Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike

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Survol de la littérature antique
Cours bilingue
I
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
DUENOS-Inschrift (auf einem Trinkgefäss mit drei kleinen Schalen)
IOUE│SATDEIUOSQOIMEDMITATNEITEDENDOCOSMISUIRCOSIED
ASTEDNOISIOPETOITESIAIPACARIUOIS
DUENOSMEDFECEDENMANOMEINOMDUENOINEMEDMALOSTATOD
iouesât deiuôs qoi mêd mitât
nei têd endô cosmis virgô siêd
as(t) têd n’oisi opet
oit esiâi pâcâ riuois
duenos mêd fêced
en mânôm meinôm duenôi
nê mêd malos tatôd
Es schwört bei den Göttern, der mich schenkt:
Wenn das Mädchen nicht nett zu dir ist,
und wenn es nicht wünscht, dich mitzunehmen, nimm (das) für sie mit, befriedige sie in Strömen.
Ein Ehrenmann hat mich hergestellt,
zum glückbringenden Geschenk (?) für einen Ehrenmann;
nicht soll mich ein Schlechter stehlen!
8. Die archaische Literatur
8.1. Fragmente aus den Annalen des Ennius
fr. 1 Skutsch
Musae, quae pedibus magnum pulsatis Olympum
Naevius fr. 64,2
flerent divae Camenae Naevium poetam
fr. 2 Skutsch
somno leni placidoque revinctus
fr. 3 Skutsch
visus Homerus adesse poeta
fr. 12 Skutsch
latos per populos res atque poemata nostra
… clara cluebunt
Musen, die ihr mit den Füssen den Ehrwürdigen
stampft, den Olymp
(Muses, vous qui piétinez le sol du vénérable Olympe)
es beweinen die göttlichen Camenae den Dichter
Naevius
von sanftem und ruhigem Schlaf übermannt
(gagné par un sommeil doux et calme)
im Traumbild mir der Dichter Homer erschien
(en rêve m'apparut le poète Homère)
Weithin bei allen Völkern wird man unsere ruhmreichen Taten und Dichtung / … besingen.
(Au loin chez tous les peuples, on chantera nos exploits et nos poèmes)
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II
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
fr. 18 Skutsch
transnavit cita per teneras caliginis auras
sie durchflog schnell die zarten Schwaden des nebligen Dunkels
(et rapidement, elle traversa les airs délicats assombris
par la brume)
fr. 19 Skutsch
constitit inde loci propter sos dia dearum
sie trat von da neben die ihren, die hehre Göttin
(de là, elle se dressa à côté des siens, la vénérable
déesse)
fr. 20 Skutsch
est locus, Hesperiam quam mortales perhibebant
es gibt ein Land, das die Sterblichen Abendland nannten
(il existe un endroit que les mortels nommaient le pays
du couchant)
fr. 21 Skutsch
Saturnia terra
das Land des Saturn
la terre de Saturne
fr. 22 Skutsch
quam prisci, casci populi, tenuere Latini
fr. 31 Skutsch
olli respondit rex Albai Longai
das vor vielen Jahren das uralte Volk der Latiner beherrschte
(qu'occupèrent jadis les Latins, ce peuple des temps
très anciens)
ihm antwortete der König von Alba Longa (alte Hauptstadt von Latium)
(le roi d'Alba Longa lui répondit)
fr. 32 Skutsch
accipe daque fidem foedusque feri bene firmum
fr. 72-91 Skutsch
Curantes magna cum cura tum cupientes
regni dant operam simul auspicio augurioque.
In †monte Remus auspicio sedet atque secundam
solus avem servat. at Romulus pulcer in alto
quaerit Aventino, servat genus altivolantum.
Certabant urbem Romam Remoramne vocarent.
Omnibus cura viris uter esset induperator.
Nimm an und erwidere den Treueschwur und schliess
das Bündnis, das gut gefestigte.
(Donnons-nous mutuellement la parole; conclus le
pacte, solidement ancré.)
Mit grosser Sorgfalt besorgen sie alles und im
Verlangen / nach dem Königreich verlegen sie sich
beide zugleich auf Vogelschau und prophetische Zeichen. / Auf dem Hügel setzt sich Remus nieder zur
Vogelschau und beobachtet / den glückbringenden
Vogel allein. Der edle Romulus hingegen hält auf dem
hohen / Aventin Ausschau, er beobachtet das Ge-
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III
Expectant veluti consul quom mittere signum
volt, omnes avidi spectant ad carceris oras
quam mox emittat pictos e faucibus currus:
Sic expectabat populus atque ore timebat
rebus utri magni victoria sit data regni.
Interea sol albus recessit in infera noctis.
Exin candida se radiis dedit icta foras lux
et simul ex alto longe pulcerrima praepes
laeva volavit avis. simul aureus exoritur sol
cedunt de caelo ter quattuor corpora sancta
avium, praepetibus sese pulcrisque locis dant.
Conspicit inde sibi data Romulus esse propritim
auspicio regni stabilita scamna solumque.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
schlecht der in der Höhe Fliegenden. / Sie stritten darum, ob sie der Stadt den Namen Rom oder Remora
geben sollten. / Aller Männer Sorge war es, welcher
der beiden ihr Herrscher würde. Angespannt warten
sie: Wie wenn der Konsul <im Zirkus> sich anschickt,
das Zeichen / zu geben und alle gespannt auf die Seile
der Schranke der Rennbahn schauen, / wie bald sie die
buntbemalten Wagen aus ihrem Schlund entlasse. / So
erwartete das Volk gespannt, und bangende Hoffnung
stand in ihrem Gesicht: / Welchem von beiden geben
die Ereignisse den Sieg und damit das erhabene
Königtum? / Inzwischen zog sich die fahle Sonne zurück in das unterirdische Reich der Nacht. / Als dann
das helle Tageslicht, von den Strahlen getroffen,
hervortrat, da flog zugleich weit oben ein wunderschöner, glückverheissender / Vogel von links heran.
Die Sonne steigt golden empor, und gleichzeitig /
erscheinen am Himmel dreimal vier heilige Leiber /
von Vögeln; in glückverheissende und edle Gefilde
begeben sie sich. / Es ersieht daraus Romulus, dass
ihm gegeben ist zu eigen, / durch die Vogelschau gefestigt, des Königreiches Thron und Boden.
8.2. Plautus, Aulularia, 1–39. 79–119
Guter Hausgeist (aus Euclios Haus tretend).
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LAR FAM. Ne quis miretur qui sim, paucis eloquar.
ego Lar sum familiaris ex hac familia
unde exeuntem me aspexistis. hanc domum
iam multos annos est cum possideo et colo
patri avoque iam huius qui nunc hic habet.
sed mí avos huius obsecrans concredidit
thensaurum aúri clam omnis: in medio foco
defodit, venerans mé ut id servarem sibi.
is quoniam moritur (ita avido ingenio fuit),
numquam indicare id filio voluit suo,
inopemque optavit potius eum relinquere,
quam eum thensaurum commonstraret filio;
agri reliquit ei non magnum modum,
quo cum labore magno et misere viveret.
ubi is óbiit mortem qui mihi id aurum credidit,
coepi observare, ecqui maiorem filius
mihi honorem haberet quam eius habuisset pater.
atque ille vero minus minusque impendio
curare mínusque me impertire honoribus.
item a me contra factum est, nam item obiit diem.
is ex se húnc reliquit qui hic nunc habitat filium
pariter moratum ut pater avosque huius fuit.
Damit sich keiner wundert, wer ich sei, will ich es
kurz sagen. Ich bin der Lar familiaris des Hauses.
aus dem ihr mich habt treten sehen. Dieses Haus
besitze und hege ich schon viele Jahre, [5] schon
für den Vater und Grossvater dessen, der es jetzt
bewohnt. Der Grossvater von diesem nun vertraute
mir unter Beschwörungen einen Goldschatz an,
ohne dass sonst jemand davon erfuhr. Er vergrub
ihn mitten im Herd und bat mich dringend, ihn ihm
zu beschützen. Und da er starb — so geizig war er
—, [10] wollte er nicht, dass dies je dem Sohn
mitgeteilt würde. Er wollte ihn lieber arm zurücklassen, als dass er den Schatz dem Sohn gezeigt
hätte. Er hinterliess ihm ein kleines Stück Land,
damit er davon mit grosser Mühe und elend leben
sollte. [15] Seitdem nun der gestorben war, der mir
dies Gold anvertraut hatte, begann ich zu beobachten, ob der Sohn mich mehr in Ehren halten würde
als der Vater. Und der gab noch viel weniger für
mich aus und zollte mir noch weniger Verehrung.
[20] Das vergalt ich ihm, denn er starb ebenso arm.
Der hinterliess nun diesen Sohn, der jetzt hier
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IV
huic filia una est. ea mihi cottidie
aut ture aut vino aut aliqui semper supplicat,
dat mihi coronas. eius honoris gratia
feci, thensaurum ut hic reperiret Euclio,
quo illam facilius nuptum, si vellet, daret.
nam eam compressit de summo adulescens loco.
is scit adulescens quae sit quam compresserit,
illa illum nescit, neque compressam autem pater.
eam ego hódie faciam ut hic senex de proxumo
sibi uxórem poscat. id ea faciam gratia,
quo ille eam facilius ducat qui compresserat.
et hic qui poscet eam sibi uxorem senex,
is adulescentis illius est avonculus,
qui illam stupravit noctu, Cereris vigiliis.
sed hic senex iam clamat intus ut solet.
anum foras extrudit, ne sit conscia.
credo aurum inspicere volt, ne subreptum siet.
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wohnt und ebenso geartet ist wie sein Vater und
Grossvater. Er hat eine einzige Tochter. Die opfert
mir täglich Weihrauch oder Wein oder fleht immer
irgendwie zu mir, [25] schmückt mich mit Kränzen.
Ihr zuliebe habe ich es so eingerichtet, dass hier
Euclio den Schatz fand, damit er, wenn er will, sie
leichter verheiraten kann. Denn ein junger Mann
aus bestem Haus hat sie vergewaltigt. Der Jüngling
weiss, wen er verführt hat. [30] Das Mädchen kennt
ihn nicht, und der Vater weiss nicht einmal von der
Vergewaltigung. Ich werde es heute so fügen, dass
hier der Nachbar, ein älterer Mann, um ihre Hand
anhält. Das werde ich zu dem Zweck tun, dass der,
der sie verführt hat, sie leichter bekommt. Und der
Alte, der um ihre Hand anhalten wird, [35] ist der
Onkel jenes jungen Mannes, der sie nachts vergewaltigt hat, beim Ceresfest. — Aber hier im Haus
schreit schon wieder wie gewöhnlich der Alte. Er
stösst die alte Dienerin heraus, damit sie nichts
bemerkt. Ich glaube, er will sein Gold inspizieren,
ob es nicht gestohlen ist.
Euclio kommt aus dem Haus.
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EUC. Nunc defaecato demum animo egredior
domo,
postquam perspexi salva esse intus omnia.
redi nunciam intro atque intus serva. STAPH.
Quippini?
ego intus servem? an ne quis aedes auferat?
nam hic apud nos nihil est aliud quaesti furibus,
ita inaniis sunt oppletae atque araneis.
EUC. Mirum quin tua me causa faciat Iuppiter
Philippum regem aut Dareum, trivenefica.
araneas mihi ego illas servari volo.
pauper sum; fateor, patior; quod di dant fero.
abi intro, occlude ianuam. iam ego hic ero.
cave quemquam alienum in aedis intro miseris.
quod quispiam ignem quaerat, extingui volo,
ne causae quid sit quod te quisquam quaeritet.
nam si ignis vivet, tu extinguere extempulo.
tum aquam aufugisse dicito, si quis petet.
cultrum, securim, pistillum, mortarium,
quae utenda vasa semper vicini rogant,
fures venisse atque abstulisse dicito.
profecto in aedis meas me absente neminem
volo intro mitti. atque etiam hoc praedico tibi,
si Bona Fortuna veniat, ne intro miseris.
STAPH. Pol ea ipsa credo ne intro mittatur cavet,
nam ad aedis nostras numquam adit, quamquam
prope est.
EUC. Jetzt kann ich endlich erheiterten Sinnes das
Haus verlassen, [80] nachdem ich mich vergewissert habe, dass drinnen alles in Ordnung ist.
Geh jetzt wieder hinein und pass drinnen auf.
STA. Warum denn nicht? — Ich soll drinnen
aufpassen? Etwa dass nicht einer das Haus
wegträgt? Denn hier bei uns ist für Diebe nichts
anderes zu holen, so voll ist alles von Leere und
Spinnweben.
EUC. [85] Ein Wunder, dass Jupiter aus mir nicht
deinetwegen einen König Philipp oder Dareus
macht, du Erzhexe! Ich will, dass jene Spinnweben mir bewacht werden. Ich bin ein armer
Mann, gewiss; ich füge mich und trage, was die
Götter geben. Geh hinein und schliess die
Haustür. Ich bin bald wieder da. [90] Lass ja
keinen Fremden ins Haus hinein. Wenn jemand
Feuer haben will, so will ich, dass es gelöscht
wird, damit es keinen Grund gibt, dich anzubetteln. Also, wenn Feuer brennt, lösch es sofort.
Dann, wenn jemand Wasser will, sag, es sei
ausgelaufen. [95] Was Messer, Beil, Mörserkeule, Mörser und Gefässe betrifft, die die
Nachbarn gerne pumpen, so sag, Diebe seien
gekommen und hätten alles fortgeschleppt.
Jedenfalls will ich, dass in mein Haus, während
ich fort bin, niemand hineingelassen wird; und
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V
EUC. Tace atque abi intro. STAPH. Taceo atque
abeo.- EUC. Occlude sis
fores ambobus pessulis. iam ego hic ero.
discrucior animi, quia ab domo abeundum est
mihi.
nimis hercle invitus abeo. sed quid agam scio.
nam noster nostrae qui est magister curiae
dividere argenti dixit nummos in viros;
id si relinquo ac non peto, omnes ilico
me suspicentur, credo, habere aurum domi.
nam non est veri simile, hominem pauperem
pauxillum parvi facere quin nummum petat.
nam nunc cum celo sedulo omnis, ne sciant,
omnes videntur scire et me benignius
omnes salutant quam salutabant prius;
adeunt, consistunt, copulantur dexteras,
rogitant me ut valeam, quid agam, quid rerum
geram.
nunc quo profectus sum ibo; postidea domum
me rursum quantum potero tantum recipiam.
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ich befehle dir sogar dies: [100] Wenn selbst die
Göttin Bona Fortuna käme, lass sie nicht hinein.
STA. Beim Pollux, die wird sich hüten, hereingelassen zu werden; denn zu uns kommt sie nie,
mag auch ihr Tempel in der Nähe sein.
EUC. Schweig und geh hinein.
STA. Ich schweige ja und gehe.
EUC. Schliess bitte die Tür mit beiden Riegeln, ich
bin gleich wieder da. (Staphyla ab ins Haus)
[105] Ich martere mich ab, weil ich das Haus
verlassen muss. Zu ungern gehe ich weg, beim
Herkules. Aber ich weiss, warum ich es tue.
Denn unser Bezirksvorstand sagte, er verteile
Geld unter die Leute. Wenn ich da fehle und es
nicht beanspruche, werden alle, [110] glaube ich,
sofort den Verdacht haben, ich hätte Gold im
Haus. Denn es ist unwahrscheinlich, dass ein
Armer ein Weniges geringschätzt und auf einen
Pfennig verzichtet. Denn jedesmal, wenn ich es
jetzt eifrig verheimliche, damit es nicht alle
wissen, scheinen es doch alle zu wissen und alle
grüssen mich freundlicher, [ 115] als sie mich
früher grüssten. Sie treten zu mir, bleiben stehen, drücken mir die Hand, sie erkundigen sich
nach meiner Gesundheit, fragen, wie es gehe,
was ich treibe. — Jetzt will ich meinen Weg
fortsetzten. Danach werde ich, so schnell ich
kann, nach Hause zurückkehren.
(Übersetzung: Astrid und Hubert Petersmann)
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VI
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9. Die republikanische Literatur: Cicero und Caesar
9.1.1. Cicero, De oratore 1, 1-5. 16-23
(1) Cogitanti mihi saepe numero et memoria vetera
repetenti perbeati fuisse, Quinte frater, illi videri
solent, qui in optima re publica, cum et honoribus et
rerum gestarum gloria florerent, eum vitae cursum
tenere potuerunt, ut vel in negotio sine periculo vel in
otio cum dignitate esse possent; ac fuit cum mihi
quoque initium requiescendi atque animum ad
utriusque nostrum praeclara studia referendi fore
iustum et prope ab omnibus concessum arbitrarer, si
infinitus forensium rerum labor et ambitionis
occupatio decursu honorum, etiam aetatis flexu
constitisset.
(2) Quam spem cogitationum et consiliorum meorum
cum graves communium temporum tum varii nostri
casus fefellerunt; nam qui locus quietis et tranquillitatis plenissimus fore videbatur, in eo maximae
moles molestiarum et turbulentissimae tempestates
exstiterunt; neque vero nobis cupientibus atque
exoptantibus fructus oti datus est ad eas artis, quibus
a pueris dediti fuimus, celebrandas inter nosque
recolendas.
(3) Nam prima aetate incidimus in ipsam
perturbationem disciplinae veteris, et consulatu
devenimus in medium rerum omnium certamen atque
discrimen, et hoc tempus omne post consulatum
obiecimus eis fluctibus, qui per nos a communi peste
depulsi in nosmet ipsos redundarent. Sed tamen in his
vel asperitatibus rerum vel angustiis temporis
obsequar studiis nostris et quantum mihi vel fraus
inimicorum vel causae amicorum vel res publica
tribuet oti, ad scribendum potissimum conferam;
(4) tibi vero, frater, neque hortanti deero neque
roganti, nam neque auctoritate quisquam apud me
plus valere te potest neque voluntate. Ac mihi
repetenda est veteris cuiusdam memoriae non sane
satis explicata recordatio, sed, ut arbitror, apta ad id,
quod requiris, ut cognoscas quae viri omnium
Sooft ich daran denke und mir die alten Zeiten ins
Gedächtnis rufe, scheint es mir stets, mein Bruder
Quintus, dass die Menschen damals besonders glücklich waren; sie durften in dem besten Staat, im Glanz
ihrer Ehren und des Ruhmes ihrer Taten ihr Leben in
solchen Bahnen führen, dass sie sich ihrer Tätigkeit
ohne Gefahr und ihrer Musse mit Würde widmen
konnten. Es gab auch einmal eine solche Zeit, in der
ich glauben durfte, dass auch mir einmal fast alle das
Recht zugestehen würden, ein Leben in Ruhe zu
beginnen und mich den edlen Studien zuzuwenden,
die uns beiden am Herzen liegen, wenn die endlose
Mühsal der Verpflichtungen des Forums und die Beanspruchung durch die Bewerbung um ein Amt mit
dem Abschluss der Ämterlaufbahn, der auch ein Wendepunkt des Lebens ist, zur Ruhe käme.
(2) Doch meine hoffnungsvollen Überlegungen und
Pläne liess das schwere Unheil der allgemeinen politischen Entwicklung und besonders mein eigenes, vielfaches Missgeschick zunichte werden; denn dort, wo
mir ein Ort voll Ruhe und Frieden zu winken schien,
erwuchsen mir die schwersten Sorgenlasten und die
wildesten Unwetter. Ja, ich kam trotz des heissen
Wunsches nicht einmal in den Genuss der Musse, um
die Wissenschaften zu betreiben, denen ich von Kindheit an ergeben war, und sie gemeinsam mit dir wiederum zu pflegen.
(3) Denn mit dem ersten Abschnitt meines Lebens
geriet ich mitten in die stürmische Umwälzung der
alten Ordnung, das Amt des Konsuls führte mich geradewegs in eine allgemeine Krise, und die gesamte Zeit
nach meinem Konsulat widmete ich nur dem Kampf
gegen die Fluten, die ich daran gehindert hatte, alles
zu verheeren, um selbst von ihnen überschwemmt zu
werden. Doch trotzdem möchte ich selbst unter diesen
widrigen, beengenden Umständen meinen Studien
nachgehen und das, was mir die Bosheit meiner
Feinde, die Interessen meiner Freunde und die Politik
an Freizeit übrig lassen, vor allem auf schriftstellerische Tätigkeit verwenden.
(4) Für dich jedoch, mein Bruder, deine Mahnungen
und Bitten, bin ich immer da; denn es gibt niemanden,
der bei mir durch sein Ansehen und durch sein Verlangen mehr vermag als du. So muss ich denn die
nicht ganz klare, doch, wie ich glaube, für das, was du
wissen willst, geeignete Erinnerung an eine schon
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eloquentissimi clarissimique senserint de omni ratione
dicendi.
(5) Vis enim, ut mihi saepe dixisti, quoniam, quae
pueris aut adulescentulis nobis ex commentariolis
nostris incohata ac rudia exciderunt, vix <sunt> hac
aetate digna et hoc usu, quem ex causis, quas diximus,
tot tantisque consecuti sumus, aliquid eisdem de rebus
politius a nobis perfectiusque proferri; solesque non
numquam hac de re a me in disputationibus nostris
dissentire, quod ego eruditissimorum hominum
artibus eloquentiam contineri statuam, tu autem illam
ab elegantia doctrinae segregandam putes et in
quodam ingeni atque exercitationis genere ponendam.
[…]
Sed enim maius est hoc quiddam quam homines
opinantur, et pluribus ex artibus studiisque conlectum.
[…]
(17) Est enim et scientia comprehendenda rerum
plurimarum, sine qua verborum volubilitas inanis
atque inridenda est, et ipsa oratio conformanda non
solum electione, sed etiam constructione verborum, et
omnes animorum motus, quos hominum generi rerum
natura tribuit, penitus pernoscendi, quod omnis vis
ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut
sedandis aut excitandis expromenda est; accedat
eodem oportet lepos quidam facetiaeque et eruditio
libero digna celeritasque et brevitas et respondendi et
lacessendi subtili venustate atque urbanitate
coniuncta;
(18) tenenda praeterea est omnis antiquitas
exemplorumque vis, neque legum ac iuris civilis
scientia neglegenda est. Nam quid ego de actione ipsa
plura dicam? quae motu corporis, quae gestu, quae
vultu, quae vocis conformatione ac varietate
moderanda est; quae sola per se ipsa quanta sit,
histrionum levis ars et scaena declarat; in qua cum
omnes in oris et vocis et motus moderatione laborent,
quis ignorat quam pauci sint fuerintque, quos animo
aequo spectare possimus? Quid dicam de thesauro
VII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
recht alte Begebenheit auffrischen, damit du die Ansicht der grössten und glanzvollsten Redner über die
gesamte Redekunst erfährst.
(5) Du willst ja, wie du mir oft sagtest, dass ich über
eben dieses Thema ein ausgefeilteres, vollkommeneres Werk vorlege; denn was aus den Entwürfen
meiner Kindheit oder frühen Jugend versehentlich
bekanntgeworden ist, entspricht in seiner Unvollkommenheit und Roheit kaum meinem Alter und der Erfahrung, die ich bei so vielen bedeutenden Prozessen,
die ich führte, gewonnen habe. Zuweilen pflegst du
auch in unseren Gesprächen über dieses Thema anderer Auffassung als ich zu sein; denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setze höchste Bildung auf
wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei
von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermassen auf Begabung und praktische Übung zu
gründen. […]
Freilich ist dieses Feld ja umfangreicher, als die
Menschen glauben, und es besteht aus einer grösseren
Anzahl von Fächern und Wissenschaften. […]
(17) Gilt es doch, sich ein Wissen von sehr vielen
Dingen anzueignen, ohne das die blosse Wortgewandtheit leer und lächerlich erscheint, der Rede
selbst nicht nur durch die Auswahl der Worte, sondern
auch durch ihre Fügung die rechte Form zu geben und
alle Regungen des Herzens, die die Natur den Menschen gab, genau zu untersuchen; denn alle Wirkung
und Methode der Redekunst hat sich in der Besänftigung oder Erregung der Zuhörer zu erweisen. Dazu
gehört noch ein gewisser Charme und Witz, Bildung,
die eines freien Mannes würdig ist, sowie Schlagfertigkeit und Kürze bei Erwiderungen und Attacken, mit
der sich feine Anmut und Eleganz verbindet.
(18) Weiterhin muss man die gesamte alte Zeit und
das Material der Präzedenzfälle beherrschen und darf
die Kenntnis der Gesetzte und des bürger-lichen
Rechts nicht unbeachtet lassen. Was soll ich da noch
auf den Vortrag selbst eingehen? Er muss durch die
Bewegung des Körpers, durch Mienen- und Gebärdenspiel, durch Ausdruck und Abwechslung der
Stimme das rechte Mass erhalten; wieviel allein schon
das an sich bedeutet, lehrt die schlichte Schauspielkunst und das Theater. Wer wüsste denn nicht, wie
gering die Anzahl derer, die vor unseren Augen Gnade
finden, ist und war, obwohl sie sich doch alle um den
rechten Ausdruck des Gesichts, der Stimme und der
Bewegung mühen? Was soll ich über die Schatz-
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rerum omnium, memoria? Quae nisi custos inventis
cogitatisque rebus et verbis adhibeatur, intellegimus
omnia, etiam si praeclarissima fuerint in oratore,
peritura.
(19) Quam ob rem mirari desinamus, quae causa sit
eloquentium paucitatis, cum ex eis rebus universis
eloquentia constet, in quibus singulis elaborare
permagnum est, hortemurque potius liberos nostros
ceterosque, quorum gloria nobis et dignitas cara est,
ut animo rei magnitudinem complectantur neque eis
aut praeceptis aut magistris aut exercitationibus,
quibus utuntur omnes, sed aliis quibusdam se id quod
expetunt, consequi posse confidant.
(20) Ac mea quidem sententia nemo poterit esse omni
laude cumulatus orator, nisi erit omnium rerum
magnarum atque artium scientiam consecutus: etenim
ex rerum cognitione efflorescat et redundet oportet
oratio. Quae, nisi res est ab oratore percepta et
cognita, inanem quandam habet elocutionem et paene
puerilem.
(21) Neque vero ego hoc tantum oneris imponam
nostris praesertim oratoribus in hac tanta
occupatione urbis ac vitae, nihil ut eis putem licere
nescire, quamquam vis oratoris professioque ipsa
bene dicendi hoc suscipere ac polliceri videtur, ut
omni de re, quaecumque sit proposita, ornate ab eo
copioseque dicatur.
(22) Sed quia non dubito quin hoc plerisque
immensum infinitumque videatur, et quod Graecos
homines non solum ingenio et doctrina, sed etiam otio
studioque abundantis partitionem iam quandam
artium fecisse video neque in universo genere singulos
elaborasse, sed seposuisse a ceteris dictionibus eam
partem dicendi, quae in forensibus disceptationibus
iudiciorum aut deliberationum versaretur, et id unum
genus oratori reliquisse; non complectar in his libris
amplius, quam quod huic generi re quaesita et multum
disputata summorum hominum prope consensu est
tributum;
VIII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
kammer aller Dinge, das Gedächtnis, sagen? Wenn es
nicht wie ein Wächter für die Entdeckungen und
erdachten Argumente und Formulierungen hinzugezogen würde, so wären offensichtlich alle Qualitäten
des Redners, und seien sie auch noch so glänzend,
dem Untergang geweiht.
(19) Deswegen wollen wir nicht mehr verwundert
fragen, was der Grund für die geringe Zahl gewandter
Redner ist, da die Beredsamkeit aus der Gesamtheit
aller der Bereiche besteht, deren Beherrschung jeweils
für sich schon sehr viel bedeutet; und wir wollen
lieber unsere Kinder und die anderen, an deren Ruhm
und Geltung uns gelegen ist, ermahnen, dass sie die
Grösse des Gegenstandes erfassen und sich nicht
einbilden, sie könnten das erstrebte Ziel mit Hilfe der
Vorschriften, Lehrer oder Übungen erreichen, deren
alle sich bedienen, sondern mit ganz anderen.
(20) Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein
Redner den Gipfel allen Ruhms erreichen, ohne sämtliche bedeutenden Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muss die
Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen.
Hat sich der Redner die Sache nicht ganz angeeignet,
so bietet seine Rede nur leeres und beinahe kindisches
Geschwätz.
(21) Ich will jedoch gerade unseren Rednern bei den
Ansprüchen, die das Leben in Rom an sie stellt, keine
so grosse Last aufbürden, dass ich glaubte, sie müssten alles wissen, obwohl gerade im Begriff des Redners und dem Anspruch, gut zu reden, das Unterfangen und die Verheissung zu liegen scheint, über
jedwedes Thema, das sich stellen mag, wortreich und
wirkungsvoll zu reden.
(22) Ich zweifle freilich nicht daran, dass dieser
Anspruch den meisten unermesslich und grenzenlos
erscheint, und sehe, dass bereits die Griechen in ihrem
Überfluss — nicht nur an Geistesgaben und an theoretischen Kenntnissen, sondern auch an Freizeit und an
Eifer — eine gewisse Einteilung in Fachgebiete vorgenommen haben und sich nicht je-weils auf dem gesamten Gebiet betätigten, sondern den Teil der Rede,
der zu den öffentlichen Erörterungen der Gerichtsverhandlungen und der Beratungen gehört, von ihren
übrigen Formen abtrennten und diese Gattung allein
dem Redner vorbehielten. Darum will ich in diesen
Büchern nicht mehr erfassen als das, was dieser Gattung in gründlichen Erörterungen und Untersuchungen
von massgeblichen Männern fast einstimmig zugewiesen wurde.
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(23) repetamque non ab incunabulis nostrae veteris
puerilisque
doctrinae
quendam
ordinem
praeceptorum, sed ea, quae quondam accepi in
nostrorum hominum eloquentissimorum et omni
dignitate principum disputatione esse versata; non
quo illa contemnam, quae Graeci dicendi artifices et
doctores reliquerunt, sed cum illa pateant in
promptuque sint omnibus, neque ea interpretatione
mea aut ornatius explicari aut planius exprimi
possint, dabis hanc veniam, mi frater, ut opinor, ut
eorum, quibus summa dicendi laus a nostris
hominibus concessa est, auctoritatem Graecis
anteponam.
IX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
(23) Ich will auch nicht mit einem Katalog von Regeln
wieder bei den Anfangsgründen unseres alten Schulunterrichts beginnen, sondern mit dem, was einmal —
wie ich hörte — im Kreis führender Redner und hochgestellter Persönlichkeiten unseres Landes besprochen
wurde. Nicht dass ich das verachtete, was uns griechische Theoretiker und Lehrer in der Kunst der Rede
hinterlassen haben; da ihre Lehren aber offen vor aller
Augen liegen und durch eine Erklärung von meiner
Seite weder wirkungsvoller zu entfalten noch klarer
auszudrücken sind, wirst du, mein Bruder, es mir wohl
verzeihen, dass mir die Männer, denen unsere Landsleute den höchsten Ruhm der Redekunst zusprachen,
mehr gelten als die Griechen. (Übersetz.: Anton D. Leeman)
9.1.2. Cicero, In Catilinam 1–3
1 1. Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia
nostra? quam diu etiam furor iste tuus nos eludet?
quem ad finem sese effrenata iactabit audacia?
Nihilne te nocturnum praesidium Palati, nihil urbis
vigiliae, nihil timor populi, nihil concursus bonorum
omnium, nihil hic munitissimus habendi senatus locus,
nihil horum ora voltusque moverunt? Patere tua
consilia non sentis, constrictam iam horum omnium
scientia teneri coniurationem tuam non vides? Quid
proxima, quid superiore nocte egeris, ubi fueris, quos
convocaveris, quid consili ceperis quem nostrum
ignorare arbitraris?
2. O tempora, o mores! Senatus haec intellegit, consul
videt; hic tamen vivit. Vivit? immo vero etiam in
senatum venit, fit publici consili particeps, notat et
designat oculis ad caedem unum quemque nostrum.
Nos autem fortes viri satis facere rei publicae
videmur, si istius furorem ac tela vitamus.
Ad mortem te, Catilina, duci iussu consulis iam
pridem oportebat, in te conferri pestem quam tu in nos
omnis iam diu machinaris. 3. An vero vir amplissimus,
P. Scipio, pontifex maximus, Ti. Gracchum mediocriter labefactantem statum rei publicae privatus interfecit: Catilinam orbem terrae caede atque incendiis
vastare cupientem nos consules perferemus? […].
Fuit, fuit ista quondam in hac re publica virtus ut viri
fortes acrioribus suppliciis civem perniciosum quam
acerbissimum hostem coercerent. Habemus senatus
1 (1) Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns
noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen? Erschütterte dich nicht der
nächtliche Posten auf dem Palatin, nicht die Wachen
in der Stadt, nicht die Furcht des Volkes, nicht die Zusammenkunft aller Rechtschaffenen, nicht diese fest
verwahrte Stätte der Senatssitzung, nicht die Mienen
und Blicke der Anwesenden? Spürst du nicht, dass
deine Anschläge aufgedeckt sind? Siehst du nicht,
dass die Kenntnis aller derer, die hier sind, deine Verschwörung bereits gebändigt hat? Was du in der letzten, was in der vorletzten Nacht getan, wo du dich
befunden, wen du herbeigerufen, was für einen Entschluss du gefasst hast, wer von uns, glaubst du, wüsste das nicht?
(2) Welche Zeiten, welche Sitten! Der Senat bemerkt's, der Konsul sieht's: doch dieser Mann lebt. Er
lebt? Schlimmer noch: er kommt gar in den Senat, er
nimmt teil am Staatsrat, seine Augen bezeichnen und
bestimmen einen jeden von uns für den Mord. Doch
wir mutigen Männer glauben dem Staatswohl Genüge
zu tun, wenn wir dem Wüten und den Waffen dieses
Gesellen ausweichen.
Zum Tod hätte man dich schon längst, Catilina, auf
Befehl des Konsuls abführen, auf dich das Verderben
lenken sollen, das du gegen uns alle seit langem anstiften willst. (3) Der Oberpriester P. Scipio, ein Mann
von grösstem Ansehen, hat, ohne eine Amtsgewalt zu
besitzen, Ti. Gracchus getötet, der nur mit Massen an
der Staatsverfassung zu rütteln suchte; da sollen wir,
die Konsuln, Catilina ertragen, der mordend und bren-
Survol de la littérature antique
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X
consultum in te, Catilina, vehemens et grave, non
deest rei publicae consilium neque auctoritas huius
ordinis: nos, nos, dico aperte, consules desumus.
Catilina im Senat
2 (4) Decrevit quondam senatus uti L. Opimius consul
videret ne quid res publica detrimenti caperet: nox
nulla intercessit: interfectus est propter quasdam
seditionum suspiciones C. Gracchus, clarissimo patre,
avo, maioribus, occisus est cum liberis M. Fulvius
consularis. Simili senatus consulto C. Mario et L.
Valerio consulibus est permissa res publica: num
unum diem postea L. Saturninum tribunum plebis et
C. Servilium praetorem mors ac rei publicae poena
remorata est?
At vero nos vicesimum iam diem patimur hebescere
aciem horum auctoritatis. Habemus enim eius modi
senatus consultum, verum inclusum in tabulis, tamquam in vagina reconditum, quo ex senatus consulto
confestim te interfectum esse, Catilina, convenit.
Vivis, et vivis non ad deponendam, sed ad confirmandam audaciam. Cupio, patres conscripti, me esse
clementem, cupio in tantis rei publicae periculis non
dissolutum videri, sed iam me ipse inertiae nequitiaeque condemno.
(5) […] Verum ego hoc quod iam pridem factum esse
oportuit certa de causa nondum adducor ut faciam.
Tum denique interficiere, cum iam nemo tam improbus, tam perditus, tam tui similis inveniri poterit qui id
non iure factum esse fateatur.
(6) Quam diu quisquam erit qui te defendere audeat,
vives, et vives ita ut nunc vivis, multis meis et firmis
praesidiis obsessus ne commovere te contra rem
publicam possis. Multorum te etiam oculi et aures non
sentientem, sicut adhuc fecerunt, speculabuntur atque
custodient.
3 Etenim quid est, Catilina, quod iam amplius
exspectes, si neque nox tenebris obscurare coetus
nefarios nec privata domus parietibus continere voces
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
nend die Welt zu verwüsten trachtet? […]
Es gab sie einst, es gab in unserem Staatswesen diese
Entschlossenheit; tatkrätige Männer zügelten den
schädlichen Bürger mit härteren Strafen als den bittersten Feind. Wir haben einen Senatsbeschluss wider
dich, Catilina, wirksam und scharf; dem Staat fehlt
nicht der Rat noch die Vollmacht dieser Versammlung: wir, ich gesteh es offen, wir, die Konsuln, lassen
es fehlen.
2 (4) Einst beschloss der Senat, der Konsul L. Opimius solle Sorge tragen, dass der Staat keinen Schaden leide. Keine Nacht verging: getötet war, da einiger Verdacht aufrührerischer Umtriebe bestand, C.
Gracchus, der Sohn, Enkel und Abkömmling hochberühmter Männer; erschlagen war mitsamt seinen
Kindern der ehemalige Konsul M. Fulvius. Durch
einen ähnlichen Senatsbeschluss wurde der Staat den
Konsuln C. Marius und L. Valerius überantwortet: hat
daraufhin der Tod, die Strafe des Staates, den Volkstribunen L. Saturninus und den Prätor C. Servilius
auch nur einen Tag warten lassen?
Wir indessen dulden bereits den zwanzigsten Tag,
dass die Klinge der vom Senat erteilten Vollmacht abstumpft. Denn wir haben ja einen derartigen Senatsbeschluss; er liegt jedoch verriegelt in der Kanzlei; er
steckt wie ein Schwert in der Scheide. Hiernach hättest du auf der Stelle tot sein sollen, Catilina.
Du aber lebst, und du lebst nicht, um von deiner Verwegenheit abzulassen, sondern um dich darin bestärkt
zu fühlen. Ich wünsche milde zu sein, versammelte
Väter, ich wünsche andererseits, dass es nicht heisst,
ich hätte mich in einer deratigen Notlage des Staates
unachtsam verhalten; doch nunmehr muss ich mich
selbst der Untätigkeit und Fahrlässigkeit bezichtigen.
(5) […] Doch mich veranlasste ein bestimmter Grund,
noch nicht zu tun, was schon längst hätte getan sein
sollen. Du wirst erst dann hingerichtet, wenn sich
niemand mehr ausfindig machen lässt, so schlecht, so
verworfen, so sehr dir ähnlich, dass er nicht zugäbe,
dies sei zu Recht geschehen.
(6) Solange jemand für dich einzutreten wagt, wirst du
leben, und du wirst so leben, wie du jetzt lebst: von
meinen zahlreichen und starken Mannschaften niedergehalten, so dass du keine Hand gegen den Staat zu
rühren vermagst. Vieler Augen und Ohren werden
dich, ohne dass du es merkst, wie bisher beobachten
und überwachen.
3 Denn worauf wartest du noch weiter, Catilina, wenn
nicht die Finsternis der Nacht die ruchlosen Zusammenkünfte in Dunkel hüllen noch ein Privathaus die
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coniurationis tuae potest, si inlustrantur, si erumpunt
omnia? Muta iam istam mentem, mihi crede,
obliviscere caedis atque incendiorum. Teneris
undique; luce sunt clariora nobis tua consilia omnia,
quae iam mecum licet recognoscas.
XI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
Stimmen deiner Verschwörung in seinen Wänden bergen kann, wenn alles ans Licht kommt, alles hervorbricht? Ändere nunmehr deinen Plan, hör auf mich;
entschlage dich des Mordens und Brennens. Man hat
dich überall gefasst, alle deine Anschläge sind für uns
so klar wie der Tag: du magst sie dir jetzt mit meiner
Hilfe ins Gedächtnis zurückrufen.
(Übersetzung: Anton D. Leeman)
Kopf Ciceros
9.2. Hirtius, De bello Gallico 8,7
erat autem in Caesare cum facultas atque elegantia summa scribendi, tum verissima scientia suorum consiliorum explicandorum.
Er besass nicht nur schriftstellerische Begabung und einen höchst eleganten Stil, sondern auch grösste Erfahrung
darin, seine Pläne klar darzulegen.
9.3.1. Caesar, De bello Gallico 1,1,1-7
1 (1) Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum
unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui
ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. (2) hi
omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt.
Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis
Matrona et Sequana dividit. (3) horum omnium
fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque
humanitate provinciae longissime absunt minimeque
ad eos mercatores saepe commeant atque ea, quae ad
effeminandos animos pertinent, important proximique
sunt Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum
continenter bellum gerunt. (4) qua de causa Helvetii
quoque reliquos Gallos virtute praecedunt, quod fere
cotidianis proeliis cum Germanis contendunt, cum aut
suis finibus eos prohibent aut ipsi in eorum finibus
bellum gerunt. (5) eorum una pars, quam Gallos
obtinere dictum est, initium capit a flumine Rhodano,
continetur Garunna flumine, Oceano, finibus
Belgarum, attingit etiam ab Sequanis et Helvetiis
flumen Rhenum, vergit ad septentriones. (6) Belgae ab
extremis Galliae finibus oriuntur, pertinent ad
inferiorem partem fluminis Rheni, spectant in
septentrionem et orientem solem. (7) Aquitania a
Garunna flumine ad Pyrenaeos montes et eam partem
Oceani, quae est ad Hispaniam, pertinet, spectat inter
occasum solis et septentriones.
1 (1) Das Gesamtgebiet Galliens zerfällt in drei Teile:
in dem einen leben die Belger, in einem zweiten die
Aquitaner und im dritten die Völker, die in der Landessprache Kelten heissen, bei uns jedoch Gallier. (2)
Sie unterscheiden sich alle nach Sprache, Tradition
und Recht. Der Fluss Garonne trennt das Gebiet der
Gallier von dem der Aquitaner, während die Flüsse
Marne und Seine ihr Land gegen das der Belger abgrenzen. (3) Die Belger sind von allen erwähnten
Stämmen die tapfersten, weil sie von der verfeinerten
Lebensweise und hochentwickelten Zvilisation der
römischen Provinz am weitesten entfernt sind. Denn
nur sehr selten gelangen Händler zu ihnen mit Waren,
die die Lebensweise verweichlichen können. Zudem
leben sie in unmittelbarer Nähe der Germanen, die das
Gebiet jenseits des Rheins bewohnen und sich ständig
im Kriegszustand mit den Belgern befinden. (4) Aus
demselben Grund übertreffen auch die Helvetier die
übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie fast täglich mit
den Germanen zu kämpfen haben. Denn entweder
müssen sie Einfälle der Germanen in ihr Gebiet abwehren, oder aber sie kämpfen selbst auf germanischem Gebiet. (5) Der Teil des Landes, in dem, wie
schon gesagt, die Gallier leben, beginnt an der Rhône
und wird durch die Garonne, den Ozean und das
Gebiet der Belger begrenzt. Er berührt sogar in näch-
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XII
Büste von Caesar
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
ster Nachbarschaft zum Land der Sequaner und
Helvetier den Rhein und erstreckt sich dann nach Norden. (6) Das Gebiet der Belger beginnt am äussersten
Ende Galliens und erstreckt sich bis zum Unterlauf
des Rheins. Es liegt gegen Nordosten. (7) Aquitanien
erstreckt sich von der Garonne bis zu den Pyrenäen
und zu dem Teil des Ozeans, der auch die spanische
Küste berührt. Es weist nach Nordwesten.
(Übersetzung: Anton D. Leeman)
9.3.2. Caesar, De bello Gallico 4,20–25
4,20 (1) Exigua parte aestatis reliqua Caesar, etsi in
his locis, quod omnis Gallia ad septentriones vergit,
maturae sunt hiemes, tamen in Britanniam proficisci
contendit, quod omnibus fere Gallicis bellis hostibus
nostris inde subministrata auxilia intellegebat et, (2)
si tempus anni ad bellum gerendum deficeret, tamen
magno sibi usui fore arbitrabatur, si modo insulam
adisset, genus hominum perspexisset, loca portus
aditus cognovisset. (3) quae omnia fere Gallis erant
incognita. neque enim temere praeter mercatores adit
ad illos quisquam, neque iis ipsis quicquam praeter
oram maritimam atque eas regiones, quae sunt contra
Galliam, notum est. […]
21 (1) Ad haec cognoscenda, priusquam periculum
faceret, idoneum esse arbitratus C. Volusenum cum
navi longa praemittit, (2) huic mandat uti exploratis
omnibus rebus ad se quam primum revertatur. […] (9)
Volusenus perspectis regionibus omnibus, quantum ei
facultatis dari potuit, qui navi egredi ac se barbaris
committere non auderet, quinto die ad Caesarem
revertitur, quaeque ibi perspexisset, renuntiat.
22 (1) Dum in his locis Caesar navium parandarum
causa moratur, ex magna parte Morinorum ad eum
legati venerunt, qui se de superioris temporis consilio
excusarent, quod homines barbari et nostrae consuetudinis imperiti bellum populo Romano fecissent,
seque ea quae imperasset facturos pollicerentur. (2)
hoc sibi Caesar satis opportune accidisse arbitratus,
quod neque post tergum hostem relinquere volebat
4,20 (1) Obwohl sich der Sommer dem Ende zuneigte
und der Winter in dieser Gegend sehr früh beginnt, da
Gallien in den nördlichen Breiten liegt, wollte Caesar
unbedingt nach Britannien aufbrechen, weil er immer
wieder sah, dass in fast allen gallischen Kriegen die
Feinde von dort mit Hilfstruppen unterstützt wurden.
(2) Auch wenn die Jahreszeit es nicht mehr erlaubte,
einen Krieg zu führen, glaubte er dennoch, es bringe
für ihn Vorteile mit sich, wenn er nur auf der Insel
landete, die Menschen dort genauer kennenlernte und
Informationen über die Gegend, die Häfen und die
übrigen Landungsmöglichkeiten sammelte. (3) Das
alles war den Galliern in der Regel nicht bekannt.
Ausser Handlsleuten ist niemand sonst so verwegen,
die Bewohner dieser Insel aufzusuchen, und selbst
diese kennen nur die Küste und die Gegend, die
Gallien gegenüber liegt. […]
21 (1) Er hielt es daher für angebracht, C. Volusenus
mit einem Kriegsschiff vorauszuschicken, um dies zu
erforschen, bevor er sich in irgendeine Gefahr begab.
(2) Er beauftragte ihn, alles auszukundschaften und
dann so schnell wie möglich zu ihm zurückzukehren.
[…] (9) Volusenus nahm die gesamten Gebiete in
Augenschein, so gut es einem Mann gelingen konnte,
der nicht wagte, das Schiff zu verlassen und sich
damit den Barbaren auszuliefern. Nach vier Tagen
kehrte er zu Caesar zurück und berichtete, was er dort
gesehen habe.
22 (1) Während sich Caesar in dieser Gegend aufhielt,
um die Flotte zusammenzustellen, kamen von einem
grossen Teil der Moriner Gesandte zu ihm, um sich
für die Pläne, die sie in der vergangenen Zeit verfolgt
hatten, zu entschuldigen und darzulegen, dass sie
Krieg gegen das römische Volk geführt hätten, weil
sie als barbarische Völker nicht mit unseren
Gewohnheiten vertraut gewesen seien. Sie versprachen, alle Forderungen Caesars in Zukunft zu erfüllen.
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neque belli gerendi propter anni tempus facultatem
habebat neque has tantularum rerum occupationes
Bri-tanniae anteponendas iudicabat, magnum iis
numerum obsidum imperat. […]
23 (1) His constitutis rebus nactus idoneam ad
navigandum tempestatem tertia fere vigilia naves
solvit equitesque in ulteriorem portum progredi et
naves conscendere et se sequi iussit. (2) a quibus cum
paulo tardius esset administratum, ipse hora diei
circiter quarta cum primis navibus Britanniam attigit
atque ibi in omnibus collibus expositas hostium copias
armatas conspexit. (3) cuius loci haec erat natura
atque ita montibus angustis mare continebatur, uti ex
locis superioribus in litus telum adigi posset. (4) hunc
ad egrediendum nequaquam idoneum locum
arbitratus, dum reliquae naves eo convenirent, ad
horam nonam in ancoris exspectavit. (5) interim
legatis tribunisque militum convocatis, et quae ex
Voluseno cognovisset et quae fieri vellet ostendit. […]
24 (1) At barbari consilio Romanorum cognito, praemisso equitatu et essedariis, quo plerumque genere
in proeliis uti consuerunt, reliquis copiis subsecuti
nostros navibus egredi prohibebant. (2) erat ob has
causas summa difficultas, quod naves propter magnitudinem nisi in alto constitui non poterant, militibus
autem ignotis locis, impeditis manibus, magno et gravi
onere armorum pressis simul et de navibus desiliendum et in fluctibus consistendum et cum hostibus
erat pugnandum, (3) cum illi aut ex arido aut paulum
in aquam progressi omnibus membris expeditis, notissimis locis audacter tela conicerent et equos insuefacto incitarent. (4) quibus rebus nostri perterriti
atque huius omnino generis pugnae imperiti non
eadem alacritate ac studio, quo in pedestribus uti
proeliis consuerant, utebantur.
XIII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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(2) Caesar hielt dies für ein glückliches Zusammentreffen, weil er in seinem Rücken keinen Feind zurücklassen wollte, auf Grund der Jahreszeit jedoch
auch keine Gelegenheit mehr hatte, sich kriegerisch
mit ihnen auseinanderzusetzen. Auch war er der
Ansicht, dass die Beschäftigung mit so geringfügigen
Angelegenheiten hinter dem Zug nach Britannien
zurückzustehen habe. Daher befahl er ihnen nur, eine
grosse Zahl von Geiseln zu stellen. […]
23 (1) Sobald nach Anordnung dieser Massnahmen
günstiges Wetter für die Seefahrt eintrat, liess er etwa
um die 3. Nachtwache die Schiffe ablegen. Vorher
befahl er den Reitern, in den anderen Hafen vorzurücken, sich dort an Bord zu begeben und ihm zu folgen.
(2) Während sie diesen Befehl etwas zu zögernd
ausführten, kam Caesar selbst schon etwa um die 4.
Stunde des Tages mit den ersten Schiffen an der
britannischen Küste an und stellte fest, dass dort auf
allen Anhöhen bewaffnete feindliche Truppen aufgestellt waren. (3) Dieser Ort war dergestalt beschaffen,
dass man, da die Berge sehr nahe ans Meer heranrückten, den Strand von den Höhen aus mit Wurfgeschossen erreichen konnte. (4) Da Caesar diese Stelle
als Landeplatz für völlig ungeeignet heilt, liess er
Anker werfen und wartet bis zur 9. Stunde darauf,
dass die übrigen Schiffe dort einträfen. (5) In der
Zwischenzeit versammelte er die Legaten und Militärtribunen und erklärte ihnen, was er von Volusenus
erfahren hatte und was nun geschehen sollte. […]
24 (1) Die Barbaren durchschauten jedoch den Plan
der Römer, schickten ihre Reiterei und die
Kriegswagen voraus, die sie in Kämpfen in der Regel
einzusetzen pflegten, und folgten mit den übrigen
Truppen unverzüglich nach. Sie hinderten unsere
Soldaten am Verlassen der Schiffen, (2) so dass die
Lage für uns sehr schwierig wurde, denn die Schiffe
konnten wegen ihres Ausmasses nur in grösserer Tiefe
vor Anker gehen, während unsere Soldaten das
Gelände nicht kannten und ihre Hände nicht gebrauchen konnten, weil sie mit dem Gewicht der vielen
Waffen belastet waren. Trotzdem sollten sie zugleich
von den Schiffen springen, im Wasser Halt finden und
mit den Feinden kämpfen. (3) Diese waren mit der
Gegend wohlvertraut, befanden sich im Trockenen
oder waren nur wenig ins Wasser vorgerückt, so dass
sie alle ihre Glieder frei gebrauchen konnten. Sie
schleuderten kühn ihre Wurfgeschosse und trieben
ihre Pferde an, die an diese Kampfesweise gewöhnt
waren. (4) Das alles versetzte unsere Soldaten in
Panik, und da sie in dieser Art von Kampf völlig
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25 (1) Quod ubi Caesar animadvertit, naves longas,
quarum et species erat barbaris inusitatior et motus
ad usum expeditior, paulum removeri ab onerariis
navibus et remis incitari et ad latus apertum hostium
constitui atque inde fundis, sagittis, tormentis hostes
propelli ac submoveri iussit. (2) quae res magno usui
nostris fuit. nam et navium figura et remorum motu et
inusitato genere tormentorum permoti barbari constiterunt ac paulum modo pedem rettulerunt. (3) at
nostris militibus cunctantibus maxime propter altitudinem maris, qui decimae legionis aquilam ferebat,
obtestatus deos ut ea res legioni feliciter eveniret,
'desilite' inquit 'commilitones, nisi vultis aquilam
hostibus prodere; ego certe meum rei publicae atque
imperatori officium praestitero.' (4) hoc cum voce
magna dixisset, se ex navi proiecit atque in hostes
aquilam ferre coepit. (5) tum nostri cohortati inter se,
ne tantum dedecus admitteretur, universi ex navi
desiluerunt.
XIV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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unerfahren waren, gingen sie nicht mit derselben Lebhaftigkeit und Begeisterung vor, die sie gewöhnlich
zeigten, wenn zu Fuss gekämpft wurde.
25 (1) Als Caesar dies bemerkte, liess er die leichter
zu manövrierenden Kriegsschiffe, deren Anblick dem
Feind ungewohnter war, etwas von den Lastschiffen
wegrudern, ihre Geschwindigkeit erhöhen und vor der
offenen Flanke des Feindes vor Anker gehen. Von
hier aus sollten die Soldaten die Feinde mit Schleudern, Bogen und schweren Geschützen zurücktreiben
und in die Flucht schlagen. (2) Diese Massnahme
erwies sich für uns als sehr nützlich, denn die Form
der Schiffe, die Bewegung der Ruder und die ungewohnten, schweren Geschütze beeindruckten die
Feinde so, dass sie stehenblieben und, wenn auch nur
wenig, zurückwichen. (3) Als unsere Soldaten vor allem wegen der Tiefe des Wassers immer noch zögerten, beschwor der Adlerträger der 10. Legion die
Götter, der Legion einen glücklichen Ausgang dieses
Unternehmens zu gewähren, und rief: »Springt herab,
Kameraden, wenn ihr den Adler nicht den Feinden
ausliefern wollt. Ich jedenfalls werde meine Pflicht
gegen den Staat und gegen den Feldherrn erfüllen«.
(4) Sobald er dies mit lauter Stimme gerufen hatte,
sprang er vom Schiff und trug den Adler gegen die
Feinde voran. (5) Da feuerten sich unsere Soldaten gegenseitig an, eine derartige Schande nicht zuzulassen,
und sprangen alle vom Schiff.
(Übersetzung: Anton D. Leeman)
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XV
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10. Die römische Lyrik: Horaz und Properz
10.1.1. Horaz, Saturae 1,1,1-22
5
10
15
20
Qui fit, Maecenas, ut nemo, quam sibi sortem
seu ratio dederit seu fors obiecerit, illa
contentus vivat, laudet diversa sequentis?
'o fortunati mercatores' gravis annis
miles ait, multo iam fractus membra labore;
contra mercator navim iactantibus Austris:
'militia est potior. quid enim? concurritur: horae
momento cita mors venit aut victoria laeta.'
agricolam laudat iuris legumque peritus,
sub galli cantum consultor ubi ostia pulsat;
ille, datis vadibus qui rure extractus in urbem est,
solos felicis viventis clamat in urbe.
cetera de genere hoc-adeo sunt multa-loquacem
delassare valent Fabium. ne te morer, audi,
quo rem deducam. si quis deus 'en ego' dicat
'iam faciam quod voltis: eris tu, qui modo miles,
mercator; tu, consultus modo, rusticus: hinc vos,
vos hinc mutatis discedite partibus. eia,
quid statis?' nolint. atqui licet esse beatis.
quid causae est, merito quin illis Iuppiter ambas
iratus buccas inflet neque se fore posthac
tam facilem dicat, votis ut praebeat aurem?
Horaz
Wie kommt es, Maecenas, dass keiner mit dem Los,
da ihm vernünftige Wahl gegeben oder auch der
Zufall zugeworfen hat, zufrieden lebt, vielmehr diejenigen glücklich preist, die ganz anderen Dingen
nachgehen? »O, die Kaufleute haben es gut!« seufzt
unter der Last [5] seiner Jahre der Soldat, dessen
Körperkraft durch die viele Mühsal gebrochen ist.
Dagegen der Kaufmann, wenn die Südwinde sein
Schiff hin und her werfen: »Das Kriegshandwerk ist
besser. Nicht wahr? Es kommt zum Treffen. Eine
Stunde gibt den Ausschlag: Da kommt ein rascher
Tod oder ein froher Sieg.« Den Bauern preist der
Kenner von Recht und Gesetz glücklich, [10] sobald beim Hahnenschrei der Ratsuchende an seine
Tür klopft. Jener aber, der Bürgen gestellt hat und
vom Lande in die Stadt zitiert wurde, ruft laut, nur
die Städter hätten es gut. Weitere Beispiele dieser
Art könnten — so zahlreich sind sie — den geschwätzigen Fabius zur Erschöpfung bringen. Damit ich dich nicht aufhalte, höre, [15] worauf ich
hinaus will. Wenn ein Gott sagen würde: »Bitte
schön, ich will jetzt machen, was ihr wollt: Du, eben noch Soldat, wirst ein Kaufmann sein; du, eben
noch Rechtskundiger, ein Bauer. Geht ihr von hier,
ihr von da mit vertauschten Rollen hinweg. Hei!
Was steht ihr noch?« Sie hätten keine Lust. Dabei
steht ihnen der Weg zu ihrem Glück offen. [20] Wie
sollte Iuppiter nicht mit Recht im Zorn auf sie beide
Backen aufblasen und erklären, er werde nie wieder
so entgegenkommend sein, Gebeten Gehör zu
schenken?
(Übersetzung: M. von Albrecht)
10.1.2. Horaz, Saturae 1.6,1-17. 71-99
Non quia, Maecenas, Lydorum quidquid Etruscos
(nach antiker Ansicht stammten die Etrusker aus Lydien, Kleinasien)
5
incoluit finis, nemo generosior est te,
nec quod avus tibi maternus fuit atque paternus
olim qui magnis legionibus imperitarent,
ut plerique solent, naso suspendis adunco
ignotos, ut me libertino patre natum.
cum referre negas, quali sit quisque parente
natus, dum ingenuus, persuades hoc tibi vere,
ante potestatem Tulli atque ignobile regnum
(der sechste römische König, Servius Tullius, stammte von
einer gefangenen Sklavin ab)
Von allen lydischen Siedlern, die je in ertruskischen
Landen wohnten, ist keiner von edlerer Abkunft als
du, mein Maecenas; unter die Ahnen, sowohl deiner
Mutter als auch deines Vaters, zählst du Männer,
die einstmals gewaltigen Heeren geboten haben: [5]
Doch siehst du nicht, wie die meisten, mit gerümpfter Nase herab auf Namenlose wie mich, eines Freigelassenen Sohn nur. Ist einer frei durch Geburt, sei
die Stellung des Vaters belanglos, sagst du und bist
also völlig zu Recht überzeugt, dass, schon ehe
einst aus dem Dunkel ein Tullius zu mächtiger
Herrschaft emporstieg, [10] oft genug Männer, die
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10
XVI
multos saepe viros nullis maioribus ortos
et vixisse probos amplis et honoribus auctos;
contra Laevinum, Valeri genus, unde Superbus
Tarquinius regno pulsus fugit, unius assis
(Publius Valerius Laevinus, ein adliger Lump, führte seine
Familie auf P. Valerius Poplicola zurück, der Traquinius
Superbus vertrieben und die Republik mitbegründet hatte)
15
75
80
85
90
95
non umquam pretio pluris licuisse, notante
iudice quo nosti, populo, qui stultus honores
saepe dat indignis et famae servit ineptus,
qui stupet in titulis et imaginibus.
causa fuit pater his; qui macro pauper agello
noluit in Flavi ludum me mittere, magni
quo pueri magnis e centurionibus orti
laevo suspensi loculos tabulamque lacerto
ibant octonos referentes idibus aeris,
sed puerum est ausus Romam portare docendum
artis quas doceat quivis eques atque senator
semet prognatos. vestem servosque sequentis,
in magno ut populo, siqui vidisset, avita
ex re praeberi sumptus mihi crederet illos.
ipse mihi custos incorruptissimus omnis
circum doctores aderat. quid multa? pudicum,
qui primus virtutis honos, servavit ab omni
non solum facto, verum opprobrio quoque turpi
nec timuit, sibi ne vitio quis verteret, olim
si praeco parvas aut, ut fuit ipse, coactor
mercedes sequerer; neque ego essem questus. at hoc
nunc
laus illi debetur et a me gratia maior.
nil me paeniteat sanum patris huius, eoque
non, ut magna dolo factum negat esse suo pars,
quod non ingenuos habeat clarosque parentes,
sic me defendam. longe mea discrepat istis
et vox et ratio. nam si natura iuberet
a certis annis aevum remeare peractum
atque alios legere, ad fastum quoscumque parentes
optaret sibi quisque, meis contentus honestos
fascibus et sellis nollem mihi sumere, demens
iudicio volgi, sanus fortasse tuo, quod
nollem onus haud umquam solitus portare molestum
(Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht)
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
keine Vorfahren von Rang und Bedeutung hatten,
ehrbar ihr Leben führten und hohe Würden erlangten, während Laevinus — obgleich er ein Nachkomme des Valerius war, der den Tarquinius Superbus vom Thron in die Fremde verjagt hat — deshalb niemals einen einzigen Heller mehr galt, [15]
nicht einmal beim Volk, dessen Urteil du kennst:
Dumm verleiht es oft Ehren an Leute, die es nicht
verdienen, kriecht töricht vor grossen Namen im
Staub und weidet sich staunend an Inschrift und
Ahnenbild. […]
All dies dank ich dem Vater. Sein Besitz war nur
klein, und knapp auch sein Einkommen. Trotzdem
schickte er mich nicht in die Schule des Flavius,
welche grossspurige Söhne von grossmächtigen
Hauptleuten besuchten, links am Arm beladen mit
einem Rechenkästchen und der Tafel, [75] brav ihre
acht As als Gebühr zur Monatsmitte entrichtend.
Nein, er fand Mut, seinen Jungen nach Rom in die
Schule zu geben, Künste zu lernen, wie jeder Senator und Ritter sie seinen Sprösslingen beibringen
lässt. Hätte jemand im Getriebe der Grossstadt auf
meine Kleidung geachtet und auf mein Sklavengefolge, so hätte er wohl gedacht, [80] ein altes
Erbgut erlaube mir solcherlei Aufwand. Unbestechlichster Hüter auf dem Weg zu den Lehrern war mir
der Vater höchstselbst. Wozu viele Worte? Die
Reinheit, vornehmste Zierde der Tugend, bewahrte
er nicht nur vor allem schimpflichen Tun, sondern
hielt ihr auch Verleumdung ferne [85] und hegte
keineswegs Sorge, man könnte es ihm später zum
Vorwurf machen, dass ich bescheidenem Erwerb
nachging, als Ausrufer oder, wie er, als Makler; ich
selber hätte nicht Klage geführt. Umso grösser sind
das Lob und der Dank, die ich jetzt meinem Vater
schulde. Unverstand wäre es, wenn mir solch eine
Herkunft missfiele, [90] und deshalb mag ich mich
nicht wie die meisten verteidigen, welche betonen,
ihre Schuld sei es nicht, dass sie freigeborener, berühmter Eltern entbehrten. Meine Rede und Denkart
ist von jenen bei weitem verschieden. Denn wenn
die Natur für jeden verfügte, nach bestimmten Jahren den Lebensweg neu zu durchmessen [95] und
sich andere Eltern zu suchen, so wie er sie sich nach
seinem Stolz wünscht: ich wäre mit den meinen zufrieden und wollte mir keine wählen, die in Ämtern
und Würden sind. Das schiene wohl töricht in den
Augen der Menge, in deinen vielleicht doch vernünftig, weil ich — nie daran gewöhnt — verzichte,
lästige Bürde zu tragen.
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
XVII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
10.1.3. Epod. 6
Quid inmerentis hospites vexas canis,
ignavus adversum lupos?
quin huc inanis, si potes, vertis minas
et me remorsurum petis?
nam qualis aut Molossus aut fulvos Lacon,
Was fällst du, Hund, den Wandrer an, der nichts getan,
Und vor dem Wolfe kneifst du feig?
Warum richtest du deine eitlen Drohungen nicht hierher
Und suchst mich, der ich dich widerbeiss?
Wie ein Molosser, wie ein falber Sparterhund,
(Die Molosser, ein epirotischer Volksstamm, und die
Spartaner waren bekannt für ihre Hirtenhundezucht.)
amica vis pastoribus,
agam per altas aure sublata nivis,
quaecumque praecedet fera;
tu, cum timenda voce complesti nemus,
proiectum odoraris cibum.
cave cave, namque in malos asperrimus
parata tollo cornua,
qualis Lycambae spretus infido gener
aut acer hostis Bupalo.
Des Hirtenvolkes starker Freund,
Jag ich mit hochgespitztem Ohr durch tiefen Schnee
Vor mir dahin jedwedes Wild.
Du aber erfüllst mit furchtbarem Bellen den Hain,
Bevor du dann hingeworfenem Frass nachspürst.
Nimm dich in acht! Der Schurken grimmer Feind, erheb
Ich flugs das kampfbereite Horn,
Gleich des Lykambes schnöd verschmähtem Schwiegersohn,
Gleich dem ergrimmten Feind von Bupalos.
(Lykambes wurde von Archilochos, weil er ihm seine Tochter
Neobule als Gattin verwehrte, dermassen geschmäht, dass er
sich mitsamt seiner Tochter erhängt haben soll. – Der Bildhauer Bupalos war das Opfer der Gedichte des Hipponax)
an si quis atro dente me petiverit,
inultus ut flebo puer?
Oder sollte ich, wenn ein schwarzer Zahn micht packt,
Ungerächt weinen wie ein Kind?
(Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht)
Molossische Jagdhunde
10.1.4. Carmen 1,9
Vides ut alta stet nive candidum
Soracte nec iam sustineant onus
(1) Siehst du Soractes Gipfel im tiefen Schnee
Erglänzen, siehst die Wälder die Bürde nur
(freistehender Hügel nördlich von Rom)
silvae laborantes geluque
flumina constiterint acuto.
Mit Mühe tragen und im scharfen
Froste die Fluten zu Eis gerinnen?
dissolve frigus ligna super foco
large reponens atque benignius
deprome quadrimum Sabina,
o Thaliarche, merum diota. (»Festführer«)
(2) Die Kälte banne! Schicht auf dem Herd empor
Das Brennholz! Lass vierjähriges Rebenblut
Nun reichlicher, mein Thaliarchus,
Aus dem sabinischen Kruge fliessen!
permitte divis cetera, qui simul
stravere ventos aequore fervido
deproeliantis, nec cupressi
nec veteres agitantur orni.
(3) Das andre stell den Göttern anheim: Wenn sie
Dem Sturm gebieten, der in des Meeres Gebraus
Sich austobt, regen die Zypressen,
Regen sich nimmer die alten Eschen.
Survol de la littérature antique
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XVIII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
quid sit futurum cras, fuge quaerere, et
quem Fors dierum cumque dabit, lucro
adpone, nec dulcis amores
sperne puer neque tu choreas,
(4) Was morgen sein wird, meide zu fragen! Sieh
In jedem Tage, den das Geschick dir schenkt,
Gewinn! Verschmäh auch, Jüngling, nicht die
Wonnen der Liebe und nicht das Tanzen,
donec virenti canities abest
morosa. nunc et campus et areae
lenesque sub noctem susurri
conposita repetantur hora,
(5) Solang die Knie frisch und das Alter fern,
Das grämliche! Jetzt sollst du zu Spiel und Kampf
Und um die festgesetzte Stunde
Abends zu süssem Geflüster eilen!
nunc et latentis proditor intumo
gratus puellae risus ab angulo
pignusque dereptum lacertis
aut digito male pertinaci.
(6) Wenn aus dem Winkel holdes Gelächter dann
Verrät, wo sich dein Mädchen verborgen hält,
So raub ein Pfand von ihrem Arme,
Oder vom Finger: Er sträubt sich wenig.
(Übersetzung: M. von Albrecht)
10.1.5. Carmen 3,30
Exegi monumentum aere perennius
regalique situ pyramidum altius,
quod non imber edax, non aquilo impotens
possit diruere aut innumerabilis
Also schuf ich ein Mal dauernder noch als Erz,
majestätischer als der Pyramiden Bau,
das kein Regen zernagt, rasenden Nordwindes Wut
nicht zu stürzen vermag, noch der Jahrhunderte
annorum series et fuga temporum.
non omnis moriar multaque pars mei
vitabit Libitinam: usque ego postera
crescam laude recens, dum Capitolium
unzählbare Reihen oder der Zeiten Flucht.
Nein, ich sterbe nicht ganz, über das Grab hinaus
bleibt mein edleres Ich; und in der Nachwelt noch
wächst mein Name, so lang, als mit der schweigenden
scandet cum tacita virgine pontifex:
dicar, qua violens obstrepit Aufidus
et qua pauper aquae Daunus agrestium
regnavit populorum, ex humili potens
Jungfrau (= Vestalin) zum Kapitol wandelt der Pontifex.
Dereinst wird man sagen, wo der Aufidus wild braust
und wo, an Quellen arm, einst Daunus das ländliche
Volk beherrscht, habe ich mich erhoben vom Staub,
(Aufidus: grösster Fluss Apuliens —> Adria; Daunus: sagenhafter
süditalischer König, Vater von Turnus, des Rivalen von Aeneas)
princeps Aeolium carmen ad Italos
deduxisse modos. sume superbiam
quaesitam meritis et mihi Delphica
lauro cinge volens, Melpomene, comam.
der ich als erster Roms Liedern äolische
Klänge verlieh. Nimm den erhabenen Preis,
den mein Wirken verdient, winde, Melpomene, huldreich mir um das Haupt delphischen Lorbeerzweig!
(Übersetzungsgrundlage: M. von Albrecht)
(Melpomene: Muse der lyrischen Dichtung = «Singende»)
Melpomene
Sappho und Alkaios
Survol de la littérature antique
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XIX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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10.1.6. Ars poetica 263–74. 361–65
265
270
361
365
non quivis videt inmodulata poemata iudex
et data Romanis venia est indigna poetis.
idcircone vager scribamque licenter? an omnis
visuros peccata putem mea, tutus et intra
spem veniae cautus? vitavi denique culpam,
non laudem merui. vos exemplaria Graeca
nocturna versate manu, versate diurna.
at vestri proavi Plautinos et numeros et
laudavere sales, nimium patienter utrumque,
ne dicam stulte, mirati, si modo ego et vos
scimus inurbanum lepido seponere dicto
legitimumque sonum digitis callemus et aure.
[…]
ut pictura poesis: erit quae, si propius stes,
te capiat magis, et quaedam, si longius abstes;
haec amat obscurum, volet haec sub luce videri,
iudicis argutum quae non formidat acumen;
haec placuit semel, haec deciens repetita placebit.
Nicht jeder Richter durchschaut eine schlecht komponierte Dichtung, und römischen Dichtern gewährte man unwürdige Nachsicht. Lass ich deshalb mich
gehen und schreibe nach Willkür? Oder soll ich
glauben, [265] dass alle meine Fehler erkennen, und
nur darauf achten, ja nicht die Grenze zu überschreiten, in der ich noch Nachsicht erhoffen kann?
Dann habe ich Tadel vermieden, aber nicht Lob mir
verdient. Rollt nur die griechischen Muster auf mit
fleissiger Hand bei Nacht und bei Tage! Doch eure
Urgrossväter lobten die Rhythmen des Plautus
[270] und seine Witze, bewunderten beides allzu
geduldig — um nicht zu sagen: einfältig —, wofern
wir, ich und ihr, zwischen geschmacklosem Witz
und spritzigem zu unterscheiden verstehen und den
vorschriftsmässigen Klang mit Fingern und Ohr beherrschen. […]
Eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche,
die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und
solche, wenn du weiter entfernt stehst; dieses liebt
das Dunkel, dies will bei Lichte beschaut sein und
fürchtet nicht den Scharfsinn des Richters; dieses
hat einmal gefallen, doch dieses wird, noch zehnmal betrachtet, gefallen.
(Übersetzung: M. von Albrecht)
Illustration von Yngve Berg
zu Goethes IV. Elegie
Survol de la littérature antique
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XX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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10.2.1. Sextus Propertius, Elegie 1,1
5
10
Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis,
contactum nullis ante cupidinibus.
tum mihi constantis deiecit lumina fastus
et caput impositis pressit Amor pedibus,
donec me docuit castas odisse puellas
improbus, et nullo vivere consilio.
ei mihi, iam toto furor hic non deficit anno,
cum tamen adversos cogor habere deos.
Milanion nullos fugiendo, Tulle, labores
saevitiam durae contudit Iasidos.
(Milanion liebte die wilde, männerverachtende Jägerin Atalante, Tochter des Iasos; Tullus: Freund und Adressat der Gedichte)
nam modo Partheniis amens errabat in antris,
(arkadisches Gebirge)
rursus in hirsutas ibat et ille feras;
ille etiam Hylaei percussus vulnere rami
(Kentaur, Rivale des Milanion)
15
20
saucius Arcadiis rupibus ingemuit.
ergo velocem potuit domuisse puellam:
tantum in amore fides et benefacta valent.
in me tardus Amor non ullas cogitat artes,
nec meminit notas, ut prius, ire vias.
at vos, deductae quibus est pellacia lunae
et labor in magicis sacra piare focis,
en agedum dominae mentem convertite nostrae,
et facite illa meo palleat ore magis!
tunc ego crediderim Manes et sidera vobis
posse Cytinaeis ducere carminibus.
(Cytae: Stadt in der Heimat der mythischen Zauberin Medea)
25
30
35
aut vos, qui sero lapsum revocatis, amici,
quaerite non sani pectoris auxilia.
fortiter et ferrum saevos patiemur et ignes,
sit modo libertas quae velit ira loqui.
ferte per extremas gentes et ferte per undas,
qua non ulla meum femina norit iter.
vos remanete, quibus facili deus annuit aure,
sitis et in tuto semper amore pares.
nam me nostra Venus noctes exercet amaras,
et nullo vacuus tempore defit Amor.
hoc, moneo, vitate malum: sua quemque moretur
cura, neque assueto mutet amore torum.
quod si quis monitis tardas adverterit aures,
heu referet quanto verba dolore mea!
Cynthia war's, die zuerst mich Armen gepackt mit
den Äuglein, / Mich, der nimmer zuvor war von Begierden berührt. / Da hat zu Boden den Blick des
beharrlichen Stolzes geschlagen / Amor und mich
bedrängt, auf mein Haupt die Füsse gesetzt, (5) bis
er mich gelehrt, die züchtigen Mädchen zu hassen, /
der Böse, und zu leben hinfort ohne Plan. / Und
schon hat mich die Wut dieses Jahr hindurch nicht
verlassen, / obwohl das Geschick mir feindliche
Götter schafft. / Milanion scheute keine Mühe, o
Tullus, um (10) die Grausamkeit der Iasos-Tochter
zu besiegen. / Denn sinnlos bald irrte er umher in
Parthenius' Grotten, / er wagte es, dem borstigen
Wild mutig zu zeigen den Blick, / niedergeschmettert auch einst von Hylaeus' mächtiger
Keule, / lag er verwundet und stöhnte auf dem arkadischen Fels. (15) Schliesslich gelang es ihm, das
flüchtige Mädchen zu bezwingen: / Bitten und
Wohltat sind in der Liebe äusserst hilfreich. / In mir
hat Amor, langsam und träge, keinerlei Kunst noch
ersonnen / und hat die Wege, die er vorher noch
gekannt, vergessen. / Drum ihr, die ihr den Mond
vom Himmel mit täuschender Kunst zieht, (20) und
auf magischem Herd Opfer zu weihen versteht, /
auf denn, wendet mir jetzt das Gemüt meiner
Geliebten zu / und erwirkt, dass ihr Antlitz noch
mehr erbleicht als das meinige. / Dann, dann glaube
ich euch gern, dass ihr Gestirne und Ströme / mit
kytaiischem Lied nach Gefallen herbeilockt. (25)
Und ihr, liebe Freunde, die ihr den Gefallenen zu
spät zur Pflicht ruft, / sucht rettenden Beistand für
die leidende Brust! / Mutig will ich Stahl, will Qualen des Feuers erdulden, / steht mir nur frei zu
reden, was der Zorn mir eingibt. / Führt mich weg
durch entfernt wohnende Völker, durch die Wogen
des Meeres, (30) dass keine Frau den Weg finde, den
ich nahm. / Ihr aber bleibt, die freundlichen Ohres
der Gott zunickend erhört, / möget ihr verharren in
verlässlicher Liebe! / Mich quält unsere Venus mit
bitteren Nächten der Trübsal, / rastlos übt sich an
mir Amor zu jeglicher Zeit. (35) Meidet mir dieses
Geschick und haltet nur stets an der alten / Treue,
nicht soll der Gunst traute Gewohnheit den Ort
ändern. / Denn wer solcherlei Rat zu spät ein folgsames Ohr leiht, / ach! mit welchen Schmerzen
wird er einst meine Worte zurückrufen!
(Übersetzung nach M. von Albrecht)
Survol de la littérature antique
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XXI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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10.2.2. Elegie 1,3
Qualis Thesea iacuit cedente carina
languida desertis Cnosia litoribus;
(Gnossierin: Ariadne, Tochter von Minos)
qualis et accubuit primo Cepheia somno
libera iam duris cotibus Andromede;
(Cepheus: König von Äthiopien; Andromeda: war an einen
Felsen gefesselt, um einem Seeungeheuer vorgeworfen zu
werden; sie wurde von Perseus befreit)
5
nec minus assiduis Edonis fessa choreis
qualis in herboso concidit Apidano:
(Edonis: Thrakerin = Bacchantin; Apidanus: Fluss in Thessalien)
10
talis visa mihi mollem spirare quietem
Cynthia consertis nixa caput manibus,
ebria cum multo traherem vestigia Baccho,
et quaterent sera nocte facem pueri.
hanc ego, nondum etiam sensus deperditus omnis,
molliter impresso conor adire toro;
et quamvis duplici correptum ardore iuberent
hac Amor hac Liber, durus uterque deus,
(Liber: italischer Fruchtbarkeitsgott —> Bacchus —> Wein)
15
20
subiecto leviter positam temptare lacerto
osculaque admota sumere tarda manu,
non tamen ausus eram dominae turbare quietem,
expertae metuens iurgia saevitiae;
sed sic intentis haerebam fixus ocellis,
Argus ut ignotis cornibus Inachidos.
(Argus: hundertäugiger Wächter, bewacht die Inachustochter Io, die in eine Kuh verwandelte Geliebte des Zeus)
et modo solvebam nostra de fronte corollas
ponebamque tuis, Cynthia, temporibus;
et modo gaudebam lapsos formare capillos;
nunc furtiva cavis poma dabam manibus:
(Liebessymbol, Mythos des Göttinnenstreits —> Parisurteil)
25
30
35
40
omnia quae ingrato largibar munera somno,
munera de prono saepe voluta sinu;
et quotiens raro duxti suspiria motu,
obstupui vano credulus auspicio,
ne qua tibi insolitos portarent visa timores,
neve quis invitam cogeret esse suam:
donec diversas praecurrens luna fenestras,
luna moraturis sedula luminibus,
compositos levibus radiis patefecit ocellos.
sic ait in molli fixa toro cubitum:
'tandem te nostro referens iniuria lecto
alterius clausis expulit e foribus?
namque ubi longa meae consumpsti tempora noctis,
languidus exactis, ei mihi, sideribus?
o utinam talis perducas, improbe, noctes,
me miseram qualis semper habere iubes!
nam modo purpureo fallebam stamine somnum,
rursus et Orpheae carmine, fessa, lyrae;
interdum leviter mecum deserta querebar
externo longas saepe in amore moras:
So wie die Gnossierin einst hinschmachtend am
einsamen Ufer / lag, als Theseus' Schiff schon den
Gestaden entwich; / wie die Tochter des Cepheus
wohl zuerst sank in die Arme des Schlafs, / Andromeda, als sie von der rauhen Klippe befreit war; (5)
wie die Edonerin auch vom unablässigen Chortanz /
endlich ermüdet entschlief im Gras des Apidanus; /
also schien auch Cynthia mir sanft Ruhe zu atmen, /
wie sie ihr schlummerndes Haupt stützte auf den /
schwankenden Arm; / als ich mit schleppendem
Schritt vom reichlichen Bacchus berauscht kam, (10)
spät noch bei Nacht die Fackeln schwenkte der Diener Geleit. / Noch nicht ganz der Besinnung beraubt, wagte ich mich / dem Lager zu nahen, das
sanft schwoll um die schöne Gestalt. / Doch wiewohl ich vom doppelten Brand im Innern erglühend
— / Amor und Liber gebot; mächtige Herrscher fürwahr! — (15) leicht die Ruhende mit zärtlichen
Armen umfassen wollte, / die Hand ihr nahte, um
Küsse und Kampf zu nehmen, / wagte ich es dennoch nicht, der Herrin Ruhe zu stören, / aus Angst
vor dem schmähenden Zorn, den ich öfters
schmerzlich empfand. / Doch ich hing an ihr, die
Augen starr auf sie gerichtet, (20) ganz wie Argus
einst, nichts ahnend, am Horn der Io. / Jetzt löste
ich von meiner Stirn die Kränze / und wand sie dir,
Cynthia, um dein lockiges Haupt. / Bald dann freute
ich mich, dir die gelösten Locken zu ringeln, / bald
legte ich dir Äpfel geheim in die Höhlung der Hand.
(25) Ich überhäufte den unempfindlichen Schlaf mit
allerlei Geschenken, / doch von der schwellenden
Brust rollten sie wieder herab. / Und sooft dir ein
Seufzer mit leiser Bewegung entfloh, / erschrak ich,
töricht, über den nichtigen Laut, / ob nicht vielleicht
ein böser Traum dir Schrecken erregte, (30) ob nicht
vielleicht ein anderer dich gegen deinen Willen sich
zu eigen machte. / Siehe, da blickte der Mond durch
das Fenster — / neidischer Mond, warum hast du
nicht länger zugewartet? — / und sein flüchtiger
Glanz öffnet die schlummernden Augen; / also
sprach sie, gestützt auf den schwellenden Pfühl: (35)
»Hat dich endlich der anderen Stolz mir wieder
gegeben, / die dich höhnend vertrieb und dir die Türe verschloss? / Denn wo hast du den Grossteil der
Nacht verbracht, die doch mir gehört, / ermattet
nun? Ach! sieh, schon verbleichen die Gestirne. /
Mögest du, Schurke, die Nacht so verbringen, / wie
du sie mir zumutest, mir armen. (40) Denn bald
wollte ich durch Arbeit am purpurnen Webstuhl den
Schlaf / überwinden, bald mit Gesang zur orphi-
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
45
dum me iucundis lassam Sopor impulit alis.
illa fuit lacrimis ultima cura meis.'
XXII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
schen Leier, müde wie ich war. / Bald dann klagte
ich leise bei mir, allein und verlassen, / wie oft du
bei einer anderen Geliebten so lange verweiltest, /
bis mich der Schlaft umfing, erschöpft wie ich war,
mit seinen schmeichelnden Flügeln. (45) Dies war
die letzte Klage, die weinend ich sprach.«
(Übersetzung nach M. von Albrecht)
Goethe, Der Besuch
Meine Liebste wollt ich heut' beschleichen,
Aber ihre Türe war verschlossen.
"Hab' ich doch den Schlüssel in der Tasche!
Öffn' ich leise die geliebte Türe!"
Auf dem Saale fand ich nicht das Mädchen,
Fand das Mädchen nicht in ihrer Stube.
Endlich, da ich leis' die Kammer öffne,
Find ich sie, gar zierlich eingeschlafen,
Angekleidet, auf dem Sofa liegen.
Bei der Arbeit war sie eingeschlafen;
Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte
Zwischen den gefaltnen zarten Händen;
Und ich setzte mich an ihre Seite,
Ging bei mir zu Rat, ob ich sie weckte.
Da betrachtet' ich den schönen Frieden,
Der auf ihren Augenlidern ruhte:
Auf den Lippen war die stille Treue,
Auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause,
Und die Unschuld eines guten Herzens
Regte sich im Busen hin und wieder.
Jedes ihrer Glieder lag gefällig,
Aufgelöst vom süßen Götterbalsam.
Freudig saß ich da, und die Betrachtung
Hielte die Begierde, sie zu wecken,
Mit geheimen Banden fest und fester.
"O du Liebe," dacht' ich, "kann der Schlummer,
Der Verräter jedes falschen Zuges,
Kann er dir nicht schaden, nichts entdecken,
Was des Freundes zarte Meinung störte?
"Deine holden Augen sind geschlossen,
Die mich offen schon allein bezaubern;
Es bewegen deine süßen Lippen
Weder sich zur Rede noch zum Kusse;
Aufgelöst sind diese Zauberbande
Deiner Arme, die mich sonst umschlingen,
Und die Hand, die reizende Gefährtin
Süßer Schmeicheleien, unbeweglich.
"Wär's ein Irrtum, wie ich von dir denke,
Wär es Selbstbetrug, wie ich dich liebe,
Müßt' ich's jetzt entdecken, da sich Amor
Ohne Binde neben mich gestellet."
Lange saß ich so und freute herzlich
Ihres Wertes mich und meiner Liebe;
Schlafend hatte sie mir so gefallen,
Daß ich mich nicht traute, sie zu wecken.
Leise leg' ich ihr zwei Pomeranzen
Und zwei Rosen auf das Tischchen nieder;
Sachte, sachte schleich' ich meiner Wege.
"Öffnet sie die Augen, meine Gute,
Gleich erblickt sie diese bunte Gabe,
Staunt, wie immer bei verschloßnen Türen
Dieses freundliche Geschenk sich finde.
"Seh' ich diese Nacht den Engel wieder,
O, wie freut sie sich, vergilt mir doppelt
Dieses Opfer meiner zarten Liebe!"
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
XXIII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
11. Das römische Epos: Vergil und Ovid
11.1.1. Vergil, Aeneis 1,1-33
5
10
15
20
25
30
Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Laviniaque venit
litora, multum ille et terris iactatus et alto
vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram,
multa quoque et bello passus, dum conderet urbem
inferretque deos Latio; genus unde Latinum
Albanique patres atque altae moenia Romae.
Musa, mihi causas memora, quo numine laeso
quidve dolens regina deum tot voluere casus
insignem pietate virum, tot adire labores
impulerit. tantaene animis caelestibus irae?
Urbs antiqua fuit (Tyrii tenuere coloni)
Karthago, Italiam contra Tiberinaque longe
ostia, dives opum studiisque asperrima belli,
quam Iuno fertur terris magis omnibus unam
posthabita coluisse Samo. hic illius arma,
hic currus fuit; hoc regnum dea gentibus esse,
si qua fata sinant, iam tum tenditque fovetque.
progeniem sed enim Troiano a sanguine duci
audierat Tyrias olim quae verteret arces;
hinc populum late regem belloque superbum
venturum excidio Libyae; sic voluere Parcas.
id metuens veterisque memor Saturnia belli,
prima quod ad Troiam pro caris gesserat Argisnecdum etiam causae irarum saevique dolores
exciderant animo; manet alta mente repostum
iudicium Paridis spretaeque iniuria formae
et genus invisum et rapti Ganymedis honores:
his accensa super iactatos aequore toto
Troas, reliquias Danaum atque immitis Achilli,
arcebat longe Latio, multosque per annos
errabant acti fatis maria omnia circum.
tantae molis erat Romanam condere gentem.
Waffen besinge ich und ihn, der zuerst vor Troias
Gestaden / durch das Geschick landflüchtig Italien
und der Laviner / Küsten erreicht; den lange durch
Meer und Länder umhertrieb / Göttergewalt, wegen des dauernden Grolls der erbitterten Iuno. (5)
Vieles erduldete er auch im Krieg, bis er die Stadt
gegründet / und die Penaten nach Latium gebracht
hatte; von dort stammt das Volk der Latiner, /
Albas Väter, und Roms hochragende Mauern. /
Sag mir an, o Muse, weshalb, verletzt in der Gottheit / oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen
Fürstin den frömmsten (10) Mann so viel Drangsal
bestehen und Mühen erdulden / liess. Ist wirklich
der Zorn so gross in den himmlischen Seelen? /
Fern gegenüber Italiens Strand und der Mündung des Tiber / lag vor Alters die Stadt / Karthago — tyrische Kolonisten / wohnten daselbst — an
Besitztum reich und geübt in des Krieges rauhem
Geschäft. (15) Sie erkor, so sagt man, Iuno vor allen / Ländern, vor Samos selbst, sich zum Sitz. Hier
hatte sie die Waffen, / hier den Wagen; die Herrschaft der Welt, wenn das Schicksal es wollte, /
hier zu begründen, war damals schon ihr heisses
Verlangen. / Aber sie hatte vernommen, dass ein
Stamm aus troischem Blute (20) spross, bestimmt,
dereinst zu zerstören die tyrische Stadtburg. / Von
ihm werde ein Geschlecht, weit herrschend und
stolz in den Waffen, / kommen, dem Libyerland
zum Verderben: so spännen die Parzen. / Dieses
befürchtend und stets sich erinnernd des früheren
Krieges, / den sie zuerst bei Troia für das teuere
Argos geführt hatte — (25) denn noch waren die
Gründe des Zorns und die grimmigen Schmerzen /
nicht aus dem Geist gelöscht; sie bewahrt im tiefen
Gemüte / das Urteil des Paris und der Schönheit
schnöde Verachtung, / all das verhasste Geschlecht,
Ganymedes' Raub und Erhebung: / Darum entbrannt jagt jetzt Saturnia über die Tiefen, (30) was
von Troern den Griechen entging und dem grimmen Achilles, / und wehrte sie weit von Latium
ab; mehrere Jahre lang / irrten sie, verfolgt vom
Geschick, ringsum durch alle Meere. / Solch mühseliges Geschäft war die Stiftung des Römergeschlechts.
(Übersetzung nach M. von Albrecht)
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XXIV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
11.1.2. Vergil, Aeneis 1,227-296
230
235
240
245
250
atque illum (= Iovem) talis iactantem pectore curas
tristior et lacrimis oculos suffusa nitentis
adloquitur Venus: 'o qui res hominumque deumque
aeternis regis imperiis et fulmine terres,
quid meus Aeneas in te committere tantum,
quid Troes potuere, quibus tot funera passis
cunctus ob Italiam terrarum clauditur orbis?
certe hinc Romanos olim volventibus annis,
hinc fore ductores, revocato a sanguine Teucri,
qui mare, qui terras omnis dicione tenerent,
pollicitus - quae te, genitor, sententia vertit?
hoc equidem occasum Troiae tristisque ruinas
solabar fatis contraria fata rependens;
nunc eadem fortuna viros tot casibus actos
insequitur. quem das finem, rex magne, laborum?
Antenor potuit mediis elapsus Achivis
Illyricos penetrare sinus atque intima tutus
regna Liburnorum et fontem superare Timavi,
unde per ora novem vasto cum murmure montis
it mare proruptum et pelago premit arva sonanti.
hic tamen ille urbem Pataui sedesque locavit
Teucrorum et genti nomen dedit armaque fixit
Troia, nunc placida compostus pace quiescit:
nos, tua progenies, caeli quibus adnuis arcem,
navibus (infandum!) amissis unius ob iram
prodimur atque Italis longe disiungimur oris.
hic pietatis honos? sic nos in sceptra reponis?'
Enée blessé
255
260
Olli subridens hominum sator atque deorum
vultu, quo caelum tempestatesque serenat,
oscula libavit natae, dehinc talia fatur:
'parce metu, Cytherea, manent immota tuorum
fata tibi; cernes urbem et promissa Lavini
moenia, sublimemque feres ad sidera caeli
magnanimum Aenean; neque me sententia vertit.
hic tibi (fabor enim, quando haec te cura remordet,
longius et volvens fatorum arcana movebo)
bellum ingens geret Italia populosque ferocis
contundet moresque viris et moenia ponet,
Da Jupiter nun in der Brust solcherlei Sorgen
bewegte, / nahet bekümmert, den strahlenden Blick
mit Tränen umgossen, / Venus und redet ihn an:
»O du, der du die Angelegenheiten der Menschen
und Götter (230) mit ewigem Gebote lenkst und sie
mit dem Blitze schreckst, / was hat mein Aeneas
an dir so Grosses verschuldet, / was die Troer, für
die, nachdem sie schon so viele Tote betrauert, /
der gesamte Erdkreis Italiens wegen verschlossen
bleibt? / Und doch sollten von hier die Römer
einst mit kreisenden Jahren, (235) sollten die Feldherrn kommen, von Teukros' wiedererwecktem
Stamm, / die das Meer und alle Länder fest hielten
im Gehorsam / — so versprachst du. Was hat dir
den Sinn, o Erzeuger, geändert? Dadurch tröstete
ich mich ob Troias Fall und der schmerzlichen
Trümmer, / indem ich Geschick mit Geschick
wog; (240) aber dasselbe Schicksal verfolgt auch
jetzt die durch so viel Nöte getriebenen Männer.
Wann machst du den Mühen, o erhabener König,
ein Ende? / Konnte doch, mitten entschlüpft durch
das Heer der Achiver, Antenor / /in die illyrische
Bucht eindringen und bei dem versteckten / Reich
der Liburner vorbei und Timavus' Quellen gelangen, (245) der mit lautem Getöse des Bergs sich
jäh in das Meer stürzt, / durch neun Mündungen
und das Gefilde mit rauschender Flut deckt! / Und
hier baute er die Stadt Patavium, gründete Sitze
hier / für die Teukrer, benannte das Volk und hing
die trojanischen / Waffen auf, er, der jetzt ausruht,
in Frieden bestattet. (250) Wir, dein Geschlecht,
dem du selbst die Himmelshöhe gewährtest, /
werden, o Schmach, nach der Schiffe Verlust um
einer einzigen Zorn / verraten und weit von den
italischen Küsten verschlagen. / Soll das der Lohn
für unsere Frömmigkeit sein? Verleihst du so uns
das Szepter? / Und mild lächelt sie an der Erzeuger der Menschen und Götter (255) mit einem
Blick, der Himmel und Wetter erheitert. /
Sanft dann küsste er die Tochter auf den Mund
und sprach: »Lass von der Furcht, Cytherea, unwandelbar bleibt der Deinen / Schicksal; du wirst
noch die Stadt Laviniums und die verheissenen /
Mauern sehen. Du trägst empor zu den Sternen des
Himmels (260) den erhabenen Aeneas; mein Sinn
hat sich nicht geändert. / Er — ich will es gestehn,
da dich solche Sorge plagt, ja, ich will das verhüllte Geschick noch weiter entrollen — / wird
noch gewaltige Kriege führen in Italien und wilde
Völker / bändigen, Gesetze geben den Männern
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265
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XXV
tertia dum Latio regnantem viderit aestas
ternaque transierint Rutulis hiberna subactis.
at puer Ascanius, cui nunc cognomen Iulo
additur (Ilus erat, dum res stetit Ilia regno),
triginta magnos volvendis mensibus orbis
imperio explebit, regnumque ab sede Lavini
transferet, et Longam multa vi muniet Albam.
hic iam ter centum totos regnabitur annos
gente sub Hectorea, donec regina sacerdos
Marte gravis geminam partu dabit Ilia prolem.
inde lupae fulvo nutricis tegmine laetus
Romulus excipiet gentem et Mavortia condet
moenia Romanosque suo de nomine dicet.
his ego nec metas rerum nec tempora pono:
imperium sine fine dedi. quin aspera Iuno,
quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat,
consilia in melius referet, mecumque fovebit
Romanos, rerum dominos gentemque togatam.
sic placitum. veniet lustris labentibus aetas
cum domus Assaraci Pthiam clarasque Mycenas
servitio premet ac victis dominabitur Argis.
nascetur pulchra Troianus origine Caesar,
imperium Oceano, famam qui terminet astris,
Iulius, a magno demissum nomen Iulo.
hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum
accipies secura; vocabitur hic quoque votis.
aspera tum positis mitescent saecula bellis:
cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus
iura dabunt; dirae ferro et compagibus artis
claudentur Belli portae; Furor impius intus
saeva sedens super arma et centum vinctus aënis
post tergum nodis fremet horridus ore cruento.'
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
und schützende Mauern errichten, (265) bis ihn in
Latium drei Sommer als König gesehen haben, /
dreimal ins Winterlager zogen die gebändigten
Rutuler. / Aber der Knabe Ascanius, der den Beinamen Iulus / erhält — Ilus war er, solange das
Reich von Ilium blühte, — / wird dreissig Jahre
lange der Monde / Kreislauf (270) mit Herrschergewalt füllen, sein Reich von Laviniums Sitz /
weiter verlegen, und Alba Longa mit grosser
Macht befestigen. / Drei Jahrhunderte lang wird
die Herrschaft ununterbrochen andauern / unter
des Hektor Geschlecht, bis die fürstliche Priesterin
endlich, / Ilia, schwanger von Mars, ein Zwillingspaar auf die Welt bringt. (275) Von da führt
glückverheissend im rotbraunen Fell der Wölfin /
Romulus den Stamm weiter. Er wird die Mavortischen Mauern / gründen und die Römer nach
dem eigenen Namen heissen. / Diesen bestimme
ich kein Ziel ihrer Taten und keine Zeiten: Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen verliehen. Selbst
Juno, die harte, (280) welche durch Meer und Land
und Himmel Entsetzen verbreitet, wird zu besserem Rat gelangen, und zusammen mit mir die
Römer / unterstützen, die Beherrscher der Welt
und das Volk, das die Toga trägt. / So ist es beschlossen. Einst wird im Laufe der Jahrhunderte
die Zeit kommen, / da Assaracus' Haus Phthias
und das erlauchte Mykene (285) unter das Joch
beugt und als Herr dem geknechteten Argos
gebietet. Dann sprosst auf aus dem schönen Geschlecht der troianische Caesar, / dessen Gebot bis
zum Ozean, dessen Ruhm zum Himmel reicht, /
Iulius: sein Name entstammt vom grossen Iulus. /
Ihn wirst du einst, beschwert mit den Trophäen
des Ostens, im Himmel (290) fröhlich empfangen.
Auch er wird mit Gelübden angerufen werden. /
Dann, von den Kriegen erlöst, wird das rauhe
Zeitalter sanfter: / die ehrwürdige Fides (Treue) und
Vesta (Göttin des Herdes), Quirin (der zum Gott erhobene
Romulus) zusammen mit seinem Bruder Remus /
geben die Gesetze; mit Stahl und klemmenden
Riegeln / bleiben die Tore des Kriegs geschlossen;
drin sitzt die verruchte / Wut grimmig auf den
Waffen und, mit ehernen Knoten / hinter dem Rücken gebunden, schnaubt das Scheusal mit blutigem Schlund.«
(Übersetzung nach M. von Albrecht)
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XXVI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
11.1.3. Vergil, Aeneis 1,736–756
740
745
750
755
dixit et in mensam laticum libavit honorem
primaque, libato, summo tenus attigit ore;
tum Bitiae dedit increpitans; ille impiger hausit
spumantem pateram et pleno se proluit auro;
post alii proceres. cithara crinitus Iopas
personat aurata, docuit quem maximus Atlas.
hic canit errantem lunam solisque labores,
unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes,
Arcturum pluviasque Hyadas geminosque Triones,
quid tantum Oceano properent se tingere soles
hiberni, vel quae tardis mora noctibus obstet;
ingeminant plausu Tyrii, Troesque sequuntur.
nec non et vario noctem sermone trahebat
infelix Dido longumque bibebat amorem,
multa super Priamo rogitans, super Hectore multa;
nunc quibus Aurorae venisset filius armis,
nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles.
'immo age et a prima dic, hospes, origine nobis
insidias' inquit 'Danaum casusque tuorum
erroresque tuos; nam te iam septima portat
omnibus errantem terris et fluctibus aestas.'
Sagt es und feuchtet den Tisch mit des Weinstocks
heiliger Spende, / kostet als erste den Trank, netzt
kaum nur eben die Lippe, / reicht ihn mit fröhlichem Wort dem Bibias. Dieser, nicht träge, /
schlürfte aus dem goldenen Rund in vollen Zügen
die Schaumflut. (740) Andere tun es ihm nach. Zur
goldenen Zither hebt Iopas, / der lockige, an, was
ihn der mächtige Atlas gelehrt hat. / Er singt vom
Wechsel des Monds, von den Mühen der wandernden Sonne, / woher der Menschen Geschlecht und
das Kleinvieh, woher Regen und Blitz, / und Arcturus und Regengestirn und die beiden Trionen,
(240) singt, warum mit dem Herbst in den Ozean
früher das Tageslicht niedertaucht, / und was die
verspäteten Nächte zurückhält. / Beifall klatscht
das Tyrervolk, ihm folgen die Troer. / Derweil
verbringt die Nacht mit vielen Gesprächen / die
unglückselige Dido, sie trinkt in langen Zügen die
Liebe, (750) will von Priamus viel, will viel von
Hektor vernehmen. / Fragt nach Aurorens Sohn
und dem Harnisch, den er getragen, / forscht nach
dem Wagengespann Diomedes, dem Wuchs des
Achilles. / »Wahrlich«, so bittet sie, »Gast, heb an
vom ersten Beginn, / nenne der Danaer List, erzähl
der Deinen Verhängnis und (755) dein eigenes Verschulden. Schon ist's der siebte Sommer, / der dich
im Erdenrund umtreibt durch Länder und Meere.«
(Übersetzung nach R.A. Schröder)
5
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XXVII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
11.1.4. Vergil, Aeneis 4,642–705
645
650
655
660
665
670
675
680
685
690
at trepida et coeptis immanibus effera Dido
sanguineam volvens aciem, maculisque trementis
interfusa genas et pallida morte futura,
interiora domus inrumpit limina et altos
conscendit furibunda rogos ensemque recludit
Dardanium, non hos quaesitum munus in usus.
hic, postquam Iliacas vestis notumque cubile
conspexit, paulum lacrimis et mente morata
incubuitque toro dixitque novissima verba:
'dulces exuviae, dum fata deusque sinebat,
accipite hanc animam meque his exsolvite curis.
vixi et quem dederat cursum Fortuna peregi,
et nunc magna mei sub terras ibit imago.
urbem praeclaram statui, mea moenia vidi,
ulta virum poenas inimico a fratre recepi,
felix, heu nimium felix, si litora tantum
numquam Dardaniae tetigissent nostra carinae.'
dixit, et os impressa toro 'moriemur inultae,
sed moriamur' ait. 'sic, sic iuvat ire sub umbras.
hauriat hunc oculis ignem crudelis ab alto
Dardanus, et nostrae secum ferat omina mortis.'
dixerat, atque illam media inter talia ferro
conlapsam aspiciunt comites, ensemque cruore
spumantem sparsasque manus. it clamor ad alta
atria: concussam bacchatur Fama per urbem.
lamentis gemituque et femineo ululatu
tecta fremunt, resonat magnis plangoribus aether,
non aliter quam si immissis ruat hostibus omnis
Karthago aut antiqua Tyros, flammaeque furentes
culmina perque hominum volvantur perque deorum.
audiit exanimis trepidoque exterrita cursu
unguibus ora soror foedans et pectora pugnis
per medios ruit, ac morientem nomine clamat:
'hoc illud, germana, fuit? me fraude petebas?
hoc rogus iste mihi, hoc ignes araeque parabant?
quid primum deserta querar? comitemne sororem
sprevisti moriens? eadem me ad fata vocasses,
idem ambas ferro dolor atque eadem hora tulisset.
his etiam struxi manibus patriosque vocavi
voce deos, sic te ut posita, crudelis, abessem.
exstinxti te meque, soror, populumque patresque
Sidonios urbemque tuam. date, vulnera lymphis
abluam et, extremus si quis super halitus errat,
ore legam.' sic fata gradus evaserat altos,
semianimemque sinu germanam amplexa fovebat
cum gemitu atque atros siccabat veste cruores.
illa gravis oculos conata attollere rursus
deficit; infixum stridit sub pectore vulnus.
ter sese attollens cubitoque adnixa levavit,
ter revoluta toro est oculisque errantibus alto
Dido aber, erhitzt und wild durch das grause Beginnen, / rollte den blutunterlaufenen Blick; um die
bebenden Wangen / bläulich gefleckt und blaß von
dem nah schon drohenden Tode (645) stürzt sie
durch die innere Tür des Hofs und steigt, rasend,
auf den hohen / Holzstoß hinauf. Dann entblößt sie
die Dardanerklinge, / die sie nicht zu solchem Gebrauch sich erbeten, / sieht die troischen Kleider
und erkennt das bekannte / Lager, da weilte sie ein
wenig, sinnend und weinend; (650) dann sank sie
hin auf das Kissen und sprach noch die letzten
Worte: / »Reste, so teuer mir einst, solang es Gott
und das Schicksal / zuließ, nehmt den Geist jetzt
auf und erlöst mich von der Qual. / Mein Leben ist
abgeschlossen, ich habe die Bahn, die das Schicksal mir bestimmte, durchlaufen, / unter die Erde
hinab steigt bald mein erhabener Schatten. (655)
Herrlich erhebt sich die Stadt, mein Werk; ich sah
deren Mauern, / habe den Gatten gerächt und den
felndlichen Bruder gezüchtigt. / Glücklich, ach allzu glücklich, / hätten sich der Dardaner / Kiele niemals unseren Gestaden genaht.« / So sprach sie
und drückte ihr Gesicht tief in das Kissen. »Zwar
sterbe ich ohne Vergeltung. (660) Doch will ich
sterben, und so geh ich gern hinab zu den Schatten. Trinke den Feuerschein auf offenem Meer mit
den Augen / der Troer, und mein Tod begleite ihn
als unheilkündendes Zeichen.« / Während sie noch
rief, lag sie schon zusammengesunken / unter dem
Stahl da. So sahen sie die Frauen: das Schwert
(665) noch schäumend von Blut und die Hände
befleckt. Da schallt / durch die hohen / Hallen der
Lärm, das Gerücht durchtobt die Gassen der Stadt.
/ Stöhnen und Wehgeschrei und Weibergeheul in
den Häusern / tobt durcheinander. es hallt von den
Klagen des Himmelsgewölbe, / grad, als wäre der
Feind in der Stadt, als stürzte ganz (670) Karthago
oder die alte Tyros in Schutt, als wälzten sich die
Flammen / wild durch die Giebel der Menschen
und der Götter. / Es hörte es, gleichsam entseelt,
die Schwester und lief rasend herbei, / die Wangen
zerkratzt, die Brust mit Schlägen geschändet. / Sie
stürzt sich mitten hinein und ruft die Sterbende mit
ihrem Namen: (675) »Dies also, Schwester, war es?
Schändlichem Betrug setztest du mich aus? / Dies
war es, wozu der Scheiterhaufen, dies, wozu Feuersbrunst und Altar dienten? / Was soll ich Verlaßene zuerst klagen? Der Schwester Begleitung /
hat dein Scheiden verschmäht? Hättest du mich gerufen, mit dir zu sterben, / dann hätte der Schmerz
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695
700
705
XXVIII
quaesivit caelo lucem ingemuitque reperta.
tum Iuno omnipotens longum miserata dolorem
difficilisque obitus Irim demisit Olympo
quae luctantem animam nexosque resolveret artus.
nam quia nec fato merita nec morte peribat,
sed misera ante diem subitoque accensa furore,
nondum illi flavum Proserpina vertice crinem
abstulerat Stygioque caput damnaverat Orco.
ergo Iris croceis per caelum roscida pennis
mille trahens varios adverso sole colores
devolat et supra caput astitit. 'hunc ego Diti
sacrum iussa fero teque isto corpore solvo':
sic ait et dextra crinem secat, omnis et una
dilapsus calor atque in ventos vita recessit.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
durch das Schwert uns beide zur gleichen Stunde
getroffen. (680) Und nun türmte ich selber den
Stoß, habe selber der Heimat / Götter berufen und
ließ dich grausam enden und einsam! / Ausgelöscht hast du, Schwester, dich und mich, dein
Volk und deine Väter / von Tyros, deine Stadt. –
Bringt Wasser, daß ich die Wunden / wasche und
den letzten Hauch, wenn sie noch atmet, (685) vom
Munde küsse.« – Sprach es und hat die steilen
Stufen erklommen, / hält mit Armen und Schoß
die sterbenden Schwester umfangen, / traurig bemüht, mit den Kleidern das dunkle Blut zu stillen.
/ Jene versucht's und hebt die schweren Lider,
vermag es nicht / und sinkt hin: inmitten der Brust
gähnt klaffend die Wunde. (690) Dreimal hob sie
sich auf und stützte sich wankend im Lager, /
dreimal sank sie zurück aufs Bett. Mit irrenden
Augen / sucht sie im Himmel das Licht, seufzt,
wenn sie es gewahr wird. / Endlich erbarmt sich
die allmächtige Juno der langen Leiden / und des
verzögerten Todes und sendet Iris vom Olymp,
(695) daß sie den ringenden Geist entbinde und die
Glieder löse. / Denn weil weder Geschick noch
eigene Schuld sie getötet, / sondern bevor ihre Tage gezählt, unzeitiger Wahnsinn, / hatte Proserpina
ihr noch nicht vom Scheitel die blonde Locke /
geraubt und zum Styx ihr Haupt, in den Orcus
verbannt. (700) Drum flog Iris, betaut, auf Safranflügeln hernieder, / unter der Sonne Gesicht in tausend Farben gekleidet, / stand ihr zu Häupten und
sprach: »Diese bring ich dem Dis (Unterweltsgott) /
als heilige Spende, sie mir befohlen, und löse dich
also vom Leibe.« / Sagt es, ergreift und schneidet
das Haar. Im selben Moment (705) schwindet die
Wärme dahin und das Leben kehrt zu den Winden
zurück.
(Übersetzung nach M. v. Albrecht und R.A. Schröder)
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XXIX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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11.2.1. Ovid, Amores 1,1,1–30
5
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Arma gravi numero violentaque bella parabam
edere, materia conveniente modis.
par erat inferior versus; risisse Cupido
dicitur atque unum surripuisse pedem.
'Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?
Pieridum vates, non tua turba sumus.
quid, si praeripiat flavae Venus arma Minervae,
ventilet accensas flava Minerva faces?
quis probet in silvis Cererem regnare iugosis,
lege pharetratae Virginis arva coli?
crinibus insignem quis acuta cuspide Phoebum
instruat, Aoniam Marte movente lyram?
sunt tibi magna, puer, nimiumque potentia regna;
cur opus adfectas, ambitiose, novum?
an, quod ubique, tuum est? tua sunt Heliconia tempe?
vix etiam Phoebo iam lyra tuta sua est?
cum bene surrexit versu nova pagina primo,
attenuat nervos proximus ille meos;
nec mihi materia est numeris levioribus apta,
aut puer aut longas compta puella comas.'
Questus eram, pharetra cum protinus ille soluta
legit in exitium spicula facta meum,
lunavitque genu sinuosum fortiter arcum,
'quod' que 'canas, vates, accipe' dixit 'opus!'
Me miserum! certas habuit puer ille sagittas.
uror, et in vacuo pectore regnat Amor.
Sex mihi surgat opus numeris, in quinque residat:
ferrea cum vestris bella valete modis!
cingere litorea flaventia tempora myrto,
Musa, per undenos emodulanda pedes!
Waffen in schwerem Takt und gewaltsame Kriege
zu singen / war ich gerüstet; dem Stoff sollte sich
fügen die Form; / gleich lang waren die Verse; da
soll Cupido gelacht haben, und immer / stahl aus
dem zweiten des Paars einen der Füsse der Schalk.
(5) »Wer gab, wilder Gesell, dir Recht auf meine
Gedichte? / Den Pieriden geweiht bin ich als
Dichter, nicht dir! / Raubt auch Venus vielleicht die
Waffen der blonden Minerva? / Facht der Fackeln
Glut Minerva, die bonde, vielleicht? Wer fände es
erlaubt, wenn Ceres im Bergwald herrschte? (10)
Wenn die beköcherte Jungfrau den Fluren das
Gesetz gäbe? Rüstet mit spitzigem Speer wohl einer
den lockenumwallten / Phoebus Apollo, und bewegt
Mars die böotische Lyra? / Gross, o Knabe, ist dein
Reich, zu mächtig ist deine Herrschaft! / Weshalb,
Ehrgeiziger, strebst du neuem Beginnen nach? /
Oder gehört alles, was überall ist, dir? (15) Ist dein
die Bergschlucht des Helikon? Kaum noch die
Leier Apolls, scheint es, ist vor dir sicher. / Als mit
dem ersten Vers mein Lied sich trefflich emporschwang, / wurden die Sehnen sogleich mir beim
zweiten geschwächt. / Und doch fehlt mir ein passender Stoff für die leichteren Rhythmen, (20) ein
Knabe, ein schmuckes Mädchen mit wallendem
Haar.« / Also klagte ich; da löste er sofort den
Köcher, / wählte ein Geschoss daraus, mir zum
Verderben bestimmt, krümmt kraftvoll mit dem
Knie zur Halbmondsform den Bogen, / spricht:
»Hier nimm für dich, Dichter, den passenden
Stoff!« (25) Weh mir Armen! Es hat gar sichere
Pfeile der Knabe! / Ich brenne, in meiner leeren
Brust herrscht Amor. / Mit sechs Füssen beginne
ich mein Lied; es endet mit fünfen. / Eiserne Kriege
mit euren Rhythmen, lebt wohl! / Jetzt mit der Myrte vom Strand umkränze die goldenen Schläfen, (30)
Muse, der nun in elf Takten erklinge das Lied.
(Übersetzung nach M. v. Albrecht)
11.2.2. Ovid, Metamorphosen 1,1–37. 69–88
5
In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora; di, coeptis (nam vos mutastis et illas)
adspirate meis primaque ab origine mundi
ad mea perpetuum deducite tempora carmen!
Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum
unus erat toto naturae vultus in orbe,
quem dixere chaos: rudis indigestaque moles
nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem
non bene iunctarum discordia semina rerum.
Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter –
habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt mein Beginnen mit eurem göttlichen Atem und
führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Ursprung der Welt bis zu meiner eigenen Zeit!
Ehe es Meer, Land und den Himmel gab, der alles
umschließt, (5) hatte die ganze Natur rinsgum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos; eine rohe, un-
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nullus adhuc mundo praebebat lumina Titan,
nec nova crescendo reparabat cornua Phoebe,
nec circumfuso pendebat in aere tellus
ponderibus librata suis, nec bracchia longo
margine terrarum porrexerat Amphitrite;
utque erat et tellus illic et pontus et aer,
sic erat instabilis tellus, innabilis unda,
lucis egens aer; nulli sua forma manebat,
obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno
frigida pugnabant calidis, umentia siccis,
mollia cum duris, sine pondere, habentia pondus.
Hanc deus et melior litem natura diremit.
nam caelo terras et terris abscidit undas
et liquidum spisso secrevit ab aere caelum.
quae postquam evolvit caecoque exemit acervo,
dissociata locis concordi pace ligavit:
ignea convexi vis et sine pondere caeli
emicuit summaque locum sibi fecit in arce;
proximus est aer illi levitate locoque;
densior his tellus elementaque grandia traxit
et pressa est gravitate sua; circumfluus umor
ultima possedit solidumque coercuit orbem.
Sic ubi dispositam quisquis fuit ille deorum
congeriem secuit sectamque in membra coegit,
principio terram, ne non aequalis ab omni
parte foret, magni speciem glomeravit in orbis.
tum freta diffundi rapidisque tumescere ventis
iussit et ambitae circumdare litora terrae.
[…]
Vix ita limitibus dissaepserat omnia certis,
cum, quae pressa diu fuerant caligine caeca,
sidera coeperunt toto effervescere caelo;
neu regio foret ulla suis animalibus orba,
astra tenent caeleste solum formaeque deorum,
cesserunt nitidis habitandae piscibus undae,
terra feras cepit, volucres agitabilis aer.
XXX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
geordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf
einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit
befindliche Samen von Dingen, die keinen rechten
Zusammenhang hatten. Noch kein Titan spendete
der Welt Licht, (10) kein Phoebe ließ ihr Mondhorn
immer wieder aufs neue nachwachsen. Keine Tellus
schwebte in der Luft, die sich um sie ergießt, und
hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht; keine Amphitrite hatte die Arme weit um
den Rand der Länder gespannt. Zwar gab es da
Erde, Wasser und Luft; (15) doch konnte man auf
der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht
durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht.
Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege
stand eines dem anderen, weil in ein und demselben
Körper Kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit
Trockenem, Weiches mit Hartem, Schwereloses mit
Schwerem. (20)
Diesen Streit schlichtet Gott und die bessere Natur.
Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von
der Erde die Gewässer, und er sonderte von der
dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese
vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen
Haufen genommen hatte, trennte er sie räumlich
und verband sie so in einträchtigem Frieden. (25)
Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in
der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht
ihr die Luft, was die Leichtigkeit und auch was den
Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie
zog die wuchtigen Elemente an sich und wurde
durch die eigene Schwere nach unten gedrückt.
Ringsum strömte das Feuchte, (30) nahm den Rand
in Besitz und umschloß das feste Erdenrund. Kaum
hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte –
das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und
gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen,
damit sie auf allen Seiten gleich sei, und gab ihr die
Gestalt einer großen Kugel. (35) Dann gebot er den
Meeren, sich weithin zu ergießen, von stürmischen
Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten
der Erde rings zu umfließen. […]
Kaum hatte er so alles durch klar umrissene Grenzen aufgegliedert, als plötzlich die Sterne, die lange
von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen
waren, (70) am ganzen Himmel aufzuglühen begannen. Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei,
die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, die
Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche
Luft. (75)
Survol de la littérature antique
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80
85
XXXI
Sanctius his animal mentisque capacius altae
deerat adhuc et quod dominari in cetera posset:
natus homo est, sive hunc divino semine fecit
ille opifex rerum, mundi melioris origo,
sive recens tellus seductaque nuper ab alto
aethere cognati retinebat semina caeli.
quam satus Iapeto, mixtam pluvialibus undis,
finxit in effigiem moderantum cuncta deorum,
pronaque cum spectent animalia cetera terram,
os homini sublime dedit caelumque videre
iussit et erectos ad sidera tollere vultus:
sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus
induit ignotas hominum conversa figuras.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese,
fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und imstande, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der
Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener
Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren
Welt, sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom
hohen Äther getrennt, (80) noch Samen des verwandten Himmels zurückbehiehlt; diese mischte
der Sproß des Iapetus mit Regenwasser und formte
sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und
während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt
zur Erde blicken, gab er dem Menschen ein nach
oben schauendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel
zu sehen (85) und das Gesicht aufrecht zu den
Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben
noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt
die bisher unbekannten menschlichen Formen an.
(Übersetzung M. v. Albrecht)
11.2.3. Ovid, Metamorphosen 10,1–77 (Beginn der Orpheussage: Orpheus und Eurydike)
Inde per inmensum croceo velatus amictu
aethera digreditur Ciconumque Hymenaeus ad oras
tendit et Orphea nequiquam voce vocatur.
(Hymenaeus [Hochzeitsgott] hatte mit Venus und Iuno am Hochzeitsfest von Iphis und Ianthe teilgenommen. – Cicones: thrak. Volk)
5
adfuit ille quidem, sed nec sollemnia verba
nec laetos vultus nec felix attulit omen.
fax quoque, quam tenuit, lacrimoso stridula fumo
usque fuit nullosque invenit motibus ignes.
exitus auspicio gravior: nam nupta per herbas
dum nova Naïadum turba comitata vagatur,
(Naïades: Fluss-, Quell- und Seenymphen)
10
occidit in talum serpentis dente recepto.
quam satis ad superas postquam Rhodopeius auras
deflevit vates, ne non temptaret et umbras,
(Rhodope: thrakisches Gebirge [Thrakien = Heimat des O.)
ad Styga Taenaria est ausus descendere porta
(Tainaron, südliches Vorgebirge Lakoniens, Eingang zur Unterwelt)
15
perque leves populos simulacraque functa sepulcro
Persephonen adiit inamoenaque regna tenentem
(Persephone, Tochter des Iuppiter und der Ceres, von Pluto geraubt)
20
umbrarum dominum pulsisque ad carmina nervis
sic ait: 'o positi sub terra numina mundi,
in quem reccidimus, quicquid mortale creamur,
si licet et falsi positis ambagibus oris
vera loqui sinitis, non huc, ut opaca viderem
Tartara, descendi, nec uti villosa colubris
(Tartaros: Totenreich)
terna Medusaei vincirem guttura monstri:
(Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, Urenkel der Medusa)
25
causa viae est coniunx, in quam calcata venenum
vipera diffudit crescentesque abstulit annos.
posse pati volui nec me temptasse negabo:
Von dort schreitet Hymenaeus in seinem Krokusgelben Gewand durch den unermesslichen Äther; er
eilt zu den Gestaden der Ciconen; dorthin ruft ihn
Orpheus' Stimme, doch vergebens. Anwesend war
er zwar, (5) doch brachte er nicht die gewohnten
Segensworte, keine fröhlichen Gesichter, kein
glückliches Omen; auch die Fackel in seiner Hand
zischte immerfort; nur tränenerregender Rauch,
keine Flamme entstieg ihr, mochte man sie noch so
sehr schwingen. Der Ausgang war schlimmer als
das Vorzeichen; denn während die Neuvermählte,
von der Schar der Naiaden begleitet, durch die
Wiesen streifte, (10) starb sie, weil eine Schlange sie
in die Ferse gebissen hatte. Nachdem sie der Seher
vom Rhodopegebirge an den Lüften des Himmels
zur Genüge beweint hatte, wollte er es auch noch
mit dem Schattenreich versuchen. So wagte er durch
die taenarische Pforte zur Styx hinabzusteigen.
Mitten durch die schwerelosen Völker und die
Schattenbilder der Bestatteten (15) kam er bittend zu
Persephone und zu dem König im unwirtlichen
Reich, dem Herrn der Schatten. Dann schlug er zum
Liede die Saiten und sang: »O ihr Gottheiten der
unterirdischen Welt, in die wir zurückfallen, wir,
alles Sterbliche, was entsteht! Ist es erlaubt und
gestattet ihr mir, ohne Trug und Umschweife (20)
die Wahrheit zu sagen, so wisst: Ich bin nicht hier
herabgestiegen, um den finsteren Tartarus zu sehen,
nicht, um die drei Hälse des medusischen Höllenhundes zu fesseln, an denen Schlangen als Zotteln
hängen. Der Grund meiner Fahrt ist meine Gattin;
Survol de la littérature antique
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30
35
40
XXXII
vicit Amor. supera deus hic bene notus in ora est;
an sit et hic, dubito: sed et hic tamen auguror esse,
famaque si veteris non est mentita rapinae,
vos quoque iunxit Amor. per ego haec loca plena timoris,
per Chaos hoc ingens vastique silentia regni,
Eurydices, oro, properata retexite fata.
omnia debemur vobis, paulumque morati
serius aut citius sedem properamus ad unam.
tendimus huc omnes, haec est domus ultima, vosque
humani generis longissima regna tenetis.
haec quoque, cum iustos matura peregerit annos,
iuris erit vestri: pro munere poscimus usum;
quodsi fata negant veniam pro coniuge, certum est
nolle redire mihi: leto gaudete duorum.
Talia dicentem nervosque ad verba moventem
exsangues flebant animae; nec Tantalus undam
(Tantalus: Büssergestalt der Unterwelt)
captavit refugam, stupuitque Ixionis orbis,
(Ixion: König der Lapithen; in der Unterwelt an ein Rad geschmiedet, weil er sich der Iuno bemäChtigen wollte)
nec carpsere iecur volucres, urnisque vacarunt
Belides, inque tuo sedisti, Sisyphe, saxo.
(Belides: Enkelinnen des Königs Belus von Ägypten, nach ihrem
Vater Danaos auch Danaiden genannt. Sie töteten ihre Männer in
der Hochzeitsnacht und mussten ewig Wasser in ein leckes Fass
schöpfen. – Sisyphus: Sohn des Aeolus, des Königs der Winde; König
von Korinth, verschlagen und gewalttätig, von Theseus getötet und
in der Unterwelt verdammt, einen Felsblock bergauf zu rollen, der
stets kurz vor dem Gipfel zurückrollt.)
45
tunc primum lacrimis victarum carmine fama est
Eumenidum maduisse genas, nec regia coniunx
(Eumenides: Erinnyen, die Bluträcherinnen)
50
sustinet oranti nec, qui regit ima, negare,
Eurydicenque vocant: umbras erat illa recentes
inter et incessit passu de vulnere tardo.
hanc simul et legem Rhodopeius accipit heros,
ne flectat retro sua lumina, donec Avernas
exierit valles; aut inrita dona futura.
(der Averner See in Campanien, ein
55
60
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Eingang zur Unterwelt)
Carpitur adclivis per muta silentia trames,
arduus, obscurus, caligine densus opaca,
nec procul afuerunt telluris margine summae:
hic, ne deficeret, metuens avidusque videndi
flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est,
bracchiaque intendens prendique et prendere certans
nil nisi cedentes infelix arripit auras.
iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam
questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?)
supremumque 'vale,' quod iam vix auribus ille
acciperet, dixit revolutaque rursus eodem est.
Non aliter stupuit gemina nece coniugis Orpheus,
quam tria qui timidus, medio portante catenas,
colla canis vidit, quem non pavor ante reliquit,
quam natura prior saxo per corpus oborto,
(unbekannte Sage)
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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eine Viper, auf die sie trat, hat Gift in ihr Blut
gespritzt und ihr die jungen Jahre geraubt. (25) Ich
wollte es ertragen und bekenne: Ich hab's versucht;
doch Amor hat gesiegt. In der Oberen Welt ist dieser Gott wohlbekannt; ob er es auch hier ist, weiss
ich nicht. Doch ich vermute, dass er es auch hier ist;
denn, sofern die alte Sage von dem Raub nicht
erlogen ist, hat auch euch Amor vereint. Bei diesen
Gefilden voller Angst, (30) bei diesem riesigen
Chaos und dem Schweigen des öden Reiches bitte
ich euch: Macht Eurydikes übereilten Tod rückgängig! Alles ist euch verfallen, und nach kurzem
Aufenthalt eilen wir früher oder später zu ein und
demselben Wohnsitz. Wir alle streben hierher; dies
ist unser letztes Heim, (35) und ihr herrscht am
längsten über das Menschengeschlecht. Auch Eurydike wird euch gehören, wenn sie die Jahre, die ihr
zustehen, vollendet hat und reif ist. Ich bitte euch
nicht, sie mir zu schenken, nur zu leihen. Verweigert aber das Geschick meiner Gattin die Gnade,
bin ich fest entschlossen, nicht zurückzukehren:
Freut euch dann über den Tod zweier Menschen!«
(40) Während er so sang und zu seinen Worten die
Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen, Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend
stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht
die Leber des Tityos, die Beliden liessen ihre Krüge
stehen, und du, Sisyphus, sassest auf deinem Stein.
(45) Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der
Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil
der Gesang sie überwältigte. Weder die Königin
noch der Herrscher der Untertwelt bringen es über
sich, die Bitte abzuschlagen, und sie lassen Eurydike rufen. Sie befand sich unter den neuangekommenen Schatten, kam heran, und die Wunde
erlaubte ihr nur langsam zu schreiten. (50) Orpheus
vom Rhodopegebirge erhält sie unter der Bedingung, nicht zurückzublicken, bevor er die Täler des
Avernus verlassen habe – sonst werde das Geschenk zunichte.
Der Pfad führte sie durch die Totenstille bergan;
steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt. (55)
Schon waren sie nicht weit vom Rand der Erdoberfläche entfernt _– besorgt, sie könne ermatten,
und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll
Liebe den Blick, und alsbald glitt sie zurück. Sie
streckt die Arme aus, will sich ergreifen lassen, will
ergreifen und erhascht doch nichts, die Unselige, als
flüchtige Lüfte. (60) Schon starb sie zum zweiten
Mal, doch mit keinem Wort klagte sie über ihren
Gatten – denn worüber hätte sie klagen sollen als
darüber, dass sie geliebt wurde? –, sprach ein letztes
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XXXIII
quique in se crimen traxit voluitque videri
Olenos esse nocens, tuque, o confisa figurae,
infelix Lethaea, tuae, iunctissima quondam
pectora, nunc lapides, quos umida sustinet Ide.
(Olenos/Lethaea: ein Phrygier, Gemahl der Lethaea; mit dieser in
einen Stein im Idagebirge verwandelt)
Orantem frustraque iterum transire volentem
portitor arcuerat: septem tamen ille diebus
squalidus in ripa Cereris sine munere sedit;
(Ceres: Demeter, Göttin des Ackerbaus. Ihre Gaben sind Getreide, Brot
und andere Speisen)
75
cura dolorque animi lacrimaeque alimenta fuere.
esse deos Erebi crudeles questus, in altam
se recipit Rhodopen pulsumque aquilonibus Haemum.
(Erebus: die Unterwelt – Haemus: das Balkangebirge)
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Lebewohl, das er kaum noch hören konnte, und
sank wieder an denselben Ort zurück. Über den
zweifachen Tod seiner Gattin war Orpheus so entsetzt (65) wie der Mann, der voll Grauen die drei
Hälse des Höllenhundes – den mittleren in Ketten –
erblickte und den die Angst nicht eher verliess als
seine bisherige Natur, da sein Leib zu Stein wurde,
oder wie Olenus, der den Vorwurf auf sich selbst
lenkte und als der Schuldige gelten wollte, und du,
(70) unglückliche Lethaea – allzu viel hast du dir auf
deine Schönheit eingebildet –; einst wart ihr zwei
engverbundene Herzen, jetzt seid ihr Steine auf dem
quellenreichen Ida.
Den Bittenden, der vergeblich noch einmal ans andere Ufer wollte, hatte der Fährmann abgewiesen;
dennoch sass Orpheus von Trauer entstellt sieben
Tage lang am Ufer, ohne Ceres' Gaben zu geniessen. (75) Sorge, Seelenschmerz und Tränen waren
seine Speise. Er klagt über die Grausamkeit der
Götter des Erebus und zieht sich auf die hohe Rhodope und den sturmgepeitschten Haemus zurück.
(Übersetzung M. v. Albrecht)
Orpheus, Eurydike und Hermes, der Psychopompos (›Seelengeleiter‹)
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XXXIV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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11.2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97
'Quas quia Pygmalion aevum per crimen agentis
(quas = Propoetides: Mädchen auf Zypern, die Venus
verachten; Pygmalion. zyprischer Bildhauer)
245
250
255
260
viderat, offensus vitiis, quae plurima menti
femineae natura dedit, sine coniuge caelebs
vivebat thalamique diu consorte carebat.
interea niveum mira feliciter arte
sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci
nulla potest, operisque sui concepit amorem.
virginis est verae facies, quam vivere credas,
et, si non obstet reverentia, velle moveri:
ars adeo latet arte sua. miratur et haurit
pectore Pygmalion simulati corporis ignes.
saepe manus operi temptantes admovet, an sit
corpus an illud ebur, nec adhuc ebur esse fatetur.
oscula dat reddique putat loquiturque tenetque
et credit tactis digitos insidere membris
et metuit, pressos veniat ne livor in artus,
et modo blanditias adhibet, modo grata puellis
munera fert illi conchas teretesque lapillos
et parvas volucres et flores mille colorum
liliaque pictasque pilas et ab arbore lapsas
Heliadum lacrimas; ornat quoque vestibus artus,
(Heliadum lacrimas: Töchter des Sonnengottes; sie weinten
um ihren Bruder Phaethon, bis sie in Pappeln verwandelt
wurden; ihre Tränen wurden zu Bernstein)
265
dat digitis gemmas, dat longa monilia collo,
aure leves bacae, redimicula pectore pendent:
cuncta decent; nec nuda minus formosa videtur.
conlocat hanc stratis concha Sidonide tinctis
adpellatque tori sociam adclinataque colla
mollibus in plumis, tamquam sensura, reponit.
Miniatur, 15. Jh.
Pygmalion
270
275
280
'Festa dies Veneris tota celeberrima Cypro
venerat, et pandis inductae cornibus aurum
conciderant ictae nivea cervice iuvencae,
turaque fumabant, cum munere functus ad aras
constitit et timide "si, di, dare cuncta potestis,
sit coniunx, opto," non ausus "eburnea virgo"
dicere, Pygmalion "similis mea" dixit "eburnae."
sensit, ut ipsa suis aderat Venus aurea festis,
vota quid illa velint et, amici numinis omen,
flamma ter accensa est apicemque per aera duxit.
ut rediit, simulacra suae petit ille puellae
incumbensque toro dedit oscula: visa tepere est;
Weil Pygmalion sah, wie diese Frauen (= Propoetiden) ihr Leben verbrecherisch zubrachten, blieb er
einsam und ehelos, abgestossen von den Fehlern,
(245) mit denen die Natur das Frauenherz so freigebig beschenkt hat, und schon lange teilte kein
Weib mehr sein Lager. Inzwischen bearbeitete er
mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit schneeweisses Elfenbein, gab ihm eine
Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann,
und verliebte sich in sein eigenes Geschöpf. (250) Es
sieht aus wie ein wirkliches Mädchen! Du möchtest
glauben, sie lebe, wolle sich bewegen – nur die Sittsamkeit halte sie zurück. So vollkommen verbirgt
sich im Kunstwerk die Kunst! Pygmalion steht
bewundernd davor, und gierig trinkt seine Brust das
Feuer in sich hinein, das von dem Scheinbild ausgeht. Oft legt er prüfend die Hände an das Geschöpf, ob es (255) Fleisch und Blut sei oder Elfenbein, und will immer noch nicht wahrhaben, dass es
nur Elfenbein ist. Küsse gibt er und glaubt sie
erwidert; er redet mit dem Bild, er hält es im Arm.
Rührt er es an, so ist ihm, als drückten sich seine
Finger in den Körper ein; ja, er fürchtet, an den
Gliedern, die er presst, möchten blaue Male entstehen. Bald schmeichelt er, bald bringt er (260) Gaben,
wie sie ein Mädchenherz erfreuen: Muscheln, geschliffene Steinchen, kleine Vögel, Blumen in tausenderlei Farben, Lilien, bunte Bälle und Bernstein,
vom Baum getropfte Tränen der Sonnentöchter. er
schmückt ihr die Glieder mit Gewändern, die Finger
mit Edelsteinen, den Hals mit langen Ketten. (265)
Am Ohr hängt eine zierliche Perle, an der Brust ein
Geschmeide. Alles steht ihr, aber auch nackt erscheint sie nicht weniger schön. Er legt sie auf
Decken, die mit sidonischem Purpur gefärbt sind,
nennt sie seine Gemahlin, die sein Lager teilt, und
bettet den geneigten Nacken, als müsse es dieser
spüren, auf weichen Flaum.
(270) Der Feiertag der Venus, den ganz Cypern
festlich begeht, war gekommen. Schon waren die
Opferkühe, deren krumme Hörner Gold überzog, in
den schneeweissen Nacken getroffen, niedergestürzt, und Weihrauch stieg empor: Da trat Pygmalion, nachdem er der heiligen Pflicht genügt hatte,
zum Altar und sprach zaghaft: »Ihr Götter, könnt
ihr alles gewähren, (275) so soll meine Gattin« – er
wagte nicht zu sagen: »das elfenbeinerne Mädchen
sein«; darum sprach er nur: »dem Mädchen aus
Elfenbein gleichen!« Venus, die Goldene, erriet –
war sie doch selbst bei ihrem Fest zugegen –, was
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XXXV
admovet os iterum, manibus quoque pectora temptat:
temptatum mollescit ebur positoque rigore
subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole
(Hymettos: Berg in Attika; durch Bienenzurcht berühmt)
285
290
295
cera remollescit tractataque pollice multas
flectitur in facies ipsoque fit utilis usu.
dum stupet et dubie gaudet fallique veretur,
rursus amans rursusque manu sua vota retractat.
corpus erat! saliunt temptatae pollice venae.
tum vero Paphius plenissima concipit heros
verba, quibus Veneri grates agat, oraque tandem
ore suo non falsa premit, dataque oscula virgo
sensit et erubuit timidumque ad lumina lumen
attollens pariter cum caelo vidit amantem.
coniugio, quod fecit, adest dea, iamque coactis
cornibus in plenum noviens lunaribus orbem
illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen.
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mit diesem Wunsch gemeint war. Und zum Zeichen, dass die Gottheit ihm hold sei, stieg dreimal
die Flamme züngelnd in die Luft empor. (280) Als er
nach Hause kam, zog es ihn zu seinem Mädchenbild. Er warf sich auf das Lager und küsste sie. Da
war ihm, als sei sie warm. Wieder legt er Mund an
Mund und tastet mit der Hand nach der Brust. Er
tastet noch, da wird das Elfenbein weich, verliert
seine Starreit, weicht zurück und gibt den Fingern
nach, so wie Wachs vom Hymettus (285) an der
Sonne geschmeidig wird, sich unter dem Druck des
Daumens zu tausenderlei Gestalten formen lässt
und in der Hand des Bildners immer bildsamer
wird. Pygmalion staunt. Er traut seiner Freude noch
nicht und fürchtet, er täusche sich. Wieder und wieder prüft der Liebende mit der Hand sein Wunschbild. Fleisch und Blut ist's; mit dem Daumen prüfte
er, wie es in den Adern pocht. (290) Da dankt der
Held von Paphos der Venus mit Worten, die aus
vollstem Herzen strömen, und presst den Mund
endlich auf wirkliche Lippen.
Das Mädchen hat den Kuss empfunden, sie ist
errötet! Jetzt hebt sie scheu zu seinem Auge ihr
Auge empor – und zugleich mit dem Himmel erblickt sie den Mann, der sie liebt. (295) Der Ehe, die
sie gestiftet, steht die Göttin bei. Schon haben sich
die Hörner des Mondes neunmal zur vollen Scheibe
gerundet, da gebiert sie Paphos, nach der die Insel
benannt ist.
(Übersetzung M. v. Albrecht)
Falconet (18. Jh.), Pygmalion und Galateia
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XXXVI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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12. Die kaiserzeitliche Prosa (I): Seneca(s), Quintilian
12. 1. Seneca Maior, Controversiae 10,5,12-18
Parrhasius, pictor Atheniensis
(von Ephesus, 2. H. 5. Jh. v.
Chr., neben Zeuxis und Apelle wohl der bedeutendste Maler des
antiken Griechnlands)
, cum Philippus
(Philipp II. von
Makedonien [359–36 v. Chr.], der Vater von Alexander dem
captivos Olynthios venderet, emit unum ex
iis senem; perduxit Athenas; torsit et ad exemplar
eius pinxit Promethea (Sohn des Titanen Iapetos; stahl
Grossen)
Zeus das Feuer, um es den Menschen zu bringen —> wurde
deshalb an einen Felsen geschmiedet und dadurch gefoltert,
dass ihm ein Adler täglich die Leber zerfleischte, diese nachts
stets wieder nachwuchs) . Olynthius in tormentis
perit. Ille tabulam in templo Minervae posuit.
Accusatur rei publicae laesae. […]
(12) Hanc controversiam magna pars declamatorum
sic dixit velut <non> controversiam divideret sed
accusationem, quomodo solent ordinare actionem
suam in foro qui primo loco accusant; in scholastica,
quia non duobus dicitur locis, semper non dicendum
tantum sed respondendum est. Obiciunt quod
hominem torserit, quod Olynthium, quod deorum
supplicia imitatus sit, quod tabulam in templo
Minervae posuerit. Si Parrhasius responsurus non
est, satis bene dividunt. Nihil est autem turpius quam
aut eam controversiam declamare in qua nihil ab
altera parte responderi possit, aut non refellere si
responderi potest.
(13) Gallio fere similem divisionem in Parrhasio
habuit ei quam habuerat in illa controversia cuius
mentio est in hoc ipso libro, de illo qui debilitabat
expositos, detractis quibusdam. Divisit autem sic: an
laesa sit res publica. Quid perdidit? inquit; nihil.
(Nondum de iure controversiam facio.) Perdidit
unum senem Olynthus. Fac Atheniensem: non ages
mecum rei publicae laesae si Atheniensem senatorem
occidero, sed caedis. 'Ita; verum opinio Athenarum
corrumpitur; misericordia semper censi sumus.'
Numquam unius <male> facto publica fama
corrumpitur; solidior est opinio Atheniensium quam
ut labefactari illo modo possit. (14) 'Laesa est' inquit
'res publica.' Laesa non <est>, ut existimo. Aliquis
Olynthio depositum negaverit: videbitur hominem,
non rem publicam laesisse. 'Laesisti' inquit 'rem
publicam quod hanc picturam in templo posuisti.'
Laedunt rem publicam qui aliquid illi auferunt, non
qui adiciunt, qui diruunt templa, non qui ornant.
Peccaverunt ergo et sacerdotes, qui tabulam
receperunt. Quare tamen non reciperent? Deorum
adulteria picta sunt, positae sunt picturae Herculis
liberos occidentis (in einem von Hera herbeigeführten
jedoch
Es soll um eine Klage wegen Verbrechen gegen den
Staat gehen: Der athenische Maler Parrhasius erwarb, als Philipp die olynthischen Kriegsgefangenen
verkaufte, einen von diesen, einen schon alten Mann;
er brachte ihn nach Athen; er folterte ihn und malte
nach seinem Vorbild einen Prometheus. Der Olynthier starb unter der Folter. Jener stellte das Gemälde
im Tempel der Athene auf. Er wird wegen Verbrechen gegen den Staat angeklagt. […]
(12) Diesen Stretifall hat ein grosser Teil der Rechtslehrer so behandelt, dass sie ihn nicht als Streitfall,
sondern als Anklage gliederten, wie man gewöhnlich
seine Rede vor Gericht einteilt, wenn man bei der
Anklage zuerst das Wort hat; in einem Schulvortrag
muss man jedoch, da nicht auf beiden Seiten gesprochen wird, grundsätzlich nicht nur plädieren, sondern
auch gegenplädieren. Sie werfen ihm vor, er habe
einen Menschen gefoltert, dazu einen Olynthier, er
habe Strafen der Götter abgebildet, er habe das Gemälde im Tempel der Athene aufgestellt. Wenn Parrhasius auf seine Antwort verzichtet, ist diese Einteilung gut genug. Nichts ist jedoch hässlicher, als einen Streitfall vorzutragen, in dem man für die Gegenseite nichts antworten kann oder aber, wenn etwas zu
antworten ist, dies nicht widerlegen kann.
(13) GALLIO gebrauchte im Fall des Parrhasius, abgesehen von einigen Auslassungen, eine annähernd
ähnliche Einteilung, wie er sie in dem hier im gleichen Buch erwähnten Streitfall über jenen Mann gebraucht hatte, der ausgesetzte Kinder verkrüppelte.
Er gliederte nämlich folgerdermassen: Zur Frage, ob
ein Verbrechen gegen den Staat vorliege: »Was hat
dieser verloren? Antwort: Nichts. (Ich behandle noch
nicht das Problem von Recht und Unrecht.) Olynth
hat einen alten Mann verloren. Setz' an seine Stelle
einen Athener: Du wirst nicht wegen eines Verbrechens gegen den Staat mit mir prozessieren, wenn
ich einen athenischen Senator umgebracht habe, sondern wegen Mordes. ›Ja, aber das Ansehen von
Athen wird geschädigt; wir sind immer für unser
Mitgefühl geachtet worden.‹ Der Ruf eines Staates
wird nie durch die Untat eines einzelnen geschädigt;
das Ansehen der Athener ist zu fest gegründet, als
dass es auf diese Weise zum Wanken gebracht werden könnte. (14) ›Der Staat ist geschädigt.‹ Dies ist
er nicht, wie ich meine. Angenommen, jemand verweigert einem Olynthier die Herausgabe eines hinterlegten Wertgegenstandes, dann wird man davon
ausgehen, er habe nicht ein Verbrechen gegen den
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
XXXVII
Anfall von Wahnsinn soll Herakles die Kinder aus seiner
. (15) Deinde: an ob
id accusari possit laesae rei publicae quod illi facere
licuit. Ea lege persequere quae non licuit. Dicis mihi:
'hoc facere non oportet.' Huic rei aestimatio inmensa
est. Itaque nulla vindicta est; et id tantum punitur
quod non licet. Satis abundeque <est> si opifex
rerum imperitus ad legem innocens est. An hoc ei
facere licuerit. Hoc in illa dividitur: an Olynthius
apud Atheniensem, etiam antequam fieret decretum,
<servus esse non potuerit>. Servus, inquit, est meus,
quem ego belli iure <possideo. Rata autem esse quae
parta sunt belli iure> vobis, Athenienses, expedit:
alioqui imperium vestrum in antiquos fines redigitur;
quidquid est, bello partum [et] est. (16) Contra ait:
Ille servos alii emptori potest esse, Atheniensi non.
Quid enim si Atheniensem a Philippo emisses? Atqui
sciebas Olynthios coniunctos nobis esse foedere. Ut
scias, inquit, servos fuisse, decretum postea factum
est Atheniensium quo iuberentur et liberi et cives
esse. Quare hoc illis ius, si iam habebant, dabatur?
Deinde: an decreto hoc non contineatur, ut liberi
fiant, sed ut esse liberi iudicentur. Hoc censuimus,
Olynthios cives nostros esse: ita et ille civis noster
fuit. Non, inquit; nam decretum in futurum factum
est. Num, quisquis Olynthium servum habuit,
accusabitur quod civem in sua servitute tenuerit? Si
quis tunc inter necessaria servilium officiorum
ministeria percussit aut cecidit, iniuriarum
accusabitur? Atqui, quantum ad ius attinet, nihil
interest occiderit an ceciderit; nam aut nec caedere
licuit aut occidere.
ersten Ehe mit Megara getötet haben)
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
Staat, sondern einen Menschen begangen. ›Du hast
ein Verbrechen gegen den Staat begangen, indem du
dieses Gemälde in einem Tempel aufgestellt hast.‹
Ein Verbrechen, gegen den Staat begehen die, welche ihm etwas wegnehmen, nicht welche ihm etwas
geben, welche die Tempel zerstören, nicht welche sie
schmücken. Dann hätten sich ja auch die Priester
vergangen, die das Gemälde angenommen haben.
Warum jedoch hätten sie es nicht annehmen sollen?
Man hat Ehebrüche von Göttern gemalt, Gemälde von
Hercules, wie er seine Kinder tötet, in Tempeln aufgestellt.« (15) Dann die Frage, ob er wegen Verbrechens gegen den Staat angeklagt werden kann, wenn
er etwas getan hat, was erlaubt war. »Mit Hilfe des
Gesetzes verfolge die Dinge, die unerlaubt waren.
Du sagst zu mir: ›Dies sollte man nicht tun.‹ Unter
diesem Gesichtspunkt ist der Ermessensspielraum
grenzenlos. Deshalb gibt es dafür keine Strafverfolgung, und es wird nur das geahndet, was unerlaubt
ist. Es genügt vollkommen, wenn ein in praktischen
Dingen unerfahrener Künstler nach dem Gesetz unschuldig ist.« Zur Frage, ob ihm seine Tat erlaubt
war. Dies wird in folgende Punkte gegliedert: Konnte ein Olynthier etwa bei einem Athener, bevor der
Beschluss gefasst wurde, nicht auch Sklave sein?
»Der Sklave gehört mir; ich besitze ihn nach Kriegsrecht. Dass aber der rechtmässige Erwerb im Krieg
Gültigkeit behält, ihr Athener, ist in eurem Interesse.
Andernfalls wird euer Reich auf seine alten Grenzen
beschränkt: Es ist ja ausnahmslos im Krieg erworben.« (16) Dagegen: »Jener kann der Sklave jedes
anderen Käufers sein, nicht jedoch eines Atheners.
Was wäre, wenn du einen Athener von Philipp gekauft hättest? Du wusstest ja doch, dass die Olynthier mit uns durch einen Vertrag verbunden sind.«
»Damit du weisst, dass sie Sklaven waren: Nachher
wurde der Beschluss der Athener gefasst, wonach sie
frei sein und das Bürgerrecht besitzen sollten. Wozu
wurde jenen dieses Recht gegeben, wenn sie es bereits besassen?« Sodann: Ist in dem Beschluss etwa
nicht enthalten, dass sie künftig frei sein, sondern
dass sie als bereits frei gelten sollten? »Wir haben
beschlossen, die Olynthier seien unsere Mitbürger:
So war auch jener unser Mitbürger.« »Nein, denn der
Beschluss wurde für die Zukunft gefasst. Willst du
etwa, dass dies auch für die Vergangenheit Recht
sein soll? Wird etwa jeder, der einen Olynthier als
Sklaven hatte, jetzt angeklagt werden, weil er einen
Mitbürger bei sich als Sklaven gehalten habe? Wenn
ihn einer damals bei den notwendigen Verrichtungen
der Sklavenpflichten gestossen oder geschlagen hat,
wird er wegen einer Rechtsverletzung angeklagt wer-
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
XXXVIII
(17) A parte Parrhasii fecit hunc colorem: emptum
esse a Parrhasio senem inutilem, expiraturum; si
verum, inquit, vultis, non occidit illum, sed
deficientis et alioqui expiraturi morte usus est.
Torsit, inquit, tamen: si lucri causa, obice; nempe
huius crudelitatis pretium Athenae habent. In
argumentis dixit quantum semper artibus licuisset:
medicos, ut vim ignotam morbi cognoscerent,
viscera rescidisse; hodie cadaverum artus rescindi ut
nervorum articulorumque positio cognosci possit.
Albucius hoc colore: calamitosum fuisse, orbum,
palam mortem optantem: nec aliter illum Philippus
vendidisset nisi putasset illi poenam esse vivere. (18)
Silo Pompeius putabat commodius esse si hoc animo
isset ad auctionem Parrhasius, ut aliquem in hunc
usum emeret. Poterit enim videri elegisse vilissimum
et maxime inutilem. Fusco Arellio placebat emptum
quidem illum in alios usus, sed, cum deficeret et
mori vellet, in id quod unum ex cadavere artifex
<petere> poterat inpensum. Gallio ad neutrum se
alligavit nec dixit quo animo emisset, <sed>
Gallionis color intolerabilis est; dixit enim senem ex
noxiis Olynthiis <se> emisse; quod si illi licet
fingere, non video quare non eadem opera dicat et
conscium proditionis Lastheni fuisse (ein angesehener
Olynthier, der, durch Geld bestochen, seine Vaterstadt an
Philipp verriet)
et se poenae causa torsisse.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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den? Soweit es ja doch auf das Recht ankommt, ist es
unerheblich, ob er ihn erschlug oder nur schlug; entweder war es nicht erlaubt, ihn zu schlagen, oder aber
es war auch erlaubt, ihn zu töten.«
(17) Von der Seite des Parrhasius aus entwarf er folgende Entschuldigung: Parrhasius habe eine nutzlosen, dem Tode nahen Greis gekauft: »Wenn ihr die
Wahrheit wollt: Er tötete ihn nicht, sondern er nutzte
den Tod eines Geschwächten und ohnehin dem Tod
Geweihten. ›Jedoch: Er folterte ihn.‹ Wenn um des
Gewinnes willen, wirf es ihm vor; natürlich sieht
Athen für diese Grausamkeit eine Geldstrafe vor.«
Unter seinen Beweisgründen führte er an, wieviel
den Künsten immer erlaubt gewesen sei: Ärzte hätten, um die unbekannte Wirkung einer Krankheit
aufzudecken, Eingeweide aufgeschnitten; heute würden Glieder von Leichen aufgeschnitten, damit man
die Lage von Sehnen und Gelenken erkennen könne.
ALBUCIUS benutzte folgende Entschuldigung: Er sei
unglücklich gewesen, verlassen, habe offen den Tod
herbeigesehnt. Philipp hätte ihn sonst nicht verkauft,
wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, weiterzuleben sei für ihn eine Strafe. (18) SILO POMPEIUS
hielt es für geschickter, wenn Parrhasius mit der Absicht zur Auktion gegangen wäre, sich jemanden für
diesen Zweck zu kaufen. Dann könne man nämlich
davon ausgehen, er habe den billigsten und nutzlosesten ausgesucht. FUSCUS ARELLIUS hielt es für gut,
jener sei zwar für andere Zwecke gekauft worden,
aber als er schwächer wurde und sterben wollte, sei
er für den Zweck verwendet worden, den ein Künstler allein durch einen Leichnam erreichen konnte.
GALLIO schloss sich keinem von beiden an und sagte
auch nicht, mit welcher Absicht er ihn gekauft hätte,
doch kann Gallios Entschuldigung nicht anerkannt
werden: Er sagte nämlich, Parrhasius habe den Greis
aus der Zahl der schuldigen Olynthier gekauft; denn
wenn es jenem erlaubt ist, dies zu erfinden, sehe ich
nicht, warum er nicht mit dem gleichen Kunstgriff
sagen könnte, dieser sei Mitwisser der Verschwörung
des Lasthenes gewesen und Parrhasius habe ihn zur
Strafe gefoltert.
(Übersetzung Walter Kiessel)
Survol de la littérature antique
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XXXIX
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
12. 2. 1. Seneca der Jüngere, De vita beata 2
Cum de beata vita agetur, non est quod mihi illud
discessionum more respondeas: 'haec pars maior esse
videtur.' Ideo enim peior est. Non tam bene cum
rebus humanis agitur ut meliora pluribus placeant:
argumentum pessimi turba est. (2) Quaeramus ergo
quid optimum factu sit, non quid usitatissimum, et
quid nos in possessione felicitatis aeternae constituat,
non quid vulgo, veritatis pessimo interpreti,
probatum sit. Vulgum autem tam chlamydatos quam
coronatos voco; non enim colorem vestium quibus
praetexta sunt corpora aspicio. Oculis de homine non
credo, habeo melius et certius lumen quo a falsis
vera diiudicem: animi bonum animus inveniat. Hic,
si umquam respirare illi et recedere in se vacaverit, o
quam sibi ipse verum tortus a se fatebitur ac dicet:
(3) 'quidquid feci adhuc infectum esse mallem,
quidquid dixi cum recogito, mutis invideo, quidquid
optavi inimicorum execrationem puto, quidquid
timui, di boni, quanto levius fuit quam quod
concupii! Cum multis inimicitias gessi et in gratiam
ex odio, si modo ulla inter malos gratia est, redii:
mihi ipsi nondum amicus sum. Omnem operam dedi
ut me multitudini educerem et aliqua dote notabilem
facerem: quid aliud quam telis me opposui et
malevolentiae quod morderet ostendi? (4) Vides istos
qui eloquentiam laudant, qui opes sequuntur, qui
gratiae adulantur, qui potentiam extollunt? omnes aut
sunt hostes aut, quod in aequo est, esse possunt;
quam magnus mirantium tam magnus invidentium
populus est. Quin potius quaero aliquod usu bonum,
quod sentiam, non quod ostendam? ista quae
spectantur, ad quae consistitur, quae alter alteri
stupens monstrat, foris nitent, introrsus misera sunt.'
Wenn es um das glückliche Leben geht, gibt es
keinen Anlass, dass du mir wie bei Abstimmungen
antwortest: »Diese Gruppe scheint grösser zu sein«;
deswegen ist sie nämlich schlechter. So gut steht es
mit den Problemen des Menschen nicht, dass das
Bessere der Mehrheit gefällt: Beweis für das
Schlechteste ist die Masse. (2) Fragen wir also, was
am besten zu tun sei, nicht was am nützlichsten, und
was uns in den Besitz dauernden Glückes setze,
nicht, was von der Masse, der Wahrheit schechtestem Deuter, gebilligt wird. Masse aber nenne ich
ebenso Menschen im Prunkgewand wie gekrönte
Häupter; nicht die Farbe der Kleidung nämlich, mit
der die Körper verhüllt sind, beachte ich; den Augen
schenke ich, wenn es um einen Menschen geht,
keinen Glauben, ich habe ein besseres und zuverlässigeres – geistiges – Auge, mit dem ich von Falschem das Echte unterscheide; den Wert der Seele
finde die Seele! Wenn sie jemals aufzuatmen und
sich in sich selbst zurückzuziehen Gelegenheit hat,
wie wird sie, sich selber die Wahrheit abringend,
gestehen und sagen: (3) »Was immer ich bisher getan habe, ich wollte lieber, es sollte ungeschehen
sein; wenn ich, was immer ich gesagt habe, bedenke,
beneide ich die zur Sprache nicht fähigen Tiere, was
immer ich gewünscht habe, erachte ich für der
Feinde Verwünschung, was immer ich gefürchtet
habe – gute Götter! –, wieviel besser war es, als was
ich begehrt habe! Mit vielen habe ich in Feindschaft
gelebt, und zu Einvernehmen bin ich auch aus Hass
(wenn überhaupt irgendein Einvernehmen zwischen
schlechten Menschen besteht) zurückgekehrt: Mir
selber bin ich noch kein Freund. Alle Mühe habe ich
mir gegeben, mich von der Menge abzuheben und
durch irgendeinen Vorzug bemerkenswert zu machen
– was habe ich anderes getan, als mich Geschossen
auszusetzen und der Böswilligkeit zu zeigen, wie
sehr sie beissen könne? (4) Siehst du jene, die meine
Redegabe loben, die meinem Reichtum nachjagen,
die um meinen Einfluss schmeicheln, die meine
Macht rühmen? Alle sind sie Feinde, oder, was das
gleiche ist, können es sein: Wie gross die Schar der
Bewunderer, so gross ist die Menge der Neider. Warum suche ich nicht lieber irgendein erprobtes Gut,
das ich empfinden, nicht eines, das ich vorzeigen
kann? Das, was man sieht, wobei man stehenbleibt,
was einer dem anderen staunend zeigt – aussen ist es
voller Glanz, inwendig erbärmlich.«
(Übersetzung Walter Kiessel)
Survol de la littérature antique
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XL
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
12. 2. 2. Seneca der Jüngere, Epistulae 41
Seneca Lucilio suo salutem
(1) Facis rem optimam et tibi salutarem si, ut scribis,
perseveras ire ad bonam mentem, quam stultum est
optare cum possis a te inpetrare. Non sunt ad caelum
elevandae manus nec exorandus aedituus ut nos ad
aurem simulacri, quasi magis exaudiri possimus,
admittat: prope est a te deus, tecum est, intus est. (2)
Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet,
malorum bonorumque nostrorum observator et
custos; hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse
tractat. Bonus vero vir sine deo nemo est: an potest
aliquis supra fortunam nisi ab illo adiutus exsurgere?
Ille dat consilia magnifica et erecta. In unoquoque
virorum bonorum
(quis deus incertum est) habitat deus. (Verg. Aen. 8,352)
(3) Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam
altitudinem egressis frequens lucus et conspectum
caeli
<densitate>
ramorum
aliorum
alios
protegentium summovens, illa proceritas silvae et
secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam
densae atque continuae fidem tibi numinis faciet. Si
quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit,
non manu factus, sed naturalibus causis in tantam
laxitatem excavatus, animum tuum quadam
religionis suspicione percutiet. Magnorum fluminum
capita veneramur; subita ex abdito vasti amnis
eruptio aras habet; coluntur aquarum calentium
fontes, et stagna quaedam vel opacitas vel immensa
altitudo sacravit. (4) Si hominem videris interritum
periculis, intactum cupiditatibus, inter adversa
felicem, in mediis tempestatibus placidum, ex
superiore loco homines videntem, ex aequo deos,
non subibit te veneratio eius? non dices, 'ista res
maior est altiorque quam ut credi similis huic in quo
est corpusculo possit'? (5) Vis isto divina descendit;
animum excellentem, moderatum, omnia tamquam
minora transeuntem, quidquid timemus optamusque
ridentem, caelestis potentia agitat. Non potest res
tanta sine adminiculo numinis stare; itaque maiore
sui parte illic est unde descendit. Quemadmodum
radii solis contingunt quidem terram sed ibi sunt
unde mittuntur, sic animus magnus ac sacer et in hoc
demissus, ut propius divina nossemus, conversatur
quidem nobiscum sed haeret origini suae; illinc
pendet, illuc spectat ac nititur, nostris tamquam
melior interest. (6) Quis est ergo hic animus? qui
nullo bono nisi suo nitet. Quid enim est stultius quam
in homine aliena laudare? quid eo dementius qui ea
miratur quae ad alium transferri protinus possunt?
Non faciunt meliorem equum aurei freni. Aliter leo
aurata iuba mittitur, dum contractatur et ad
Seneca seinem Lucilius Gesundheit
(1) Du tust etwas Vorzügliches und für Dich Heilsames, wenn Du – wie du schreibst – weiterhin
fortschreitest zu sittlicher Vervollkommnung, die zu
wünschen töricht ist, da Du sie von Dir selbst
erlangen kannst. Man braucht nicht die Hände zum
Himmel zu erheben noch den Tempelwächter anzuflehen, dass er uns zum Ohr des Götterbildes vorlasse, als ob wir dann besser erhört werden könnten:
Nahe ist Dir der Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er. (2)
So sage ich, Lucilius: ein heiliger Geist wohnt in
uns, unserer schlechten und guten Taten Beobachter
und Wächter: Wie er von uns behandelt wird, so
behandelt er selber uns. Ein guter Mensch aber ist
niemand ohne den Gott: Oder kann einer über das
Schicksal, wenn nicht von ihm unterstützt, sich erheben? Er gibt Ratschläge, die hochherzig und aufrecht: In jedem guten Menschen – (welcher Gott, ist
ungewiss) wohnt ein Gott.
(3) Wenn Du einen von alten und über die übliche
Grösse hinausgewachsenen Bäumen bestandenen
Hain findest, der den Anblick des Himmels durch die
Dichte einander gegenseitig verdeckender Zweige
verhindert – diese Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes und die Verwunderung über
den in einer offenen Landschaft so dichten und ununterbrochenen Schatten wird in Dir den Glauben an
göttliches Walten wecken. Wenn eine Höhle, tief aus
den Felsen ausgewaschen, den Berg über sich trägt,
nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch
Kräfte der Natur zu solcher Weite ausgehöhlt, wir sie
Deine Seele durch eine Ahnung von Gottesfurcht
erbeben lassen. Bedeutender Flüsse Quellen verehren
wir; das unvermittelte Hervorbrechen eines starken
Stromes aus dem Verborgenen besitzt Altäre; verehrt
werden die Quellen heisser Gewässer, und manche
Seen hat entweder schattiges Dunkel oder unergründliche Tiefe geheiligt. (4) Wenn Du einen Menschen
siehst, unerschrocken angesichts von Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten
in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren
Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die
Götter, wird Dich nicht Ehrfurcht vor ihm ankommen? Wirst Du nicht sagen: » Diese Haltung ist
grösser und erhabener, als dass man sie mit diesem
bedeutungslosen Körper, in dem sie wohnt, für vereinbar halten könnte«? (5) Göttliche Kraft ist in ihn
eingegangen: Die Seele, überragend, massvoll, alles
als gleichsam zu unbedeutend übergehend, was immer wir fürchten und wünschen, belächelnd, belebt
eine himmlische Macht. Eine derartige Seele kann
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patientiam recipiendi ornamenti cogitur fatigatus,
aliter incultus, integri spiritus: hic scilicet impetu
acer, qualem illum natura esse voluit, speciosus ex
horrido, cuius hic decor est, non sine timore aspici,
praefertur illi languido et bratteato. (7) Nemo gloriari
nisi suo debet. Vitem laudamus si fructu palmites
onerat, si ipsa pondere eorum quae tulit adminicula
deducit: num quis huic illam praeferret vitem cui
aureae uvae, aurea folia dependent? Propria virtus est
in vite fertilitas; in homine quoque id laudandum est
quod ipsius est. Familiam formonsam habet et
domum pulchram, multum serit, multum fenerat:
nihil horum in ipso est sed circa ipsum. (8) Lauda in
illo quod nec eripi potest nec dari, quod proprium
hominis est. Quaeris quid sit? animus et ratio in
animo perfecta. Rationale enim animal est homo;
consummatur itaque bonum eius, si id inplevit cui
nascitur. Quid est autem quod ab illo ratio haec
exigat? rem facillimam, secundum naturam suam
vivere. Sed hanc difficilem facit communis insania:
in vitia alter alterum trudimus. Quomodo autem
revocari ad salutem possunt quos nemo retinet,
populus inpellit? Vale.
XLI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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nicht ohne Stütze durch göttliches Walten Bestand
haben: Daher ist sie mit ihrem grössten Teil dort, von
wo sie herabgestiegen. Wie die Sonnenstrahlen die
Erde gewiss berühren, aber dort zu Hause sind, von
wo sie ausgesandt werden, so die Seele, gross, heilig
und hierher herabgesandt, damit wir das Göttliche
näher erkennen: Sie verkehrt zwar mit uns, aber behält den Zusammenhang mit ihrem Ursprung: Von
dort ist sie abhängig, dorthin blickt und strebt sie, an
unseren Dingen hat sie gleichsam als ein höheres
Wesen Anteil. (6) Was ist also diese Seele? Sie hat
Glanz durch kein Gut ausser dem ihr eigenen. Was
nämlich ist törichter, als an einem Menschen nicht zu
ihm Gehöriges zu loben? Was unsinniger als einer,
der das bewundert, was sofort einem anderen übertragen werden kann? Ein Pferd machen goldene
Zügel nicht besser. Anders wird ein Löwe mit vergoldeter Mähne in die Arena geschickt, während er
gestreichelt und, ermüdet, zur Geduld, Schmuck
hinzunehmen, gezwungen wird, anders ein ungepflegter, von unversehrter Wildheit: Dieser freilich,
im Angriff jäh, wie ihn die Natur gewollt hat,
ansehnlich durch seine schreckliche Gestalt, deren
Zierde es ist, nicht ohne Furcht angesehen zu werden, wird jenem verweichlichten und mit Gildflitter
behängten vorgezogen. (7) Niemand darf sich, ausser
des Eigenen, rühmen. Den Weinstock loben wir,
wenn er mit Frucht die Zweige belastet, wenn er
eben die Stützen durch das Gewicht dessen, was er
trägt, niederbiegt: Wird ihm einer jenen Weinstock
vorziehen, von dem goldene Trauben, goldene
Blätter herbhängen? Eigentümlicher Vorzug ist
beim Weinstock Fruchtbarkeit: Auch beim Menschen muss man das loben, was seinem Wesen eigen
ist. Eine ansehnliche Dienerschaft hat er und ein
schönes Haus, viel sät er, viel Geld verleiht er:
Nichts davon ist in ihm, sondern nur um ihn. (8) Lobe an ihm, was weder entrissen noch gegeben
werden kann, was Eigentum des Menschen ist. Du
fragst, was das sei? Die Seele und die Vernunft, in
der Seele zur Reife gekommen. Ein vernunftbegabtes
Wesen ist nämlich der Mensch: Vollendet wird daher
sein Vorzug, wenn er das erfüllt hat, wozu er geboren wird. Was ist es aber, was von ihm diese Vernunft verlangt? Ein sehr leichtes Verhalten, gemäss
der eigenen Natur zu leben. Aber das macht die
allgemeine Unvernunft sehr schwierig: In Fehlverhalten stürzen wir einer den anderen. Wie aber können die wieder zur Rettung geführt werden, welche
niemand zurückhält, welche die Masse verleitet?
Leb' wohl.
(Übersetzung Walter Kiessel)
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XLII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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12. 3. Quintilian, Institutio oratoria 12,1,1–13
(1) Sit ergo nobis orator quem constituimus is qui a
M. Catone (M. Porcius Cato Censorius (234–149 v. Chr.),
kompormissloser Verfechter altrömischer Sittenstrenge) finitur
vir bonus dicendi peritus, verum, id quod et ille
posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique
vir bonus: id non eo tantum quod, si vis illa dicendi
malitiam instruxerit, nihil sit publicis privatisque
rebus perniciosius eloquentia, nosque ipsi, qui pro
virili parte conferre aliquid ad facultatem dicendi
conati sumus, pessime mereamur de rebus humanis
si latroni comparamus haec arma, non militi. (2)
Quid de nobis loquor? Rerum ipsa natura, in eo quod
praecipue indulsisse homini videtur quoque nos a
ceteris animalibus separasse, non parens sed noverca
fuerit si facultatem dicendi sociam scelerum,
adversam innocentiae, hostem veritatis invenit.
Mutos enim nasci et egere omni ratione satius fuisset
quam providentiae munera in mutuam perniciem
convertere. (3) Longius tendit hoc iudicium meum.
Neque enim tantum id dico, eum qui sit orator virum
bonum esse oportere, sed ne futurum quidem
oratorem nisi virum bonum. Nam certe neque
intellegentiam concesseris iis qui proposita
honestorum ac turpium via peiorem sequi malent,
neque prudentiam, cum in gravissimas frequenter
legum, semper vero malae conscientiae poenas a
semet ipsis inproviso rerum exitu induantur. (4)
Quod si neminem malum esse nisi stultum eundem
non modo a sapientibus dicitur sed vulgo quoque
semper est creditum, certe non fiet umquam stultus
orator. Adde quod ne studio quidem operis
pulcherrimi vacare mens nisi omnibus vitiis libera
potest: primum quod in eodem pectore nullum est
honestorum turpiumque consortium, et cogitare
optima simul ac deterrima non magis est unius animi
quam eiusdem hominis bonum esse ac malum: (5)
tum illa quoque ex causa, quod mentem tantae rei
intentam vacare omnibus aliis, etiam culpa
carentibus, curis oportet. Ita demum enim libera ac
tota, nulla distringente atque alio ducente causa,
spectabit id solum ad quod accingitur. (6) Quod si
agrorum nimia cura et sollicitior rei familiaris
diligentia et venandi voluptas et dati spectaculis dies
multum studiis auferunt (huic enim rei perit tempus
quodcumque alteri datur), quid putamus facturas
cupiditatem
avaritiam
invidiam,
quarum
inpotentissimae cogitationes somnos etiam ipsos et
illa per quietem visa perturbent? (7) Nihil est enim
tam occupatum, tam multiforme, tot ac tam variis
adfectibus concisum atque laceratum quam mala
mens. Nam et cum insidiatur, spe curis labore
(1) Für uns soll also der Redner, den wir heranbilden
wollen, von der Art sein, wie ihn Marcus Cato définiert: ›ein Ehrenmann, der reden kann‹ – unbedingt
jedoch das, was in Catos Definition am Anfang steht
und auch seinem Wesen nach das Wichtigere und
Grössere ist: Ein Ehrenmann. Und dies nicht nur
deshalb, weil es, wenn die Redegewalt unseren Redner zum Schlechten ausrüstete, nichts Verderblicheres für die Interessen der Gemeinschaft und des
einzelnen gäbe als die Berdesamkeit, und wir selbst,
die wir, was Menschenkraft vermag, für die Redegabe zu leisten versucht haben, den Interessen der
menschlichen Gesellschaft die schlechtesten Dienste
erwiesen, wenn wir unsere Waffen für einen Räuber
schmiedeten und nicht für einen Soldaten. (2) Doch
warum von uns reden? Würde ja die Natur selbst mit
der Gabe, die sie doch offenbar vor allem dem Menschen verliehen und womit sie uns von den anderen
Lebewesen geschieden hat, nicht als Mutter, sondern
als Stiefmutter gehandelt haben, wenn sie wirklich
die Redegabe als Helfershelferin bei Verbrechen, als
Gegnerin der Unschuld und Feindin der Wahrheit
erfunden hat. Denn stumm geboren zu werden und
alle Vernunft zu entbehren wäre besser gewesen, als
die Gaben der Vorsehung zum Verderben gegeneinanderzukehren. (3) Weiter noch geht, was ich mit
dieser Feststellung meine: Ich sage nämlich nicht
nur, dass, wer ein Redner ist, ein Ehrenmann sein
muss, sondern dass auch nur ein Ehrenmann überhaupt ein Redner werden kann. Denn gewiss würde
man doch Menschen, die, wenn ihnen der Weg zur
Ehre und zur Schande freistünde, den schlechteren
Weg einschlagen wollten, weder Verstand
zuerkennen noch Klugheit, wenn sie so oft gegen die
schwersten strafen der Gesetze, in jedem Fall jedoch
gegen die Folter des schlechten Gewissens sich
einem unabsehbaren Geschick aussetzten. (4) Wenn
aber niemand schlecht sein kann, ohne zugleich
töricht zu sein, wie es nicht nur die Philosophen
lehren, sondern auch immer die Überzeugung des
Volkes war, so wird gewiss niemals ein Tor ein
Redner werden. Hinzu kommt, dass selbst die Hingabe an die herrlichste aller Studienaufgaben nur ein
von allen Lastern freier Geist aufzubringen vermag;
zunächst schon deshalb, weil es in derselben Brust
das Zusammenwirken von Gutem und Schändlichem
nicht gibt und derselbe Geist sowenig gleichzeitig
das Beste und Schlechteste zu ersinnen vermag, wie
derselbe Mensch zugleich gut und schlecht sein
kann; (5) sodann auch aus dem Grunde, weil das
Denken, das auf eine so grosse Aufgabe gerichtet ist,
Survol de la littérature antique
Cours bilingue
XLIII
distringitur, et, etiam cum sceleris compos fuit,
sollicitudine, paenitentia, poenarum omnium
expectatione torquetur. Quis inter haec litteris aut
ulli bonae arti locus? Non hercule magis quam
frugibus in terra sentibus ac rubis occupata. (8) Age,
non ad perferendos studiorum labores necessaria
frugalitas? Quid ergo ex libidine ac luxuria spei?
Non praecipue acuit ad cupiditatem litterarum amor
laudis? Num igitur malis esse laudem curae
putamus? Iam hoc quis non videt, maximam partem
orationis in tractatu aequi bonique consistere?
Dicetne de his secundum debitam rerum dignitatem
malus atque iniquus? (9) Denique, ut maximam
partem quaestionis eximam, demus, id quod nullo
modo fieri potest, idem ingenii studii doctrinae
pessimo atque optimo viro: uter melior dicetur
orator? Nimirum qui homo quoque melior. Non
igitur umquam malus idem homo et perfectus orator.
(10) Non enim perfectum est quicquam quo melius
est aliud. Sed, ne more Socraticorum nobismet ipsi
responsum finxisse videamur, sit aliquis adeo contra
veritatem opstinatus ut audeat dicere eodem ingenio
studio doctrina praeditum nihilo deteriorem futurum
oratorem malum virum quam bonum: convincamus
huius quoque amentiam. (11) Nam hoc certe nemo
dubitabit, omnem orationem id agere ut iudici quae
proposita fuerint vera et honesta videantur. Utrum
igitur hoc facilius bonus vir persuadebit an malus?
Bonus quidem et dicet saepius vera atque honesta.
(12) Sed etiam si quando aliquo ductus officio (quod
accidere, ut mox docebimus, potest) falso haec
adfirmare conabitur, maiore cum fide necesse est
audiatur. At malis hominibus ex contemptu opinionis
et ignorantia recti nonnumquam excidit ipsa
simulatio: inde inmodeste proponunt, sine pudore
adfirmant. (13) Sequitur in iis quae certum est effici
non posse deformis pertinacia et inritus labor: nam
sicut in vita, ita in causis quoque spes improbas
habent; frequenter autem accidit ut iis etiam vera
dicentibus fides desit videaturque talis advocatus
malae causae argumentum.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
von allen, selbst den nicht mit einer Schuldfrage
verbundenen Sorgen frei sein muss. Denn so nur
wird es frei und ausschliesslich, ohne durch irgendeinen Anlass zerstreut und auf anderes abgelenkt zu
werden, nur das Ziel im Auge behalten, dem es
zustrebt. (6) Wenn aber schon zu starke Beschäftigung mit der Gutswirtschaft, nervenaufreibenden
Sorge um den Familienbesitz, Jagdleidenschaft, und
die Hingabe an die Festspielveranstaltungen den
Studien viel Zeit rauben – denn dem Studium geht
die Zeit verloren, die man einer andern Beschäftigung widmet –, was, glauben wir, werden hierin erst
Begehrlichkeit, Habgier und Neid verursachen, die
unsere Gedanken so masslos beschäftigen, dass sie
selbst unsere Schlummerstunden und was uns beim
Ruhen im Traum erscheint, beunruhigen? (7) Denn
es gibt nichts, das so zu schaffen macht, in so vielfältiger Form, so vielen und verschiedenen Gefühlsregungen unser Gemüt zerspaltet und zerreisst wie
schlechte Gedanken. Denn wenn sie auf die Untat
lauern, quälen sie sich mit Hoffnung, Mühe und
Sorgen; und auch wenn die Tat vollbracht ist, peinigt
sie die Unruhe, Reue und die Aussicht auf alle
möglichen Strafen. Wo bleibt hierbei eine Stätte für
wissenschaftliche Muse oder irgendwelche edle
Geistesarbeit ? Doch wahrhaftig nicht mehr als seine
Stätte für Fruchtertrag in einem Boden, der von
Disteln und Dornen starrt. (8) Doch weiter: Bedarf es
nicht, um den Anstrengungen der Studien gewachsen
zu sein, einer schlichten Lebensführung? Was ist
also zu erhoffen bei der Gier nach Wollust und
Lebensgenuss? Ist nicht die Ruhmesliebe ein vorzüglicher Anreiz zur Lust an literarischer Betätigung? Können wir denn also glauben, dass
schlechten Menschen etwas am Ruhme liegt? Sieht
denn weiter nicht Auch ein jeder, dass die Rede zum
grössten Teil in der Behandlung des Billigen und
Guten besteht? Wird aber hierüber der schlecht und
unbillig Denkende so reden, wie er es der Würde
dieser Gegenstände schuldig ist? (9) Schliesslich
wollen wir – um einmal den wichtigsten Teil der
Frage beiseite zu lassen – ein Zugeständnis machen,
das unter keinen Umständen möglich ist, und annehmen, der schlechteste und der beste Mensch besässen
gleichviel Begabung, Lerneifer und Bildung: Wer
von ihnen wird dann als der bessere Redner
bezeichnet werden? Natürlich doch der, der Auch als
Mensch der bessere ist. So wird also niemals ein
schlechter Mensch zugleich ein vollkommener
Redner sein. (10) Denn es kann nichts vollkommen
sein, das durch etwas Besseres übertroffen wird.
Jedoch, damit es nicht so aussieht, als hätten wir, wie
Survol de la littérature antique
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Büste eines Gelehrten oder eines Redners
XLIV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
die Sokratiker, uns die Antwort selbst zurechtgemacht, möge jemand so gegen die Wahrheit
verstockt sein, dass er sich zu behaupten erkühnt,
ausgestattet mit der gleichen Begabung, dem
gleichen Lerneifer und der gleichen Bildung werde
ein schlechter Mensch kein geringerer Redner sein
als ein guter, so wollen wir auch einen solchen Menschen seiner Unverstandes überführen. (11) Denn das
wird ja wohl gewiss niemand bezweifeln, dass jede
Rede das Ziel hat, dass dem Richter ihre Ausführungen wahr und anständig erscheinen. Wird nun
davon leichter ein guter Mensch überzeugen oder ein
schlechter? Der gute wird doch öfter Wahres und
Anständiges sprechen. (12) Jedoch, auch wenn er
einmal, durch eine Verpflichtung veranlasst – was,
wie wir bald zeigen werden, geschehen kann – fälschlich diesen Eindruck zu erwecken sucht, so muss
seine Ausführung zwangsläufig mit grösserer Glaubwürdigkeit Gehör finden. Schlechten Menschen
dagegen missglückt bei ihrer Geringschätzung der
geltenden Ansichten und ihrer Unkenntnis des Rechten zuweilen sogar die Verstellung. Dann gehen sie
in ihrem Beweisziel masslos, in ihrer Beweisführung
ganz ohne Takt und Anstand vor. (13) So ergibt sich
bei dem, was sie gewiss ja doch erreichen können,
nur hässliche Rechthaberei und vergebliche Mühe.
Denn wie im Leben, so haben sie auch bei Prozessen unbillige Erwartungen. Häufig aber kommt
es vor, dass ihnen, selbst wenn sie die Wahrheit
sprechen, die Glaubwürdigkeit fehlt und ein solcher
Rechtsbeistand als Beweis erscheint für eine schlechte Sache.
(Übersetzung Walter Kiessel)
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XLV
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
13. Die kaiserzeitliche Prosa (II): Plinius, Tacitus
13. 1. 1. Plinius, epist. 6,20
C. PLINIVS TACITO SUO SALUTEM
(1) ais te adductum litteris quas exigenti tibi de morte
avunculi mei (= Plinius der Ältere) scripsi, cupere
cognoscere, quos ego Miseni relictus (= Stadt am
Nordrand des Golfes von Neapel; der dazugehörige Hafen war
Hauptstützpunkt der römischen Flotte im Tyrrhenischen Meer)
(id enim ingressus abruperam) non solum metus
verum etiam casus pertulerim. 'Quamquam animus
meminisse horret, … incipiam.' (= Verg. Aen. 2,12–13)
(2) Profecto avunculo ipse reliquum tempus studiis
(ideo enim remanseram) impendi; mox balineum cena
somnus inquietus et brevis. (3) Praecesserat per
multos dies tremor terrae, minus formidolosus quia
Campaniae solitus; illa vero nocte ita invaluit, ut non
moveri omnia sed verti crederentur. (4) Inrupit
cubiculum meum mater; surgebam invicem, si
quiesceret excitaturus. Resedimus in area domus, quae
mare a tectis modico spatio dividebat. (5) Dubito,
constantiam vocare an imprudentiam debeam (agebam
enim duodevicensimum annum): posco librum Titi
Livi, et quasi per otium lego atque etiam ut coeperam
excerpo. Ecce amicus avunculi qui nuper ad eum ex
Hispania venerat, ut me et matrem sedentes, me vero
etiam legentem videt, illius patientiam securitatem
meam corripit. Nihilo segnius ego intentus in librum.
(6) Iam hora diei prima, et adhuc dubius et quasi
languidus dies. Iam quassatis circumiacentibus tectis,
quamquam in aperto loco, angusto tamen, magnus et
certus ruinae metus. (7) Tum demum excedere oppido
visum; sequitur vulgus attonitum, quodque in pavore
simile prudentiae, alienum consilium suo praefert,
ingentique agmine abeuntes premit et impellit. Egressi
tecta consistimus. (8) Multa ibi miranda, multas
formidines patimur. Nam vehicula quae produci
iusseramus, quamquam in planissimo campo, in
contrarias partes agebantur, ac ne lapidibus quidem
fulta in eodem vestigio quiescebant. (9) Praeterea
mare in se resorberi et tremore terrae quasi repelli
videbamus. Certe processerat litus, multaque animalia
maris siccis harenis detinebat. Ab altero latere nubes
atra et horrenda, ignei spiritus tortis vibratisque
Gaius Plinius grüsst seinen (Freund) Tacitus
(1) Du schreibst mir, der Brief, in welchem ich Dir
auf Einen Wunsch vom Ende meines Onkels berichte
habe, wecke in Dir das Verlangen zu erfahren, welche Ängste, welche Gefahren ich, in Nisenum zurückgeblieben, ausgestanden habe, denn als ich darauf zu
sprechen kann, habe ich abgebrochen. »Wenngleich
Schauer mich fasst und Entsetzen, will ich beginnen.«
(2) Als mein Onkel fort war, verwendete ich den
Rest des Tages auf meine Studien, weswegen ich ja
daheim geblieben war; dann Bad, Abendessen, kurzer, unruhiger Schlaf. (3) Vorausgegangen waren
mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstösse – Campanien ist ja daran gewöhnt –; in jener
Nacht wurden sie aber so stark, dass man glauben
musste, alles bewege sich nicht nur, sondern stehe
auf dem Kopfe. (4) Meine Mutter stürzte in mein
Schlafzimmer; ich wollte gerade aufstehen, um sie
zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns auf den
Vorplatz des Hauses, der in mässiger Ausdehnung
das Meer von den Baulichkeiten trennte. (5) Ich
weiss nicht, soll ich es Gleichmut oder Unüberlegtheit
nennen – ich war ja erst 18 Jahre alt –: Ich lasse mir
ein Buch des Titus Livius bringen, lese, als hätte ich
nichts Besseres zu tun, exzerpieren auch, wie ich
begonnen hatte. Da kommt ein Freund meines Onkels, der kürzlich bei ihm aus Spanien eingetroffen
war, und als er mich und meine Mutter dasitzen
sieht, mich sogar lesend, schilt er ihre Gleichgültigkeit, meine Unbekümmertheit; trotzdem blieb ich bei
meinem Buche.
(6) Es war bereits um die erste Stunde, und der Tag
kam zögernd, sozusagen schläfrig herauf. Die umliegenden Gebäude waren schon stark in Mitleidenschaft, gezogen, und obwohl wir uns auf freiem,
allerdings beengtem Raum befanden, empfanden wir
starke und begründete Furcht, dass sie einstürzen
könnten. (7) Jetzt erst schien es uns ratsam, die Stadt
zu verlassen. Eine verstörte Menschenmenge schliesst
sich uns an, lässt sich – was bei einer Panik beinahe
wie Klugheit aussieht – lieber von fremder statt von
der eigenen Einsicht leiten und stösst und drängt uns
in endlosem Zuge mit sich fort. (8) Als wir die Häuser hinter uns hatten, blieben wir stehen. Da sahen
wir allerlei Sonderbares, Beklemmendes geschehen.
Die Wagen, die wir hatten herausbringen lassen, rollten hin und her, obwohl sie auf ganz ebenem Terrain
Survol de la littérature antique
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XLVI
discursibus rupta, in longas flammarum figuras
dehiscebat; fulguribus illae et similes et maiores erant.
(10) Tum vero idem ille ex Hispania amicus acrius et
instantius 'Si frater' inquit 'tuus, tuus avunculus vivit,
vult esse vos salvos; si periit, superstites voluit.
Proinde quid cessatis evadere?' Respondimus non
commissuros nos ut de salute illius incerti nostrae
consuleremus. (11) Non moratus ultra proripit se
effusoque cursu periculo aufertur. Nec multo post illa
nubes descendere in terras, operire maria; cinxerat
Capreas et absconderat, Miseni quod procurrit
abstulerat. (12) Tum mater orare hortari iubere,
quoquo modo fugerem; posse enim iuvenem, se et
annis et corpore gravem bene morituram, si mihi
causa mortis non fuisset. Ego contra salvum me nisi
una non futurum; dein manum eius amplexus addere
gradum cogo. Paret aegre incusatque se, quod me
moretur.
(13) Iam cinis, adhuc tamen rarus. Respicio: densa
caligo tergis imminebat, quae nos torrentis modo
infusa terrae sequebatur. 'Deflectamus' inquam 'dum
videmus, ne in via strati comitantium turba in tenebris
obteramur.' (14) Vix consideramus, et nox non qualis
inlunis aut nubila, sed qualis in locis clausis lumine
exstincto. Audires ululatus feminarum, infantum
quiritatus, clamores virorum; alii parentes alii liberos
alii
coniuges
vocibus
requirebant,
vocibus
noscitabant; hi suum casum, illi suorum miserabantur;
erant qui metu mortis mortem precarentur; (15) multi
ad deos manus tollere, plures nusquam iam deos ullos
aeternamque illam et novissimam noctem mundo
interpretabantur. Nec defuerunt qui fictis mentitisque
terroribus vera pericula augerent. Aderant qui Miseni
illud ruisse illud ardere falso sed credentibus
nuntiabant. (16) Paulum reluxit, quod non dies nobis,
sed adventantis ignis indicium videbatur. Et ignis
quidem longius substitit; tenebrae rursus cinis rursus,
multus et gravis. Hunc identidem adsurgentes
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
Zweisprachige Vorlesung
standen, und blieben nicht einmal auf demselben
Fleck, wenn wir Steine unterlegten. (9) Ausserdem
sahen wir, wie das Meer sich in sich selbst zurückzog und durch die Erdstösse gleichsam zurückgedrängt wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt
und hielt zahllose Seetiere auf dem trockenen Sande
fest. Auf der andern Seite eine schaurige, schwarze
Wolke, kreuz und quer von feurigen Schlangenlinien
durchzuckt, die sich in lange Flammengarben spalteten, Blitzen ähnlich, nur grösser. (10) Da drängte
wieder der Freund aus Spanien heftiger und dringender: »Wenn dein Bruder, dein Onkel noch lebt,
möchte er auch euch lebend wiedersehen; ist er tot,
war es gewiss sein Wunsch, dass ihr am Leben bliebet! Was säumt ihr also, euch zu retten?« Wir erwiderten, wir könnten es nicht über uns gewinnen, an
uns zu denken, solange wir über sein Schicksal im
ungewissen seien. (11) Er liess sich nicht länger
halten, stürzte davon und entzog sich im gestreckten
Lauf der Gefahr. Nicht lange danach senkte sich jene
Wolke auf die Erde, bedeckte das Meer, hatte bereits
Capri eingehüllt und unsichtbar gemacht, hatte das
Kap Misenum unsern Blicken entzogen. (12) Da bat
und drängte meine Mutter, befahl mir schliesslich,
mich irgendwie in Sicherheit zu bringen ; ich als junger Mann könne es noch, sie, alt und gebrechlich,
werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht meinen Tod
verschuldet habe. Ich dagegen: Ich wolle mit ihr zusammen am Leben bleiben; damit fasste ich sie bei
der Hand und nötigte sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Widerstrebend fügte sie sich und machte sich
Vorwürfe, dass sie mich aufhalte.
(13) Schon regnete es Asche, doch zunächst nur
dünn. Ich schaute zurück: Im Rücken drohte dichter
Qualm, der uns, sich über den Erdboden ausbreitend,
wie ein Giessbach folgte. »Lass uns vom Wege abgehen«, rief ich, »solange wir noch sehen können,
sonst kommen wir auf der Strasse unter die Füsse
und werden im Dunkeln von der mitziehenden Masse
zertreten.« (14) Kaum hatten wir uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat.
Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer
schreien: Die einen riefen nach ihren Eltern, die
andern nach ihren Kindern, wieder andre nach ihren
Männern oder Frauen und suchten sie an der Stimme
zu erkennen; die einen beklagten ihr Unglück, andre
das der Ihren; manche flehten aus Angst vor dem
Tode um Tod; (15) viele beteten zu den Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter,
die letzte, ewige Nacht sei über die Welt herein-
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XLVII
excutiebamus; operti alioqui atque etiam oblisi
pondere essemus. (17) Possem gloriari non gemitum
mihi, non vocem parum fortem in tantis periculis
excidisse, nisi me cum omnibus, omnia mecum perire
misero, magno tamen mortalitatis solacio credidissem.
(18) Tandem illa caligo tenuata quasi in fumum
nebulamve discessit; mox dies verus; sol etiam
effulsit, luridus tamen qualis esse cum deficit solet.
Occursabant trepidantibus adhuc oculis mutata omnia
altoque cinere tamquam nive obducta. (19) Regressi
Misenum curatis utcumque corporibus suspensam
dubiamque noctem spe ac metu exegimus. Metus
praevalebat; nam et tremor terrae perseverabat, et
plerique lymphati terrificis vaticinationibus et sua et
aliena mala ludificabantur. (20) Nobis tamen ne tunc
quidem, quamquam et expertis periculum et
exspectantibus, abeundi consilium, donec de avunculo
nuntius.
Haec nequaquam historia digna non scripturus leges et
tibi scilicet qui requisisti imputabis, si digna ne
epistula quidem videbuntur. Vale.
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gebrochen. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mit
erfundenen, erlogenen Schreckensnachrichten die
wirkliche Gefahr übersteigerten. Einige behaupteten,
in Misenum sei dies und das eingestürzt, anderes
stehe in Flammen – blinder Lärm, aber sie fanden
Glauben. (16) Dann hellte es sich ein wenig auf,
doch war es anscheinend nicht das Tageslicht, sondern ein Vorbote des nahenden Feuers. Aber das
Feuer blieb in ziemlicher Entfernung stehen; es wurde wieder dunkel, wieder fiel Asche, dicht und
schwer, die wir fortgesetzt aufstehend, abschüttelten;
wir wären sonst verschüttet und durch ihre Last
erdrückt worden. (17) Ich könnte damit prahlen, dass
sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer,
kein verzagtes Wort entrungen hat, hätte ich nicht –
ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein
im Tode wirksamer Trost – fest geglaubt, ich ginge
mit allem und alles mit mir zugrunde.
(18) Endlich wurde der Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald
wurde es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus,
doch nur fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. Den
noch verängstigten Augen erschien alles ver-wandelt
und mit einer hohen Aschenschicht wie mit Schnee
überzogen. (19) Wir kehrten nach Misenum zurück,
machten uns notdürftig wieder zurecht und verbrachten eine unruhige Nacht, schwankend zwischen
Furcht und Hoffnung. Die Furcht überwog, denn die
Erdstösse hielten an, und viele Leute, wie wahnsinnig von schreckenerregenden Prophezeiungen,
witzelten über ihr und der andern Unglück. (20) Wir
aber konnten uns, obwohl wir die Gefahr aus eigener
Erfahrung kannten und weiter auf sie gefasst waren,
nicht entschliessen wegzugehen, ehe wir nicht Nachricht von meinem Onkel hatten.
Dies alles gehört gewiss nicht in ein Geschichtswerk,
und so wirst Du es lesen, ohne Gebrauch davon zu
machen; aber Du hast ja danach gefragt und hast es
somit Dir selbst zuzuschreiben, wenn es Dir nicht
einmal einen Brief zu verdienen scheint. Leb’ wohl!
(Übersetzung Walter Kiessel)
13. 1. 2. Plinius, epist. 10,96 et 10,97
C. PLINIVS TRAIANO IMPERATORI
(1) Sollemne est mihi, domine, omnia de quibus
dubito ad te referre. Quis enim potest melius vel
cunctationem meam regere vel ignorantiam instruere?
Cognitionibus de Christianis interfui numquam: ideo
nescio quid et quatenus aut puniri soleat aut quaeri.
(2) Nec mediocriter haesitavi, sitne aliquod discrimen
aetatum, an quamlibet teneri nihil a robustioribus
Gaius Plinius an Kaiser Trajan
(1) Ich habe es mir zur Regel gemacht, Herr, alles,
worüber ich im Zweifel bin, Dir vorzutragen. Wer
könnte denn besser mein Zaudern lenken oder meine
Unwissenheit belehren? Gerichtsverhandlungen gegen
Christen habe ich noch nie beigewohnt; deshalb
weiss ich nicht, was und wieweit man zu strafen oder
zu untersuchen pflegt. (2) Ich war auch ziemlich
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XLVIII
differant; detur paenitentiae venia, an ei, qui omnino
Christianus fuit, desisse non prosit; nomen ipsum, si
flagitiis careat, an flagitia cohaerentia nomini
puniantur. Interim, <in> iis qui ad me tamquam
Christiani deferebantur, hunc sum secutus modum. (3)
Interrogavi ipsos an essent Christiani. Confitentes
iterum ac tertio interrogavi supplicium minatus:
perseverantes duci iussi. Neque enim dubitabam,
qualecumque esset quod faterentur, pertinaciam certe
et inflexibilem obstinationem debere puniri. (4)
Fuerunt alii similis amentiae, quos, quia cives Romani
erant, adnotavi in urbem remittendos.
Mox ipso tractatu, ut fieri solet, diffundente se
crimine plures species inciderunt. (5) Propositus est
libellus sine auctore multorum nomina continens. Qui
negabant esse se Christianos aut fuisse, cum praeeunte
me deos adpellarent et imagini tuae, quam propter hoc
iusseram cum simulacris numinum adferri, ture ac
vino supplicarent, praeterea male dicerent Christo,
quorum nihil cogi posse dicuntur qui sunt re vera
Christiani, dimittendos putavi. (6) Alii ab indice
nominati esse se Christianos dixerunt et mox
negaverunt; fuisse quidem sed desisse, quidam ante
triennium, quidam ante plures annos, non nemo etiam
ante viginti. <Hi> quoque omnes et imaginem tuam
deorumque simulacra venerati sunt et Christo male
dixerunt. (7) Adfirmabant autem hanc fuisse summam
uel culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die
ante lucem convenire, carmenque Christo quasi deo
dicere secum invicem seque sacramento non in scelus
aliquod obstringere, sed ne furta ne latrocinia ne
adulteria committerent, ne fidem fallerent, ne
depositum adpellati abnegarent. Quibus peractis
morem sibi discedendi fuisse rursusque coeundi ad
capiendum cibum, promiscuum tamen et innoxium;
quod ipsum facere desisse post edictum meum, quo
secundum mandata tua hetaerias esse vetueram. (8)
Quo magis necessarium credidi ex duabus ancillis,
quae ministrae dicebantur, quid esset veri, et per
tormenta quaerere. Nihil aliud inveni quam
superstitionem pravam et immodicam.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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unsicher, ob das Lebensalter einen Unterschied bedingt oder ob ganz junge Menschen genau so
behandelt werden wie Erwachsene, ob der Reuige
Verzeihung erfährt oder obe es dem, der überhaupt
einmal Christ gewesen ist, nichts hilft, wenn er es
nicht mehr ist, ob schon der Name »Christ«, auch
wenn keine Verbrechen vorliegen, oder nur mit dem
Namen verbundene Verbrechen bestraft werden.
Vorerst habe ich bei denen, die bei mir als christen
angezeigt wruden, folgendes Verfahren angewandt.
Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. (3) Wer
gestand, den habe ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal gefragt; blieb er
dabei, liess ich ihn abführen. Denn mochten sie vorbringen, was sie wollten – Eigensinn und unbeugsame Halsstarrigkeit glaubte ich auf jeden Fall
bestrafen zu müssen. (4) Andre in dem gleichen
Wahn Befangene habe ich, weil sie römische Bürger
waren, zur Überführung nach Rom vorgemerkt.
Als dann im Laufe der Verhandlungen, wie es zu
gehen pflegt, die Anschuldigung weitere Kreise zog,
ergaben sich verschieden gelagerte Fälle. (5) Mir
wurde eine anonyme Klageschrift mit zahlreichen
Namen eingereicht. Diejenigen, die leugneten,
Christen zu sein oder gewesen zu sein, glaubte ich
freilassen zu müssen, da sie nach einer von mir
vorgesprochenen Formel unsre Götter anriefen und
vor Deinem Bilde, das ich zu diesem Zweck
zusammen mit den Statuen der Götter hatte bringen
lassen, mit Weihrauch und Wein opferten, ausserdem
Christus fluchten, lauter Dinge, zu denen wirkliche
Christen sich angeblich nicht zwingen lassen. (6)
Andre, die der Denunziant genannt hatte, gaben
zunächst zu, Christen zu sein, widerriefen es dann
aber; sei seien es zwar gewesen, hätten es dann aber
aufgegeben, manche vor drei Jahren, manche vor
noch längerer Zeit, hin und wieder sogar vor zwanzig
Jahren. Auch diese alle bezeugten Deinem Bild und
den Götterstatuen ihre Verehrung und fluchten
Christus. (7) Sie versicherten jedoch, ihre ganze
Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden,
dass sie sich an einem bestimmten Tag vor
Sonnenaufgang zu versammeln pflegten, Christus als
ihrem Gott einen Wechselgesang zu singen und sich
durch Eid nicht etwa zu irgendwelchen Verbrechen
zu verpflichten, sondern keinen Diebstahl, Raubüberfall oder Ehebruch zu begehen, ein gegebenes Wort
nicht zu brechen, eine angemahnte Schuld nicht
abzuleugnen. Hernach seien sie auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen,
um Speise zu sich zu nehmen, jedoch gewöhnliche,
harmlose Speise, aber das hätten sie nach meinem
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XLIX
(9) Ideo dilata cognitione ad consulendum te
decucurri. Visa est enim mihi res digna consultatione,
maxime propter periclitantium numerum. Multi enim
omnis aetatis, omnis ordinis, utriusque sexus etiam
vocantur in periculum et vocabuntur. Neque civitates
tantum, sed vicos etiam atque agros superstitionis
istius contagio pervagata est; quae videtur sisti et
corrigi posse. (10) Certe satis constat prope iam
desolata templa coepisse celebrari, et sacra sollemnia
diu intermissa repeti
passimque venire <carnem> victimarum, cuius adhuc rarissimus
emptor inveniebatur.
Ex quo facile est opinari, quae turba hominum emendari possit,
si sit paenitentiae locus.
TRAIANVS PLINIO
(1) Actum quem debuisti, mi Secunde, in excutiendis
causis eorum, qui Christiani ad te delati fuerant,
secutus es. Neque enim in universum aliquid, quod
quasi certam formam habeat, constitui potest. (2)
Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur,
puniendi sunt, ita tamen ut, qui negaverit se
Christianum esse idque re ipsa manifestum fecerit, id
est supplicando dis nostris, quamvis suspectus in
praeteritum, veniam ex paenitentia impetret. Sine
auctore vero propositi libelli <in> nullo crimine locum
habere debent. Nam et pessimi exempli nec nostri
saeculi est.
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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Edikt, durch das ich gemäss Deinen Instruktionen
Hetärien verboten hatte, unterlassen. (8) Für um so
notwendiger hielt ich es, von zwei Mägden, sogenannten Diakonissen, unter der Folter ein Geständnis
der Wahrheit zu erzwingen. Ich fand nichts andres
als einen wüsten, masslosen Aberglauben.
(9) Somit habe ich die weitere Untersuchung vertagt,
um mir bei Dir Rat zu holen. Die Sache scheint mir
nämlich der Beratung zu bedürfen, vor allem wegen
der grossen Zahl der Angeklagten. Denn viele jeden
Alters, jeden Standes, auch beiderlei Geschlechts
sind jetzt und in Zukunft gefährdet. Nicht nur über
die Städte, auch über Dörfer und Felder hat sich die
Seuche dieses Aberglaubens verbreitet, aber ich
glaube, man kann ihr Einhalt gebieten und Abhilfe
schaffen. (10) Jedenfalls ist es ziemlich sicher, dass
die beinahe schon verödeten Tempel allmählich
wieder besucht, die lange ausgesetzten feierlichen
Opfer wieder aufgenommen werden und das
Opferfleisch, für das sich bisher nur ganz selten ein
Käufer fand, überall wieder Absatz findet. Daraus
gewinnt man leicht einen Begriff, welch eine Masse
von Menschen gebessert werden kann, wenn man der
Reue Raum gibt.
Trajan an Plinius
(1) Mein Secundus! Bei der Untersuchung der Fälle
derer, die bei Dir als Christen angezeigt worden sind,
hast Du den rechten Weg eingeschlagen. Denn
insgesamt lässt sich überhaupt nichts festlegen, was
gleichsam als feste Norm dienen könnte. (2) Nachspionieren soll man ihnen nicht; werden sie angezeigt und überführt, sind sie zu bestrafen, so jedoch,
dass, wer leugnet, Christ zu sein und das durch die
Tat, das heisst durch Anrufung unserer Götter beweist, wenn er auch für die Vergangenheit verdächtig bleibt, aufgrund seiner Reue Verzeihung erhält.
Anonym eingereichte Klageschriften dürfen bei keiner Straftat Berücksichtigung finden, denn das wäre
ein schlimmes Beispiel und passt nicht in unsere
Zeit.
(Übersetzung Walter Kiessel)
13. 2. 1. Tacitus, Agricola 1–3
1 (1) Clarorum virorum facta moresque posteris
tradere, antiquitus usitatum, ne nostris quidem
temporibus quamquam incuriosa suorum aetas omisit,
quotiens magna aliqua ac nobilis virtus vicit ac
supergressa est vitium parvis magnisque civitatibus
commune, ignorantiam recti et invidiam. (2) sed apud
priores ut agere digna memoratu pronum magisque in
1 (1) Erlauchter Männer Taten und Art den Nachfahren zu überliefern, wie seit alters Brauch, hat nicht
einmal in unseren Zeiten ein gegen die Seinen doch
gleichgültiges Geschlecht unterlassen, sooft sich eine
grosse und vortreffliche Persönlichkeit siegreich
über einen grossen wie kleinen Bürgerschaften gemeinsamen Missstand erhob: über Unkenntnis des
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aperto erat, ita celeberrimus quisque ingenio ad
prodendam virtutis memoriam sine gratia aut
ambitione bonae tantum conscientiae pretio ducebatur.
(3) ac plerique suam ipsi vitam narrare fiduciam
potius morum quam adrogantiam arbitrati sunt, nec id
Rutilio et Scauro citra fidem aut obtrectationi fuit:
adeo virtutes isdem temporibus optime aestimantur,
quibus facillime gignuntur. (4) at nunc narraturo mihi
vitam defuncti hominis venia opus fuit, quam non
petissem incusaturus: tam saeva et infesta virtutibus
tempora.
(P. Rutilius Rufus, Konsul 105 v. Chr., und M. Aemilius Scaurus,
Konsul 115 v. Chr.: Verfasser von Autobiographien, in denen ihr
eigenes politisches Wirken recht einseitig hervogehoben war)
2 (1) Legimus, cum Aruleno Rustico Paetus Thrasea,
Herennio Senecioni Priscus Helvidius laudati essent,
capitale fuisse, neque in ipsos modo auctores, sed in
libros quoque eorum saevitum, delegato triumviris
ministerio ut monumenta clarissimorum ingeniorum in
comitio ac foro urerentur. (Der Stoiker Paetus Thrasea war
wegen seiner oppositionellen Haltung gegen den Kaiser 66 von
Nero zum Selbstmord gewzungen, sein Schwiegersohn Helvidius
Priscus aus ähnlichen Gründen unter Vespasian ermordert
worden. Arulenus Rusticus und Herennius Senecio mussten ihre
Kühnheit, eine Biographie dieser Regimegegner verfasst zu
(2) scilicet
illo igne vocem populi Romani et libertatem senatus et
conscientiam generis humani aboleri arbitrabantur,
expulsis insuper sapientiae professoribus atque omni
bona arte in exilium acta, ne quid usquam honestum
occurreret. (3) dedimus profecto grande patientiae
documentum; et sicut vetus aetas vidit quid ultimum
in libertate esset, ita nos quid in servitute, adempto per
inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio.
(4) memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus,
si tam in nostra potestate esset oblivisci quam tacere.
3 (1) Nunc demum redit animus; et quamquam primo
statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim
dissociabilis
miscuerit,
principatum
ac
libertatem,
augeatque
cotidie
felicitatem
temporum
Nerva
Traianus, nec spem modo
ac
votum
securitas
publica, sed ipsius voti
fiduciam
ac
robur
adsumpserit,
natura
haben, unter Domitian mit dem Leben büssen)
L
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Rechten und Neid. (2) Aber wie bei unseren Vorfahren Gedächtniswürdiges leicht zu vollbringen war
und freiere Bahn fand, so wurde gerade das gepriesene Talent nicht durch Parteigunst oder Ehrsucht
dazu bestimmt, das Gedächtnis mannhaften Lebens
weiterzugeben, sondern allein durch den Lohn eines
guten Gewissens. (3) Sehr viele gar hielten die Schilderung des eigenen Lebens eher für ein Zeichen von
Selbstvertrauen als von Einbildung, und es ist hieraus weder dem Rutilius noch dem Scaurus Verlust an
Glaubwürdigkeit oder Vorwurf entstanden: So sehr
werden nämlich grosse Leistungen gerade in den
Zeiten am besten gewürdigt, in denen sie am leichtesten entstehen. (4) Heutzutage aber bedarf ich der
Nachsicht, wenn ich das Leben eines Verstorbenen
schildern will; ich müsste sie nicht erbitten, wenn ich
anklagen wollte: So wütend und feindlich gegen
hervorragende Chraktere sind unsere Tage.
2 (1) Wir lesen, dass dem Arulenus Rusticus, als er
Paetus Thrasea, und dem Herennius Senecio, als er
Priscus Helvidius lobte, dies als todeswürdiges Verbrechen angelastet wurde und dass man nicht nur
gegen die Verfasser selbst, sondern auch gegen ihre
Bücher wütete: Den Triumvirn wurde der Auftrag
gegeben, diese Denkmäler hervorragender Geister im
Comitium auf dem Forum zu verbrennen. (2) Natürlich – denn mit diesem Feuer wähnte man die Stimme des römischen Volks, die Freiheit des Senats, die
Mitwisserschaft des Menschengeschlechts auszutilgen; man vertrieb obendrein die Lehrer der Weisheit
und stiess jedes löbliche Bestreben in die Verbannung, damit nirgends mehr sittliche Würde aufträte.
(3) Wir haben fürwahr einen grossen Beweis von
Geduld gegeben, und wie die alte Zeit gesehen, was
das Äusserste an Freiheit ist, so wir, was an Knechtschaft; man nahm uns ja durch Überwachung sogar
den Meinungsaustausch im Reden und Hören. Das
Gedächtnis selbst hätten wir zusammen mit der Stimme verloren, wenn es ebenso in unserem Belieben
stünde zu vergessen wie zu schweigen.
3 (1) Jetzt endlich kehrt der Mut wieder; aber wenn
auch gleich zu Beginn dieses glückseligsten Jahrhunderts Nerva Caesar ehemals unvereinbare Dinge –
Alleinherrschaft und Freiheit – zusammenbrachte,
und obgleich Nerva Traianus täglich das Glück
unserer Zeit vermehrt und die allgemeine Sicherheit
nicht allein nur Hoffnung und Wunsch geblieben ist,
sondern sich festes Vertrauen auf Erfüllung jenes
Wunsches eingestellt hat, so sind dennoch bei der
Natur menschlicher Schwachheit die Heilmittel langsamer als die Leiden; und wie unsere Leiber langsam wachsen, aber schnell hinweggetilgt sind, so
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tamen infirmitatis humanae tardiora sunt remedia
quam mala; et ut corpora nostra lente augescunt, cito
extinguuntur, sic ingenia studiaque oppresseris
facilius quam revocaveris: subit quippe etiam ipsius
inertiae dulcedo, et invisa primo desidia postremo
amatur. (2) quid, si per quindecim annos, grande
mortalis aevi spatium, multi fortuitis casibus,
promptissimus quisque saevitia principis interciderunt,
pauci et, ut ita dixerim, non modo aliorum sed etiam
nostri superstites sumus, exemptis e media vita tot
annis, quibus iuvenes ad senectutem, senes prope ad
ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus?
(3) non tamen pigebit vel incondita ac rudi voce
memoriam prioris servitutis ac testimonium
praesentium bonorum composuisse. hic interim liber
honori Agricolae soceri mei destinatus, professione
pietatis aut laudatus erit aut excusatus.
4 (1) Gnaeus Iulius Agricola, vetere et inlustri
Foroiuliensium colonia ortus, utrumque avum
procuratorem Caesarum habuit, quae equestris
nobilitas est. eqs.
LI
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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magst du Begabung und Eifer leichter unterdrücken
als wieder aufrufen: Es schleicht sich nämlich geradezu Lust am Nichtstun ein, und der zuerst verhasste
Müssiggang gefällt am Ende. (2) Wie nun, wenn
während fünfzehn Jahren – einer langen Frist innerhalb eines Menschenlebens – viele durch zufälliges
Schicksal, gerade die Beherztesten aber durch das
Wüten des Ersten Mannes zugrunde gingen? In
kleiner Zahl nur sind wir noch da und haben – um es
so zu sagen – nicht nur andere, sondern auch uns
selbst überlebt, da man uns aus der Mitte unseres Lebens so viele Jahre gerissen, in denen wir in Schweigen als Männer zu Alter, als Greise fast an die Grenzen eines zu Ende geführten Lebens gelangt sind. (3)
Dennoch soll es mich nicht verdriessen, wenngleich
in ungeschlachter und rauher Sprache, ein Denkmal
früherer Knechtschaft und ein Zeugnis gegenwärtigen Glücks zu erstellen. Einstweilen aber wird dieses
Buch, zur Ehrung meines Schwiegervaters Agricola
bestimmt, als Äusserung der Liebe entweder gelobt
oder doch entschuldigt werden.
4 (1) Gnaeus Julius Agricola, aus der alten und glanzvollen Kolonie Forum Julii, gebürtig, hatte zu beiderseitigen Grossvätern kaiserliche Prokuratoren, was
ritterlicher Adel ist. Usw.
(Übersetzung Walter Kiessel)
13. 2. 2. Tacitus, Dialogus de oratoribus 40,2–41
40 (2) non de otiosa et quieta re loquimur et quae
probitate et modestia gaudeat, sed est magna illa et
notabilis eloquentia alumna licentiae, quam stulti
libertatem vocitant, comes seditionum, effrenati
populi incitamentum, sine obsequio, sine severitate,
contumax, temeraria, adrogans, quae in bene
constitutis civitatibus non oritur. (3) quem enim
oratorem
Lacedaemonium,
quem
Cretensem
accepimus? quarum civitatum severissima disciplina
et severissimae leges traduntur. ne Macedonum
quidem ac Persarum aut ullius gentis, quae certo
imperio contenta fuerit, eloquentiam novimus. Rhodii
quidam, plurimi Athenienses oratores extiterunt, apud
quos omnia populus, omnia imperiti, omnia, ut sic
dixerim, omnes poterant. (4) nostra quoque civitas,
donec erravit, donec se partibus et dissensionibus et
discordiis confecit, donec nulla fuit in foro pax, nulla
in senatu concordia, nulla in iudiciis moderatio, nulla
superiorum reverentia, nullus magistratuum modus,
tulit sine dubio valentiorem eloquentiam, sicut
indomitus ager habet quasdam herbas laetiores. sed
nec tanti rei publicae Gracchorum eloquentia fuit, ut
pateretur et leges, nec bene famam eloquentiae Cicero
40 (2) »Nicht über eine friedvolle und ruhige Sache
sprechen wir, die sich über Rechtschaffenheit und
Bescheidenheit freut; vielmehr ist jene grosse und
berühmte Beredsamkeit ein Kind der Zügellosigkeit,
welche die Dummen Freiheit nennen, die Begleiterin
von Aufständen, das Aufputschmittel für ein zügelloses Volk, ohne Gehorsam, ohne Strenge, frech,
verwegen, anmassend, wie sie in wohlgeordneten
Staaten nicht entsteht. (3) Denn von welchem Redner
in Sparta, von welchem in Kreta haben wir gehört?
Die Ordnung dieser Staaten und ihre Gesetze werden
als überaus streng überliefert. Auch eine Beredsamkeit der Makedonen und Perser oder irgendeines
Volkes, das mit einer festbestimmten Regierungsgewalt zufrieden war, kennen wir nicht. Einige rhodische aber und sehr viele athenische Redner sind
aufgetreten, bei denen alles das Volk, alles die Unerfahrenen, alles sozusagen alle vermochten. (4) Auch
unser Staat brachte – solange er sich auf einem Irrweg befand, solange er sich in Parteiungen, Meinungsverschiedenheiten und Zwietracht verzehrte,
solange auf dem Forum kein Frieden herrschte, im
Senat keine Eintracht, in den Gerichtshöfen kein
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tali exitu pensavit.
(Die gescheiterten sozialrevolutionären Bestrebungen der Brüder Tiberius , gest. 133 v. Chr., und Gaius Sempronius Gracchus,
gest 123 v. Chr., hatten in Rom das Jahrhundert der Bürgerkriege eingeleitet)
41 (1) Sic quoque quod superest antiqui oratoribus
fori non emendatae nec usque ad votum compositae
civitatis argumentum est. (2) quis enim nos advocat
nisi aut nocens aut miser? quod municipium in
clientelam nostram venit, nisi quod aut vicinus
populus aut domestica discordia agitat? quam
provinciam tuemur nisi spoliatam vexatamque? atqui
melius fuisset non queri quam vindicari. (3) quod si
inveniretur aliqua civitas, in qua nemo peccaret,
supervacuus esset inter innocentis orator sicut inter
sanos medicus. quo modo tamen minimum usus
minimumque profectus ars medentis habet in iis
gentibus, quae firmissima valetudine ac saluberrimis
corporibus utuntur, sic minor oratorum honor
obscuriorque gloria est inter bonos mores et in
obsequium regentis paratos. (4) quid enim opus est
longis in senatu sententiis, cum optimi cito
consentiant? quid multis apud populum contionibus,
cum de re publica non imperiti et multi deliberent, sed
sapientissimus et unus? quid voluntariis accusationibus,
cum tam raro
et
tam
parce
peccetur?
quid
invidiosis
et
excedentibus
modum
defensionibus, cum clementia cognoscentis obviam
periclitantibus eat? (5) credite, optimi et in quantum
opus est disertissimi viri, si aut vos prioribus saeculis
aut illi, quos miramur, his nati essent, ac deus aliquis
vitas ac [vestra] tempora repente mutasset, nec vobis
summa illa laus et gloria in eloquentia neque illis
modus et temperamentum defuisset: nunc, quoniam
nemo eodem tempore adsequi potest magnam famam
et magnam quietem, bono saeculi sui quisque citra
obtrectationem alterius utatur.'
LII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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Masshalten, keine Ehrfurcht vor den Oberen, keine
Mässigung der Beamten – zweifellos eine ziemlich
machtvolle Beredsamkeit hervor, ebenso wie ein unbezwungener Acker manche fetteren Gräser aufweist. Aber die Beredsamkeit der Gracchen war für
das Gemeinwesen nicht so viel wert, dass es auch
ihre Gesetze ertrug, und ein Cicero hat den Ruhm
seiner Beredsamkeit mit einem solchen Ende nicht
gut aufgewogen.
41 (1) So ist auch das, was den Rednern vom alten
Forum blieb, ein Beweis für einen noch nicht geheilten und nach Wunsch geordneten Staat. (2) Wer ruft
uns denn um Hilfe an ausser den Schuldigen oder
Elenden? Welche Landstadt kommt denn in unsere
Schutzherrschaft ausser der, die ein benachbartes
Volk oder eine innere Zwietracht in Unruhe versetzt?
Welche Provinz schützen wir ausser der, die man
geplündert und misshandelt hat? Und doch wäre es
besser gewesen, keinen Grund zur Klage zu haben
als geschützt zu werden. (3) Wenn man aber einen
Staat fände, in dem sich niemand verginge, dann
wäre unter Schuldlosen der Redner überflüssig wie
unter Gesunden der Arzt. Wie nämlich das geringste
Mass an Verwendung und das geringste Mass an Erfolg die Kunst des Arztes bei den Völkern hat, die
sich der stärksten Konstitution und der gesündesten
Körper erfreuen, so ist die Anerkennung für die Redner geringer und ihr Ruhm dunkler bei guten Sitten
und bei Menschen, die zum Gehorsam gegenüber
dem Herrscher bereit sind. (4) Was bedarf es langer
Diskussionen im Senat, wenn die Besten rasch einer
Meinung sind? Was vieler Reden vor dem Volk,
wenn über den Staat nicht die Unerfahrenen und die
Vielen beraten, sondern der Weiseste und Eine? Was
bedarf es der freiwilligen Anklagen, wenn man sich
so selten und so geringfügig vergeht ? Was der Missgunst verbreitenden und das Mass überschreitenden
Verteidigungen, wenn die Milde des Untersuchenden
den Angeklagten entgegenkommt? (5) Glaubt mir,
beste und, soweit es nötig ist, beredteste Männer,
wenn entweder ihr in früheren Jahrhunderten und
jene, die wir bewundern, in unserem geboren wären
oder ein Gott plötzlich Leben und Zeit vertauscht
hätte, dann hätte weder euch jenes höchste Lob und
der Ruhm in der Beredsamkeit gefehlt noch jenen
das Mass und die Ausgeglichenheit: Nun aber, da
niemand zur gleichen Zeit grossen Ruhm und grosse
Ruhe erlangen kann, möge jeder das Gute in seinem
Jahrhundert geniessen, ohne das andere herabzusetzen!«
(Übersetzung Walter Kiessel)
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LIII
Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike
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13. 2. 3. Tacitus, Annales 40,2–41
50 Iam Tiberium corpus, iam vires, nondum
dissimulatio deserebat: idem animi rigor; sermone ac
vultu intentus quaesita interdum comitate quamvis
manifestam defectionem tegebat. mutatisque saepius
locis tandem apud promunturium Miseni consedit in
villa cui L. Lucullus quondam dominus. illic eum
adpropinquare supremis tali modo compertum. erat
medicus arte insignis, nomine Charicles, non quidem
regere valetudines principis solitus, consilii tamen
copiam praebere. is velut propria ad negotia
digrediens et per speciem officii manum complexus
pulsum venarum attigit. neque fefellit: nam Tiberius,
incertum an offensus tantoque magis iram premens,
instaurari epulas iubet discumbitque ultra solitum,
quasi honori abeuntis amici tribueret. Charicles tamen
labi spiritum nec ultra biduum duraturum Macroni
firmavit (Macro, von Tiberius i. J. 31 zum Prätorianer-präfekten ernannt, bald nach Caligulas Regierungsantritt 37 zum
gewzungen.). inde cuncta conloquiis inter
praesentis, nuntiis apud legatos et exercitus
festinabantur. septimum decimum kal. Aprilis
interclusa anima creditus est mortalitatem explevisse;
et multo gratantum concursu ad capienda imperii
primordia G. Caesar egrediebatur, cum repente
adfertur redire Tiberio vocem ac visus vocarique qui
recreandae defectioni cibum adferrent. pavor hinc in
omnis, et ceteri passim dispergi, se quisque maestum
aut nescium fingere; Caesar in silentium fixus a
summa spe novissima expectabat. Macro intrepidus
opprimi senem iniectu multae vestis iubet discedique
ab limine. sic Tiberius finivit octavo et septuagesimo
aetatis anno.
Selbstmord
51 pater ei Nero et utrimque origo gentis Claudiae,
quamquam mater in Liviam et mox Iuliam familiam
adoptionibus transierit. (Livia, 58 v. Chr. – 29 n. Chr., die
Mutter des Tiberius, liess sich 38 v. Chr. Von ihrem ersten Manne
Tib. Claudius Nero scheiden, um Octavian, den späteren Augustus, heiraten zu können; dieser nahm sie in seinem Testament
50 Schon zerfiel Tiberius körperlich, und schon
verliessen ihn seine Kräfte, aber noch nicht die
Kunst der Verstellung. Noch zeigte er sein starres
Wesen und seine Gestrafftheit im Gespräch und in
der Miene. Auch suchte er mitunter hinter einer gesuchten Freundlichkeit den offensichtlichen Zerfall
zu verbergen. Er wechselte öfters seinen Aufenthaltsort und nahm endlich seinen Wohnsitz auf dem
Vorgebirge Misenum in dem Landhaus, dessen Besitzer einst L. Lucullus gewesen war. Dass ihm hier
seine letzte Stunde nahte, wurde auf folgende Weise
bekannt. Es befand sich bei ihm ein äusserst tüchtiger Artz namens Charicles, der allerdings den Princeps, wenn er krank war, nicht zu behandeln pflegte,
aber ihm mit seinem Rat häufig beistand. Dieser
verabschiedete sich von Tiberius, wie wenn er zur
Erledigung eigener Geschäfte weggehe, und fasste
ihn scheinbar zur Ehrfurchtsbezeugung an der Hand.
Dabei fühlte er ihm den Puls. Doch Tiberius merkte
es. Vielleicht dadurch aufgebracht und daher erst
recht seinen Zorn unterdrückend, befahl er, das Essen aufzutragen, und blieb über die übliche Zeit
hinaus bei Tisch, wie wenn er damit seinem abreisenden Freund eine Ehre erweisen wolle. Charicles
aber versicherte dem Macro, der Atem gehe schwächer und es werde nicht mehr länger als zwei Tage
dauern. Daher wurden in Eile alle Massnahmen unter
den Anwesenden besprochen und Kuriere an die
Legaten und Heere abgeschickt. Am 16. März glaubte man, sein Atem stehe still und er habe der
Sterblichkeit den Tribut gezollt. Alles strömte herbei,
um Glück zu wünschen, während C. Caesar aus dem
Sterbezimmer trat, um die Regierungsgewalt zu
übernehmen. Da wurde plötzlich mitgeteilt, Tiberius
spreche und sehe wieder und rufe, man solle ihm zur
Erholung von seiner Ohnmacht Essen bringen. Alles
stob darauf, von Entsetzen gepackt, nach allen
Richtungen auseinander; der eine stellte sich traurig,
der andere unwissend. C. Caesar verharrte in starrem
Schweigen und erwartete, eben noch in den höchsten
Hoffnungen schwelgend, das Schlimmste. Nur Macro verlor den Kopf nicht: Erf befahl, man solle auf
den Greis einen Haufen Decken werfen, ihn so ersticken und dann das Zimmer verlassen. So endete
Tiberius im 78. Lebensjahr.
51 Sein Vater war Nero; beiderseits entstammte er
dem claudischen Geschlecht, obgleich seine Mutter
in die livische und später in die iulische Familie
durch Adoption übergegangen war. Seine Lebensschicksale waren von frühester Kindheit an wechselvoll. Er hatte als Verbannter seinen geächteten Vater
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LIV
casus prima ab
infantia ancipites; nam proscriptum patrem exul
secutus, ubi domum Augusti privignus introiit, multis
aemulis conflictatus est, dum Marcellus et Agrippa,
mox Gaius Luciusque Caesares viguere; (Augustus
durch Adoption in die iulische Familie auf.)
designierte zuerst seinen Neffen Marcellus [42–23 v. Chr.] nach
dessen Tode seinen Feldherrn und Freund Agrippa [63–12 v.
Chr.] zu Thronerben, indem er ihnen seine einzige Tochter
Iulia [39 v. – 14 n. Chr.] zur Frau gab; erst in dritter Ehe {seit
etiam frater eius
Drusus prosperiore civium amore erat. sed maxime in
lubrico egit accepta in matrimonium Iulia,
impudicitiam uxoris tolerans aut declinans. dein
Rhodo regressus vacuos principis penatis duodecim
annis (Aus Gram darüber, dass Augustus ihn gegenüber seinen
11 v. Chr.] wurde sie mit Tiberius vermählt.)
leiblichen
Enkeln
Gaius
[gest.
4]
und
Lucius
[gest.
2]
zurücksetzte, zog sich Tiberius für 7 Jahre {6 v. – 2 n. Chr.] ins
, mox rei Romanae
arbitrium tribus ferme et viginti obtinuit. morum
quoque tempora illi diversa: egregium vita famaque
quoad privatus vel in imperiis sub Augusto fuit;
occultum ac subdolum fingendis virtutibus donec
Germanicus ac Drusus superfuere; idem inter bona
malaque mixtus incolumi matre; intestabilis saevitia
sed obtectis libidinibus dum Seianum dilexit timuitve:
postremo in scelera simul ac dedecora prorupit
postquam remoto pudore et metu suo tantum ingenio
utebatur.
freiwillige Exil nach Rhodos zurück.)
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begleitet, und als er in des Augustus Haus als
Stiefsohn eintrat, hatte er sich mit vielen Rivalen
auseinanderzusetzen, solange Marcellus und Agrippa, dann die beiden Caesaren Gaius und Lucius
lebten. Auch erfreute sich sein Bruder Drusus
grösserer Beliebtheit bei der Bürgerschaft. Aber in
die schwierigste Lage geriet er durch seine Ehe mit
Julia, in der er die Sittenlosigkeit seiner Gemahlin
geduldig hinnahm oder auch ihr auszuweichen
suchte. Dann, von Rhodus heimgekehrt, lebte er in
dem kinderlosen Palast des Princeps zwölf Jahre und
hatte darauf rund dreiundzwanzig Jahre die unumschränkte Herrschaft über das römisch Reich inne.
Auch sein Charakter wechselte im Laufe der Zeiten:
Lebensweise und Ruf waren untadelig, solange er
Privatmann oder unter Augustus mit militärischen
Kommandos beauftragt war. Versteckte Heimtücke
unter der Maske des Tugendhaften zeigte er, solange
Germanicus und Drusus noch am Leben waren.
Gutes und Böses vermischten sich in ihm zu Lebzeiten seiner Mutter. Als ein grausames Scheusal, das
aber seine sinnlichen Ausschweifungen verschleierte,
entpuppte er sich, solange er Seianus liebte oder
fürchtete. Zuletzt stürzte er sich in Verbrechen und
zugleich in Schande, als er Schamgefühl und Furcht
beiseite geschoben hatte und nur noch seiner eigenen
Eingebung folgte.
(Übersetzung Walter Kiessel)
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