Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 8 Das Böse in der gut geschaffenen Welt. Die christliche Adaptation des Neuplatonismus am Beispiel des Thomas von Aquin (1224/25-1274) – Gliederung – 1. Die Rezeption des Neuplatonismus im Christentum a) Quellen und historische Grundlinien b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum paganen Neuplatonismus c) Die Schöpfung des gestuften Seins nach Thomas von Aquin 2. Thomas von Aquin über die Analogie des Seienden (analogia entis) a) Ens et unum et bonum et verum convertuntur. Die Lehre von den Transzendentalien b) Die Analogie des Seienden (analogia entis) 3. Thomas über die Entstehung des Schlechten (malum) in der guten Welt a) Was ist das Schlechte? b) Ist Gott die Ursache des Schlechten? 5. Zusammenfassung Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 1. Thomas von Aquin erkennt die Abhängigkeiten der ihm auf Lateinisch vorliegenden Quellen: „Im Arabischen findet sich aber das Buch, das bei den Lateinern ,Über die Ursachen‘ heißt. Es steht fest, dass es aus dem Arabischen übersetzt wurde und auf Griechisch überhaupt nicht vorhanden ist. Daher scheint es von einem der arabischen Philosophen aus dem genannten Buch des Proklos exzerpiert zu sein“. (Kommentar zum Liber de causis/Super librum de causis expositio, Prooemium, p. 3, 5-9 Saffrey). In arabico vero invenitur hic liber qui apud Latinos ,de causis‘ dicitur, quem constat de arabico esse translatum et in graeco penitus non haberi. Unde videtur ab aliquo philosophorum arabum ex praedicto libro Procli excerptus. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 2. Thomas von Aquin interpretiert die vom Neuplatoniker Proklos stammende Triade Sein-Leben-Intellekt (νοῦς) auf monotheistische Weise: „Einige Leute, die die hier getroffene Aussage ,die erste Ursache schuf das Sein der Seele vermittelt durch den Intellekt‘ (Buch von den Ursachen, Lehrsatz 3) missverstanden, meinten, laut dem Autor dieses Buches seien die Intellekte die Schöpfer der Substanz der Seelen. Aber [...] die Platoniker nahmen an, dass dasjenige, welches das Sein selbst ist, für alles die Ursache der Existenz darstellt, das aber, welches das Leben selbst ist, für alle die Ursache Lebens, das aber, was der Intellekt selbst ist, für alle die Ursache des Denkens. [...] Man muss also sagen, dass die Seele von der ersten Ursache, von der sie das Sosein hat, auch die Denkfähigkeit hat. Und das stimmt überein mit der Aussage des Dionysios (Die göttlichen Namen IV 2) [...], dass das Gute selbst, das Sein selbst, das Leben selbst und die Weisheit selbst nichts Verschiedenes sind, sondern ein und dasselbe wie Gott, von dem in die Dinge übergeht, dass sie sowohl sind als auch leben als auch denken“. (Kommentar zum Liber de causis/Super librum de causis expositio III; p. 22, 47. 13-16; 24, 4-9 Saffrey). Hoc autem quod hic dicitur quod ,causa prima creavit esse animae mediante intelligentia‘ quidam male intelligentes existimaverunt secundum auctorem istius libri quod intelligentiae essent creatrices substantiae animarum. Sed [...] Platonici ponebant quod id quod est ipsum esse est causa existendi omnibus, id autem quod est ipsa vita est causa vivendi omnibus, id autem quod est ipsa intelligentia est causa intelligendi omnibus; [...] oportet ergo dicere quod a prima causa, a qua habet essentiam, habet etiam intellectualitatem. Et hoc concordat sententiae Dionysii [...], quod non aliud sit ipsum bonum, ipsum esse et ipsa vita et ipsa sapientia, sed unum et idem quod est deus, a quo derivatur in res et quod sint et quod vivant et quod intelligant. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 3. Thomas von Aquin unterscheidet verschiedene Arten von Sein, die, wie im Neuplatonismus üblich, hierarchisch geordnet sind: „Es findet sich bei Substanzen eine dreifache Weise, Sosein zu besitzen. Zunächst gibt es etwas, wie Gott, dessen Sosein sein Sein selbst ist, und so findet sich bei einigen Philosophen die Aussage, Gott habe keine Washeit oder kein Sosein, da sein Sosein nichts anderes ist als sein Sein. [...] Auf die zweite Weise findet sich Sosein bei den geschaffenen Geistsubstanzen, bei denen das Sein etwas anderes ist als ihr Sosein, wenngleich das Sosein ohne Materie ist. Daher ist ihr Sein nicht absolut, sondern empfangen und also auf die Aufnahmefähigkeit der aufnehmenden Natur begrenzt und beschränkt. Jedoch ist ihre Natur oder Washeit absolut, da sie nicht in irgendeine Materie aufgenommen ist. [...] Auf eine dritte findet sich Sosein bei den aus Stoff und Form zusammengesetzten Substanzen; bei ihnen ist einerseits das Sein empfangen und begrenzt, weil sie das Sein von einem anderen haben, und andererseits ist ihre Natur oder Washeit im gezeichneten Stoff aufgenommen“ (Das Seiende und das Wesen/De ente et essentia V nr. 42, 45, 50; Übs. Kluxen, leicht geändert). Invenitur [...] triplex modus habendi essentiam in substantiis. Aliquid enim est, sicut Deus, cuius essentia est ipsummet suum esse; et ideo inveniuntur aliqui philosophi dicentes quod Deus non habet quiditatem vel essentiam, quia essentia sua non est aliud quam esse eius. [...] Secundo modo invenitur essentia in substantiis creatis intellectualibus, in quibus est aliud esse quam essentia earum, quamvis essentia sit sine materia. Unde esse earum non est absolutum, sed receptum et ideo limitatum et finitum ad capacitatem naturae recipientis, sed natura vel quiditas earum est absoluta, non recepta in aliqua materia. [...] Tertio modo invenitur essentia in substantiis compositis ex materia et forma, in quibus et esse est receptum et finitum, propter hoc quod ab alio esse habent, et iterum natura vel quiditas earum est recepta in materia signata. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 4. Thomas von Aquin erklärt den Unterschied notwendiger und kontingenter Entitäten dadurch, dass Gott diese so gewollt habe: „Der göttliche Wille erlegt einigem Gewollten Notwendigkeit auf, aber nicht allem. [...] Das geschieht wegen der Wirksamkeit des göttlichen Willens. Denn weil jede beliebige Ursache wirksam zum Handeln ist, folgt die Wirkung der Ursache. [...] Weil also Gottes Wille am allerwirksamsten ist, folgt nicht nur, dass das geschieht, dessen Geschehen Gott will, sondern auch, dass es auf die Weise geschieht, auf die Gott will, dass sie geschieht. Gott will aber, dass einiges notwendig geschieht, manches kontingent, damit eine Ordnung zur Vervollständigung des Universums in den Dingen ist. Die von Gott gewollten Wirkungen entstehen also nicht deswegen kontingent, weil ihre unmittelbaren Ursachen kontingent sind, sondern deswegen, weil Gott wollte, dass sie kontingent entstehen“. (Summa theologiae I 19, 8 responsio). Divina voluntas quibusdam volitis necessitatem imponit, non autem omnibus. [...] Hoc contingit propter efficaciam divinae voluntatis. Cum enim aliqua causa efficax fuerit ad agendum, effectus consequitur causam. [...] Cum igitur voluntas dei sit efficacissima, non solum sequitur quod fiant ea quae deus vult fieri, sed et quod eo modo fiant, quo deus ea fieri vult. Vult autem quaedam fieri deus necessario, quaedam contingenter; ut sit ordo in rebus, ad complementum universi. Non igitur propterea effectus voliti a deo eveniunt contingenter, quia causae proximae sunt contingentes; sed propterea quia deus voluit eos contingenter evenire. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 5. Thomas von Aquin erklärt einige für die Wirklichkeitserklärung zentrale Begriffe als gattungsüberschreitende Eigenschaften alles Seinden („Transzendentalien“): „So wie ,gut‘ den Gehalt ,erstrebenswert‘ enthält, so enthält ,wahr‘ eine Hinordnung auf Erkenntnis. Ein jedes ist aber in dem Maße erkennbar, in dem es Sein hat. [...] Und daher hat auch ,wahr‘, ebenso wie ,gut‘, den gleichen Begriffsumfang wie ,seiend‘. Aber trotzdem fügt ,wahr‘, so wie ,gut‘ den Gehalt ,erstrebenswert‘ zu ,seiend‘ hinzufügt, ein Verhältnis zum Intellekt“. (Summa theologiae I 16, 3 responsio). Sicut bonum habet rationem appetibilis, ita verum habet ordinem ad cognitionem. Unumquodque autem inquantum habet de esse, intantum est cognoscibile. [...] Et ideo sicut bonum convertitur cum ente, ita et verum. Sed tamen sicut bonum addit rationem appetibilis supra ens, ita et verum comparationem ad intellectum. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 6. Um eine einheitliche Rede von den Transzendentalien zu begründen, führt Thomas von Aquin seine Lehre von der analogia entis (Analogie des Seienden) ein: „Einiges wird von Gott und den Kreaturen analog, und nicht rein äquivok und auch nicht rein univok ausgesagt. Denn wir können Gott nur aus den Geschöpfen heraus benennen. [...] Alles, was von Gott und den Geschöpfen ausgesagt wird, wird vor dem Hintergrund ausgesagt, dass eine bestimmte Ordnung des Geschöpfs zu Gott hin besteht, gleichwie zum Ursprung und zur Ursache, in der alle Vollkommenheiten der Dinge auf herausragende Weise vorweg existieren. Und diese Art der Verbundenheit steht in der Mitte zwischen reiner Äquivokation und einfacher Univokation. [...] Ein Begriff, der so auf verschiedene Weise ausgesagt wird, bezeichnet verschiedene Verhältnisse zu einem bestimmten Einen“. (Summa theologiae I 13, 5 responsio). Aliqua dicuntur de deo et creaturis analogice, et non aequivoce pure, neque pure univoce. Non enim possumus nominare deum nisi ex creaturis [...] Quicquid dicitur de deo et creaturis, dicitur secundum quod est aliquis ordo creaturae ad deum ut ad principium et causam, in qua praeexistunt excellenter omnes rerum perfectiones. Et iste modus communitatis medius est inter puram aequivocationem et simplicem univocationem. [...] Nomen quod sic multipliciter dicitur, significat diversas proportiones ad aliquid unum. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 6. Weil Gott gut ist, ist für Thomas von Aquin auch alles Seiende gut (im Sinne der analogia entis): „Gut ist all das, was erstrebenswert ist; und weil jede Natur ihr Sein und ihre Vollkommenheit erstrebt, ist es folglich notwendig zu sagen, dass Sein und Vollkommenheit jedweder Natur den Gehalt der Gutheit hat. Daher kann es nicht sein, dass ,schlecht‘ irgendein Sein oder irgendeine Form oder Natur bezeichnet. Es bleibt also übrig, dass mit dem Nomen ,schlecht‘ eine bestimmte Abwesenheit vom Guten bezeichnet wird“. (Summa theologiae I 48, 1 responsio) Bonum est omne id quod est appetibile; et sic, cum omnis natura appetat suum esse et suam perfectionem, necesse est dicere quod esse et perfectio cuiuscumque naturae rationem habeat bonitatis. Unde non potest esse quod malum significet quoddam esse aut quandam formam seu naturam. Relinquitur ergo quod nomine mali significetur quaedam absentia boni. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 7. Thomas von Aquin erklärt das Schlechte ontologisch als Privation, d.h. als einen Mangel der einem seienden zukommenden Güte: „Aber nicht jede Entfernung eines Guts wird schlecht genannt. Denn ,Entfernung eines Guts‘ kann sowohl privativ als auch negativ verstanden werden. Folglich hat die Entfernung eines Guts, wo sie negativ verstanden wird, nicht den Gehalt ,schlecht‘. Sonst würde folgen, dass das, was auf keine Weise ist, schlecht wäre. [...] Aber die Entfernung eines Guts, wenn sie privativ verstanden wird, wird ,schlecht‘ genannt, so wie die Privation (Wegnahme) des Sehvermögens Blindheit genannt wird. [...] Das Böse ist aber nicht, so wie in seinem Subjekt, in dem Guten, das ihm entgegengesetzt ist, sondern in einem anderen Guten. Das Subjekt der Blindheit ist aber nicht das Sehvermögen, sondern das Lebewesen“. (Summa theologiae I 48, 3 responsio und ad 3) Non autem quaelibet remotio boni malum dicitur. Potest enim accipi remotio boni et privative et negative. Remotio igitur boni negative accepta mali rationem non habet; alioquin sequeretur quod ea quae nullo modo sunt, mala essent. [...] Sed remotio boni privative accepta malum dicitur, sicut privatio visus caecitas dicitur. [...] Malum non est, sicut in subiecto, in bono quod ei opponitur, sed in quodam alio bono. Subiectum autem caecitatis non est visus, sed animal. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 8. Thomas von Aquin betont, dass nicht Gott der Urheber des Schlechten sein darf: „Das Schlechte, das in einem Fehler des Handelns besteht, wird immer durch einen Fehler des Handelnden verursacht. In Gott aber ist kein Fehler vorhanden, sondern höchste Vollkommenheit. [...] Daher wird das Schlechte [...], was durch einen Fehler des Handelnden verursacht wird, nicht auf Gott als Ursache zurückgeführt. Aber das Schlechte, das im Vergehen irgendwelcher Dinge besteht, wird auf Gott als Ursache zurückgeführt. Und das ist sowohl für das Natürliche als auch für das Freiwillige klar. [...] Die Form, auf die Gott bei den geschaffenen Dingen in erster Linie abzielt, ist das Gut der Ordnung des Universums. Die Ordnung des Universums erfordert es aber [...], dass es einiges gibt, was Fehler aufweisen kann und manchmal Fehler aufweist. Und so verursacht Gott [...] infolge hiervon und gleichsam akzidentell das Vergehen von Dingen. [...] Und deswegen ist Gott der Urheber des Schlechten, das die Strafe ist, nicht aber des Schlechten, das die Schuld ist“. (Summa theologiae I 49, 2 responsio). Malum quod in defectu actionis consistit semper causatur ex defectu agentis. In deo autem nullus defectus est, sed summa perfectio. [...] Unde malum [...] quod ex defectu agentis causatur, non reducitur in deum sicut in causam. Sed malum quod in corruptione rerum aliquarum consistit, reducitur in deum sicut in causam. Et hoc patet tam in naturalibus quam in voluntariis. [...] Forma quam principaliter deus intendit in rebus creatis est bonum ordinis universi. Ordo autem universi requirit [...] quod quaedam sint quae deficere possint et interdum deficiant. Et sic deus [...] ex consequenti et quasi per accidens causat corruptionem rerum. [...] Et secundum hoc deus auctor est mali quod est poena, non autem mali quod est culpa. Prof. Dr. Matthias Perkams VL Gott und die Welt. Ihr Verhältnis in der lateinischen Philosophie FSU Jena: Institute für Altertumswissenschaften und für Philosophie Sommersemester 2015 9. Um zu vermeiden, dass es eine Notwendigkeit in Gottes gutem Handeln geben kann, betont Thomas von Aquin die Unbegreifbarkeit der göttlichen Weisheit: „Die Vernünftigkeit einer Ordnung, die ein Weiser Dingen auferlegt, die von selbst gemacht sind, wird vom Ziel her genommen. Wenn das Ziel also den Dingen proportional angepasst ist, die wegen des Ziels gemacht werden, dann wird die Weisheit des Machenden auf eine festgelegte Ordnung begrenzt. Aber die göttliche Güte ist ein Ziel, das die geschaffenen Dinge jenseits der Proportionalität überschreitet. Daher wird die göttliche Weisheit nicht auf eine Ordnung der Dinge hin in der Weise festgelegt, dass kein anderer Verlauf der Dinge hieraus hervorgehen könnte. Daher muss man schlechthin sagen, dass Gott anderes machen kann als das, was er macht“. (Summa theologiae I 25, 5 resp.). Tota ratio ordinis quam sapiens rebus a se factis imponit a fine sumitur. Quando igitur finis est proportionatus rebus propter finem factis, sapientia facientis limitatur ad aliquem determinatum ordinem. Sed divina bonitas est finis improportionabiliter excedens res creatas. Unde divina sapientia non determinatur ad aliquem ordinem rerum, ut non possit alius cursus rerum effluere. Unde dicendum est simpliciter, quod deus potest alia facere quam quae facit.