Ghost – Nachricht aus dem Jenseits

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Seelenwanderung
„Nimm ihn und werde glücklich!“
Das waren die Worte ihrer Mutter gewesen. Anna war sich nicht sicher. Natürlich war Warren
ein Traummann keine Frage. Er besaß einen guten Job, sah blenden aus und war ihr
gegenüber immer aufmerksam und nett. Aber genau da lag ihr Problem. War nett genug? Sie
war sich einfach nicht sicher. Es war so als würde ein Teil von ihr auf etwas warten. Als
würde etwas Wichtiges in ihrem Leben fehlen, ganz so als wäre sie nicht vollständig.
Nachdem Kaffee mit ihrer Mutter war, sie hier her auf einen sonntagnachmittäglichen
Flohmarkt geflohen. Heftige Herbstwinde machten den Verkäufern an ihren Ständen das
Leben schwer. Immer wieder wurden kleinere Stücke oder einzelne Blätter aus alten
Zeitungen verweht. Anna liebte Flohmärkte, sie stöberte gerne in alten Sachen. Längst
vergangene Zeiten faszinierten sie einfach und wo kann besser in der Vergangenheit stöbern,
als auf einem Flohmarkt? Gerade erregte eine kleine gläserne Figur ihre Aufmerksamkeit, als
ihr aus heiterem Himmel ein Foto in die Hände fiel. Der Wind musste es zu ihr getragen
haben.
Wie vom Blitz getroffen, betrachtete sie es. Es war eine alte schwarz-weiße Fotografie. Die
Ecken waren abgegriffen und eingerissen, außerdem verunzierte ein rostbrauner Schmutzfleck
es, aber das war es nicht, was ihr Interesse fesselt. Das Bild zeigte einen jungen Mann in
Uniform. Einen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Ernst sah er sie an und schien ihr selbst
durch dieses Foto bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können. Fragen über Fragen
purzelten durch Annas Kopf und zugleich beschlich sie neue Gefühle.
Gleich einem Dammbruch durchfluteten sie plötzlich die unterschiedlichsten Empfindungen.
Schmerz, Trauer, Wut und Liebe. Es war als hätte sie nach all dem langen Warten endlich das
gefunden, wonach sie ihr ganzes Leben, ohne es zu wissen, bereits gesucht hatte. Das war der
Mann ihrer Träume.
„Vielen Dank, Miss.! Der Wind hatte es aus meinem Album fortgeweht, ehe ich es verhindern
konnte!“ Ein Mann riss ihr das Bild aus den Händen und somit Anna aus ihren Gedanken.
Innerlich schüttelte sie sich und konnte kaum verstehen, was gerade passiert war. Voller Panik
sah sie den Mann bereits damit fortgehen. Sie würde das Bild nie wiedersehen.
„Warten Sie!“, rief Anna hastig aus und lief hinter ihm her. Leicht atemlos blieb sie vor ihm
stehen, nachdem sie ihn erreicht hatte.
„Verkaufen Sie das Bild? Bitte, ich muss es haben!“
Gleichmütig zuckte dieser mit den Schultern. „Diese Fotografie gehört zu einem alten Album.
Ich habe gerade einen Kunden der sich dafür interessiert. Wenn er es nicht will, dann können
Sie es haben“, versprach er ihr und ging weiter.
Anna blieb dicht an seiner Seite und folgte ihm zu seinem Stand. Außer ihnen beiden war
niemand zu sehen. Scheinbar war das Interesse des Kunden, von dem er gesprochen hatte,
doch nicht so groß gewesen und dieser war bereits weitergegangen. Ordentlich heftete er das
Bild wieder zurück in ein altes Album und schüttelte dabei den Kopf. Das Foto war in dem
Album festgeklebt gewesen, eigentlich war unmöglich, was passiert war. Niemals hätte der
Winde es mit sich forttragen können. Stolz zeigte er es Anna.
„Wissen Sie, wer er war?“, fragte sie ihn neugierig.
„Ich habe das Album geschenkt bekommen und weiß nur, dass er im Krieg gefallen ist.“
Gedankenverloren strich sie mit der Hand über den braunen Ledereinband des Albums.
„Kennen Sie seinen Namen?“
„Nein“ Bedauernd schüttelte er den Kopf.
„Wie viel verlangen Sie dafür?“ Er nannte Anna einen unverschämt hohen Preis und auch
wenn sie wusste, dass er zu hoch war, so wollte sie es dennoch unbedingt haben und bezahlte,
ohne zu verhandeln.
Kaum zu Hause blätterte sie es aufgeregt durch. Sie sah Brautpaare gekleidet in traditionaler,
der Zeit angepassten Mode. Menschen vor ihren Häusern. Tiere, Kinder, aber all das für sie
nicht wichtig. Der junge Mann war es der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Vorsichtig zog sie
das Bild aus dem Album und betrachtete es eindringlich. Er hatte dunkles Haar, exakt zu
einem Mittelscheitel frisiert.
Die Farbe seiner Augen konnte sie nur erraten, aber sie war sich sicher, sie waren blau. Er war
nicht schön im klassischen Sinne. Das Kinn vielleicht eine Spur zu spitz, die Nase wies eine
leichte Krümmung auf und doch sie fand ihn anziehend. Aus einem Impuls heraus drehte sie
es um. Am rechten oberen Bilderrand entdeckte sie einen Namen und ein Datum – Edward
Nash, 4.08.1915.
„Bist du das?“, wisperte sie leise in sein Gesicht. Kurz wartete sie, aber erhielt natürlich keine
Antwort. Sie legte das Bild zurück an seinem Platz im Album und schloss es.
Es machte keinen Sinn sich den Kopf über einen Menschen, der vor langer, langer Zeit bereits
gestorben war zu zerbrechen. Vermutlich war das ihre Flucht um sich nicht mit ihren
wirklichen Problemen auseinandersetzten zu müssen. Seufzend erhob sie sich. Sie konnte
nicht den ganzen Tag hier sitzen und vor sich hinträumen. Es gab noch anderes zu tun.
Sie musste sich noch um ihre Wäsche kümmern, die Blumen gehörten gegossen und die Post
aussortiert. Sonntag war ihr freier Tag für sie unerledigte Dinge zu erledigen, für die sie unter
der Woche einfach keine Zeit fand. Doch während sie das alles tat dachte sie unentwegt an
Edward. Später telefonierte sie noch mit Warren, dabei hatte sie das Gefühl ihm nichts mehr
zu sagen zu haben. Sie mochte ihn, aber sie liebte ihn nicht. Er war ein guter Mensch, nur
nicht der richtige für sie.
Lange konnte sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden, und als sie endlich dennoch einschlief,
ließen ihre Träume sie nicht zur Ruhe kommen. Sie lief über ein Feld und rief einen Namen.
Seinen Namen.
„Edward!“
„Edward!“
Vor sich entdeckte sie eine Gestalt. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, doch bei ihren Rufen
drehte er sich um. Er war es. Sie lief schneller um ihn zu erreich, nur sie schaffte es nicht. Es
war unmöglich. Immer weiter entfernte er sich von ihr. Traurig sah er sie an, schien enttäuscht
von ihr, dann drehte er sich um und war fort.
Weinend erwachte sie. Sie hatte ihn verloren. Es tat so weh, als wäre es tatsächlich passiert
und nicht nur ein Traum gewesen. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, holte sie sich das
Album und schlug die Seite mit seinem Foto auf, doch es war fort. Erschrocken keuchte sie
auf. Wo war es nur abgeblieben?
Vermutlich war sie unachtsam gewesen und es war einfach raus gefallen, als sie es sich von
der Küche, wo sie es auf dem Tisch hatte, liegen gelassen, holte und quer durch die ganze
Wohnung trug. Aber sie fand es nicht. Es blieb verschwunden. Traurig setzte sie sich auf die
Bettkante, da sah sie es.
Edwards Bild stand angelehnt an den Fuß ihrer Lampe auf dem Nachttisch. Gänsehaut
überzog ihren Körper. Wie kam es hier her? Wer hatte es hingestellt? Suchend blickte sie um
sich. Bedeutete das nicht, dass sich jemand in ihrer Wohnung befand, oder war sie am
durchdrehen und wusste nicht mehr, was sie tat? Sie kippte das Bild um, sodass sie Edward
nicht mehr sehen konnte, drehte das Licht aus und versteckte sich ängstlich unter ihrer Decke.
Schon bald kroch sie daraus wieder hervor und stellte das Bild wieder auf. Das Wissen, das er
sie sehen konnte, beruhigte sie auf eine unerklärliche Weise.
„Anna?“
„Anna, warum bist du nicht gekommen?“
„Ich habe so lange auf dich gewartet!“
„Weil ich dich nicht finden konnte“, murmelte Anna im Schlaf, dann schrak sie hoch. Wer
hatte zu ihr gesprochen? War das nur ein Traum gewesen? Sie war kurz eingenickt, da hatte
sie eine Stimme gehört. Anna schlug die Decke zurück und stand auf. An Schlafen war nicht
mehr zu denken. So ging sie an ihren Computer und machte sich auf die Suche nach ihm.
Vielleicht fand sie etwas über Edward? Sie gab den Ersten Weltkrieg und seinen Namen in
eine Suchmaschine ein und wartete. Nichts! Natürlich, das wäre auch zu einfach gewesen.
Sie probierte noch ein paar andere Begriffe aus, ohne etwas zu finden. Das alles war viel zu
lange her. Es war zum Verzweifeln. Seufzend schloss sie das Fenster auf dem Bildschirm und
schlug sich müde die Hände vors Gesicht. Als sie sie wieder wegzog, sah Edward Nash sie an.
Erschrocken keuchte sie auf. Der Computer hatte selbstständig ein Fenster geöffnet und
Edward gefunden. Ähnlich dem das sie besaß. Wieder war er in Uniform zu sehen. Er lächelte
nicht, stand nur da und sah sie an. Erneut befiel sie Furcht. Was geschah nur mit ihr?
Der folgende Morgen brach so an, wie der vergangene Tag geendet hatte – stürmisch.
Typisches Wetter für Anfang November. Anna blickte aus dem Fenster und sah dem Laub zu,
wie es über die Straße gefegt wurde. Plötzlich hatte sie das Gefühl eines Deja-vue. Laub
wirbelte auf einem unbefestigten Weg. Der Wind biss sich in ihren dünnen Kleidern fest. Es
war so bitterkalt. Das Wichtigste war aus ihrem Leben fortgerissen worden und hatte nichts
als Trauer und endlosen Schmerz zurückgelassen.
Sie hatte das Kostbarste in ihrem Leben, den Mann den sie über alles liebte, verloren. Betrübt
ging sie in die Küche und machte sich Frühstück. Dann schnell noch ins Bad, anziehen und ab
zur Arbeit. Es war Montag, nicht ihr liebster Tag. Nach der Arbeit traf sie sich noch mit
Warren. Teilnahmslos nahm er ihre Erklärung, warum sie ihn verließ zur Kenntnis. Das
bestärkte sie noch mehr darin das Richtige zu tun.
Schwieriger wurde es, das auch ihrer Mutter zu erklären. Sie mochte Warren sehr und hätte
ihn gern als ihren Schwiegersohn gesehen. Nachdem sie die Schimpftirade von ihr über sich
ergehen hatte, lassen, versprach sie ihr sich bald bei ihr blicken zu lassen und legte auf. In
ihrer Wohnung führte sie ihr erster Weg zu Edwards Bild. Sie kniete davor nieder, um ihm in
die Augen blicken zu können.
„Wieso kann ich nicht aufhören an dich zu denken? Wenn ich dich ansehe, habe ich das
Gefühl dich bereits zu kennen“
Die nächsten Tage blieben ruhig und ereignislos. Anna glaubte schon bald sich das alles nur
eingebildet zu haben. Dass ihre Gefühle einen Streich spielten und sie sich insgeheim wünschte Edward zu kennen. Sie legte das Album mit Edwards Bild in eine Schublade und
versuchte alles Rund um ihn zu vergessen. Sie traf ihre Mutter, sprach auch noch mal mit
Warren und sonst verlief ihr Leben wie immer ruhig. Bis … dicker Nebel kroch eine Woche
später über das Land und tauchte die Bäume, Straßen und Häuser in ein gespenstisches Licht.
Die Dunkelheit setzte früher ein als sonst und trieb die Menschen nach Hause in ihre Häuser.
Eine angenehme Stille legte sich über alles. Selbst der Klang der vorbeifahrenden Autos
drang nur gedämpft zu ihr hoch. Anna entzündete eine Kerze und setzte sich mit einer heißen
Tasse Tee in eine warme Decke eingehüllt auf ihrem Sofa. Mit sich und der Welt zufrieden
las sie ihren Jane Austen Roman zu Ende.
Bei den letzten Seiten angekommen überwältigte sie plötzlich die Müdigkeit und sie schlief
ein. Unbemerkt von ihr begann die Kerze zu flackern und erlosch. Im Raum wurde es
empfindlich kühl und um ihre Lippen bildeten sich kleine Atemwölkchen. Ein weißes Licht
waberte durch den Raum und bewegte sich auf Anna zu. Sanft berührte es sie. Anna murmelte
irgendetwas Unverständliches im Schlaf und zog fester die Decke um sich.
Das Licht entfernte sich wieder von ihr. Plötzlich blinzelte Anna und schlug die Augen auf.
Fröstelnd wickelte sie sich fester in die Decke ein und sah sich orientierungslos im Raum um.
Anna beschlich das Gefühl nicht länger mehr alleine zu sein. Rasch erhob sie sich.
„Wer ist hier?“, rief sie leise aus. Irgendwer war hier und beobachtete sie. Eine feine
Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper und ließ sie hastig den Raum verlassen. Wie ein Tier
auf der Flucht blickte sie ängstlich zurück. Sie war sich sicher, dass ihr jemand folgte, doch
hinter ihr war niemand.
Am kommenden Tag tat sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Sie ging in
die Kirche. Außer ihr war niemand dort. Sie schritt über den alten Steinfußboden nach vorne
und starrte auf das große Kreuz, das über dem Altar hing. Die Kirche war im gotischen Stil
erbaut worden. Vor gut 60 Jahren hatte ein verheerendes Feuer beinahe die ganze Kirche
zerstört.
Ein paar wohlhabende Einwohner spendeten genug Geld um sie wieder aufbauen zu können.
Bis auf die kostbaren Fresken erstrahlte die Kirche bald schon im erneuten Glanz. Eine große
deutsche Firma stellte außerdem seltene, geschliffene Buntglasfenster zur Verfügung. Eine
Art Wiedergutmachung. Eine deutsche, verirrte Bombe hatte den Brand verursacht.
„Guten Tag! Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Eine angenehme Stimme sprach sie an. Anna wandte den Blick und fand sich einem jungen
Priester gegenüber.
„Ich … ich weiß nicht“, erwiderte sie unsicher.
„Setzten wir uns doch“, schlug er sanft vor und geleitete sie zu einer der vorderen Bänke.
„Was hat Sie heute zu Gott geführt?“
Nervös knetete Anna ihre Finger.
„Ich empfinde sonderbare, irrationale Gefühle. Nur weiß ich nicht so recht wieso“, brachte sie
stockend über die Lippen.
„Gab es vor Kurzem ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben?“
„Eigentlich nicht“
„Also handelte es sich mehr um eine spirituellen Erfahrung?“
Anna holte tief Luft. „So kann man es nennen“
„Ich bin Pater Bernhard“, stellte er sich ihr plötzlich vor. Er hatte das Gefühl, das da mehr
daran war, als nur eine neue Bekanntschaft.
„Anna“
„Anna, welche Fragen haben dich zu Gott und zu mir gebracht?“
Anna räusperte sich. Nun wurde es schwierig. Noch wusste sie nicht wie aufgeschlossen Pater
Bernhard dem Übersinnlichen gegenüberstand.
„Da ist dieses Foto und seitdem habe ich ständig das Gefühl ihn zu kennen und diese
merkwürdigen Träume“, begann sie vorsichtig, dabei beobachtete sie den Priester ganz genau.
„Was wissen sie über Seelenwanderung? Wenn wir sterben, treten wir vor ihm und er richtet
über uns. Aber manchmal wollen die Seelen nicht in den Himmel, weil auf sie noch etwas
Unerledigtes wartete. Gibt es so etwas in ihrem Leben?“
Anna runzelte die Stirn. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn verstand.
„Nun ich weiß es nicht. Ich … habe dieses Foto gefunden, der Wind hatte es zu mir gebracht,
und seitdem hat sich irgendwie alles verändert.“
Anna erinnerte sie sich daran, wie sie Edwards Bild das erste Mal in ihren Händen gehalten
hatte und. Pater Bernhard legte seine Hand ans Kinn und blickte nachdenklich auf Anna.
„Jeder von uns sucht etwas in seinem Leben, etwas Bedeutendes, was unser Dasein
vollkommen macht und unsere Welt mit viel Liebe bereichert. Finden Sie heraus was das für
sie bedeutet“
Grübelnd lief sie in ihre Wohnung auf und ab, dabei blieb sie immer mal vor Edwards Bild
stehen und sah fragend auf ihn herab.
„Was verbindet uns? Warum muss ich immer an dich denken“
„Zeit hat für die Seele keine Bedeutung“, hatte Pater Bernhard ihr zum Abschied gesagt.
„Warum ausgerechnet ich?“ Anna nahm ihre Wanderung wieder auf.
„Um verstehen zu können, müssen wir zuhören“ Noch so ein Spruch von Pater Bernhard.
„Vermutlich hatte er davon ein ganzes Repertoire auf Lager! Für jede Gelegenheit der richtige
Spruch!“, dachte sie bissig und schämte sich gleich dafür.
Sie war es, die sich an ihn gewandt hatte. Pater Bernhard hatte sich ihr in keinster Weise
aufgedrängt und nur zu helfen versucht. Anna schnappte sich einen Putzlappen und einen
Eimer und begann das Bad gründlich zu reinigen. Selbst die Fugen schruppte sie ausgiebig
mit einer Zahnbürste. Zwei Stunden später war sie fertig und ihr Bad glänze wie noch nie
zuvor. Zufrieden mit sich setzte sie sich müde auf ihre Couch und starrte Löcher in die Luft.
In der Nacht wurde sie wieder von seltsamen Träumen heimgesucht. Wasser. Sie stand an
einem Fluss. Dunkel und zäh floss das Wasser an ihr vorbei. Sie stand, die Arme um sich
selbst geschlungen am Ufer und starrte blicklos auf den schwarzen Strom. Es gab für sie
keinen anderen Ausweg mehr. Ihr Liebster war fort. Tot.
Bitterer Schmerz durchflutete ihr Herz und ließ sie beinahe in den eigenen Tränen ertrinken.
Anna zog aus den Falten ihres Rockes ein verknittertes Bild. Zart strich sie mit den
Fingerspitzen darüber. Es war Edwards Bild.
„Ach könnte ich nur bei dir sein“ Unglücklich betrachtete sie es minutenlang, dann steckte sie
es in ein Stoffbündel, das zu ihren Füßen lag. Entschlossen ging sie auf den Fluss zu. Schon
bald umspülten die ersten Ausläufer des Flusses ihre Schuhe und durchtränkten das
durchgewetzte Leder, aber sie hielt nicht inne, blieb nicht stehen.
Unerschrocken ging sie weiter und verschwand in dessen Tiefen. Das Wasser war eiskalt. Ihre
Kleider sogen sich schnell voll und zehrten sie unaufhaltsam hinab auf den Grund. Alle Luft
wich aus ihren Lungen und füllte sie stattdessen mit brackigem Flusswasser. Ihr Körper
wehrte sich gegen den Tod, wollte sie zwingen wieder nach oben zu tauchen um frische,
köstliche Luft zu atmen, aber sie versagte ihm dieses Verlangen und dann war es zu spät.
Anna fühlte, wie jede Last von ihr abfiel und einer Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, die sie
alle Sorgen der Welt vergessen ließ, Platz machte. Nach Luft ringend erwachte Anna. Sie
glaubte noch das kalte Wasser um sich zu spüren, in dessen Tiefen sie sich selbst ertränkt
hatte.
Immer wieder betrachtete sie das Bild und schien mit jedem Mal etwas Neues darin zu
entdecken. Es war als würde er von Blick zu Blick schöner, tiefer, vertrauter. Nicht länger war
er ein Fremder, sondern ein ersehnter Freund. Der vor langer Zeit fortging und nun endlich
heimgekehrt war. Gleich wie in ihrem Traum strich sie zärtlich mit den Fingerspitzen über
sein Gesicht.
Versuchte so die strenge Falte auf seiner Stirn zu glätten. Woran er nur in diesem Moment
gedacht hatte? In seinen Augen entdeckte sie einen tiefen Kummer, so als würde er ein
Wissen in sich tragen, das nur für ihn von Bedeutung war. Fest umklammerten seine Hände
ein Gewehr. Ein Werkzeug des Todes, das schließlich ihm selbst zum Verhängnis wurde.
Ohne es zu merken, stand sie im Begriff sich in einen Toten zu verlieben. Sie musste
herausfinden, wer er war, damit sie ihren Frieden finden konnte.
Ihre Suche nach Edward begann für Anna bei Madam Jorlanda. Sie war scheinbar auf
Rückführungen spezialisiert. Jedenfalls stand das auf ihrer Visitenkarte, die Anna in ihrem
Briefkasten gefunden hatte. Die Dame machte Rückführungen. Sie half einem dabei in ein
früheres Leben einzutauchen.
Anna musste sich auf eine Liege legen und sie bekam ein flauschiges Tuch auf ihr Gesicht.
Sie sah nichts mehr, um sie war es dunkel. All ihre Sinne waren auf Madam Jorlandas Stimme
ausgelegt. Sanft und beschwörend redete sie auf Anna ein. Diese fühlte, wie all ihre Glieder
schwer wurden und ihr Geist sich zu lösen begann. Sie glaubte schwerelos durch den Raum
zu schweben. Nur noch die Stimme von Jorlanda hielt sie auf Erden fest.
„Wo sind Sie?“
Anna sah sich genau um. Sie war an einem Fluss. Es war ein warmer Tag, die Sonne stahl
sich durch das Geäst der Bäume und rings um sie zwitscherten die Vögel fröhlich im Geäst.
Als sie sich umdrehte, war er da.
„Edward!“ Er kam auf sie zu und schloss sie fest in die Arme.
„Ich liebe dich!“, flüsterte er ihr ins Ohr, dann küsste er sie. Tränen liefen Anna über ihr
Gesicht. Sie fühlte so viel Liebe in sich.
„Morgen muss ich fort, doch wenn ich wiederkomme, wirst du mich heiraten. Versprich es!“,
forderte er leise.
Glücklich und ergriffen nickte Anna. Sie würde mit ihm bis ans Ende der Welt gehen, wenn
er es wollte.
Plötzlich wechselte die Szene. Sie stand vor einem Abgrund. Vor einem frisch ausgehobenem
Loch. Es sah aus wie ein Grab, aber es war leer. In ihren Händen hielt sie einen Brief. Am
liebsten hätte sie sich fallen gelassen. Einfach loslassen und nichts mehr fühlen.
Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass Edward Nash bei der Erfüllung seiner Pflicht
gegenüber seinem Vaterland gefallen ist.
Schluchzend fiel sie auf die Knie.
„Warum hast du mich verlassen? Ich kann ohne dich nicht leben!“
Wieder wechselte das Bild und sie fand sich wieder am Ufer des Flusses wieder. Nur
herrschte tiefste Dunkelheit um sie. In sich selbst fühlte sie eine Ruhe, die sie in ihrem
Vorhaben nur noch bestärkte. Sie wollte nicht ohne ihn sein. Entschlossen watete sie ins
Wasser, bis die Fluten über ihrem Kopf zusammenschlugen.
Madam Jorlanda erklärte ihr, dass sie und Edward vor Jahren ein Paar waren und in ganz
seltenen Fällen, wenn Menschen einander aufrichtig liebten, dann nahmen sie diese Liebe,
selbst über den Tod hinaus mit ins nächsten Leben um einander zu suchen und zu finden.
Wenn zwei Seelen wirklich zusammengehörten, dann strebten sie danach beisammen zu sein.
Ihr nächster Weg führte Anna zum Einwohneramt. Sie musste sich in einer langen Reihe
anstellen und zwei Stunden warten, ehe man sie aufrief. Viele waren auf der Suche nach
einem lieben Menschen, einem Familienmitglied oder einem Bekannten, den sie vor Kurzem
oder vielen Jahren verloren und so zu finden hofften.
Eine nette Frau besah sich das Foto von Edward und studierte die Worte auf der Rückseite
genau. Lange Zeit sprach sie kein Wort, dann räusperte sie sich und tippte rasch etwas in
ihren Computer. „Brigthon! Hier haben wir ihn.“ Die Frau blickte hoch und sah Anna mitten
ins Gesicht. „Edward Nash wurde am 18 August 1894 geboren und fiel am 22 September
1915 in Frankreich. Seine sterblichen Überreste wurden in seinem Geburtsort Brighton
bestattet“
Sie gab Anna das Foto zurück und einen Ausdruck der gefundenen Daten. Nach so langer Zeit
war der Datenschutz schon lange erloschen. Vorsichtig erkundigte sie sich auch nach einer
Anna. Aus einem inneren Impuls heraus vermutete sie, dass sie damals bereits denselben
Namen hatte. Die Dame vom Einwohneramt zählte ihr alle Annas auf, die sie Brighton fand,
aber nur eine nahm sich das Leben – Anna Claiborne.
Brigthon General Cementery war bereits ein sehr alter Friedhof. 1854 wurden hier die ersten
Menschen zur Ruhe gebetet. Anna strich für die kalten, grauen Steine. Der hiesige Pater
schickte sie bis ans Ende des Friedhofes, dorthin wo nur noch verwitterte, längst vergessene
Steine mahnend krumm aus der Erde lugten. An manchen war der Name nur mehr zu erahnen.
Kaum noch zu lesen. Hier würde sie ihn niemals finden können.
Anna ging gedankenverloren zwischen den Reihen hindurch und strich dabei mit den
Fingerspitzen über die Grabsteine. Plötzlich durchzuckte ihre Finger ein leichter Stromschlag.
Anna blieb stehen und betrachtete den Grabstein genauer. Moos hatte sich angesetzt und das
Gras wucherte wild auf dem Grab. Anna entfernte das Moos um den Namen lesen zu können,
obwohl sie sich im Herzen bereits sicher. Es war sein Grab.
„Miss?“, sprach sie plötzlich jemand an. Erschrocken wandte sie sich um und hinter ihr stand
Edward! Anna spürte, wie ihr schwindelig wurde, und verlor zugleich den Boden unter den
Füßen. Starke Arme umfingen sie und verhinderten so das Schlimmste. Sie wäre beinahe zum
ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht gefallen.
„Ich hab dich!“, kam es merkwürdig rau von ihm, doch dann räusperte er sich und sprach
weiter. „Geht es Ihnen gut?“ Besorgt blickten sie blaue Augen an.
Es war ihr unmöglich ihm zu antworten. Sie brauchte all ihre Kraft um ihre Lungen mit
ausreichend Luft zu versorgen und gleichzeitig versuchte sie zu begreifen wie es möglich war
in den Armen eines Geistes zu liegen. Mühsam schluckte sie.
„Wer sind Sie?“, kam es leicht krächzend über ihre Lippen.
„Edward Beryll“
Langsam löste sie sich aus seinen Armen, obwohl sie nur zu gern darin verblieben wäre.
„Ich dachte … sie sehen aus … sie erinnern mich …“ Leicht schüttelte Anna sich.
Dieser Mann vor ihr hatte zwar starke Ähnlichkeit mit ihrem Edward, aber bei näherer
Betrachtung stellte sie kleine Unterschiede fest. Seine Nase, die Länge des Haares und Schnitt
und auch die Höhe der Wangenknochen waren anders.
„Tja das passiert mir häufiger. Hübsche Frauen halten mich leider für jemand anderen“ Er
zwinkerte ihr zu und lächelte sie dabei an.
Anna erwiderte das Lächeln und dachte bei sich. „Ich habe ihn gefunden“
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