Anne Maximiliane Jäger-Gogoll: Der Nachlass Robert Neumann

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Anne Maximiliane Jäger-Gogoll:
Der Nachlass Robert Neumanns - Einblicke in die Werkstatt eines literarischen Zeit-Genossen. (Rezension über:
Franz Stadler [Hg.]: Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze, Briefe, Nachlassmaterialien. Innsbruck:
Studienverlag 2013.)
In: IASLonline [12.03.2015]
[1] I.
[2] Ein gewaltiger Steinbruch scheint dieser Nachlass, aus dem Franz Stadler in einem gigantischen Alleinwerk ein
umfängliches, aber – auch dank der schönen und leichtgewichtigen Aufmachung des Innsbrucker Studienverlags –
gut handhabbares und vor allem: beeindruckend inhaltsreiches Buch gemacht hat. Robert Neumann, 1897 in Wien
geboren, 1975 in München verstorben, ein literarischer Zeit-Genosse und literarisch-autobiographischer Zeitzeuge
der Verwerfungen des gewalttätigen 20. Jahrhunderts par excellence, war 1927 mit einem kleinen Band literarischer
Parodien unter dem Titel »Mit fremden Federn« schlagartig berühmt geworden. Wenn auch die Parodie stets ein
wichtiger Bestandteil seines Schreibens bleiben, der ihr zugrunde liegende analytisch-kritische Blick ein
Hauptcharakteristikum seiner literarischen Herangehensweise an die Welt wie an sich selber ausmachen wird, hat
die (oft verharmlosende) Reduktion Robert Neumanns auf den Parodisten oder gar »Humoristen« immer wieder den
Blick auf die Vielfalt und die literarische wie politische Brisanz seines Werks verstellt. Nicht »fünfzehn«, wohl auch
nicht nur »fünfundzwanzig« Bücher, wie Rudolf Walter Leonhardt in seinem Neumann-Nachruf in der ZEIT vom
10. Januar 1975 schreibt (S. 21), eher doppelt so viele Bände würde Neumanns literarisches Œuvre umfassen, wenn
alles einmal gedruckt erscheinen würde. Nur ein – wenn auch beachtlicher – Teil davon ist zu Lebzeiten erschienen,
nur ein kleinster, zwei Romane nämlich und eine Film-DVD, sind momentan im Buchhandel erhältlich (ebd.). Wer
Neumann lesen will, ist auf antiquarische Ausgaben angewiesen, einige der zu Lebzeiten in englischer oder
französischer Sprache gedruckten Werke sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
[3] Diesem Missstand – dass es ein solcher ist, lehrt jeder kurze Blick in eines von Neumanns Büchern wie auch in
Stadlers Nachlass-Edition – kann der neue Band freilich nicht abhelfen. Doch trägt er, gleichsam von der anderen
Seite her, ganz entscheidend dazu bei, den, wie es in Stadlers Vorwort eher bescheiden heißt, »›ganzen RN‹ […]
wieder zugänglich zu machen« – den »satirisch-polemischen Prosaisten« ebenso wie »den rührigen Akteur und
Zeitgenossen« und damit einen Autor, dessen literarische Karriere im Wien der Zwischenkriegszeit begann, der
schon 1934 vor den Nazis in ein langes, bis 1958 dauerndes, Exil in England floh, wo er zu einer der wichtigsten
Integrationsfiguren der deutschsprachigen und vor allem der österreichischen Exilschriftsteller wurde und auch auf
Englisch zu schreiben begann, und der spät, vor allem seit seiner Übersiedelung in die Schweiz Ende der 1950er
Jahre, nochmals mit deutsch geschriebenen Büchern und einer Fülle politischer und literaturkritischer Einlassungen
in der deutschsprachigen Öffentlichkeit Fuß fassen konnte und wollte. Mit seiner Nachlass-Auswahledition ist Franz
Stadler ein in höchstem Maß spannender und vielgestaltiger Einblick nicht nur in die literarische »Werkstatt«,
sondern auch in die Vielzahl politischer und kulturpolitischer Aktivitäten und in das breite literarisch-biographische
Netzwerk des Schriftstellers und Zeitgenossen Robert Neumann gelungen. Dazu trägt die ausführliche biobibliographische Einleitung (»Einladung zu Robert Neumann«, S. 21–67) ebenso bei wie die Auswahl der Texte,
welche auf der Basis einer erstmaligen systematischen Sichtung von Robert Neumanns in der
Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrtem Nachlass versucht, »die Spezifik und
die Kontinuität der ›drei erfolgreichen Karrieren‹ Neumanns in drei disparaten ›Öffentlichkeiten‹ adäquat sichtbar«
zu machen (S. 69), was gleichwohl nicht ohne radikale Auswahl und bisweilen »schmerzhafte Aussparungen« (wie
etwa die der Rundfunkserie »Ausflüchte unseres Gewissens« aus dem Jahr 1960; S. 70) umgesetzt werden konnte.
Doch auch die Form, die Stadler für die Darbietung der Texte wählt, trägt mit ihrer Balance zwischen
wissenschaftlich-philologischer Seriosität auf der einen und nutzerfreundlicher Schlichtheit auf der anderen Seite
zum Gelingen des Bandes bei, indem sich Ergänzungen und Erläuterungen zu den einzelnen Texten (Briefen,
Entwürfen, Rundfunkbeiträgen etc.) stets im direkten Anschluss daran finden lassen, sich zudem auf die Kürze des
Notwendigen beschränken und dem Leser/der Leserin so das Hantieren mit einem separaten Anmerkungsapparat
ersparen, das beim Umfang des Buches das Lesevergnügen durchaus beeinträchtigen würde. Mit nur sieben
Abbildungen kommt das Buch eher bescheiden daher, doch bietet es ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit
einer (das journalistische Werk hier aussparenden) Werkbibliographie Neumanns und einer Auswahlbibliographie
wissenschaftlicher Literatur zu Autor und Umkreis sowie eine Zeittafel zu Leben und Werk und ein Register. Eine
weitaus detailliertere Material- und Datensammlung findet sich freilich auf der Internet-Homepage zur Edition 1 ,
ein wichtiger Hinweis, der im Buch durchaus etwas prominenter hätte platziert werden können.
[4] II.
[5] Insgesamt folgt der Band einer so einfachen wie einleuchtenden Systematik. Stadler hat die Fülle des Materials
in nur zwei große Abteilungen untergliedert. Erstens in »Publizistik«, die poetologische, literaturkritische und
literaturpolitische wie auch politische Schriften umfasst. Zweitens in »Briefe und Lebensdokumente«: Hierher
gehören – wohltuend unprätentiös in den erläuternden Text eingebettet – die üblichen Schnipsel erster schriftlicher
Äußerungen und elterlicher Berichte, Dokumente zu Schulzeit und Studium (z.B. Meldezettel und Meldungsbuch
der Universität Wien, die Neumanns universitäre Ausbildung in den Fächern Medizin und Germanistik belegen), vor
allem aber, mit den Lebensdokumenten überraschend und doch sinnvoll in einem chronologischen Zusammenhang
präsentiert, die rund 350 ausgewählten Briefe, die meisten von Robert Neumann geschrieben, in kontextuell
begründeten Fällen aber auch solche, die an ihn gerichtet sind. Das beginnt mit einem Schreiben von Emil Berté jun.
aus dem Jahr 1915 an den damals 18-jährigen Neumann, mit dem der Schreiber bedauernd eine Vertonung von
dessen ihm offenbar zu dem Zweck zugesandten »Kuplets« ablehnt. Das geht weiter über erste
Verlagskorrespondenzen, namentlich mit dem Drei Masken Verlag und dem Erich Reiss Verlag, die Neumanns
mühsame Anfänge als Autor und einige schon seit dem Beginn des Exils in den 1930er Jahren verschollene
literarische Versuche, darunter ein Versdrama und ein Trauerspiel, dokumentieren. Beeindruckend rasch gelangt
man damit in das imponierende Netzwerk vor allem literarischer Kontakte, die Neumann Zeit seines Lebens auch
als Briefschreiber gepflegt hat mit einem Brief vom Juli 1923 an Hermann Hesse, dem Neumann seinen ersten
eigenen Gedichtband zusendet und zu dem er eine »schwärmerische Jugendliebe« hegt (S. 434). Es folgen
Waldemar Bonsels und Ernst Lissauer, dann Stefan Zweig, dessen autobiographische Reflexion »Flüchtiger
Spiegelblick« Neumann als Wiener Korrespondent der »C-V-Zeitung für deutsche Staatsbürger jüdischen
Glaubens« für die Mai-Ausgabe 1925 als Aufmacher einwirbt. Wenig später bringt der kleine Novellenroman Die
Pest von Lianora (1927) Neumann erste literarische Beachtung, dann kommt mit den »Fremden Federn« der
Durchbruch. Eine erste Krönung hierfür der Brief von Thomas Mann, dem Neumann seine Parodien zugesandt hatte
und der sich darin »selbst sehr gut getroffen« findet (S. 440). Unmittelbar danach schon, in einem Brief an Oskar
Maurus Fontana vom Februar 1929 anlässlich des ersten großen Romans, der erste Schatten des Faschismus, der
wenig später (nicht nur) Neumanns Schicksal und das seiner Bücher nachhaltig aus der Bahn werfen wird:
»›Sintflut‹ ruft alle Hakenkreuzler und Oberlehrer gegen mich auf den Plan […].«(S. 441) Der zweite Teil der von
Neumann mit »Sintflut« begonnenen Roman-Trilogie »zur Naturgeschichte des Geldes«, der 1932 erscheinende
Roman Die Macht (1932), wird den unmittelbaren Anlass dafür geben, dass seine Bücher 1933 zu den ersten der
von den Nationalsozialisten verbotenen und verbrannten gehören. Mit dem 1934 eingeschlagenen Weg ins englische
Exil kommt der rapide sich beschleunigende Verlust von Buchmarkt und Lesepublikum und damit der erste Bruch
von Neumanns literarischer Karriere, der seine Rezeption bis heute beeinträchtigen wird; der zweite folgt mit der
Rückkehr auf den Kontinent, der Übersiedelung ins Schweizer Tessin nach dem frühen Tod der dritten Frau Evelyn
im Jahr 1958, welche auch die »Rückkehr« des fast zum englischen Autor gewordenen Neumann in die deutsche
Sprache und auf den deutschsprachigen Literaturmarkt bedeutet.
[6] III.
[7] Allein mit der Auswahl der Briefe, die in dem Nachlass-Band versammelt sind, hat der Herausgeber Franz
Stadler eine Herkulesaufgabe bewältigt: Sind doch die rund 350 hier abgedruckten nur ein kleiner Teil jenes
gewaltigen Konvoluts von mehr als 10.000, die sich vor allem im Nachlass in der Wiener Handschriftenabteilung,
aber auch im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, im
Deutschen Exilarchiv und anderen Archiven in Österreich, der Schweiz und Großbritannien befinden und deren
Adressaten und Absender sich wie ein Who is Who der (über fast fünf Jahrzehnte hinweg) zeitgenössischen
Literatur und Kulturpolitik lesen – von Wolfang Abendroth, Alfred Andersch, Ulrich Becher, Hermann Broch,
Richard Crossman, Alfred Döblin über Lion Feuchtwanger, Erich Fried, Stefan Hermlin, Rudolf Olden, Hermon
Ould, Marcel Reich-Ranicki, Dorothy Richardson, Hilde Spiel, Friedrich Torberg bis zu Thomas Mann, Arnold
Zweig, Stefan Zweig und vielen anderen. Auch hier leuchtet das von Stadler gewählte Auswahlkriterium ein und
trägt zugleich einmal mehr dazu bei, diesen Nachlass-Band zu einem unschätzbaren Werkzeug der NeumannPhilologie zu machen, indem es vor allem der Intention verpflichtet ist, »die Lebensstationen und biographischen
Bruchlinien von RN möglichst vollständig sichtbar und verstehbar« werden zu lassen (S. 421). Gerade in der
strengen, dem begrenzten Umfang dieser Nachlass-Edition geschuldeten Auswahl liest sich das in der zweiten
Abteilung versammelte Brief- und Dokumentenmaterial wie ein individuell fokussierter Bericht über das »Elend der
Literatur in deutscher Sprache nach dem Beginn des ersten Weltkrieges«, jene »säkulare Störung des literarischen
Lebens in der Mitte Europas«, zu deren »bemerkenswertesten Opfern« Hans Weigel in seinem Nachruf gerade
Robert Neumann gezählt hat. 2 Zu den Verwerfungen einer immer wieder unterbrochenen, von widrigen Umständen
geprägten literarischen Entfaltung und Rezeption vermitteln die Briefkorrespondenzen und biographischen
Dokumente eine spannende, bisweilen erheiternde, oftmals aber auch bestürzende Innen- und Detailsicht. Wie Franz
Stadler einleitend zur zweiten Abteilung des Buches anmerkt, war Neumann »spätestens seit 1933 ein […] äußerst
agiler Kommunikationsnetzwerker«, der nicht nur die eigene literarische Karriere hartnäckig und verhandlungsstark
beförderte. Im englischen Exil wird er zum engagierten Literaturorganisator: Als Mitgründer, Sekretär und »Acting
President« des österreichischen Exil-PEN (Präsident Franz Werfel, Ehrenpräsident Sigmund Freud), der mit dem
zugehörigen PEN Refugee Writers´ Fund eine lebenswichtige Anlaufstation für bedrohte und/oder flüchtige
Schriftsteller aus Österreich darstellt wie als Mitinitiator des Free Austrian Movement und als Mitorganisator der »1.
österreichischen Kulturkonferenz«. Nach dem Ende des Krieges nimmt Neumann maßgeblichen Einfluss auf die
Neukonstituierung des österreichischen PEN-Zentrums, das er einer antifaschistischen Grundhaltung verpflichtet
sehen will und engagiert sich in seiner Funktion als einer der Vizepräsidenten des internationalen PEN-Clubs (seit
1950) für eine Vermittlung zwischen den PEN-Zentren in West- und Osteuropa. All dies wird in den Dokumenten
und Korrespondenzen des Nachlasses in der klugen Auswahl Stadlers sichtbar und gewährt Einblicke nicht nur in
Neumanns Schicksal sondern auch in zentrale Diskussionen und neuralgische Ereigniszusammenhänge einer äußerst
bewegten Zeit.
[8] Es ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen, wie sehr gerade der Verzicht auf eine weitere
Systematisierung des Brief- und Dokumentenmaterials und ihre Präsentation entlang der einfachen Chronologie eine
besondere Stärke dieses Nachlassbandes ausmacht. Natürlich lässt sich mithilfe des Inhaltsverzeichnisses gezielt
nach Namen resp. Themen suchen. Das Buch lässt sich aber auch aufs Geradewohl aufschlagen und führt, auch dank
der schon erwähnten, direkt am jeweiligen Dokument befindlichen Erläuterungen, stets in einen breiteren
Themenkontext, der immer neue Facetten des vielfältigen Kontakt- und Tätigkeitsspektrums Robert Neumanns
beleuchtet. Man kann die zweite Abteilung aber auch einfach fortlaufend lesen, als lebensvolle Chronik eines
Schriftstellerlebens, in dem das literarische Schaffen nicht vom politischen Engagement und beides nicht von der
privaten Person zu trennen sind, die zugleich bis in die Intimität ihrer familiären und Liebesbeziehungen von den
Zeitumständen geprägt ist. Gerade so wird diese Sammlung zum faszinierenden Zeitdokument, das immer wieder
Überraschungen birgt: Etwa, wenn man aus einem Brief an Friedrich Torberg vom November 1939 ins französische
Agde lernt, dass Neumann ihm auf dringenden Hilferuf hin zu einer International Membership Card des PEN
verhilft, in deren Folge Torberg das lebensrettende Visum für die USA ausgestellt wird (S. 523). Bestürzend der
Brief an Stefan Zweig vom 21. Februar 1942, in dem Neumann dem im brasilianischen Petrópolis Exilierten
schreibt: »Ich bin sicher, daß Sie nicht gut daran tun, in solcher Isolation zu leben. […] Man darf, glaube ich, dem
Leben nicht so weit davonzufahren versuchen. Man zahlt dafür zu teuer.« Der Brief, mit Kuvert in der
Österreichischen Nationalbibliothek erhalten, trägt neben dem englischen einen brasilianischen Poststempel mit dem
handschriftlichen Zusatz: »Retour. Is dead.« Zweig, der im vorherigen Brief an Neumann über Vereinsamung
geklagt hatte, hatte sich am 22. Februar 1942 das Leben genommen. Als vorweg genommener Kontrast dazu liest
sich Neumanns Brief an Arnold Zweig vom 4. Februar 1942, wo es heißt: »Wir sind sehr entschlossen, zu überleben
und am Ende dabeizusein. Man wird uns brauchen.« (S. 550) Erwähnt sei aus sehr viel späterer Zeit auch das
Telegramm, mit dem Ulrike Meinhof im Februar 1968 Robert Neumann aus Berlin über den »absolute[n] und kaum
schlimmer vorstellbare[n] Terror gegenueber den Studenten« informiert. Neumann reagiert mit einem
Protesttelegramm an den Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, in dem er den Sozialdemokraten an die »tragische
rolle« erinnert, »die unsere partei immer wieder bei der niederwerfung nonkonformistischer linkssozialistischer
bewegungen gespielt hat« und ihn dringend auffordert, Polizeieinsätze und Restriktionen auf das Notwendigste zu
beschränken (S. 827). Und anrührend schließlich der letzte der abgedruckten Briefe 14. Juni 1974, rein privater
Natur, an »Mein geliebtes Kind«, nämlich den neunzehnjährigen Sohn Michael, dem Neumann einerseits mit
ironisch-anekdotischer Leichtigkeit den Ernst seiner Erkrankung an einem Tonsillar-Karzinom beruhigend zu
verheimlichen sucht, dem er aber gleichzeitig mitteilen muss, dass er in Locarno sein »Abitur ganz ohne ›elterlichen
Zuspruch‹« absolvieren, da er, Neumann, selbst sich in Bern einer sechswöchigen Chemotherapie unterziehen
müsse.
[9] Am 3. Januar 1975 stirbt Robert Neumann in München. Eine Mitteilung an Franz Stadler aus Neumanns
engstem Familienkreis teilt im Dezember 2006 mit, dass er sich selbst das Leben genommen hat (S. 891). Das letzte
Buch Neumanns, das nach dem Zerwürfnis mit dem Hausverleger Desch im Jahr 1974 beim Piper Verlag erschien,
ist der Roman Die Kinder von Wien, den Neumann zuerst 1946 in englischer Sprache geschrieben und
veröffentlicht hatte und dessen experimentierenden Sprachduktus er nun in einer eigenen neuen Übersetzung auch
im Deutschen umzusetzen sucht. Die letzten Arbeiten gelten der Übersetzung des 1951 in englischer Sprache
fertiggestellten und 1952 lediglich in französischer Übersetzung bei Calmann-Lévy erschienenen Romans In the
Steps of Morell und einer weiteren Bearbeitung dieses Buches unter dem Titel Absalom – oder die Ermordung eines
Sohnes, außerdem einem satirischen Rundfunk-Dialog mit dem Titel »König David«, der Neumanns auch in
anderen publizistischen Schriften zum Ausdruck kommende kritische Auseinandersetzung mit dem Palästina-IsraelKonflikt insbesondere seit dem Sechstagekrieg dokumentiert.
[10] IV.
[11] Lediglich der letztgenannte Rundfunkdialog findet sich unter den in Stadlers Nachlass-Band abgedruckten
Materialien (S. 417 ff.). Im Hinblick auf den literarischen Nachlass Neumanns sind der Auswahl-Edition ganz
offensichtliche Grenzen gesetzt, die auch auf ein unübersehbares Missverhältnis in der gegenwärtigen Rezeption
Robert Neumanns hindeuten. Während seit 2007 mit Hans Wageners Neumann-Biographie (die freilich noch nicht
auf der gründlichen Aufarbeitung und Detailkenntnis von Franz Stadlers Nachlass-Edition fußt und daher einige
Ungenauigkeiten enthält), immerhin eine erste biographische Gesamtdarstellung Robert Neumanns vorliegt 3 ;
während sich 2006 endlich auch ein erster Sammelband der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung von Robert
Neumanns Werk gewidmet hat 4 , ist, wie schon oben erwähnt, dieses Werk selbst so gut wie nicht im Buchhandel
greifbar. So kann man bei der Lektüre zumal des ersten Teils von Stadlers Edition durchaus den Eindruck
bekommen, als nähere man sich dem Autor gleichsam durch die Hintertür. Doch zeugen schon die ersten hier
abgedruckten literaturkritischen Essays davon, dass hier ein so begabter wie ambitionierter Autor seinen Platz in der
literarischen Welt zu erobern sich anschickt – auch wenn etwa der erste der Texte über »Deutschland und Heinrich
Heine« aus dem Jahr 1927 (S. 72 ff.) einen deutlichen Einfluss von Karl Kraus nicht verleugnen kann.
Literaturkritische Essays der Folge sparen nicht mit dezidierten Aussagen und Urteilen; die Qualität der eigenen
Bücher wird das durchaus rechtfertigen. Und dann wird es doch recht bald zentral: Nämlich mit dem 1927/28
geschriebenen Text »Zur Ästhetik der Parodie« (S. 85 ff.), der zu den genialen Literaturparodien der Fremden
Federn die theoretische Reflexion liefert und deren Kenntnis für die Theorie des Parodistischen allgemein wie für
seine Bedeutung und seinen Stellenwert in Neumanns Werk einen unverzichtbaren Grundlagentext darstellt. Nicht
umsonst hat Neumann ihn in den 1960er Jahren überarbeitet seinen neuen Parodiensammlungen beigegeben, und
sollte die Parodie nächstens als ernstzunehmende Gattung, als zugespitzte Realisation der grundlegend
intertextuellen Verfasstheit von Literatur und herausragendes kritisches Medium, von der Literaturwissenschaft
wieder entdeckt werden, dann dürfte auch dieser Text des so gern als »Meister der Parodie« titulierten Robert
Neumann die gebührende Beachtung finden. Dass er hier endlich wieder abgedruckt und als Einzeltext greifbar
gemacht ist, ist kaum genug zu begrüßen.
[12] Gleiches gilt auch für den kleinen autobiographischen »Bericht über mich selbst« (S. 104 ff.) und den Aufsatz
»Sintflut: Eine Selbstdarstellung des Dichters« (S. 107 ff.). Beide im Jahr 1929 erschienen, repräsentieren sie einen
ersten Kern der autobiographischen und werkautobiographischen Reflexion, der Engführung von Leben und
Schreiben, von Selbstreflexion und literarischer Produktivität, die Neumanns spätere autobiographische und in
diesem Sinn eben auch: werkautobiographische Schriften der späteren Jahre prägen werden und zu ihrer
Aufschlüsselung unverzichtbar sind. Dass wenig später der kritische politische Text »Dreyfus aus Innsbruck« aus
dem Jahr 1930 über den Justizfall des angeblichen Vatermörders Philipp Halsmann (S. 119 ff.) direkt neben einem
scharfsinnigen Essay über »Den jüdischen Witz« (1930/31; S. 123 ff.) zu stehen kommt, mag, wenngleich auch
diese Anordnung dem chronologischen Prinzip der Edition geschuldet ist, ein weiteres Mal sinnfällig darauf
hinweisen, dass Neumanns Verständnis von Witz, Parodie und Satire zugleich literarisch wie aber auch
grundsätzlich politisch grundiert ist und dass – wie etwa sehr viel später im Fall des zeitkritischen Romans Der
Tatbestand oder der gute Glaube der Deutschen von 1964 – Parodie und Satire auch noch am (in der Hinsicht
scheinbar sakrosankten) Thema der Aufarbeitung der Auschwitz-Verbrechen eine moralisch wie literarisch
begründbare Rolle spielen dürfen.
[13] So gibt also auch in der ersten Abteilung von Stadlers Nachlass-Edition die Chronologie einen auch
systematisch immer wieder produktiven Lektüreleitfaden ab. Wobei wiederum zu betonen ist, dass der kurz nach
den genannten Schriften beginnende Komplex der Exil-Texte schon für sich genommen eine Edition wert ist. Die
hier versammelten Texte aus dem Umkreis des Exil-PEN, des Free Austrian Movement und der German resp.
Austrian Transmissions der BBC sind unschätzbare Zeitdokumente und verdienen »als zeitgeschichtliche Quellen
besonderes Interesse« (S. 69). Zugleich beeindrucken sie aber auch wegen des in ihnen manifest werdenden
unermüdlichen politischen und kulturpolitischen Engagements des Schriftstellers Robert Neumann unter den
Umständen des Exils, des seit Kriegsbeginn 1939 geltenden Generalverdachts gegenüber den ausländischen
Flüchtlingen und den immer drohenden Zerwürfnissen auch innerhalb der Exilgemeinschaft, die ja so oft zu den
»Krankheiten des Exils« (Hilde Spiel) gehören. Beeindruckend sind diese Texte zudem wegen der Varietät der Töne
und der literarischen Mittel, die Neumann verwendet: Da sind einerseits die satirischen Rundfunkfeatures für die
BBC, vor allem um die Figuren von Frau Wernicke, Frau Oberg und Frau Sopherl und des berühmten Schweyk. Da
ist, ganz anders konzipiert, aber auch die düstere Radionovelle »Kaspar Hauser« (S. 169 ff.), in der Neumann die
Brutalität des deutschen Überfalls auf Polen am 2. September 1939 in einem prägnant zugespitzten Geschehen
individualisierend fokussiert. Da ist die eindringlich mahnende »Message to Frau Heydrich« (wie auch, implizit, an
alle deutschen Hörerinnen und Hörer), geschrieben 1942 (S. 184 f.) nach dem deutschen Massaker von Lidice. Da
sind die Reihen »Postscript[s] to Austria« und »An Austrian to Austrians«, in denen sich Neumann speziell an ein
österreichischen Radiopublikum wendet und, wie in anderen Aktivitäten in seinem Londoner Exil auch, nicht allein
auf der kulturellen, sondern vor allem auch auf der politischen Identität und Verantwortung Österreichs in einem
Europa nach dem Ende des Krieges beharrt – auch solche Äußerungen immer wieder kontrovers und gerade so
zeitgeschichtlich besonders instruktiv (Neumanns Rede zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Republik
Österreich auf einer Kundgebung des Free Austrian Movement im November 1943 [S. 228 ff.] wird heftige Proteste
nach sich ziehen und Neumanns Rückzug aus dem »Movement« einläuten). Schließlich sind da aber auch die –
wenigen – Auszüge aus der Schrift »Journal and Memoirs of Henry Herbert Neumann edited by his father« aus den
Jahren 1944/45 (S. 232 ff.), jenes seltsamen Dokuments biographisch-autobiographischer Trauerarbeit, das
Neumann nach dem plötzlichen Tod seines 22-jährigen Sohnes Heinrich beginnt und in dem er unter der Prämisse
eines »Buchs, vom Gesichtspunkt des Kindes [also des Verstorbenen] gesehn«, dessen hinterlassene »Tagebücher,
Briefe und Schriften« (ebd.) zu einer umfangreichen biographischen Arbeit auszuarbeiten versucht, die, mit den
Worten von Neumanns späterer Frau Evelyn Neumann, »in tragischer Weise ins Autobiographische« umschlägt 5
und deren Teile sich variierend sowohl in Neumanns späteren autobiographischen Schriften als auch in
verschiedenen Romanen wiederfinden. Wenigstens ein kleiner Teil der realen Basis von Neumanns schmerzhafter
Auseinandersetzung mit dem Tod des Sohnes im Kontext von Exil und Krieg wie mit der eigenen Vaterrolle ist in
Stadlers Band zugänglich. Zusammen mit der hier ebenfalls erstmals abgedruckten Briefkorrespondenz zwischen
Robert und Heinrich Neumann gibt er eine unverzichtbare Grundlage für die literarische und literaturpsychologische
Bewertung eines der zentralen Bewegmomente von Neumanns autobiographischem Schreiben ab. Umso
bedauerlicher erscheint gerade unter diesem Gesichtspunkt Stadlers Verzicht auf wenigstens einen Teilabdruck
anderer unveröffentlichter Tagebuchtexte, vor allem des Internierungstagebuchs aus dem Jahr 1940 und des
Tagebuchs von 1944, dem Todesjahr von Sohn Heinrich. Doch hätten solche Texte eindeutig den Rahmen dieser
Nachlass-Edition gesprengt. Umso mehr ist zu hoffen, dass sie nächstens in anderem Zusammenhang gedruckt
zugänglich gemacht werden.
[14] Besonders strikt auszuwählen war, wie Stadler in der Vorbemerkung zum ersten Teil anmerkt, aus dem
publizistischen Œuvre der Jahre nach der – bedingten – Remigration und der damit verbundenen endgültigen
Rückkehr in den deutschen Sprachraum ab 1958, das sich »wesentlich umfangreicher (aber auch redundanter)« (S.
70) darstellt als die beiden anderen Teilbereiche des Nachlasses. In den hier abgedruckten Materialen, die immer
wieder instruktive Schlaglichter auf prägende politische und literaturpolitische Debatten in Österreich (insbes. PEN),
vor allem aber in der Bundesrepublik werfen, kommen ein weiteres Mal die Vielfalt der Themen, denen sich
Neumann hier zuwendet, wie zugleich der stets kritische und – im Kontext des Kalten Krieges – politisch
unangepasste Fokus seiner Stellungnahmen zum Ausdruck. Neben literaturkritischen Essays, auch zu
»massenkulturellen Phänomenen« (ebd.) wie dem aus dem Jahr 1972 stammenden Aufsatz über »Das
Hintergründige in Herrn Simmel« (S. 393 ff.), finden sich Einlassungen zum eigenen Selbstverständnis als Jude vor
dem Hintergrund der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung wie auch der Politik Israels seit dem Sechstagekrieg
(»Ich bekenne mich zu meinem Volk« [1972]; S. 404 ff.). Für eine Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit
hat Neumann sich seit seiner Rückkehr auf den Kontinent unermüdlich engagiert: Angefangen mit einem (dann
mehrfach veröffentlichten) Beitrag über »Die Protokolle der Weisen von Zion« (1958; S. 242 ff.), der in späteren
großen Arbeiten über diese antisemitische Verschwörungstheorie erstaunlicherweise nie aufgegriffen und hier nun
endlich wieder zugänglich gemacht worden ist. Von Neumanns zahlreichen Beiträgen für konkret und Pardon, für
ZEIT, Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung, die das Nachleben des Faschismus in bundesdeutschen Institutionen
und Personalien betreffen, sind in Stadlers Sammlung eher wenige, doch sicher aussagekräftig exemplarische
abgedruckt, darunter »Haben wir nichts gewusst?« aus dem Jahr 1961 (S. 258 ff.) oder »Konspiration des
Schweigens – Ein Lübke zuviel« von 1966 (S. 344 ff.), aber auch die Überlegungen zum »Antisemitismus in
Ostdeutschland« (1963; S. 299 ff.). Damit kommen die in der Auswahl breiteren Raum einnehmenden
literaturkritischen Texte wie auch die Dokumente polemischer Auseinandersetzungen mit Schriftstellerkollegen,
insbesondere der vielbeachtete Streit mit der Gruppe 47 im Jahr 1966 (»Spezis: Gruppe 47 in Berlin«; S. 332 ff.), in
eben dem Kontext zu stehen, in den sie in Neumanns Selbstverständnis grundsätzlich gehören, in dem das
Literarische immer auch das Politische, das eine nie vom andern getrennt zu verstehen ist.
[15] V.
[16] Eines der herausragenden Dokumente der Verbindung von literarischem Anspruch und aufklärerischem
politischem Impetus im Hinblick auf den deutschen Umgang mit der Nazivergangenheit stellt Neumanns Roman
Der Tatbestand oder Der gute Glaube der Deutschen aus dem Jahr 1965 dar, der am Rande und mit Materialien des
Frankfurter Auschwitz-Prozesses ein eindrückliches Panorama des deutschen und des deutsch-deutschen Umgangs
mit der Nazivergangenheit entwirft und damit nicht zuletzt ein hochinteressantes Gegenstück zur Bearbeitung des
Auschwitz-Prozesses in Peter Weiss´ Ermittlung darstellt. Neumanns »Voraus-Information« zu diesem Roman hat
Stadler ebenfalls in seine Auswahl aufgenommen (S. 319 f.). Das Buch selbst, obgleich einer der spannendsten wie
auch kontroversesten Versuche einer literarischen Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Auschwitz-Prozess,
fehlt weiterhin im Buchhandel. Auch dies, so könnte man sagen, ist ein Verdienst von Stadlers Nachlass-Edition:
Die Diskrepanz zwischen dem – höchst erfreulicherweise endlich – Veröffentlichten, das aber, neben den Briefen,
doch »nur« kleinere Arbeiten, Seitenstücke und Entwürfe umfasst, und der großen Menge des gegenwärtig
Ungreifbaren, nämlich beinahe des ganzen literarischen Werks Robert Neumanns, sichtbar zu machen. Es ist nicht
genug zu hoffen, dass Franz Stadlers Buch dazu beitragen wird, diesem Misstand abzuhelfen und auch Neumanns
Bücher endlich wieder auf den Buchmarkt zu bringen.
PD Dr. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll
Universität Siegen
Anmerkungen
1 http://kmueller.sbg.ac.at/kmueller/projekte.htm [11.06.2014] zurück
2 Hans Weigel: »In memoriam Robert Neumann (1897–1975).« In: Österreichische Autorenzeitung 1/1975, S. 15
f. zurück
3 Hans Wagener: Robert Neumann. Biographie. München: Wilhelm Fink 2007. zurück
4 Anne Maximiliane Jäger (Hg.): Einmal Emigrant – immer Emigrant? Der Schriftsteller und Publizist Robert
Neumann (1897–1975). München: Edition text+kritik 2006. zurück
5 Evelyn Neumann: »Versuch einer Bibliographie«. In: Robert Neumann. Stimmen der Freunde. Der Romancier
und sein Werk. Zum 60. Geburtstag am 22. Mai 1957. Überreicht vom Verlag Kurt Desch. Wien/München/Basel
1957, S. 132–142, S. 141. zurück
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