Interaktionismus

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Hausarbeit im Rahmen der Klassiker der Kultursoziologie (Modul 6) des B.A.
Studiengangs Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen
vorgelegt von
Fidel-Sebastián Hunrichse-Lara
Matrikel-Nr.: 6820379
Betreuung: Prof. Dr. Werner Fuchs-Heinritz
Lehrgebiet Soziologie III Allgemeine Soziologie
Abgabedatum: 02. 05. 2005
Dieser Inhalt ist unter einem Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen
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Georg Simmel
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
,QKDOWVYHU]HLFKQLV
1
2
3
Einleitung.................................................................................................................. 3
1.1
Problemstellung ................................................................................................ 4
1.2
Gang der Untersuchung .................................................................................... 5
Definitionen .............................................................................................................. 5
2.1
Das Ich im Symbolischen Interaktionismus ..................................................... 6
2.2
Das Ich nach G. H. Mead................................................................................ 11
Determinationsmodell............................................................................................. 15
3.1
Das Soziale als subjektive Konstitution.......................................................... 16
4
Schlußfolgerungen .................................................................................................. 21
5
Zusammenfassung .................................................................................................. 22
6
Literaturverzeichnis ................................................................................................ 23
7
Ehrenwörtliche Erklärung....................................................................................... 27
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Einleitung
3
(LQOHLWXQJ
Die Frage nach der Konzeption des Ichs ist ein sehr alter philosophischer
Zankapfel, das Leib-Seele-Problem ist z.B. unauflöslich damit verbunden. Doch wie ist
nun die Natur der unmittelbar einleuchtenden ersten Person Singular eines Skeptischen
René Descartes’,1 der als primärer Ausgangspunkt und letzter Rechtfertigungsgrund
methodisch, rekursiv und zirkulär auf das eigene Selbst reflektiert? Wie kann sich
dieses „cogito, ergo sum“, das demgemäß dem Subjekt das Objekt seiner selbst sein
kann, das im Wollen und Fühlen sich demzufolge auch als fremdbestimmt erleben kann,
überhaupt konstituieren? Wie ist dann diese 5HV FRJLWDQV, als eine endlich-unendliche
Bewegung des Denkens, das sich schlußendlich nur selbst denkt2, zur gesellschaftlichen
Interaktion überhaupt fähig? Wie kann man es als ein soziologisches Funktionssystem,
das sich sowohl als der selbst bewußte Ursprung und Träger aller emotionalen Akte des
Individuums, in denen dieses sich als kontinuierlich und von der Umwelt unterschieden
erfährt und gleichzeitig auch als Gesamtheit aller äußeren Reaktionen des Subjekts
versteht, dialektisch überhaupt erfassen? Wie kann es die kontinuierliche Aussöhnung
zwischen Individuum und Realität, den inneren Trieben und den sozialen Ambitionen
der 5HVH[WHQVD, sowie die nötigen Konfliktlösungsstrategien aus diesem vorgegebenen
Beziehungskomplex, überhaupt leisten? Wie kann sich der Topos der Geschichte und
Kultur eigentlich initiieren? Die anthropologische Kulturtheorie des George Herbert
Mead und die mikrosoziologischen Theorien des Symbolischen Interaktionismus liefern
hierzu ein sehr aufschlußreiches Erklärungsmodell über die Entstehung von Geist und
subjektivem Bewußtsein aus Kommunikationsprozessen. Hierüber soll diese Hausarbeit
handeln. Da jedoch allerdings schon die anthropologische Kulturtheorie den Rahmen
sprengen würde, beschränke ich mich lediglich auf die Konzeption und Konstitution des
Ich im Symbolischen Interaktionismus und eingehender auf G. H. Mead. Gegenläufig
gehe ich dann auf die Kritische Theorie der Gesellschaft getreu der Frankfurter Schule
ein und thematisiere parallel die kultursoziologischen Implikationen dieser Ansätze.
1
René Descartes, 0HGLWDWLRQHQEHUGLH(UVWH3KLORVRSKLH, Originalausgabe 1631.
2
Georg Wilhelm F. Hegel, :LVVHQVFKDIWGHU/RJLN7HLO, Originalausgabe 1816.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Einleitung
4
3UREOHPVWHOOXQJ
Im Fluß des Bewußtseinswandels zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert wurde
die Individualität reanimiert. Die Soziologie behandelt darum folgerichtig die formalen
und inhaltlichen Ordnungsstrukturen der objektiven Lebenswirklichkeit gegenwärtiger
und historischer Gesellschaften als Seinsphänomene.3 Sie unterstützt somit Descartes’
Dualismus der denkenden und ausgedehnten Substanz und untersucht daher Natur und
Wesen der sozialen Ordnungen im Hinblick auf die Art des Aufeinanderbezogenseins
des Menschen unter Bezug der reziproken Beeinflussung von Individuen oder Gruppen
auf ihr Verhalten und praktischen Einstellungen, sucht folglich eher nach den Spezifika
gesellschaftlicher Existenz inmitten des Weltganzen. In Deutschland hat sich indes die
Soziologie anfänglich als Theoriegebäude von den Struktur- und Bewegungsgesetzen
der bourgeoisen Industriegesellschaft bestimmt.4 Die Soziogenese eines Sachverhaltes
und Erlebensweise wurde also ausschließlich aufgrund sozialer Bedingungen definiert
und nicht auf individuellen Eigenarten des Betroffenen ursprünglich ruhend. Nach dem
1. Weltkrieg wurde vor allem in Deutschland jedoch das Wesen des Menschen auch als
Existenzphänomen aufgefaßt.5 Existieren wurde nunmehr definiert als sich zu sich
selbst verhalten, der Sinn und die Strukturen des sozialen Handelns sowie die damit
verbundenen Normen wurden demnach fundiert von der Konstitution des Ichs. Das
soziale Geschehen wird nämlich nach Max Weber durch Erforschung des subjektiven
Sinnes, den die Individuen mit ihren Aktionen verbinden, erklärt.6 Diese Interdependenz
zwingt somit zu einer adäquaten soziologischen Theorie des Ichs, welche aber bis dahin
so nicht vorlag. Die angelsächsische Lehre des Empirismus, die alle Bewußtseinsinhalte
aus Impressionen oder Reflektionen deduzierte, wandte sich überdies gegen Descartes
Grundgedanken von den angeborenen Ideen.7 Dies führt zu einer fundamental anderen
3
Ferdinand Tönnies, *HPHLQVFKDIWXQG*HVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1887.
4
Lorenz Stein, 'HU6RFLDOLVPXVXQG&RPPXQLVPXVGHVKHXWLJHQ)UDQNUHLFKV, Originalausgabe 1842.
5
Edmund Husserl, ,GHHQ]XHLQHUUHLQHQ3KlQRPHQRORJLHXQGSKlQRPHQRORJLVFKHQ3KLORVRSKLH,
Originalausgabe 1913.
6
Max Weber, *HVDPPHOWH$XIVlW]H]XU:LVVHQVFKDIWVOHKUH, Originalausgabe 1922.
7
John Locke, hEHUGHQPHQVFKOLFKHQ9HUVWDQG, Originalausgabe 1689.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
5
Aufstellung des Ichs als im Kontinentaleuropa.8 Eine absolute Gültigkeit von Gesetzen,
Werten und Normen wurde ferner schon grundsätzlich abgelehnt, d.h. eine Demarkation
zum deutschen Idealismus ist notwendig. Das Verifikationsprinzip der pragmatischen
Bewahrheitung muß desgleichen differenziert hinterfragt werden, schließlich wird in der
modernen Wissenschaftstheorie die Verifizierbarkeit für utopisch gehalten.9
*DQJGHU8QWHUVXFKXQJ
Durch konsequente hermeneutische Kontextualisierung des Geschichtsprozesses
soll entrierend die Emergenz der mikrosoziologischen Konzeptionen des Symbolischen
Interaktionismus und die anthropologische Kulturtheorie Meads erörtert werden. Ferner
ist eine parallele Kontrastierung gegenüber den alternativen Erklärungsansätzen nötig.
Eine sublime Reflexion der empirischen Sozialforschung soll ebenfalls synchron hierzu
thematisiert werden. Antithetisch daran anknüpfend gehen wir dann zur Vorstellung der
soziologisch-phänomenologischen Gegenveranschaulichung im Nimbus einer kritischen
Gesellschaftstheorie, die instrumental-materielle Dimension der Lebenswirklichkeit soll
hiernach erörtert werden.
'HILQLWLRQHQ
Nachfolgend soll einesteils die historische Konstellation der Gesellschaftslehre,
die die sozialen Ereignisse zu erklären versucht, indem sie die kleinsten Einheiten in die
Wechselseitigkeiten zwischen Subjekten und umgebenden gesellschaftlichen Strukturen
als einen Aspekt der umfassenden kommunikativen Verschmelzung, die im Hinblick
auf ihre stetige Praxis und Erwartungshaltung mittels kollektivem Symbolgebrauch zu
interagieren entsproß, analysiert und andernteils die Hauptelemente der autopoiesischen
Selbstkonstitution des Ich vermittels der Interaktion mit sich selbst, d.h. die analoge
Emanation von Bewußtsein bei der Phylogenese und von Identität bei der Ontogenese.
Generell wird die signifikante Spiegel-Ich-Theorie von Charles Horton Cooley, Meads
dimensionaler Ausbau und das Dramaturgische Modell von Ervin Goofman vorgestellt.
8
Martin Heidegger, 6HLQXQG=HLW, Originalausgabe 1927.
9
Karl Reimund Popper, /RJLNGHU)RUVFKXQJ, Originalausgabe 1934.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
6
'DV,FKLP6\PEROLVFKHQ,QWHUDNWLRQLVPXV
Der Stellenwert des Ichs ist für die in den USA von Herbert Blumer begründete
Theorie des symbolischen Interaktionismus fundamental.10 Diese Anomalie liegt in den
pragmatischen Wurzeln begründet, welche die Erkenntnis nur als Metapher betrachtet.11
Somit ist die Erkenntnis über die objektive Realität nicht in Kongruenz mit den darüber
abgeleiteten Angaben als Faktum aufzufassen, sondern nur aus der praktischen Nutzung
zu folgern. Der theoretische Beitrag des symbolischen Interaktionismus ist frappant mit
der sozialökonomischen Basis der kapitalistischen Wirklichkeit zur Jahrhundertwende
verflochten.12 Gesamtgesellschaftliche Prozesse wurden auf das Individuum deduziert,
wobei die Spezifika der kooperativen Praxis in diese selbst fundiert ist und Independent
von dem bleibt, was real praktiziert wird. Die ideologische Opposition zur Marxschen
Eigendynamik von Klassenkämpfen ist augenscheinlich, denn eine Dispensation aus der
sozialen Machtstruktur ist nun utopisch.13 Man könnte es sogar dahingehend pointieren,
daß der Marxsche Urwald jetzt von symbolischen Bonsais vollständig überdeckt wird,
indem die jeweiligen Produktionsverhältnisse enthistorisiert und die Produktionspraxen
personalisiert wurden.14 Dies ist folglich ein wesentlicher Ausdruck des internalisierten
Herrschaftsdenkens innerhalb der US-Suprematie,15 die konsequente Direktion einer
neoliberalen Chicago-Boys-Gesellschaftslehre.16
Die Erkennbarkeit der Signal- und Symbolsstrukturen ist für die syntaktischsemantische Codeinterpretation bei der Datenverarbeitung existentiell. Die komplex-
10
11
12
Herbert Blumer, 'HUPHWKRGRORJLVFKH6WDQGRUWGHVV\PEROLVFKHQ,QWHUDNWLRQLVPXV, Originalausgabe
1969.
Charles Sanders Peirce, hEHUGLH.ODUKHLWXQVHUHU*HGDQNHQ, Originalausgabe 1878.
Micha Brumlik, 'HUV\PEROLVFKH,QWHUDNWLRQLVPXVXQGVHLQHSlGDJRJLVFKH%HGHXWXQJ,
Originalausgabe 1973.
13
Robert King Merton, 6R]LRORJLVFKH7KHRULHXQGVR]LDOH6WUXNWXU, Originalausgabe 1957.
14
Jürgen Habermas, 7HFKQLNXQG:LVVHQVFKDIWDOVª,GHRORJLH©, Originalausgabe 1968.
15
Michael Hardt, Antonio Negri, (PSLUH, Originalausgabe 2000.
16
Milton Friedman, .DSLWDOLVPXVXQG)UHLKHLW, Originalausgabe 1962.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
7
interpretativen Bedeutungstranskriptionen, um den essentiellen Informationsgehalt aus
dem Negentropie-Wahrscheinlichkeitsfeld dynamisch zu extrahieren, die sich aus dem
abgeschlossenen Codevorrat der zugrundeliegenden Signal- und Symbolprofile ergeben,
wären sonst undurchführbar.17 Sie ist demgemäß für den intrapersonalen Datenempfang
zwingend. Interpersoneller Informationsaustausch ist eine entwicklungsgeschichtliche
Folgepraxis und somit eng mit der sozialen Interaktion verbunden, da Kommunikation
generell die einzige menschliche Option darstellt, um beliebige Arten von Relationen zu
etablieren, elaborieren und transformieren.18 Die Kommunikationsfähigkeit stellt daher
die figurativ-metaphorische Exemplifizierung der perspektivischen Konventionalitäten
der evolutionären, durch soziale Netzwerke geprägten, humanen Anthropologie dar.19
Dabei orientieren sich die Beteiligten an den wechselseitigen Rollenvorstellungen und
Situationsdefinitionen. Die Interaktion resultiert somit nur innerhalb einesDSULRULVFKHQ
Strukturgefüges aus verläßlichen Verhaltensmustern, elaborierten Nachrichtencodes und
stabiler Kommunikation. Dieserhalb verabsolutiert sich das sinnstiftende Medium der
gesellschaftlichen Interaktion zur Ideation des Organisationsgedankens und in der Folge
zum selbständigem Funktionalsystem der synchronisierten Apperzeption.20 Damit wird
allerdings ein Grundwiderspruch im Symbolischen Interaktionismus evident, nämlich
zwischen sozialem Handeln und sozialkompatiblem Verhalten.21 Durch die Einrichtung
entsprechender Charaktermasken ist das Individuum nunmehr gezwungen zu regulieren
was Andere von ihm effektiv erkennen sollen, wodurch schlußendlich die strukturellen
Antagonismen bei der Konstitution von Interaktion und objektiver Identität unaufgelöst
bleiben, d.h. die habitualisierte Handlungsökonomie wird somit zum Ersatz des Realen,
da die äußeren Zwänge die soziale Ablösung bereits im Keim ersticken, die „Nichtigkeit
des Individuums“22 im gesellschaftlichen Kontext wäre demnach besiegelt.
17
Holger Lyre, ,QIRUPDWLRQVWKHRULH, Originalausgabe 2002.
18
Paul Watzlawick, 0HQVFKOLFKH.RPPXQLNDWLRQ, Originalausgabe 1967.
19
Nelson Goodman, 6SUDFKHQGHU.XQVW, Originalausgabe 1968.
20
Niklas Luhmann, 'LH*HVHOOVFKDIWGHU*HVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1997.
21
Klaus Ottomeyer, 6R]LDOHV9HUKDOWHQXQGgNRQRPLHLP.DSLWDOLVPXV, Originalausgabe 1976.
22
Theodor W. Adorno, 3ULVPHQ, Originalausgabe 1955.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
8
Cooley gehörte noch zu der Gründergarde der US-Soziologen an. In den 20er
und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war seine Konzeption der Ich-Identität23 für die
Chicagoer Schule für Anthropologie und Soziologie von Robert Park und Ernest Burges
von überragender Bedeutung, ebenso auch seine Interpretation der Primärgruppe als
intersubjektive Netzwerke qua kommunitaristischer Vergesellschaftungsprozesse24 und
des tentativen oder pragmatischen sozialen Wandels angesichts der Destabilisierung von
Handlungsgewohnheiten.25 Kraft der folgenden Dominanz des Strukturfunktionalismus
à la Talcott Parsons oder Robert K. Merton wurde Cooleys sehr kohärentes Gesamtwerk
an den Rand des soziologischen Wahrnehmungskanons gedrängt: als zu spekulativ und
introspektiv, ferner als ein überzeugter Gegner der quantitativen Methodologie.26 Sein
Ich-Entwurf basiert auf der universellen Unauflösbarkeit von Individualisierungs- und
Vergesellschaftungsprozessen, ergo ist das Individuum generell ein soziales Phänomen.
Nur aus der synthetisierenden Perspektivenübernahme im Rahmen von vorgegebenen
soziokulturellen Aufteilungen kann ein uniform-autonomes Selbstbildnis entstehen. Die
Metapher des Spiegel-Ichs reflektiert den Kausalzusammenhang der übersozialisierten
Identität insofern auf eine sehr adäquate Art und Weise. Individualität und Sozialität
sind infolgedessen ein dialektischer Seiteneffekt der humanen Plastizität. Als Quelle der
Sozialisation erarbeitet Cooley die Mutter-Kind-Dyade. Dieses Beziehungsgeflecht ist
die Ausbeute der rudimentären und existentiellen Manifestation zur Mustererkennung
des Kindes. Der primäre Ausgangspunkt und letzte Rechtfertigungsgrund zur gesamten
Gesellschaftsbildung wäre somit als ein Endprodukt der umfassenden kommunikativen
Verschmelzung zwischen Mutter und Kind biologisch aufgeklärt. Die Möglichkeit zur
Identitätsbildung ist nach Cooley als essentielle Disposition der Autopoiese vorgegeben,
daraus leitet er den Selbstentfaltungs- und den Aneignungsimpuls ab, die sich aber erst
durch die existente Interaktion entfalten und hierdurch zur evolutionären Grundlage der
Persönlichkeitsbildung avancieren und den impulsiven Ausgangspunkt der Emotionen
23
Charles Horton Cooley, +XPDQ1DWXUHDQG6RFLDO2UGHU, Originalausgabe 1902.
24
Charles Horton Cooley, 6RFLDO2UJDQL]DWLRQ, Originalausgabe 1909.
25
Charles Horton Cooley, 6RFLDO3URFHVV, Originalausgabe 1918.
26
Charles Horton Cooley, /LYHDQGWKH6WXGHQW, Originalausgabe 1927.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
9
begründen. Divergent zu Sigmund Freud ist das Individuum mitnichten triebgesteuert,
da das Reservoir der psychischen Energie keinerlei handlungsdeterminierende Autorität
besitzt. Über diese Macht verfügt nur das VR]LDOH6HOEVW, als eine frühe Interaktionsform
des künftigen Spiegel-Ichs, daß sich entwicklungsgeschichtlich erst später ausfaltet. Nur
das Spiegel-Ich charakterisiert sich durch kreative Autarkie gegenüber der Gesellschaft.
Diese Disposition des UHIOHNWLHUWHQ6HOEVW entwickelt sich erst durch die kontinuierliche
Praxis der sympathetischen Introspektion vermittels der zweckvollen Destabilisierung
von angeeigneten Handlungsgewohnheiten, was später zum Modus des HWKLVFKHQ6HOEVW
führt. Damit wird deutlich, daß die dimensionale I und ME Erweiterung seines Kollegen
Mead keineswegs etwas grundlegend Neues darstellte. Eher muß diagnostiziert werden,
daß Meads Inspiration vollständig aus Cooleys Spiegel-Ich-Theorie abgeleitet werden
kann.27 Da die verschiedenen Selbststadien des Spiegel-Ichs sich einzig und allein über
die Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt konstituieren, ist einsichtig, daß dies
nur als eine Abfolge von Kommunikationsprozessen aufgefaßt werden kann. Auch für
Mead gibt es mehrere Dimensionen des Ichs, das I, das ME und das daraus sich erst
konstituierende Individuum. Das ME konvergiert im VR]LDOHQ6HOEVW Cooleys, es besteht
aus der Verhaltensreflexion betreffs Normen- und Regelerwartungen des konkreten
Gegenübers. Das I ist ein natürlich-imponderables Attribut des Bewußtseins – Cooleys
Selbstentfaltungs- und Aneignungsimpuls, die Residenz der unbewußten Kreativität. I
und ME interagieren fortdauernd untereinander, was die Kontinuität, Konsistenz, und
Authentizität des Subjekts inauguriert, dies deckt sich völlig mit demSpiegel-Ich. Nur
der abstrakte Modus operandi differiert geringfügig: symbolische Interaktion bei Mead
und sympathetische Introspektion bei Cooley – Mead ist evident eine kommunikative
Vereinseitigung der reflexiv-suggestiven Interaktion Cooleys.
Genau diesen soziologisch höchst aufschlußreichen reflexiv-suggestiven Modus
vivendi greift nun Goofmans Dramaturgisches Modell nach 57 Jahren erneut auf.28 Der
Grundwiderspruch im Symbolischen Interaktionismus wird durch seine Definition der
Identitätsbildung nochmals verschärft, da laut Goofman, 1981 zum Präsident der US-
27
Hans-Joachim Schubert, 'HPRNUDWLVFKH,GHQWLWlW, Originalausgabe 1995.
28
Ervin Goofman, :LUDOOHVSLHOHQ7KHDWHU, Originalausgabe 1959.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
10
amerikanischen Gesellschaft für Soziologie gewählt, die 1905 von Cooley mitbegründet
wurde, es utopisch sei die Ichvorstellungen einer Person definieren zu wollen, da dieses
Ich auch bei der Begriffsscheidung des Selbst beständig divergierende Rollen in der Art
eines erfahrenen Komödianten konstituieren kann. Der Dispens aus der soziokulturellen
Machtstruktur ist nunmehr aber keineswegs irreal, sondern ist nur noch eine Frageform
der alltäglich-individuellen Selbstdarstellung. Die selbstgewählte Rolle impliziert somit
sowohl den Grad der Sozialisationsbereitschaft, als auch der Sanktionsmöglichkeiten.
Dies führt indes zum Abfall vom emphatischen, heroisch-demiurgischen Menschenbild.
„Viele assoziieren mit ‚Individualisierung’ Individuation gleich Personenwerdung
gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation. Das mag zutreffen. Vielleicht aber auch das
Gegenteil.“29 Die praktisch-resignative Kapitulation des humanistischen Subjektideals,
der Archetypus des Bourgeois, wird damit evident dokumentiert.30
Da weder das Erklärungsmodell der strukturell-funktionalen Analyse, noch die
quantitativ-behavioristische Methodologie für eine hinreichende Aufhellung bezüglich
der Sinnhaftigkeit der sozialen Welt sorgen konnten, ist der Nachkriegsanspruch der
Soziologie als (politische) Leitwissenschaft unverkennbar sogar noch vor dem Ostblock
implodiert. Die Marginalisierung der makrosoziologischen Gesellschaftstheorie war nun
eine der aufeinanderfolgenden Reaktionen, der vermeintlich ideologiefreie Rückzug zu
phänomenologischen Ist-Deskriptionen durch mikrosoziologische Erklärungsmodelle
eine andere. Die pragmatisch-kommunikative soziolinguistische Wende,31 die in medias
res zum Diskursbegriff Michel Foucaults überleitet, zum intersubjektiv-aufscheinenden,
sprachlich verankerten Verständnis der jeweiligen Epoche,32 trägt indessen nichts zur
Sinnfindung der Soziologie bei, sondern ist wahrhaftig ein Ausdruck dafür, daß sie von
ihren traditionellen Obliegenheiten desertiert und sich nur noch meistbietend verkauft.33
29
Ulrich Beck, 5LVLNRJHVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1986.
30
Jürgen Habermas, 1DFKPHWDSK\VLVFKHV'HQNHQ, Originalausgabe 1988.
31
Basil Bernstein, 6SUDFKHXQG/HUQHQLP6R]LDOSUR]H‰, Originalausgabe 1961.
32
Michel Foucault, $UFKlRORJLHGHV:LVVHQV, Originalausgabe 1969.
33
Niklas Luhmann, 'LH:LVVHQVFKDIWGHU*HVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1990.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
11
'DV,FKQDFK*+0HDG
Meads Oeuvre kennt mancherlei Facetten und seine akademische Bibliographie
betitelt 102 Abhandlungen, darunter auch*HLVW,GHQWLWlWXQG*HVHOOVFKDIW.34 Allerdings
muß diagnostiziert werden, daß GHU Klassiker der Sozialpsychologie so nie wirklich von
Mead erarbeitet, konzipiert und abgesegnet wurde. Dieses Konvolut wurde statt dessen
posthum aus diversen Vorlesungsnachschriften, unveröffentlichten Aufzeichnungen und
sonstigen Einschiebungen von Charles W. Morris zusammengestellt und veröffentlicht.
Im Zweifelsfalle muß es also wissenschaftssoziologisch gesehen als ein Fan-Artikel von
Fans für Fans verstanden werden, bedingt durch die Nachfrage nach Identitätsfindung
durch den soziologischen Markt. Allgemein- und Zeitgeschmäcker haben soziokulturell
überforderte Individuen schon immer gedräut die Entscheidungen abzunehmen,35 erst
recht vor einen drohend herannahenden ideologischen Weltkrieg. In den 50er Jahren des
letzten Jahrhunderts gelangte dann die durch Mead eingeleitete Unfunktionalisierung
der historischen Begrifflichkeiten in die bundesrepublikanische Soziologie, angesichts
der Reorganisation der sozioökonomischen Strukturen in Deutschland.
Durch die Evolutionstheorie Charles Robert Darwins inspiriert,36 versteht Mead
das Bewußtsein des Menschen als ein evolutionäres Produkt der ständigen Reaktion und
Anpassung des Organismus mit den Einwirkungen seiner Umwelt; nicht jedoch als eine
Befähigung, die dem Lebewesen gleichsam DSULRUL in die Wiege gelegt worden wäre.
Die Möglichkeit zur Identitätsbildung wäre also demnach divergent zu Cooley nicht als
essentielle Disposition der Autopoiese vorgegeben. Dabei knüpfte er bei der Abfassung
seiner anthropologischen Theorie zur Genese von Geist und subjektivem Bewußtsein
aus Kommunikationsprozessen hauptsächlich an John Dewey,37 den Mitbegründer des
darwinistisch orientierten Funktionalismus, daß im Gegensatz zur Strukturpsychologie
34
Hans Joas, 3UDNWLVFKH,QWHUVXEMHNWLYLWlW, Originalausgabe 1980.
35
Ulrich Beck, 5LVLNRJHVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1986.
36
37
Charles Robert Darwin, 'LH$EVWDPPXQJGHV0HQVFKHQXQGGLHJHVFKOHFKWOLFKH=XFKWZDKO,
Originalausgabe 1871.
John Dewey, :LHZLUGHQNHQ, Originalausgabe 1909.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
12
das Seelische aus der Verquickung einzelner Funktionsfaktoren erklären will und daher
die Beschränkung auf die Bewußtseinspsychologie ablehnt, sowie Mitinitiator des
Instrumentalismus, welcher den werkzeughaften Charakter des Bewußtseins lehrt und
daher konsequent die Erziehung als sozialbezogene Indoktrination im Sinn einer Denkund Usancenbewältigung auffaßt.38 Der Sozialbehaviorismus Meads versteht somit die
Evolution von Bewußtsein und die Bildung signifikanter Signal- und Symbolsstrukturen
als eine analoge Konvergenz kraft der Optimierung der Kooperationsgemeinschaft von
Einzelgeschöpfen, infolge der Reiz- und Verhaltenskontrolle der Einzelwesen. Aber für
die dienliche Interpretation derartiger Signal- und Symbolsstrukturen wird bereits eine
gedankliche Gliederung der Umwelt vorausgesetzt. Mead erklärt demnach den Erwerb
kognitiver Fähigkeiten nur durch das zu Erklärende, nämlich der Fortentwicklung der
begrifflichen Abstraktionsbefähigungen. Die Diffamierung des deutschen Idealismus als
„solipsistischen Spuk“ relativiert sich dadurch erheblich, schließlich ist seine Tautologie
vom epistemologischen Standpunkt nicht sonderlich weit von der dauernden Gradation
des philosophischen Bewußtseinsgedankens als absolute Ausprägung der elementaren
Welterfahrung vom vorstellenden Bewußtsein, die als Erkenntnis das Bewußtsein vom
Ichbewußtsein als subjektive Selbsterfahrung am absolutem Selbstbewußtsein macht
und dementsprechend die urteilsfähige Intelligenz als gattungsgeschichtlich vermittelter
Bildungsprozesse rekonstruiert.39 Das absolute Selbstbewußtsein ist schlußendlich nach
der relativen Wahrheitsperspektive Friedrich Wilhelm Nietzsches,40 die notabene viele
Gemeinsamkeiten mit den Anschauungen des Pragmatismus hat, nur eine Metapher für
den generalisierten Anderen, das mit Hilfe symbolisch vermittelter Interaktion für eine
einheitliche Selbstbewertung des Ichbewußtseins sorgt. Die Phase der Reflexion bei der
Ausprägung der elementaren Welterfahrung vom vorstellenden Bewußtsein nennt Mead
das ME. Sie ist geprägt durch die Übernahme von Verhaltenserwartungen durch die
konkreten Anderen, indem man sich selbst dank symbolisch vermittelter Interaktion aus
dem Modus des aktiven Subjekts in den Status des reaktiven Objekts entläßt, also das
Objekt seiner selbst wird und sich demzufolge als fremdbestimmt empfinden kann, bzw.
38
John Dewey, 'HPRNUDWLHXQG(U]LHKXQJ, Originalausgabe 1916.
39
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3KlQRPHQRORJLHGHV*HLVWHV, Originalausgabe 1807.
40
Friedrich Wilhelm Nietzsche, 0HQVFKOLFKHV$OO]XPHQVFKOLFKHV, Originalausgabe 1878–1880.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
13
die als Erkenntnis das Bewußtsein vom Ichbewußtsein als subjektive Selbsterfahrung
am absolutem Selbstbewußtsein macht. Dieses Bewußtsein des Selbstbewußtseins vom
Ichbewußtsein ist uneigentlich nur im Status des reaktiven Objekts möglich, weil der
Einzelmensch sich im Modus des aktiven Subjekts nicht als Subjekt seines Handelns
selbst aus der Perspektive des gerade Erlebenden synchron erkennen kann. Das Erleben
des eigenen Erlebens ist deshalb nur aus der verinnerlichten Erwartungsperspektive des
generalisierten Anderen erlebbar. Die handelnde Phase der existierenden Erkenntnis des
Bewußtseins vom Ichbewußtsein durch die Hereinnahme der Umwelt als ein natürlichimponderables Impulsattribut des Selbst nennt Mead I. I und ME interagieren konstant
untereinander, sie sind demnach nur kontrastierende Gegensätze, Augenblicke inmitten
der Totalität des Selbst, die in sich fassend erst das Individuum mit Hilfe symbolisch
vermittelter Interaktion aus der dialektischen Einheit der Differenz bewirken. Divergent
zu Freud ist das Individuum darum gleichermaßen mitnichten triebgesteuert, da nur die
Totalität des Selbst handlungsdeterminierende Autorität besitzt, welche sich vermittels
zweier Phasenabschnitte individualbiographisch entfalten: im infantilen Spiel und im
Wettkampf. Im Spiel lernt das Kind die Normen- und Regelerwartungen des konkreten
Gegenübers zu antizipieren, d.h. seine Verhaltensreflexion anzupassen. Im organisierten
Wettkampf ist die generalisierte Rollenübernahme plus Reiz- und Verhaltenskontrolle
soweit zu perfektionieren, daß die heterogensten verinnerlichten Erwartungsansprüche
simultan synthetisiert werden können. Die Etablierung der Einheit aus der Differenz der
widerstreitenden ME-Ambitionen, ist nach Mead eine Grundobliegenheit der Identität,
dito die integrative Transformierung der impulsiven I-Aspekte. Geht also der deutsche
Idealismus vom Status quo des Bewußtseins aus, um die urteilsfähige Intelligenz als
gattungsgeschichtlich vermittelter Bildungsprozesse zu postulieren, geht nun Mead vom
Status quo des Gesellschaftlichen aus, wodurch der Geist per Definition gesellschaftlich
sein muß. Jedoch postuliert seine anthropologische Kulturtheorie dabei epistemologisch
ein Black-box-System. Sein Lösungsansatz des Leib-Seele-Problems ist demzufolge nur
ein scheinbarer. Mead ist sich dieser Problematik durchaus bewußt, daher verengt er die
zugrundeliegenden Signal- und Symbolsstrukturen auf einen reinen sprachlich-vokalen
Zeichencode und den Geist auf ein bezwecktes Reaktionsvermögen des Menschen. Es
gilt jedoch streng zwischen Reaktionsvermögen und Bewußtsein zu unterscheiden, denn
ersteres ist neurologisch bedingt und läßt sich gänzlich durch die behavioristischen
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Definitionen
14
Verhaltenskategorien beschreiben.41 Für viele zweckmäßige Reaktionsvorgänge gibt es
sogar überhaupt keine parallele Bewußtseinsrepräsentanz. „Weil wir kein Bewußtsein
davon haben, wovon wir kein Bewußtsein haben“, täuscht uns unser Geist vielmehr ein
nicht existentes Erlebniskontinuum vor – das Bewußtsein ist infolgedessen kein Abbild
des Erlebens und demzufolge weder für die Begriffsbildung noch für das Lernen oder
das Denken erforderlich, geschweige denn für die Vernunfttätigkeit.42 Meads These von
der unbewußt-nichtsprachlichen Kommunikation als einer entwicklungsgeschichtlichen
Vorgängerstruktur der symbolischen Interaktion, die sich dann synchron zur subjektiven
Bewußtseinsstruktur entfaltet haben soll, wird dadurch gänzlich kaduk.
Hierdurch wird freilich simultan das normative Paradigma von Herbert Blumer,
daß Meads Überlegungen zur gleichlaufenden Emanation von Bewußtsein bei der
Phylogenese und Identität bei der Ontogenese auf der kollektiven Verwendung eines
sprach-logisch signifikanten Zeichencodevorrats hauptsächlich basiert,43 gleichermaßen
sehr problematisch. Seine Vereinseitigung Meads hinsichtlich der vital-organismischen
Rückbindung der handlungsökonomischen humanen Lebenspraxis in die Ungreifbarkeit
der gesellschaftlichen Interpretation, d.h. die Auflösung des Reservoirs der psychischen
Energie und der impulsiven Kreativität in eine soziale Metastruktur, verneint nicht nur
uneingeschränkt die triebhaft-biologische Urnatur des Menschen, sondern verabsolutiert
auch gleichzeitig den Aspekt der sich beständig expandierenden sozialen Lebenswelten
zur einzigmöglichen Existenzform aller Menschen, unter Ausschluß des inneren Bandes
zwischen natürlich-dingkonstituierender Ursache und soziokultureller Wirkung.44 Für
den symbolischen Interaktionismus existiert die konkrete Welt ohne das sinngebende
Individuum nämlich gar nicht. Konsequenterweise hätte sich dann aber überhaupt keine
Existenzform soweit entwickeln können, denn um die Realität der Welt zu garantieren,
müßten von Anfang an zur symbolischen Interaktion fähige Menschen da sein. Der
41
42
43
44
Julian Jaynes, 'HU8UVSUXQJGHV%HZX‰WVHLQV, Originalausgabe 1976.
A. a. O.
Herbert Blumer, 'HUPHWKRGRORJLVFKH6WDQGRUWGHVV\PEROLVFKHQ,QWHUDNWLRQLVPXV, Originalausgabe
1969.
Hans Joas, 3UDNWLVFKH,QWHUVXEMHNWLYLWlW, Originalausgabe 1980.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
15
symbolische Interaktionismus Blumers plaziert mit seinem normativen Paradigma im
Sinne Nelson Goodmans45 nur eine unzulässig verankerte Aussage. Bewußtsein und
Sprache sind bildlich keine zwei Seiten einer Medaille, als eher nur divergente Warten
derselben Medaillenseite, diejenige der wahrnehmenden und reizauslösenden Setzung:
die Ausgangsbasis jeder Existenz.46 Da die Identität so nicht in einer zur dialektischen
Einheit gefaßten Mannigfaltigkeit der Verständigungsprozesse zwischen Realität und
Lebenswelt begründet,47 sondern nur als Produktion und Rezeption einer symbolischen
Interaktion bemeistert wird, besteht für Blumer folgerichtig kein Schlupfloch aus dem
intersubjektiv verbrämten Solipsismus. In letzter Instanz trifft diese Fundamentalkritik
allerdings ex aequo auch auf Mead zu, denn auch er denkt sich die wahrnehmenden und
reizauslösenden Setzungen schlußendlich als vom substantiellen Objekt independente
sprachliche Sinnzuweisungen, denn nur Meads I hat lebhaft überhaupt einen Bezug zur
Objektebene. Alles andere vollzieht sich aber ausschließlich innerhalb der Sprachebene
und dort ist nun mal jede noch so absonderliche Wahrheitsnovellierung der Wirklichkeit
postulierbar. Der putative Objektbezug unserer Sprache läßt uns nämlich dabei rundweg
vergessen, daß dieser sprachliche Objektbezug zwar vorausgesetzt wird, überdies noch
eine unhintergehbare Unterscheidung zwischen der Sprach- und Objektebene impliziert,
jedoch bis dato absolut unbewiesen ist – oder pointierter: „Wahrheiten sind Illusionen,
von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“.48
'HWHUPLQDWLRQVPRGHOO
Die hermeneutische Begriffsbestimmung der soziologisch-phänomenologischen
Gegenveranschaulichung der Kritischen Theorie nach der Frankfurter Schule soll nun
fortschreitend demonstriert werden, d.h. sowohl die instrumental-materielle Dimension
der Konstitution des Sozialen, dem gesamtgesellschaftlichen Systemzusammenhang
von subjektiv-autonomen Interpretationsakten, als auch die elementaren Bedürfnisse der
45
Nelson Goodman, 7DWVDFKH)LNWLRQ9RUDXVVDJH, Originalausgabe 1955.
46
Willard Van Orman Quine, :RUWXQG*HJHQVWDQG, Originalausgabe 1960.
47
Jürgen Habermas, 7KHRULHGHVNRPPXQLNDWLYHQ+DQGHOQV, Originalausgabe 1981.
48
Friedrich Wilhelm Nietzsche, hEHU:DKUKHLWXQG/JHLPDX‰HUPRUDOLVFKHQ6LQQH, Entstanden 1873.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
16
Sinnlichkeit und die unweigerlich abgespaltenen Triebimpulse des Individuums wollen
wir antithetisch integrierend thematisieren und im historischen Kontext hinterfragen.
'DV6R]LDOHDOVVXEMHNWLYH.RQVWLWXWLRQ
Nach Mead und Blumer wäre das Subjekt eine Bestimmung der Gesellschaft und
alle subjektive Entwicklungen daher nur reine Selbstbewegungen des Sozialen, das sich
schlußendlich nur selbst denkt. Der Subjektbegriff wird damit nicht nur total entleert,
sondern der Einzelmensch wird ferner zu einer abstrakten, unhistorischen und unrealen
Kreatur, denn damit postuliert man letzten Endes, daß die gesellschaftlichen Systeme,
Prozesse und Gesetze eine DSULRULDaseinsform darstellen, jenseits der geschichtlichen
Durchsetzungskraft des Menschen. Dies stellt einen zyklopischen Rückfall hinter Georg
Wilhelm Friedrich Hegel dar. Schon seine Rekonstruktion der urteilsfähigen Intelligenz
als gattungsgeschichtlich vermittelter Bildungsprozeß implizierte seit langem, daß das
Individuum sich ausschließlich in der gesellschaftlichen Praxis entfalten und sich darum
selbst nicht unerheblich an der historischen Weiterentwicklung der sozialen Lebenswelt
beteiligen konnte, indem er die Gewordenheit der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse
examinierte und dabei die „begriffene Geschichte“ praktisch verwendete.49 Hieraus wird
die bourgeoise Gesellschaftsstruktur als wildwüchsige Kultur der Bedürfnisbefriedigung
deduziert, die ihr Zerbersten im Klassengegensatz nur durch ihre sozialen Institutionen
retardieren kann, primär jedoch durch den Staat.50 Die Hegel’sche Dialektik wird so zu
einer logischen Systematik zur kritisch-genetischen Entwicklung der Welt, da die realen
Unversöhnlichkeiten als lichte Widersprüche begriffen und beifolgend aufgelöst werden
können, durch die Verbundenheit der analytischen und synthetischen Methode. Die
Betonung von Negation und Widerspruch als inhärente Systemeigenschaft der sozialen
Realität hat für die Kritische Theorie daher eine enorme Bedeutung.51 Kernstück war
anfänglich die Negation der Negation aus der Sphäre der Antinomie, die eine konkrete
Rückkehr zur entwickelten Totalität als Einheit des Antagonismus in der ihr inhärenten
49
50
51
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3KlQRPHQRORJLHGHV*HLVWHV, Originalausgabe 1807.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1DWXUUHFKWXQG6WDDWVZLVVHQVFKDIWLP*UXQGULVVH, Originalausgabe
1820.
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, 'LDOHNWLNGHU$XINOlUXQJ, Originalausgabe 1947.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
17
Bestimmtheiten anzeigt: Der positiv-dialektische Dreischritt Johann Gottlieb Fichtes.52
Damit gelangte die von der Vernunftkritik Immanuel Kants53 dito geprägten Frankfurter
Schule zu einer dialektischen Begründung der sozialen Herrschaftsmechanismen: Eine
Basis des Sozialen ist demnach der ideologische Überbau selbst, der zur Konservierung
der Gesellschaftsstruktur repressiv zurückwirkt.54 Dieserhalb entpuppt sich indessen der
Vernunftbegriff der abendländischen Zivilisation als internalisierte Verschmelzung des
Herrschaftsdenkens mit einer maschinenmäßigen Urteilskraft, die alle naturwüchsigen
Aspekte unter die Generalaufsicht des Menschen bringen will und sich dabei nur selbst
aufhebt,55 d.h. keine soziale Macht kann nun dem Subjekt zur Emanzipation verhelfen.
„Erziehung zur Genußfähigkeit“56 erscheint als der einzig noch verbleibende Ausweg.
Cocooning,57 die hedonistische Einkapselung in die anheimelnden vier Wände, enthüllt
sich somit zu einer Ausflucht aus der negativen Dialektik, obgleich diese frugale Praxis
der Anomie eher einer pathologischen Entwicklung Vorschub leistet.58
Überhaupt läßt sich abweichendes Verhalten als kategorialer Grundbegriff der
Soziologie nicht durch den symbolischen Interaktionismus hinreichend interpretieren.
Das symbolische Individuum als Ensemblemitglied der vergesellschafteten Menschheit
hat eingangs keinen Grund den in einer Interaktionsbeziehung erwarteten Normen und
Vorschriften nicht zu entsprechen und damit Sanktionen zu riskieren. Eine auffallend
subversiv-distanzierte Milieubildung innerhalb des objektiven Gesellschaftsgefüges ist
ferner nur sehr fragmentarisch durch rein private Selbstbestimmung aufzulösen. Eher
muß davon ausgegangen werden, daß das Individuum nicht nur das Endprodukt seiner
unmittelbaren sozialen Verhältnisse ist, sondern kraft der dialektischen Rückkoppelung
52
Johann Gottlieb Fichte, *UXQGODJHGHUJHVDPWHQ:LVVHQVFKDIWVOHKUH, Originalausgabe 1794.
53
Immanuel Kant, .ULWLNGHUUHLQHQ9HUQXQIW, Originalausgabe 1781.
54
Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse u.a., 6WXGLHQEHU$XWRULWlWXQG)DPLOLH,
Originalausgabe 1936.
55
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, 'LDOHNWLNGHU$XINOlUXQJ, Originalausgabe 1947.
56
Max Horkheimer, =XU.ULWLNGHULQVWUXPHQWHOOHQ9HUQXQIW, Originalausgabe 1947.
57
Faith Popcorn, Lys Marigold, &OLFNLQJ, Originalausgabe 1996.
58
Émile Durkheim, 'HU6HOEVWPRUG, Originalausgabe 1897.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
18
seines eigenen Überbaus zugleich auf die sozialökonomische Basis der unmittelbaren
sozialen Verhältnisse direkt einwirken und ergo sie auch mittelbar selbst gestalten kann.
Das Individuum und die Gesellschaft können also nur auf der Sprachebene als differente
Entitäten jemals mißverstanden werden.59 Der Individualisierungsprozeß ist deshalb nur
ein ambivalenter und systemimmanenter „Wechsel der Verpflichtungen“,60 wodurch das
Subjekt immer neue Teile der Realität zum Objekt seines Handelns materialisiert und so
kontinuierlich eine historisch entwickelte gesellschaftliche Praxis neu erschafft. Soziale
Ausdehnung, durch eine beständige funktionale Ausdifferenzierung des soziokulturellen
Milieus, ist daher identisch mit einer Zunahme an individuellen Wahlmöglichkeiten.61
Die Potentaten der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung haben aber um so
mehr Möglichkeit, auf die Bewußtseinsbildung einzuwirken. Mit Hilfe von Stereotypen,
radikaler Simplifizierung, sowie steter Gut und Böse Dispositionen kann die Öffentliche
Meinung mit angemessenen Hilfsquellen eingefangen und verführt werden.62 Daher gilt
es streng zwischen der Emanzipation von den Naturverhältnissen und der okzidentalen
Ideologie des Individualismus als Überbau der Moderne zu unterscheiden. Die soziale
Ablösung des Individuums wird zwar zum Düsentriebwerk der modernen Gesellschaft
stilisiert63 – die grenzenlose Verallgemeinerungs-, Assimilations- und Integrationskraft
ist derzeit oberstes soziales Wirkprinzip, allgemein bindende Verpflichtungsnormen für
alle Handlungsakteure können somit nicht mehr existieren64 – allerdings nur, weil der
Individualisierungsprozeß eine notwendige und zirkuläre Anfangs- und Endbedingung
der globalisierten Sozialordnung ist. Eine profilierte Selbstregulierung ist vorliegend die
logische Konsequenz, da das nun zur Autonomie verdammte bourgeoise Individuum
mittlerweile nur die Option der Selbstbezüglichkeit hat.65 Die empirisch-transzendentale
59
Georg Simmel, 6R]LRORJLH, Originalausgabe 1900.
60
Georg Simmel, 3KLORVRSKLHGHV*HOGHV, Originalausgabe 1900.
61
Émile Durkheim, hEHUVR]LDOH$UEHLWVWHLOXQJ, Originalausgabe 1893.
62
Walter Lippmann, 7KH3KDQWRP3XEOLF, Originalausgabe 1925.
63
Markus Schroer, 1HJDWLYHSRVLWLYHXQGDPELYDOHQWH,QGLYLGXDOLVLHUXQJ, Originalausgabe 2000.
64
Niklas Luhmann, 6R]LRORJLVFKH$XINOlUXQJ%G, Originalausgabe 1975.
65
Niklas Luhmann, 6R]LRORJLVFKH$XINOlUXQJ%G, Originalausgabe 1995.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
19
Akzentverschiebung der jüngeren Kritischen Theorie aus der Tradition des Subjektes als
Zentrum der Kritik hin zu einer emanzipatorischen Erkenntnistheorie des sinnstiftenden
Mediums der gesellschaftlichen Interaktion offenbart, daß die Herrschaftsinstrumente
nun auf der Kontrolle der Kommunikations- und nicht der Produktionsmittel gründen.66
Über die Medienindustrie werden die subjektiv-autonomen Interpretationsakte, als auch
die sinnlich-elementaren Bedürfnisse und die unweigerlich abgespaltenen Triebimpulse
der Massen also immer raffinierter manipuliert und überwacht, anschaulich durch „die
Suche nach der Großen Gemeinschaft“.67 Die mediale Rekonstruktion der Gesellschaft
verdeutlicht, daß Ausbruch, Schlichtung und Direktion von Konflikten maßgeblich von
der Vermittlung und Abbildung durch gleichgeschaltete Medienkonzentration motiviert
sind.68 Die phrasenhafte Wiederholung bestimmter Ideen dient der Gleichschaltung der
individuellen „Pseudowelten“.69 Die putative soziale Lebenswelt ist daher auch nur eine
mediale Wirklichkeitskonstruktion, wenngleich ein latent-autokonstitutiver Kreislauf.70
Kultur wird demgemäß zu einer symbolischen Größe, welche die Kommunikation subtil
beeinflußt. Der Mensch wird hierdurch zum Wirt eines sich durch ihn reproduzierenden
Kulturprogramms der gattungshistorischen Wirklichkeit. Der soziale Bildungsprozeß
der Kultur stellt demzufolge die mittelbare Konstruktion eines disparaten multimedialen
Raums dar, der für mißverständliche Grundprobleme und Spekulationen deswegen Platz
bietet, weil seine Inszenierung nur ein Grenzwert der ichhaften Eventualitäten darstellt.
So entsteht ein dynamisches Wirklichkeitsspektrum mit epistemologischen Items und
praktisch-multiperspektivischen Varianten. Ein Turnierplatz für konträre Denkarten, der
für mannigfachste latente Evolutionen offen ist.
Das neopositivistische Verifikationsprinzip der pragmatischen Bewahrheitung
wird durch den fiktionalen Generalverdacht der Wirklichkeit gänzlich obsolet. Innerhalb
66
Jürgen Habermas, 7KHRULHGHVNRPPXQLNDWLYHQ+DQGHOQV, Originalausgabe 1981.
67
John Dewey, 'LHgIIHQWOLFKNHLWXQGLKUH3UREOHPH, Originalausgabe 1927.
68
Noam Chomsky, 0HGLD&RQWURO, Originalausgabe 2002.
69
Walter Lippmann, gIIHQWOLFKH0HLQXQJ, Originalausgabe 1922.
70
Siegfried J. Schmidt, 0HGLHQ.XOWXU*HVHOOVFKDIW, Originalausgabe 1995.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Determinationsmodell
20
einer Simulation, welche sich ihrerseits aus multiplen Simulationen speist, ist nur noch
eine unscharfe und relative Wahrheitsperspektive zu extrahieren.71 Die „Heterogenität
der Sprachspiele“72 lotst uns hierdurch nicht nur zum philosophischen Nullsummenspiel
der Wahrheit, sondern auch die Objektivität zur vermeintlichen Autonomie im weißen
Rauschen der Indifferenz, angesichts der strukturalen Befreiung der Signifikanz von den
Konstellationen der Realität.73 Der latent-autokonstitutive Kreislauf der soziomedialen
Wirklichkeitskonstruktion ist somit zwar nicht zu durchbrechen, allein schon weil
„die Individuen bei ihrer Wirklichkeitskonstruktion im geschilderten Sinne immer schon zu spät
kommen: Alles, was bewusst wird, setzt vom Bewusstsein aus unerreichbare neuronale
Aktivitäten voraus; alles was gesagt wird, setzt bereits das unbewusst erworbene Beherrschen
einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise mit welchen Effekten gesprochen wird, all das
setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte Diskurse in sozialen Systemen
voraus“.74
Indessen sollte der dialektisch-erkenntnistheoretische Dolchstoß aus Illusion und
Realität nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Weg zum humanen Dispens nicht darin
besteht die Simulation, die unser Wirklichkeitsspektrum durchsetzt und nicht eliminiert
werden kann, einzureißen, sondern die Kontrolle hierüber zu erhalten, um auszuwählen,
in was für einer Simulation man leben möchte. Der Verlust von Neutralität75 eröffnet
die radikale Verlagerung der Konzentrierung auf das noch falschere Leben im Falschen,
d.h. zur „Lüge, die sich wahrlügt“.76 Man nistet sich im immer wieder veränderbaren
soziomedialen Poly-Versum also unforensisch-spielerisch ein, bis die Hypertelie von
selbst zusammenbricht.77 Dieweil das Wirklichkeitsspektrum kein monolithisch stabiler
Akt ist, sondern eher über diverse fehlerhaft-kommunikative Regionen von heterogener
Qualität verfügt, die zyklisch kollabieren.
71
Friedrich Wilhelm Nietzsche, 'LHIU|KOLFKH:LVVHQVFKDIW, Originalausgabe 1882.
72
Jean-François Lyotard, 'DVSRVWPRGHUQH:LVVHQ, Originalausgabe 1979.
73
Jean Baudrillard, 'HUV\PEROLVFKH7DXVFKXQGGHU7RG, Originalausgabe 1976.
74
Siegfried J. Schmidt, .DOWH)DV]LQDWLRQ, Originalausgabe 2000.
75
Jürgen Habermas, (UNHQQWQLVXQG,QWHUHVVH, Originalausgabe 1968.
76
Günter Anders, 'LH$QWLTXLHUWKHLWGHV0HQVFKHQ, Originalausgabe 1956.
77
Jean Baudrillard, 'LHIDWDOHQ6WUDWHJLHQ, Originalausgabe 1983.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Schlußfolgerungen
21
6FKOX‰IROJHUXQJHQ
Unsere epistemologische Exkursion, welche mit der unmittelbar einleuchtenden
HUVWHQ3HUVRQ6LQJXODU eines skeptischen Descartes’ begann,78 neigt sich nun dem Ende.
Seine latent-autokonstitutive Natur muß freilich als generell unauflösbar ad acta gelegt
werden. Die soziale Interaktion kann momentan nur über einen genetisch-tautologischen
Erklärungsansatz expliziert werden, wobei das soziologische Funktionssystem dabei als
ein permanenter Kommunikationszyklus begriffen wird. Geschichte und Kultur wären
somit ein parasitärer Aspekt der vermittelten soziomedialen Wirklichkeitskonstruktion.
Die kontinuierliche Aussöhnung zwischen Individuum und Realität ist prinzipiell nur
abstrakt möglich, über die Medienindustrie findet deshalb die psychologische Kontrolle
der sinnlich-elementaren Bedürfnisse statt. Da die relative Wahrheitserkenntnis nur über
die praktische Nutzanwendung mimetisch zu deduzieren ist, zielt die Bedeutung der
medialen Rekonstruktion der Gesellschaft dementsprechend auf die cybermarxistische
Begrifflichkeit einer reformulierten Revolution.79 Es geht ergo um die theoriegeleitete
Einsicht und Bahnung einer verrätselten Wirklichkeit von Ich und Welt, die unter der
radikalen Skepsis der permanenten Dekonstruktion stehen. Die Mead’sche Konstitution
des Ich ist danach eine politische Verlautbarung, aber auch eine soziologisch verankerte
Selbsteinschätzung seiner Epoche. Die Destruktion gesamtgesellschaftlicher Utopien
entlarvt sich insofern als das Erbe der okzidentalen Ideologie des Individualismus, der
Überbau des Liberalismus. Die Maximierung der wirtschaftlichen Produktivität ist die
sozialökonomische Basis. Die gesellschaftliche Anomie ist die notwendige Folge, die
sich aus den gänzlich nicht-individualistischen Traditionen des Abendlandes ergeben.
Der Neoliberalismus, die letzte überlebende Großideologie des 20. Jahrhunderts, kann
die gegenwärtige Krise der Moderne weder verstehen, dazu fehlt ihm das theoretischbegriffliche Rüstzeug, noch kann er sie wirksam verhindern oder auch nur bändigen.80
Weitere soziokulturelle Paradigmenwechsel stehen uns also wahrscheinlich bevor.
78
René Descartes, 0HGLWDWLRQHQEHUGLH(UVWH3KLORVRSKLH, Originalausgabe 1631.
79
Michael Hardt, Antonio Negri, 0XOWLWXGH, Originalausgabe 2004.
80
Emmanuel Todd, :HOWPDFKW86$(LQ1DFKUXI, Originalausgabe 2002.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Zusammenfassung
22
=XVDPPHQIDVVXQJ
Die Soziologie machte sich vormals auf, den Menschen im Hinblick auf die Art
des Aufeinanderbezogenseins zu sich und seiner Umwelt und dem Wesen und Intention
seines Daseins zu untersuchen. Dies ist ihr mehr oder weniger gut gelungen. Descartes’
„cogito ergo sum“ hat sich nämlich entwicklungsgeschichtlich zum „mentioo ergo sum“
entwertet: Unser soziomediales Poly-Versum ist im permanenten Wandel begriffen und
navigiert latent am Rande des Chaos – mehr kann ich aus meiner Wahrheitsperspektive
objektiv nicht sagen. Andere können eventuell mehr erkennen, aber „wovon man nicht
sprechen kann, darüber muß man schweigen.“81
81
Ludwig Wittgenstein, 7UDFWDWXVORJLFRSKLORVRSKLFXV, Originalausgabe 1922.
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
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*
Aus Projekt Gutenberg-DE <http://projekt.gutenberg.de/>
**
Aus Digitale Bibliothek Band 31: Nietzsche
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
Ehrenwörtliche Erklärung
27
(KUHQZ|UWOLFKH(UNOlUXQJ
Hiermit erkläre ich, das ich die vorliegende Hausarbeit mit dem Thema „Die
Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus“ ohne
fremde Hilfe erstellt habe. Alle verwendeten Quellen habe ich angegeben. Ich
versichere, daß ich bisher keine Hausarbeit oder sonstige schriftliche Arbeit mit
gleichem oder ähnlichem Thema an der Fernuniversität oder einer anderen (Fach-)
Hochschule abgegeben habe.
Ort, Datum:
Stuttgart, den 1. Mai 2005
Unterschrift:
Die Konstitution des Ich bei G. H. Mead und im Symbolischen Interaktionismus
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