23. Fremdsprachenwettbewerb OÖ Certamen Latinum Graecumque

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Nr:
23. Fremdsprachenwettbewerb OÖ
Certamen Latinum Graecumque
a.d. XV Kalendas Apriles MMIX
„Philosophie“
Klausur Latein Langform Oberkurs
18. März 2009
Landeskulturzentrum
Ursulinenhof
Sponsored by:
Land Oberösterreich und Amici Linguae Latinae
1
A. Übersetze:
Seneca tröstet einen Freund, dessen Bruder verstorben ist. Es komme nicht darauf an, wie
lange, sondern wie erfüllt er gelebt habe; er solle sich darüber freuen, ihn gehabt, und nicht
(nur) trauern, ihn verloren zu haben. Dann setzt er mit einem fiktiven Einwand fort (<mihi>
und <frater> sind zum besseren Verständnis ergänzt):
1
“At<mihi> inopinanti1 <frater> ereptus est.”
2
Sua quemque credulitas decipit et in eis, quae diligit, voluntaria mortalitatis oblivio:
3
Cotidie praeter oculos nostros transeunt notorum ignotorumque funera, nos tamen
4
aliud agimus et subitum2 id putamus esse, quod nobis tota vita denuntiatur futurum.
5
Non est itaque ista fatorum iniquitas, sed mentis humanae pravitas insatiabilis rerum
6
omnium, quae indignatur3 inde excidere, quo admissa est precario4.
7
Quanto ille iustior, qui nuntiata filii morte dignam magno viro vocem emisit:
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„Ego5 cum genui, tum moriturum scivi.“
9
Non accepit tamquam novum nuntium filii mortem; quid enim est novi hominem mori,
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cuius tota vita nihil aliud quam ad mortem iter est?
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„Ego cum genui, tum moriturum scivi.“
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Deinde adiecit rem maioris et prudentiae et animi: „et huic rei sustuli6.“
13
Omnes huic rei tollimur; quisquis ad vitam editur, ad mortem destinatur.
14
Gaudeamus ergo eo, quod dabitur, reddamusque id, cum reposcemur:
15
alium alio tempore fata comprehendent, neminem praeteribunt. In procinctu stet
16
animus et id, quod necesse est, numquam timeat, quod incertum est, semper exspectet.
B. Interpretation:
1. Fasse zusammen: Welche Haltung nimmt der Weise im Hinblick auf den Tod ein? Welche
Beziehung hat er zu den „Gütern“ des Lebens (Kinder, Besitz etc.)?
2. Welchen Nutzen hat Philosophie für einen Weisen angesichts des unabänderlichen fatums?
3. Benenne einige Stileigentümlichkeiten Senecas in diesem Text!
1
inopinans, -antis = nichts ahnend
subitum, -i = unerwartetes Ereignis
3
indignor 1 = etwas für empörend halten, sich entrüsten
4
precario = auf Widerruf
5
ergänze: ego cum <eum> genui, tum <eum> moriturum <esse> scivi
6
tollo: hier = (ein neugeborenes Kind aufheben), anerkennen, aufziehen
2
2
Übersetzung
„Aber wider Erwarten ist mir der Bruder entrissen worden“. – Die eigene Leichtgläubigkeit
täuscht einen jeden, und bei dem, was er liebt, eigenwilliges Vergessen der Sterblichkeit.
Täglich ziehen vor unseren Augen Trauerzüge Bekannter und Unbekannter vorüber: wir tun
dennoch etwas anderes, und ein plötzliches Ereignis, meinen wir, sei das, was uns im Leben
als bevorstehend angekündigt wird. Nicht ist das also des Schicksals Ungerechtigkeit,
sondern der menschlichen Seele Verkehrtheit, unersättlich in allen Dingen, die sich empört,
da einen Verlust zu erleiden, wo sie Zugang hatte auf Widerruf.
Wie viel gerechter (war) jener, der bei der Meldung von seines Sohnes Tod das eines großen
Mannes würdige Wort sprach: „Als ich ihn zeugte, da wusste ich, er werde sterben“.
Nicht hat er vernommen, gleich wie eine überraschende Nachricht, des Sohnes Tod; was
nämlich ist es Überraschendes, dass ein Mensch stirbt, dessen ganzes Leben nichts anderes als
der Weg zum Tode ist? „Als ich ihn zeugte, da wusste ich, er werde sterben.“
Sodann fügte er ein Wort von größerer Klugheit und Gesinnung hinzu: „Und dafür habe ich
ihn großgezogen.“
Alle werden wir dafür großgezogen: wer immer ins Leben gebracht wird, ist für den Tod
bestimmt. Freuen wir uns über das, was uns gegeben wird, und geben wir es zurück, wenn wir
dazu aufgefordert werden. Den einen ergreift das Geschick zu dieser, den anderen zu jener
Zeit; an niemandem geht es vorüber: in Kampfbereitschaft steht die Seele, und das, was
unausweichlich ist, fürchte sie niemals, was ungewiss ist, erwarte sie stets.
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