunt. (5) Propositus est libellus sine auctore multorum nomina continens. Qui negabant esse se Christianos aut fuisse, cum praeeunte me deos adpellarent et imagini tuae, quam propter hoc iusseram cum simulacris numinum adferri, ture ac vino supplicarent, praeterea male dicerent Christo, quorum nihil cogi posse dicuntur qui sunt re vera Christiani, dimittendos putavi. (6) Alii ab indice nominati esse se Christianos dixerunt et mox negaverunt; fuisse quidem sed desisse, quidam ante triennium, quidam ante plures annos, non nemo etiam ante viginti. <Hi> quoque omnes et imaginem tuam deorumque simulacra venerati sunt et Christo male dixerunt. (7) Adfirmabant autem hanc fuisse summam uel culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die ante lucem convenire, carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem seque sacramento non in scelus aliquod obstringere, sed ne furta ne latrocinia ne adulteria committerent, ne fidem fallerent, ne depositum adpellati abnegarent. Quibus peractis morem sibi discedendi fuisse rursusque coeundi ad capiendum cibum, promiscuum tamen et innoxium; quod ipsum facere desisse post edictum meum, quo secundum mandata tua hetaerias esse vetueram. (8) Quo magis necessarium credidi ex duabus ancillis, quae ministrae dicebantur, quid esset veri, et per tormenta quaerere. Nihil aliud inveni quam superstitionem pravam et immodicam. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung unsicher, ob das Lebensalter einen Unterschied bedingt oder ob ganz junge Menschen genau so behandelt werden wie Erwachsene, ob der Reuige Verzeihung erfährt oder obe es dem, der überhaupt einmal Christ gewesen ist, nichts hilft, wenn er es nicht mehr ist, ob schon der Name »Christ«, auch wenn keine Verbrechen vorliegen, oder nur mit dem Namen verbundene Verbrechen bestraft werden. Vorerst habe ich bei denen, die bei mir als christen angezeigt wruden, folgendes Verfahren angewandt. Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. (3) Wer gestand, den habe ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal gefragt; blieb er dabei, liess ich ihn abführen. Denn mochten sie vorbringen, was sie wollten – Eigensinn und unbeugsame Halsstarrigkeit glaubte ich auf jeden Fall bestrafen zu müssen. (4) Andre in dem gleichen Wahn Befangene habe ich, weil sie römische Bürger waren, zur Überführung nach Rom vorgemerkt. Als dann im Laufe der Verhandlungen, wie es zu gehen pflegt, die Anschuldigung weitere Kreise zog, ergaben sich verschieden gelagerte Fälle. (5) Mir wurde eine anonyme Klageschrift mit zahlreichen Namen eingereicht. Diejenigen, die leugneten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, glaubte ich freilassen zu müssen, da sie nach einer von mir vorgesprochenen Formel unsre Götter anriefen und vor Deinem Bilde, das ich zu diesem Zweck zusammen mit den Statuen der Götter hatte bringen lassen, mit Weihrauch und Wein opferten, ausserdem Christus fluchten, lauter Dinge, zu denen wirkliche Christen sich angeblich nicht zwingen lassen. (6) Andre, die der Denunziant genannt hatte, gaben zunächst zu, Christen zu sein, widerriefen es dann aber; sei seien es zwar gewesen, hätten es dann aber aufgegeben, manche vor drei Jahren, manche vor noch längerer Zeit, hin und wieder sogar vor zwanzig Jahren. Auch diese alle bezeugten Deinem Bild und den Götterstatuen ihre Verehrung und fluchten Christus. (7) Sie versicherten jedoch, ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, dass sie sich an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zu versammeln pflegten, Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang zu singen und sich durch Eid nicht etwa zu irgendwelchen Verbrechen zu verpflichten, sondern keinen Diebstahl, Raubüberfall oder Ehebruch zu begehen, ein gegebenes Wort nicht zu brechen, eine angemahnte Schuld nicht abzuleugnen. Hernach seien sie auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, jedoch gewöhnliche, harmlose Speise, aber das hätten sie nach meinem Survol de la littérature antique Cours bilingue XLIX (9) Ideo dilata cognitione ad consulendum te decucurri. Visa est enim mihi res digna consultatione, maxime propter periclitantium numerum. Multi enim omnis aetatis, omnis ordinis, utriusque sexus etiam vocantur in periculum et vocabuntur. Neque civitates tantum, sed vicos etiam atque agros superstitionis istius contagio pervagata est; quae videtur sisti et corrigi posse. (10) Certe satis constat prope iam desolata templa coepisse celebrari, et sacra sollemnia diu intermissa repeti passimque venire <carnem> victimarum, cuius adhuc rarissimus emptor inveniebatur. Ex quo facile est opinari, quae turba hominum emendari possit, si sit paenitentiae locus. TRAIANVS PLINIO (1) Actum quem debuisti, mi Secunde, in excutiendis causis eorum, qui Christiani ad te delati fuerant, secutus es. Neque enim in universum aliquid, quod quasi certam formam habeat, constitui potest. (2) Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur, puniendi sunt, ita tamen ut, qui negaverit se Christianum esse idque re ipsa manifestum fecerit, id est supplicando dis nostris, quamvis suspectus in praeteritum, veniam ex paenitentia impetret. Sine auctore vero propositi libelli <in> nullo crimine locum habere debent. Nam et pessimi exempli nec nostri saeculi est. Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Edikt, durch das ich gemäss Deinen Instruktionen Hetärien verboten hatte, unterlassen. (8) Für um so notwendiger hielt ich es, von zwei Mägden, sogenannten Diakonissen, unter der Folter ein Geständnis der Wahrheit zu erzwingen. Ich fand nichts andres als einen wüsten, masslosen Aberglauben. (9) Somit habe ich die weitere Untersuchung vertagt, um mir bei Dir Rat zu holen. Die Sache scheint mir nämlich der Beratung zu bedürfen, vor allem wegen der grossen Zahl der Angeklagten. Denn viele jeden Alters, jeden Standes, auch beiderlei Geschlechts sind jetzt und in Zukunft gefährdet. Nicht nur über die Städte, auch über Dörfer und Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens verbreitet, aber ich glaube, man kann ihr Einhalt gebieten und Abhilfe schaffen. (10) Jedenfalls ist es ziemlich sicher, dass die beinahe schon verödeten Tempel allmählich wieder besucht, die lange ausgesetzten feierlichen Opfer wieder aufgenommen werden und das Opferfleisch, für das sich bisher nur ganz selten ein Käufer fand, überall wieder Absatz findet. Daraus gewinnt man leicht einen Begriff, welch eine Masse von Menschen gebessert werden kann, wenn man der Reue Raum gibt. Trajan an Plinius (1) Mein Secundus! Bei der Untersuchung der Fälle derer, die bei Dir als Christen angezeigt worden sind, hast Du den rechten Weg eingeschlagen. Denn insgesamt lässt sich überhaupt nichts festlegen, was gleichsam als feste Norm dienen könnte. (2) Nachspionieren soll man ihnen nicht; werden sie angezeigt und überführt, sind sie zu bestrafen, so jedoch, dass, wer leugnet, Christ zu sein und das durch die Tat, das heisst durch Anrufung unserer Götter beweist, wenn er auch für die Vergangenheit verdächtig bleibt, aufgrund seiner Reue Verzeihung erhält. Anonym eingereichte Klageschriften dürfen bei keiner Straftat Berücksichtigung finden, denn das wäre ein schlimmes Beispiel und passt nicht in unsere Zeit. (Übersetzung Walter Kiessel) 13. 2. 1. Tacitus, Agricola 1–3 1 (1) Clarorum virorum facta moresque posteris tradere, antiquitus usitatum, ne nostris quidem temporibus quamquam incuriosa suorum aetas omisit, quotiens magna aliqua ac nobilis virtus vicit ac supergressa est vitium parvis magnisque civitatibus commune, ignorantiam recti et invidiam. (2) sed apud priores ut agere digna memoratu pronum magisque in 1 (1) Erlauchter Männer Taten und Art den Nachfahren zu überliefern, wie seit alters Brauch, hat nicht einmal in unseren Zeiten ein gegen die Seinen doch gleichgültiges Geschlecht unterlassen, sooft sich eine grosse und vortreffliche Persönlichkeit siegreich über einen grossen wie kleinen Bürgerschaften gemeinsamen Missstand erhob: über Unkenntnis des Survol de la littérature antique Cours bilingue aperto erat, ita celeberrimus quisque ingenio ad prodendam virtutis memoriam sine gratia aut ambitione bonae tantum conscientiae pretio ducebatur. (3) ac plerique suam ipsi vitam narrare fiduciam potius morum quam adrogantiam arbitrati sunt, nec id Rutilio et Scauro citra fidem aut obtrectationi fuit: adeo virtutes isdem temporibus optime aestimantur, quibus facillime gignuntur. (4) at nunc narraturo mihi vitam defuncti hominis venia opus fuit, quam non petissem incusaturus: tam saeva et infesta virtutibus tempora. (P. Rutilius Rufus, Konsul 105 v. Chr., und M. Aemilius Scaurus, Konsul 115 v. Chr.: Verfasser von Autobiographien, in denen ihr eigenes politisches Wirken recht einseitig hervogehoben war) 2 (1) Legimus, cum Aruleno Rustico Paetus Thrasea, Herennio Senecioni Priscus Helvidius laudati essent, capitale fuisse, neque in ipsos modo auctores, sed in libros quoque eorum saevitum, delegato triumviris ministerio ut monumenta clarissimorum ingeniorum in comitio ac foro urerentur. (Der Stoiker Paetus Thrasea war wegen seiner oppositionellen Haltung gegen den Kaiser 66 von Nero zum Selbstmord gewzungen, sein Schwiegersohn Helvidius Priscus aus ähnlichen Gründen unter Vespasian ermordert worden. Arulenus Rusticus und Herennius Senecio mussten ihre Kühnheit, eine Biographie dieser Regimegegner verfasst zu (2) scilicet illo igne vocem populi Romani et libertatem senatus et conscientiam generis humani aboleri arbitrabantur, expulsis insuper sapientiae professoribus atque omni bona arte in exilium acta, ne quid usquam honestum occurreret. (3) dedimus profecto grande patientiae documentum; et sicut vetus aetas vidit quid ultimum in libertate esset, ita nos quid in servitute, adempto per inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio. (4) memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset oblivisci quam tacere. 3 (1) Nunc demum redit animus; et quamquam primo statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum ac libertatem, augeatque cotidie felicitatem temporum Nerva Traianus, nec spem modo ac votum securitas publica, sed ipsius voti fiduciam ac robur adsumpserit, natura haben, unter Domitian mit dem Leben büssen) L Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Rechten und Neid. (2) Aber wie bei unseren Vorfahren Gedächtniswürdiges leicht zu vollbringen war und freiere Bahn fand, so wurde gerade das gepriesene Talent nicht durch Parteigunst oder Ehrsucht dazu bestimmt, das Gedächtnis mannhaften Lebens weiterzugeben, sondern allein durch den Lohn eines guten Gewissens. (3) Sehr viele gar hielten die Schilderung des eigenen Lebens eher für ein Zeichen von Selbstvertrauen als von Einbildung, und es ist hieraus weder dem Rutilius noch dem Scaurus Verlust an Glaubwürdigkeit oder Vorwurf entstanden: So sehr werden nämlich grosse Leistungen gerade in den Zeiten am besten gewürdigt, in denen sie am leichtesten entstehen. (4) Heutzutage aber bedarf ich der Nachsicht, wenn ich das Leben eines Verstorbenen schildern will; ich müsste sie nicht erbitten, wenn ich anklagen wollte: So wütend und feindlich gegen hervorragende Chraktere sind unsere Tage. 2 (1) Wir lesen, dass dem Arulenus Rusticus, als er Paetus Thrasea, und dem Herennius Senecio, als er Priscus Helvidius lobte, dies als todeswürdiges Verbrechen angelastet wurde und dass man nicht nur gegen die Verfasser selbst, sondern auch gegen ihre Bücher wütete: Den Triumvirn wurde der Auftrag gegeben, diese Denkmäler hervorragender Geister im Comitium auf dem Forum zu verbrennen. (2) Natürlich – denn mit diesem Feuer wähnte man die Stimme des römischen Volks, die Freiheit des Senats, die Mitwisserschaft des Menschengeschlechts auszutilgen; man vertrieb obendrein die Lehrer der Weisheit und stiess jedes löbliche Bestreben in die Verbannung, damit nirgends mehr sittliche Würde aufträte. (3) Wir haben fürwahr einen grossen Beweis von Geduld gegeben, und wie die alte Zeit gesehen, was das Äusserste an Freiheit ist, so wir, was an Knechtschaft; man nahm uns ja durch Überwachung sogar den Meinungsaustausch im Reden und Hören. Das Gedächtnis selbst hätten wir zusammen mit der Stimme verloren, wenn es ebenso in unserem Belieben stünde zu vergessen wie zu schweigen. 3 (1) Jetzt endlich kehrt der Mut wieder; aber wenn auch gleich zu Beginn dieses glückseligsten Jahrhunderts Nerva Caesar ehemals unvereinbare Dinge – Alleinherrschaft und Freiheit – zusammenbrachte, und obgleich Nerva Traianus täglich das Glück unserer Zeit vermehrt und die allgemeine Sicherheit nicht allein nur Hoffnung und Wunsch geblieben ist, sondern sich festes Vertrauen auf Erfüllung jenes Wunsches eingestellt hat, so sind dennoch bei der Natur menschlicher Schwachheit die Heilmittel langsamer als die Leiden; und wie unsere Leiber langsam wachsen, aber schnell hinweggetilgt sind, so Survol de la littérature antique Cours bilingue tamen infirmitatis humanae tardiora sunt remedia quam mala; et ut corpora nostra lente augescunt, cito extinguuntur, sic ingenia studiaque oppresseris facilius quam revocaveris: subit quippe etiam ipsius inertiae dulcedo, et invisa primo desidia postremo amatur. (2) quid, si per quindecim annos, grande mortalis aevi spatium, multi fortuitis casibus, promptissimus quisque saevitia principis interciderunt, pauci et, ut ita dixerim, non modo aliorum sed etiam nostri superstites sumus, exemptis e media vita tot annis, quibus iuvenes ad senectutem, senes prope ad ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus? (3) non tamen pigebit vel incondita ac rudi voce memoriam prioris servitutis ac testimonium praesentium bonorum composuisse. hic interim liber honori Agricolae soceri mei destinatus, professione pietatis aut laudatus erit aut excusatus. 4 (1) Gnaeus Iulius Agricola, vetere et inlustri Foroiuliensium colonia ortus, utrumque avum procuratorem Caesarum habuit, quae equestris nobilitas est. eqs. LI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung magst du Begabung und Eifer leichter unterdrücken als wieder aufrufen: Es schleicht sich nämlich geradezu Lust am Nichtstun ein, und der zuerst verhasste Müssiggang gefällt am Ende. (2) Wie nun, wenn während fünfzehn Jahren – einer langen Frist innerhalb eines Menschenlebens – viele durch zufälliges Schicksal, gerade die Beherztesten aber durch das Wüten des Ersten Mannes zugrunde gingen? In kleiner Zahl nur sind wir noch da und haben – um es so zu sagen – nicht nur andere, sondern auch uns selbst überlebt, da man uns aus der Mitte unseres Lebens so viele Jahre gerissen, in denen wir in Schweigen als Männer zu Alter, als Greise fast an die Grenzen eines zu Ende geführten Lebens gelangt sind. (3) Dennoch soll es mich nicht verdriessen, wenngleich in ungeschlachter und rauher Sprache, ein Denkmal früherer Knechtschaft und ein Zeugnis gegenwärtigen Glücks zu erstellen. Einstweilen aber wird dieses Buch, zur Ehrung meines Schwiegervaters Agricola bestimmt, als Äusserung der Liebe entweder gelobt oder doch entschuldigt werden. 4 (1) Gnaeus Julius Agricola, aus der alten und glanzvollen Kolonie Forum Julii, gebürtig, hatte zu beiderseitigen Grossvätern kaiserliche Prokuratoren, was ritterlicher Adel ist. Usw. (Übersetzung Walter Kiessel) 13. 2. 2. Tacitus, Dialogus de oratoribus 40,2–41 40 (2) non de otiosa et quieta re loquimur et quae probitate et modestia gaudeat, sed est magna illa et notabilis eloquentia alumna licentiae, quam stulti libertatem vocitant, comes seditionum, effrenati populi incitamentum, sine obsequio, sine severitate, contumax, temeraria, adrogans, quae in bene constitutis civitatibus non oritur. (3) quem enim oratorem Lacedaemonium, quem Cretensem accepimus? quarum civitatum severissima disciplina et severissimae leges traduntur. ne Macedonum quidem ac Persarum aut ullius gentis, quae certo imperio contenta fuerit, eloquentiam novimus. Rhodii quidam, plurimi Athenienses oratores extiterunt, apud quos omnia populus, omnia imperiti, omnia, ut sic dixerim, omnes poterant. (4) nostra quoque civitas, donec erravit, donec se partibus et dissensionibus et discordiis confecit, donec nulla fuit in foro pax, nulla in senatu concordia, nulla in iudiciis moderatio, nulla superiorum reverentia, nullus magistratuum modus, tulit sine dubio valentiorem eloquentiam, sicut indomitus ager habet quasdam herbas laetiores. sed nec tanti rei publicae Gracchorum eloquentia fuit, ut pateretur et leges, nec bene famam eloquentiae Cicero 40 (2) »Nicht über eine friedvolle und ruhige Sache sprechen wir, die sich über Rechtschaffenheit und Bescheidenheit freut; vielmehr ist jene grosse und berühmte Beredsamkeit ein Kind der Zügellosigkeit, welche die Dummen Freiheit nennen, die Begleiterin von Aufständen, das Aufputschmittel für ein zügelloses Volk, ohne Gehorsam, ohne Strenge, frech, verwegen, anmassend, wie sie in wohlgeordneten Staaten nicht entsteht. (3) Denn von welchem Redner in Sparta, von welchem in Kreta haben wir gehört? Die Ordnung dieser Staaten und ihre Gesetze werden als überaus streng überliefert. Auch eine Beredsamkeit der Makedonen und Perser oder irgendeines Volkes, das mit einer festbestimmten Regierungsgewalt zufrieden war, kennen wir nicht. Einige rhodische aber und sehr viele athenische Redner sind aufgetreten, bei denen alles das Volk, alles die Unerfahrenen, alles sozusagen alle vermochten. (4) Auch unser Staat brachte – solange er sich auf einem Irrweg befand, solange er sich in Parteiungen, Meinungsverschiedenheiten und Zwietracht verzehrte, solange auf dem Forum kein Frieden herrschte, im Senat keine Eintracht, in den Gerichtshöfen kein Survol de la littérature antique Cours bilingue tali exitu pensavit. (Die gescheiterten sozialrevolutionären Bestrebungen der Brüder Tiberius , gest. 133 v. Chr., und Gaius Sempronius Gracchus, gest 123 v. Chr., hatten in Rom das Jahrhundert der Bürgerkriege eingeleitet) 41 (1) Sic quoque quod superest antiqui oratoribus fori non emendatae nec usque ad votum compositae civitatis argumentum est. (2) quis enim nos advocat nisi aut nocens aut miser? quod municipium in clientelam nostram venit, nisi quod aut vicinus populus aut domestica discordia agitat? quam provinciam tuemur nisi spoliatam vexatamque? atqui melius fuisset non queri quam vindicari. (3) quod si inveniretur aliqua civitas, in qua nemo peccaret, supervacuus esset inter innocentis orator sicut inter sanos medicus. quo modo tamen minimum usus minimumque profectus ars medentis habet in iis gentibus, quae firmissima valetudine ac saluberrimis corporibus utuntur, sic minor oratorum honor obscuriorque gloria est inter bonos mores et in obsequium regentis paratos. (4) quid enim opus est longis in senatu sententiis, cum optimi cito consentiant? quid multis apud populum contionibus, cum de re publica non imperiti et multi deliberent, sed sapientissimus et unus? quid voluntariis accusationibus, cum tam raro et tam parce peccetur? quid invidiosis et excedentibus modum defensionibus, cum clementia cognoscentis obviam periclitantibus eat? (5) credite, optimi et in quantum opus est disertissimi viri, si aut vos prioribus saeculis aut illi, quos miramur, his nati essent, ac deus aliquis vitas ac [vestra] tempora repente mutasset, nec vobis summa illa laus et gloria in eloquentia neque illis modus et temperamentum defuisset: nunc, quoniam nemo eodem tempore adsequi potest magnam famam et magnam quietem, bono saeculi sui quisque citra obtrectationem alterius utatur.' LII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung Masshalten, keine Ehrfurcht vor den Oberen, keine Mässigung der Beamten – zweifellos eine ziemlich machtvolle Beredsamkeit hervor, ebenso wie ein unbezwungener Acker manche fetteren Gräser aufweist. Aber die Beredsamkeit der Gracchen war für das Gemeinwesen nicht so viel wert, dass es auch ihre Gesetze ertrug, und ein Cicero hat den Ruhm seiner Beredsamkeit mit einem solchen Ende nicht gut aufgewogen. 41 (1) So ist auch das, was den Rednern vom alten Forum blieb, ein Beweis für einen noch nicht geheilten und nach Wunsch geordneten Staat. (2) Wer ruft uns denn um Hilfe an ausser den Schuldigen oder Elenden? Welche Landstadt kommt denn in unsere Schutzherrschaft ausser der, die ein benachbartes Volk oder eine innere Zwietracht in Unruhe versetzt? Welche Provinz schützen wir ausser der, die man geplündert und misshandelt hat? Und doch wäre es besser gewesen, keinen Grund zur Klage zu haben als geschützt zu werden. (3) Wenn man aber einen Staat fände, in dem sich niemand verginge, dann wäre unter Schuldlosen der Redner überflüssig wie unter Gesunden der Arzt. Wie nämlich das geringste Mass an Verwendung und das geringste Mass an Erfolg die Kunst des Arztes bei den Völkern hat, die sich der stärksten Konstitution und der gesündesten Körper erfreuen, so ist die Anerkennung für die Redner geringer und ihr Ruhm dunkler bei guten Sitten und bei Menschen, die zum Gehorsam gegenüber dem Herrscher bereit sind. (4) Was bedarf es langer Diskussionen im Senat, wenn die Besten rasch einer Meinung sind? Was vieler Reden vor dem Volk, wenn über den Staat nicht die Unerfahrenen und die Vielen beraten, sondern der Weiseste und Eine? Was bedarf es der freiwilligen Anklagen, wenn man sich so selten und so geringfügig vergeht ? Was der Missgunst verbreitenden und das Mass überschreitenden Verteidigungen, wenn die Milde des Untersuchenden den Angeklagten entgegenkommt? (5) Glaubt mir, beste und, soweit es nötig ist, beredteste Männer, wenn entweder ihr in früheren Jahrhunderten und jene, die wir bewundern, in unserem geboren wären oder ein Gott plötzlich Leben und Zeit vertauscht hätte, dann hätte weder euch jenes höchste Lob und der Ruhm in der Beredsamkeit gefehlt noch jenen das Mass und die Ausgeglichenheit: Nun aber, da niemand zur gleichen Zeit grossen Ruhm und grosse Ruhe erlangen kann, möge jeder das Gute in seinem Jahrhundert geniessen, ohne das andere herabzusetzen!« (Übersetzung Walter Kiessel) Survol de la littérature antique Cours bilingue LIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung 13. 2. 3. Tacitus, Annales 40,2–41 50 Iam Tiberium corpus, iam vires, nondum dissimulatio deserebat: idem animi rigor; sermone ac vultu intentus quaesita interdum comitate quamvis manifestam defectionem tegebat. mutatisque saepius locis tandem apud promunturium Miseni consedit in villa cui L. Lucullus quondam dominus. illic eum adpropinquare supremis tali modo compertum. erat medicus arte insignis, nomine Charicles, non quidem regere valetudines principis solitus, consilii tamen copiam praebere. is velut propria ad negotia digrediens et per speciem officii manum complexus pulsum venarum attigit. neque fefellit: nam Tiberius, incertum an offensus tantoque magis iram premens, instaurari epulas iubet discumbitque ultra solitum, quasi honori abeuntis amici tribueret. Charicles tamen labi spiritum nec ultra biduum duraturum Macroni firmavit (Macro, von Tiberius i. J. 31 zum Prätorianer-präfekten ernannt, bald nach Caligulas Regierungsantritt 37 zum gewzungen.). inde cuncta conloquiis inter praesentis, nuntiis apud legatos et exercitus festinabantur. septimum decimum kal. Aprilis interclusa anima creditus est mortalitatem explevisse; et multo gratantum concursu ad capienda imperii primordia G. Caesar egrediebatur, cum repente adfertur redire Tiberio vocem ac visus vocarique qui recreandae defectioni cibum adferrent. pavor hinc in omnis, et ceteri passim dispergi, se quisque maestum aut nescium fingere; Caesar in silentium fixus a summa spe novissima expectabat. Macro intrepidus opprimi senem iniectu multae vestis iubet discedique ab limine. sic Tiberius finivit octavo et septuagesimo aetatis anno. Selbstmord 51 pater ei Nero et utrimque origo gentis Claudiae, quamquam mater in Liviam et mox Iuliam familiam adoptionibus transierit. (Livia, 58 v. Chr. – 29 n. Chr., die Mutter des Tiberius, liess sich 38 v. Chr. Von ihrem ersten Manne Tib. Claudius Nero scheiden, um Octavian, den späteren Augustus, heiraten zu können; dieser nahm sie in seinem Testament 50 Schon zerfiel Tiberius körperlich, und schon verliessen ihn seine Kräfte, aber noch nicht die Kunst der Verstellung. Noch zeigte er sein starres Wesen und seine Gestrafftheit im Gespräch und in der Miene. Auch suchte er mitunter hinter einer gesuchten Freundlichkeit den offensichtlichen Zerfall zu verbergen. Er wechselte öfters seinen Aufenthaltsort und nahm endlich seinen Wohnsitz auf dem Vorgebirge Misenum in dem Landhaus, dessen Besitzer einst L. Lucullus gewesen war. Dass ihm hier seine letzte Stunde nahte, wurde auf folgende Weise bekannt. Es befand sich bei ihm ein äusserst tüchtiger Artz namens Charicles, der allerdings den Princeps, wenn er krank war, nicht zu behandeln pflegte, aber ihm mit seinem Rat häufig beistand. Dieser verabschiedete sich von Tiberius, wie wenn er zur Erledigung eigener Geschäfte weggehe, und fasste ihn scheinbar zur Ehrfurchtsbezeugung an der Hand. Dabei fühlte er ihm den Puls. Doch Tiberius merkte es. Vielleicht dadurch aufgebracht und daher erst recht seinen Zorn unterdrückend, befahl er, das Essen aufzutragen, und blieb über die übliche Zeit hinaus bei Tisch, wie wenn er damit seinem abreisenden Freund eine Ehre erweisen wolle. Charicles aber versicherte dem Macro, der Atem gehe schwächer und es werde nicht mehr länger als zwei Tage dauern. Daher wurden in Eile alle Massnahmen unter den Anwesenden besprochen und Kuriere an die Legaten und Heere abgeschickt. Am 16. März glaubte man, sein Atem stehe still und er habe der Sterblichkeit den Tribut gezollt. Alles strömte herbei, um Glück zu wünschen, während C. Caesar aus dem Sterbezimmer trat, um die Regierungsgewalt zu übernehmen. Da wurde plötzlich mitgeteilt, Tiberius spreche und sehe wieder und rufe, man solle ihm zur Erholung von seiner Ohnmacht Essen bringen. Alles stob darauf, von Entsetzen gepackt, nach allen Richtungen auseinander; der eine stellte sich traurig, der andere unwissend. C. Caesar verharrte in starrem Schweigen und erwartete, eben noch in den höchsten Hoffnungen schwelgend, das Schlimmste. Nur Macro verlor den Kopf nicht: Erf befahl, man solle auf den Greis einen Haufen Decken werfen, ihn so ersticken und dann das Zimmer verlassen. So endete Tiberius im 78. Lebensjahr. 51 Sein Vater war Nero; beiderseits entstammte er dem claudischen Geschlecht, obgleich seine Mutter in die livische und später in die iulische Familie durch Adoption übergegangen war. Seine Lebensschicksale waren von frühester Kindheit an wechselvoll. Er hatte als Verbannter seinen geächteten Vater Survol de la littérature antique Cours bilingue LIV casus prima ab infantia ancipites; nam proscriptum patrem exul secutus, ubi domum Augusti privignus introiit, multis aemulis conflictatus est, dum Marcellus et Agrippa, mox Gaius Luciusque Caesares viguere; (Augustus durch Adoption in die iulische Familie auf.) designierte zuerst seinen Neffen Marcellus [42–23 v. Chr.] nach dessen Tode seinen Feldherrn und Freund Agrippa [63–12 v. Chr.] zu Thronerben, indem er ihnen seine einzige Tochter Iulia [39 v. – 14 n. Chr.] zur Frau gab; erst in dritter Ehe {seit etiam frater eius Drusus prosperiore civium amore erat. sed maxime in lubrico egit accepta in matrimonium Iulia, impudicitiam uxoris tolerans aut declinans. dein Rhodo regressus vacuos principis penatis duodecim annis (Aus Gram darüber, dass Augustus ihn gegenüber seinen 11 v. Chr.] wurde sie mit Tiberius vermählt.) leiblichen Enkeln Gaius [gest. 4] und Lucius [gest. 2] zurücksetzte, zog sich Tiberius für 7 Jahre {6 v. – 2 n. Chr.] ins , mox rei Romanae arbitrium tribus ferme et viginti obtinuit. morum quoque tempora illi diversa: egregium vita famaque quoad privatus vel in imperiis sub Augusto fuit; occultum ac subdolum fingendis virtutibus donec Germanicus ac Drusus superfuere; idem inter bona malaque mixtus incolumi matre; intestabilis saevitia sed obtectis libidinibus dum Seianum dilexit timuitve: postremo in scelera simul ac dedecora prorupit postquam remoto pudore et metu suo tantum ingenio utebatur. freiwillige Exil nach Rhodos zurück.) Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike Zweisprachige Vorlesung begleitet, und als er in des Augustus Haus als Stiefsohn eintrat, hatte er sich mit vielen Rivalen auseinanderzusetzen, solange Marcellus und Agrippa, dann die beiden Caesaren Gaius und Lucius lebten. Auch erfreute sich sein Bruder Drusus grösserer Beliebtheit bei der Bürgerschaft. Aber in die schwierigste Lage geriet er durch seine Ehe mit Julia, in der er die Sittenlosigkeit seiner Gemahlin geduldig hinnahm oder auch ihr auszuweichen suchte. Dann, von Rhodus heimgekehrt, lebte er in dem kinderlosen Palast des Princeps zwölf Jahre und hatte darauf rund dreiundzwanzig Jahre die unumschränkte Herrschaft über das römisch Reich inne. Auch sein Charakter wechselte im Laufe der Zeiten: Lebensweise und Ruf waren untadelig, solange er Privatmann oder unter Augustus mit militärischen Kommandos beauftragt war. Versteckte Heimtücke unter der Maske des Tugendhaften zeigte er, solange Germanicus und Drusus noch am Leben waren. Gutes und Böses vermischten sich in ihm zu Lebzeiten seiner Mutter. Als ein grausames Scheusal, das aber seine sinnlichen Ausschweifungen verschleierte, entpuppte er sich, solange er Seianus liebte oder fürchtete. Zuletzt stürzte er sich in Verbrechen und zugleich in Schande, als er Schamgefühl und Furcht beiseite geschoben hatte und nur noch seiner eigenen Eingebung folgte. (Übersetzung Walter Kiessel)