1 EIN MODELL DER VERBBEDEUTUNG Fallstudie zu italienisch provare Peter Blumenthal* 1. Problemstellung Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht das Verb provare, dessen Polysemie in quantitativer und qualitativer Hinsicht beachtlich ist. Denn provare befindet sich in der Häufigkeitsliste des VELI erst an 311. Stelle, kann also zweifellos nicht als hochfrequent (und damit von vornherein als überdurchschnittlicher Polysemie verdächtig) gelten; trotzdem werden ihm im Wörterbuch der italienischen Verben (WIV) 18 Lesarten zugeschrieben, was weit über dem im in diesem Werk feststellbaren arithmetischen Mittel von etwa 7 Lesarten pro Verb liegt. Die Satzbaupläne reflektieren das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, von der objektlosen Verwendung über Konstruktionen mit direktem Objekt und Verbindungen von direktem und indirektem Objekt bis zu verschiedenen Typen von Komplementsätzen, Infinitiven in Objektposition und reflexiven Verbvarianten. In semantischer Hinsicht fällt zunächst die recht konstante Notwendigkeit eines menschlichen Subjektreferenten auf. In der einzigen Lesart, bei der dies nicht der Fall ist, tritt an die Stelle des handelnden Menschen ein aus metaphorischer Sicht gewissermaßen gleichwertiger Sachverhalt (Le disgrazie della vita provano l’uomo.). Statistisch normal ist dagegen die Tatsache, dass die Bedeutungen von provare zu verschiedenen onomasiologischen Bereichen (im Sinne der Verbklassifkation von Halliday: 1994) gehören: Das Verb ist im Wesentlichen „materiell“ in den Bedeutungen ‚probieren‘, ‚anprobieren‘, ‚ausprobieren‘, ‚testen‘ (~ una mela, un vestito, un motore, una nuova lega metallica); es ist „mental“, und insbesondere „kognitiv“ in der Bedeutung ‚beweisen‘, wobei einige Verwendungen auch an Sprechaktverben denken lassen; es hat eine sinnliche Bedeutung in provare il mal di denti. Eine derartige Präsenz in verschiedenen onomasiologischen Verbklassen bildet eine der typischsten Erscheinungsformen der Polysemie. Allerdings beruhen diese Übergänge zwischen Gegenstandsbereichen oder Abstraktheitsgraden bei provare nicht, wie sonst meist der Fall1, auf Metaphorik; so wäre es beispielsweise nur schwer glaubhaft zu machen, dass ‚beweisen‘ die auf Ähnlichkeit beruhende Übertragung einer anderen Wortbedeutung, etwa ‚probieren‘ oder ‚empfinden‘, auf eine abstraktere Ebene darstellt. Hinter der onomasiologischen Vielfalt dürfte bei provare ein anderes, näher zu erforschendes Prinzip stehen. Eine weitere Auffälligkeit liegt in der Tatsache, dass das Subjekt bei provare sehr verschiedene semantischen Rollen kodieren kann. In der schon aufgeführten Konstruktion provare il mal di denti ist N2 offensichtlich Patiens, bei den übrigen Zitaten dagegen Agens oder (mehr oder weniger) aktiver Experiencer. Je nach semantischer Rolle ändert sich auch die Qualität des von provare bezeichneten Sachverhalts. Das agentive Subjekt (Imperativ möglich) ist Ausgang eines Geschehens, das auf die Außenwelt zielt; das leidende Subjekt ist Gegenstand einer Einwirkung, deren Quelle allerdings in der Sphäre der Person liegt. In dieser Art des „Richtungswechsels“ liegt ein klarer Unterschied zu anderen ebenfalls überproportional polysemen Verben wie bruciare (Rang 724, 20 Lesarten), bei denen transitive Varianten mit Agens in Subjektfunktion (N brucia N1 ‚verbrennen‘ als Handlung) intransitiven Varianten mit unbelebtem Subjektreferenten3 gegenüberstehen. Provare gehört also nicht zu den grundsätzlich stark polysemen ergativen Verben. * Ludwig Fesenmeier (Köln) danke ich sehr herzlich für intensive Diskussionen zu diesem Artikel. Vgl. impressionare ‚beeindrucken‘ (mental) vs ‚belichten‘ (materiell); caricarsi ‚sich (elektrisch) aufladen‘ (materiell) vs ‚sich konzentrieren‘ (mental). 2 Im Folgenden gilt: N = Subjekt, N1 = direktes Objekt, V = Verb, S = Gliedsatz, Inf = Infinitiv. 3 In N brucia ‚brennt‘ entspricht N semantisch dem N1 von transitivem bruciare. 1 2 Damit sind die Probleme innerhalb der Polysemiestruktur4, die im Folgenden genauer untersucht werden sollen, bereits skizziert. Zu erklären sind vor allem die Präsenz von provare in mehreren onomasiologischen Verbklassen und die Umkehr der Verbrichtung. „Erklären“ soll hier nicht mehr heißen, als dass der Befund im modernen Italienisch - unter Einbeziehung älterer Polysemie-Stadien als Resultat entsprechender diachroner Entwicklungen plausibel gemacht wird. Die Ableitung des Bedeutungswandels von Gesetzmäßigkeiten wird nicht angestrebt. Die systembezogene Analyse soll auf der Grundlage eines Modells erfolgen, das im Folgenden vorgestellt wird. 2. Das Untersuchungsmodell 2.1 Vorüberlegungen Das hier zu entwickelnde Modell der Verbbedeutung ist der Valenztheorie verpflichtet. Diese sieht bekanntlich das Verb als die zentrale Instanz des Satzes an, in der die Verbindungen mit den übrigen syntaktischen Funktionen, den Ergänzungen und Angaben, zusammenlaufen. Lucien Tesnière, der Begründer der Valenztheorie, hat sich geweigert, im Sinne der traditionellen Grammatik einer der Ergänzungen, dem Subjekt, eine hervorgehobene Stellung beizumessen. Vermutlich war diese Entscheidung zu doktrinär, da sie nicht genügend zwischen den syntaktischen, semantischen und pragmatischen Werten der Subjektfunktion unterschied. Sein radikaler Standpunkt hat aber den Vorteil, im Hinblick auf die semantische Interpretation von Sätzen bestimmte Fragen nicht zu präjudizieren und damit die Voraussetzung für gezielte Einzeluntersuchungen zu schaffen. Mit einem dieser Probleme, der durch die Verbbedeutung vorgegebenen Hierarchisierung der Satzinformation, möchte ich mich hier beschäftigen. Schlicht formuliert geht es darum, ob das Verb – z. B. in der Konstruktion „Subjekt (= N) – Verb (= V) – direktes Objekt (N1/S)“ – in erster Linie über den Referenzbereich des Subjekts oder über den des Objekts informiert, wobei „informieren“ heißen soll: Relevantes für das Verständnis der Situation von Subjekt- oder Objektreferent mitteilen. Relevant ist das, was eine Situationsänderung (bei dynamischen Verben) oder eine kontextuell wichtige Charakterisierung (bei statischen Verben) des Referenten betrifft. Diese Definitionsversuche werden unten (2.3.3) weiter diskutiert. Zur Bezeichnung des Satzglieds, über dessen Referenten das Verb primär informiert, wäre der althergebrachte Ausdruck „logisches Subjekt“ durchaus geeignet – würde er nicht in der modernen Sprachwissenschaft so konfus verwendet (vgl. Lyons 1977: 502). Bei einer so vielschichtigen Frage möchte auch ich in dieser Phase der Untersuchung von pragmatischen und/oder prosodischen Faktoren, wie z. B. der Thema-Rhema-Gliederung des Satzes, absehen und mich auf die lexikalische Semantik des Verbs und seiner Lesarten beschränken. Es wird sich herausstellen, dass sich verschiedene Lesarten eines Verbs unter dem genannten Gesichtspunkt unterschiedlich verhalten können: Manche sind informationell mehr auf den Subjekt-, andere mehr auf den Objektreferenten ausgerichtet – oder „zentriert“, wie ich im Folgenden sagen werde5. Auch zwischen diesen beiden Polen stehende, also mehr oder weniger neutrale Werte sind nicht ausgeschlossen; sie erweisen sich sogar als charakteristisch für bestimmte Verbklassen (z. B. Wahrnehmungsverben). Die Redeweise, dass das Verb auf einen der beiden genannten Pole zentriert ist oder auch Zwischenwerte einnehmen kann (s. u. 2.3.3), impliziert die Vorstellung einer horizontalen Achse6. Diese bildet innerhalb des zu skizzierenden Modells den Rahmen für die Beschreibung weiterer Faktoren der Verbbedeutung: der „Vektoren“ (s. u. 2.3.1) und der „Teilgeschichten“ (2.3.2). 4 Genauer zu untersuchen bleibt die Frage, ob die verschiedenen Lesarten beim Verb provare in einem anderen Verhältnis zueinander stehen als beim Nomen prova. Diesen Eindruck verschafft die Behandlung der beiden Wörter bei Zingarelli, der das Verb differenziert in seinen Lesarten analysiert, Teile der Substantivbedeutungen dagegen in einer recht pauschal wirkenden Definition erfasst: „prova 1.: Ogni esperimento compiuto per accertare la qualità di una cosa, dimostrare il valore o la giustezza di una affermazione, verificare le attitudine di qc. o controllare il funzionamento di una macchina.“ 5 Gamillscheg (1951: 18ff) spricht in diesem Sinne von „subjektbezogen“ und „objektbezogen“. Die bis in die Mitte des 19. Jh.s zurückreichende Forschungsgeschichte zu diesem Thema wird aufgearbeitet in Blumenthal 2002. 6 Saussures (1966: 178) „ruban horizontal correspondant à la chaîne parlée“. 3 Den Begriff der horizontalen Achse möchte ich in einem doppelten Sinne verwenden: Hinsichtlich der Ausdrucksebene repräsentiert er die Abfolge der Wörter im Satz und die der Sätze im Text (= Syntagmatik); hinsichtlich der Inhaltsebene bezieht er sich auf die zeitliche Abfolge des Auftretens der Gegenstände oder auf die Entfaltung der Sachverhalte bzw. „Teilereignisse“ im Referenzbereich. Für den komplementären Begriff der vertikalen Achse können wir uns im Folgenden mit einer stark gerafften Darstellung begnügen. 2.2 Zur vertikalen Achse Die zur horizontalen Achse komplementäre vertikale Achse (bei Saussure „assoziativ“, später „paradigmatisch“ genannt) entspricht innerhalb des hier zu skizzierenden Modells u. a. dem Paradigma der onomasiologischen Verbklassen (im Sinne von Halliday7), den Aktionsarten8 sowie den semantischen Klassen (+/- konkret, +/- belebt) der Verbargumente. Diese bekannten Kategorien brauchen nicht genauer behandelt zu werden. Hinzuweisen ist aber schon hier auf Zusammenhänge zwischen beiden Achsen (s. u. 4.4). Von Bedeutung ist vor allem die Unterscheidung zwischen statischen und nicht-statischen (dynamischen) Aktionsarten, denn der dynamische Charakter des Verbs geht in eine komplexe Eigenschaft des Verbs ein, die dessen syntagmatisches Verhalten wesentlich beeinflusst: seine Qualität, Ausdruck eines Vektors zu sein (s. u. 2.3.1). Diese Eigenschaft impliziert weiterhin, dass das Subjekt u. a. die semantische Rollen des Agens oder (seltener) des Patiens kodieren kann. Dies gilt auch für intransitive Verben (N viaggia: N = Agens; N cade: N = Patiens). 2.3 Zur horizontalen Achse 2.3.1 Vektoren Zur Benennung der bereits erwähnten Bedeutungselemente des Verbs, die sich auf dynamische Sachverhalte beziehen, möchte ich metaphorisch den Begriff des „Vektors“ (in der Physik Impulsstärke und Richtung verbindend) einführen. Er bildet einen sprechenden Oberbegriff für das, was Gamillscheg (1951: 17ff) „Stoßrichtung“ und „Stoßkraft“ des Verbs nannte. Die „Stoßrichtung“, zu verstehen als semantische Repräsentation von Einwirkungsbeziehungen in der außersprachlichen Wirklichkeit, verläuft beispielsweise vom Subjekts- zum Objektsreferenten (= ) bei ‚töten‘, und umgekehrt bei ‚bekommen‘ (). Die Relevanz dieses Aspekts zeigt sich syntaktisch-semantisch bei der Frage nach der Passivierbarkeit, die bei ‚‘ oft nicht gegeben ist (*das Paket wird bekommen). Die Vorstellung von der Stoßkraft, die nur bei Verben mit dynamischer Aktionsart positiv gegeben ist, wurde von Hopper/Thompson (1980), denen Gamillscheg aber anscheinend nicht bekannt war, unter dem Namen „Transitivität“ in einzelne Faktoren zerlegt, auf den Satz als Ganzes bezogen und präzisiert. Es geht hier im Kern um die Tatsache, dass die Stärke der im Satz ausgedrückten Affizierung (meist die vom Referenten des Subjekts in den Objektbereich zielende) verbspezifisch unterschiedlich ist. Die verschiedenen Grade der Transitivität stehen in Wechselwirkung mit bestimmten valenziellen und morphosyntaktischen Eigenschaften des Verbs. Einige Beispiele: Schwache Transitivität kann die Imperativfähigkeit oder die Verlaufsperiphrase (*sto possedendo una casa) verhindern; starke Transitivität erlaubt Konstruktionen, in denen die Betroffenheit des Patiens zum Ausdruck kommt (mi sento osservato, aber *mi sento visto).9 Wie dies schon Gamillscheg an französischen Beispielen gezeigt hat, können Stoßrichtung und/oder Stoßkraft innerhalb des gleichen Verbs von Lesart zu Lesart variieren (vgl. it. perdere ‚verlieren‘, ‚verderben‘). Die Stoßkraft bildet aber auch einen Faktor der Synonymenunterscheidung (vgl. bei den Wahrnehmungsverben guardare vs vedere, ascoltare oder sentire vs udire). Vgl. Halliday 1994: 106ff („material“, „existential“, „relational“, „verbal“, „mental“, „behavioural“); innerhalb der „mentalen“ Verben wird zwischen Kognition und Wahrnehmung unterschieden. 8 Vgl. Bertinetto 1991: bes. 32f (+/- durativ, +/- dynamisch, +/-resultativ usw.). 9 U.A. zur Erfassung derartiger Phänomenen hat Tsunoda (1985: 388) in teilweiser Kritik an Hopper/Thompson eine Skala der "affectedness" entworfen. 7 4 2.3.2 Chronologie der Sachverhalte10 Zur horizontalen Achse der Verbbedeutung gehört auch die altbekannte und terminologisch sehr unterschiedlich erfasste11 Tatsache, dass das im Satz aktualisierte Verb und seine Argumente innerhalb der linear vorgestellten Zeitachse verweisen auf: - „Vorgeschichten“: zeitlich und/oder logisch als vorausgehend Unterstelltes, vor der Referenzzeit des Satzes Liegendes (innersprachliche Gebrauchsbedingungen des Verbs, im Referenzbereich vorausgehende Situationen, Präsuppositionen verschiedenen Typs). Beispiele: die Erlaubnis geben setzt u. a. die entsprechende Machtposition des Subjektreferenten voraus, schenken kann man nur, was man selber hat. Confermare und smentire implizieren eine vorausgehende Äußerung, deren propositionaler Gehalt mit dem des von den Verben abhängigen Komplementsatzes identisch ist. - „Nachgeschichten“: Sachverhalte, die als nach der Referenzzeit des Satzes auftretend impliziert werden bzw. deren Auftreten erwartet, beabsichtigt, erhofft, befürchtet wird. Um bei dem denkbar schlichten letzten Beispiel zu bleiben: geben führt zu einer ‚haben‘-Relation in Bezug auf die im Objektbereich bezeichnete Person. Ein Beispiel für ein potentielles Ergebnis, dessen Erreichen in der semantischen Struktur des Verbs angelegt ist: addestrarsi wird in Zingarelli definiert als ‚esercitarsi al fine di divenire abile e destro‘. Osservare ‚beobachten‘ impliziert in seiner sinnlichen Bedeutung, dass über die sorgfältige Betrachtung eines Gegenstandes hinaus eine Erkenntnis angestrebt wird; diese wird in einer anderen Lesart des gleichen Verbs im Komplementsatz explizit formuliert: osservare che S12. Nachgeschichten können auf der Textebene ausgedrückt werden (Beispiel für expliziten Ausdruck: Ha osservato N1 per molti anni..., e finalmente ha trovato che S). - „Hauptgeschichten“: handlungslogische oder zeitliche Ausdehnung des zwischen Vorgeschichte und Nachgeschichte liegenden Prozesses, auf den das Verb explizit referiert und innerhalb dessen die o. g. Vektoren wirken. Eine Strukturierung des gesamten von einer Verbklasse implizierten Prozessablaufes in Teilprozesse, die unserer Vor-, Haupt- und Nachgeschichte entsprechen, findet sich u. a. in Ballmer/Brennenstuhl 1986: 60ff. 2.3.3 Zentrierung Die oben bereits besprochene Zentrierung des Verbs auf den Referenzbereich des Subjekts oder des Objekts gehört systematisch in den Bereich der horizontalen Achse, da es hier auf der syntagmatischen Ebene zunächst um syntaktische Beziehungen zwischen notwendig linear angeordneten sprachlichen Elementen geht, unter denen das Verb eine unterschiedliche inhaltliche Gewichtung herstellt. Ein intuitives Vorverständnis von Zentrierung kann nicht anderes besagen, als dass – wie Gamillscheg dies schon 1951: 20 formuliert hat – „die Aufmerksamkeit des Sprechenden bzw. Hörenden“ auf Subjekt oder Objekt gerichtet wird. Die Aufmerksamkeit stellt den psychologischen Reflex der Informationsstruktur des Satzes dar, soweit diese durch die lexikalischen Eigenschaften des Verbs bestimmt wird. Eine genauere Definition dieses Typs von „Informationsstruktur“ ist nicht unproblematisch. Die Schwierigkeiten liegen einerseits im weitgehend ungeklärten Begriff der Information selber, andererseits in der Unmöglichkeit, im Rahmen dieses Beitrags einen Überblick über seine Relevanz für sämtliche Typen von Verben (also dynamische wie überwiegend provare und statische) zu geben. Für eine erste Annäherung an das Problem gehen wir mit Luhmann (GLU 76) davon aus, dass Information Differenz (zwischen Erwartung und erhaltener Nachricht) ist und weitere Differenzen Pottier (1987: 117) beschränkt seine grundsätzlich dem Folgenden analoge Unterscheidung zwischen „zone d’AVANT“, „noyau“ und „zone d’APRÈS“ auf die im Satz aktualisierten Elemente der Aktantenstruktur (in einem weiten Sinne dieses Wortes, der auch Angaben umfasst). 11 In den 70er und 80er Jahren des 20 Jh.s war vielfach und mit z. T. unterschiedlichen Bedeutungen von „backward presuppositions“ (s. u. „Vorgeschichte“) und „forward implications“ („Nachgeschichte“) die Rede. 12 = ‚constatare’; die häufig auftretende oppositive Bedeutung von osserviamo che... (= ‚obiettare’; vgl. Zingarelli, osservare) könnte sich dadurch erklären, dass S als Ergebnis einer Beobachtung und Schlussfolgerung besonderes Gewicht erhält. 10 5 auslöst, nämlich Veränderungen in der Struktur des Systems. Es liegt dann der Gedanke nahe, dass auf der Ebene des Informationsträgers, beispielsweise des Satzes, diejenigen Elemente mehr zur Information beitragen, die auf im Referenzbereich veränderte Dinge oder Sachverhalte verweisen. Diese Bestimmung trifft zu auf den affizierten/effizierten Referenten des Objekts oder auf das Subjekt in der Rolle des Patiens. Im ersten Falle würden wir also von einem objektzentrierten Verb sprechen, im zweiten von einem subjektzentrierten. Die Passivierbarkeit des Verbs, die bei Patienscharakter13 des direkten Objekts gegeben ist, stellt in diesem Sinne ein Argument für seine Objektzentriertheit dar. Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass das Verb des Passivsatzes stets subjektzentriert ist. Setzt man die Existenz nur zweier Makrorollen, actor und undergoer, an (vgl. Van Valin/LaPolla 1997: 139-49), würde das Gesagte bedeuten, dass das Verb im passivierbaren Satz grundsätzlich auf den undergoer zentriert wäre, ob dieser nun als Subjekt oder als Objekt auftritt. Wie aber Übergangsphänomene zwischen beiden Makrorollen zu vermuten sind, so gibt es auch für die Zentrierung je nach Verb die Möglichkeit von Zwischenpositionen, die auf Nicht-Zentriertheit hinauslaufen können (veranschaulicht in Schema III). Aus pragmatischer und kognitionspsychologischer Sicht ist die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf den Subjekt- oder Objektbereich vermutlich unter dem Gesichtspunkt der kommunikativen „Relevanz“ (im Sinne von Sperber/Wilson) des jeweiligen Bereichs zu betrachten. Inwieweit die hier entwickelte Vorstellung von der informationellen Zentrierung des Verbs heuristisch fruchtbar ist, kann sich erst bei Anwendungen auf weitere Verben und Verbtypen erweisen. Zusammenhänge und Interaktionen der bisher vorgestellten Elemente des Bedeutungsmodells werden durch den Gang der Untersuchung verdeutlicht. 3. Bedeutungs- und Valenzgeschichte von provare Bei der folgenden Untersuchung der Polysemie von provare gehe ich nun von der Hypothese aus, dass sich die Herausbildung und die Koexistenz verschiedener Lesarten aus Verschiebungen auf der vertikalen (paradigmatischen) und/oder auf der horizontalen Achse der Verbbedeutung erklärt. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass jedes Verb ein virtuelles Gesamtpotential an (auf beide Ebenen bezogenen) Merkmalen besitzt, aus dem aber in der jeweiligen Lesart nur eine Teilmenge nutzbar gemacht wird. Die durch den Kontext aktualisierten Merkmale erscheinen gleichsam in einem Lichtkegel, der Teile beider Dimensionen ausleuchtet. 3.1 Lateinisch PROBARE Ein schon im lateinischen Etymon vorhandenes Spezifikum von provare liegt in der erstaunlichen Beweglichkeit des Verbs in der horizontalen Dimension (Problem der "Teilereignisse", s.o.). Georges nennt unter den ersten Bedeutungen von PROBARE in etwas umständlicher Formulierung ‚etwas in Bezug auf seine Tüchtigkeit, Güte, Echtheit erproben, prüfen, untersuchen‘. In Beispielen wie argentum igne probatum handelt es sich offensichtlich in der Hauptgeschichte um einen materiellen Prozess, der in der Nachgeschichte zu einer Einschätzung (mentaler Prozess) führen soll. Wie Georges dies treffend verdeutlicht, kann im übertragenen Wortgebrauch auch schon die Tätigkeit des Prüfens (Hauptgeschichte) rein mental sein. In der zweiten bei Georges genannten Bedeutung ist der soeben als Nachgeschichte bezeichnete Inhalt zur Hauptgeschichte geworden: ‚als tüchtig anerkennen, gutheißen‘. Der materielle oder mentale Prüfungsvorgang ist hier zur Vorgeschichte abgesunken, der Lichtkegel hat sich auf der horizontalen Ebene nach rechts verschoben. Neue Typen von Nachgeschichten entstehen kontextuell in bestimmten Konstruktionen, etwa bei doppeltem Akkusativ: aliquem imperatorem probare ‚jemanden als Oberbefehlshaber anerkennen‘. Unter den Bedingungen eines performativen Sprechaktes, der bestimmte Voraussetzungen (Teile der Vorgeschichte) in der Person des Subjektreferenten hat, könnte hier die Nachgeschichte darin bestehen, dass die im Objekt benannte Person tatsächlich Oberbefehlshaber wird. Bedingungen hinsichtlich der Vorgeschichte entfallen dagegen, wenn die für die Nachgeschichte anvisierte Qualität fiktiv ist, wie in se pro eunucho probare ‚sich ausgeben als‘ (= verbaler Prozess in der Hauptgeschichte, mentaler Prozess (evtl. ‚halten für‘) in der Nachgeschichte). 13 Seinerseits an Referentialität gebunden: vgl. das interessante italienische Beispiel in Van Valin/LaPolla 1997: 149. 6 Für eine weitere Bedeutung (‚beweisen‘, mit AcI) gilt Ähnliches wie für die Valenz mit doppeltem Akkusativ. Die Besonderheit dieser Lesart besteht darin, dass die ermittelte Qualität nicht Tüchtigkeit/Tauglichkeit/Funktion ist, sondern Richtigkeit. Zur in diesem Fall sehr komplexen Hauptgeschichte gehört neben den im Satz meist explizit als Verbargumente genannten Beweismitteln etwas Resultatives: Es wird gezeigt, dass der Inhalt der regierten Proposition (AcI) der Wirklichkeit entspricht. Die Lesart besitzt auch eine spezifische Vorgeschichte: Der genannte Inhalt muss bereits Gegenstand eines verbalen oder mentalen Aktes gewesen sein (Behauptung, Vermutung u. ä.). Aus der Sicht des heutigen Italienisch ist festzustellen, dass die wichtigsten Lesarten von PROBARE zwar erhalten geblieben sind, dort allerdings nur eine Teilmenge des Bedeutungspotentials von provare (vgl. WIV) bilden. Es fehlen im Lateinischen u. a. Äquivalente für die Bedeutungen ‚wahrnehmen‘ (s. u. 3.2.3), ‚spüren, empfinden, erleiden‘ (provare paura/simpatia/il mal di denti; s. u. 3.2.4) und ‚versuchen‘ (wie in provare non nuoce, ho provato a chiamarlo; s. u. 3.2.6). 3.2 Entwicklungsgeschichte von provare im Italienischen Wie es zu diesen Entwicklungen gekommen ist, soll anhand der Online-Datenbank des Opera del Vocabolario Italiano (im Folgenden OVI) gezeigt werden. Für die Zeit von 1200-1300 finden sich in den dort verfügbaren Texten 161 Okkurrenzen des Infinitivs provare (ab 1243). Die dritte Person prova (in den Belegen zu unterscheiden vom homonymen Nomen) ist über 160x vertreten, die bemerkenswert häufigen Formen des Partizips Perfekt 219x (ab 1230). 3.2.1 ‚beweisen‘ Mehr als die Hälfte der vorliegenden Lesarten entsprechen in diesen häufig juristischen Texten der Bedeutung ‚beweisen‘, der wir uns zunächst zuwenden wollen. Die Rolle des juristischen Jargons wird noch verstärkt durch die metaphorische Übernahme der entsprechenden Denk- und Ausdrucksweisen in bestimmten literarischen Textsorten, z. B. der Darstellung des Liebesstreits. Da gerade im Falle von provare die Sach- und Begriffsgeschichte zum Verständnis der Wortgeschichte beiträgt, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu Beweis-Konzeptionen im Geltungsbereich des „gelehrten“ römischen oder kanonischen Rechts – denn dort befinden wir uns im Italien des 13. Jh.s – angebracht14. Aus linguistischer Sicht ist die Analogie zwischen Vorgang und Typen des Beweisens auf der einen Seite und der oben dargestellten horizontalenen Ebene der Verbsemantik verblüffend. Die übliche zeitgenössische Definition des Beweises lautet: „Probatio est rei dubiae per argumenta facta demonstratio“ (Lévy 1939: 22f). Die res dubia entspricht der oben erwähnten Vorgeschichte des Beweisens, dem vorausgehenden mentalen Akt (Vermutung u. ä.). Dementsprechend erscheint der Beweis selber, der Gegenstand der Hauptgeschichte ist, auch im Sinne der klassischen Rhetorik als confirmatio (vgl. Brunetto Latini 1975: 360ff). Die argumenta sind syntaktisch gesehen meist präpositionale Satzglieder, die semantisch in der Hauptgeschichte wirksam werden. Ziel der demonstratio ist die Herstellung von evidentia, möglichst in der Form des notorium (Lévy 1939: 32ff). Nun wird im mittelalterlichen römischen Recht bisweilen darüber gestritten, ob das notorium noch Teil des Beweises ist (in unserer Terminologie: noch zur Hauptgeschichte von probare gehört, das damit ein Verb ausgeprägt telischer Aktionsart wäre), oder zu einer dem Beweisvorgang folgenden Entität (also: zur Nachgeschichte) gehört. Bei letzterem Ansatz muss unterschieden werden zwischen - der probatio probans (bzw. probatio in fieri), die den Beweis als ein „moyen de connaître les choses“ sieht (a. a. O. 29f; Hauptgeschichte mit kontinuativer Aktionsart), - und dem notorium als Resultat: „La notoriété n’est pas une preuve, mais le résultat de toutes les preuves.“ (a. a. O. 43). Die juristische Fachsprache enthält hier also eine (terminologische) Polysemie, für deren Analyse die Kategorien von Aktionsart und „Geschichten“ das geeignete Werkzeug bieten. Die höchste Form in der qualitativen Hierarchie der Beweise, die perfekte evidentia, wird nun nicht durch Räsonnieren Die Rezeption des römischen Beweissystems seit dem 12. Jh. (zunächst im „römischen Recht“ und im kanonischen Recht) bildet eine entscheidende Etappe in der Neugestaltung des europäischen juristischen Systems (vgl. Lévy 1939: 5). Es besaß einen derart durchschlagenden Vorteil gegenüber dem Beweisverfahren nach germanischem Recht, dass es schon früh auch ins Gewohnheitsrecht Nordfrankreichs eindrang (vgl. Lévy 1939: 165 und Beaumanoir 1970: 96-130). 14 7 erreicht, sondern über die unmittelbare, vor allem visuelle Sinneswahrnehmung (a. a. O. 30, 67). Brunetto Latini bietet hierfür ein einprägsames Beispiel: Li necessaires argumens est celui ki moustre la chose en tel maniere que autrement ne puet ele pas iestre. Raison coment: ceste feme gist d’enfant, donc ele a connut home. (1975: 365) Beweisen durch Wahrnehmen – dieser Grundgedanke der juristischen Beweistheorie gewinnt, wie wir sehen werden, dadurch ein besonderes linguistisches Interesse, dass das nicht fachsprachliche Wort provare gerade im Altitalienischen den Verben der Wahrnehmung paradigmatisch (durch partielle Synonymie) und syntagmatisch (durch kontextuelle Nachbarschaft) nahe steht. Vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Rechtsdenkens, in dem der Vorgang des Beweisens auf sinnliches, und am besten visuelles Evidentmachen abzielt, ist es nicht erstaunlich, dass die entsprechende Bedeutung von provare häufig im unmittelbaren, Synonymie suggerierenden Kontext von mostrare auftritt; dieses Verb (zunächst ‚far vedere‘) hat seinerseits schon früh die Lesart ‚beweisen‘ erhalten15 – eine Entwicklung, die den Ausbau einer implizierten Vorgeschichte voraussetzt. Das Bewiesene ist also das im eigentlichen Wortsinn ‚Sinnfällige‘ – eine Vorstellung, die zweifellos auch im Zusammenhang mit dem semiotischen System einer Kultur zu sehen ist, in der auch außerhalb der juristischen Sphäre der Stellenwert des zugleich sinnlich Erfahrbaren und Symbolträchtigen hoch war. Hier einige Beispiele für den Nexus mostrare/provare: (1) Ond’io n’ho presa un’arte: che, come la fornace prova l’oro verace, e la nave lo mare, così le cose amare mostran veracemente chi ama lealmente. (Brunetto Latini, Favolello,1260/66) Die Parallelkonstruktion von provare und mostrare lässt keinen Zweifel daran, dass verace prädikativ zu interpretieren ist – so wie auch mostrare ein prädikatives Syntagma, nämlich einen Komplementsatz regiert. Provare hat dementsprechend die resultative Bedeutung von ‚erweisen als‘ (‚erweist das Gold als echt‘ bzw. ‚beweist, dass das Gold echt ist‘), und nicht die kontinuative von ‚in Bezug auf seine Echtheit überprüfen‘, allerdings ist die semantische Nähe zum Topos der Feuerprobe (argentum igne probatum, s. o.) offensichtlich. Insofern verdeutlicht Zitat (1) die Existenz einer größeren semantischen Schnittmenge zwischen den Bedeutungen ‚beweisen/erweisen‘ und ‚erproben/überprüfen‘. Der folgende theologische Text stellt die scienzia (entsprechend der lat. scientia, dem Inbegriff des vollständig bewiesenen Wissens der juristischen Terminologie) in Gegensatz zum Glauben – und wertet es aus christlicher Sicht ab: (2) E perché la verità si crede molte volte, ma non s’ha per lo fermo, però ti dissi «ferma credenza». E perché la verità si crede molte volte fermamente, ma non puossi mostrare e provare per ragioni naturali, però ti dissi «onde ragion non si può assegnare»: perché non sarebbe fede quella onde si potesse render ragione, ma sarebbe scienzia; e però disse san Gregorio: «Quella fede non ha merito, […]» (Bono Giamboni, Vizi e Virtudi, 1292) 3.2.2 ‚erproben‘ Am zweithäufigsten findet sich im Korpus die Fortsetzung der lateinischen Hauptbedeutung (‚erproben‘). Sie wird von Battaglia mit folgender Definition an erster Stelle der Lesarten genannt: „Sottoporre a una prova un oggetto o un materiale per conoscerne le qualità, le proprietà, il funzionamento possibile“. Übertragen auf menschliche Objekte, kann dieser Bedeutungstyp die Lesart ‚auf die Probe stellen‘ annehmen wie in: 15 Vgl. zur entsprechenden Bedeutungsentwicklung im Französischen in Robert historique unter montrer. 8 (3) Lo ’mperadore medesimo sì volle provare la moglie, però che li era detto che un suo barone giaceva con lei. (Novellino, 1281/1300) Die Texte des 13. Jh.s illustrieren besser als alle abstrakten Überlegungen, in welchem Maße die Polysemie von provare durch Verschiebungen auf der horizontalen Achse bestimmt wird. Denn die Referenz der soeben genannten Verwendungen erscheint kontextuell vielfach als sachliche und zeitliche Voraussetzung für das Erbringen einer (beweisenden) Evidenz, deren Formulierung dann aber über ein anderes Verb, z. B. trovare, erfolgt: Das Erproben (eine Lesart von provare) geht dem Beweisen (andere Lesart von provare) voraus, beide Lesarten sind also durch zeitliche Kontiguität miteinander verbunden. Hier die linguistisch aufschlussreiche Geschichte einer Nonne, bei der der zuständige Bischof eine Art Schwangerschaftstest durchführen lässt; die Präsentierung des Resultats wird durch trovare eingeführt: (4) [Es spricht die verdächtigte Nonne, also direkte Rede] „Perciò non dovete credare ciò che altri vo’ dice [= Behauptung als Vorgeschichte, s. o.]; ma fatemi provare [untersuchen], e se trovate in me mispregione [mögliches Resultat], sì me ne date lo guidardone.“ El vescovo, a cui parbe ched ella dicesse ragione, sì la mandò in una camera; e per provarla sì v’andò una arcidiacona e sette monache che s’intendevano a quelle cose […]; dissero tutte le monache che andaro coll’arcidiacona, imperciò che bene aveano fatta la prova. L’altre monache ne furo tutte esbalordite, e dissero per fermo ch’ella era pregna [= Behauptung als Vorgeschichte]. Il vescovo, che non aveva cura di loro grida, si menò altre femmine co·llui, per provare bene lo fatto. E provârla, e trovârla salva di ciò ch’ella era encusata [= Resultat: Bewiesenes]. (Conti morali d’anonimo senese, Ende 13. Jh.) Der Gang der Erzählung spiegelt hier die verschiedenen Etappen des Beweisvorgangs wider: Verdacht (Vorgeschichte), problemlösendes Handeln (= Lesart von provare in (3)) und abschließende Feststellung (quod erat demonstrandum: „salva di ciò...“). Provare ‚beweisen‘ erscheint damit als semantische Kondensierung dessen, was in der „gemütlichen“ Erzählweise von (4) mit mehreren Wortwiederholungen auf drei Phasen verteilt wird, von denen provare ‚erproben/untersuchen‘ nur die mittlere bezeichnet. Juristische Fachsprache (und daran angelehnter Stil) war eben schon im 13. Jh. knapper und abstrakter als narrativer (und in (4) z. T. fingiert mündlicher) Sprachgebrauch. Das semantische Teilmodell von Vor-, Haupt- und Nachgeschichte erweist sich am Beispiel dieses Textes auch als ein Instrument der Textanalyse. Die Verbindung beider Betrachtungsweisen, der verbsemantischen und der textlinguistischen, zeigt den sprachökonomischen Vorteil der in den Texten des 13. Jh.s vorherrschenden Lesart von provare (‚beweisen‘), die eine beträchtliche Informationsraffung erlaubt. Wo wissenschaftliches Denken und lebensweltliches Handeln, récit und discours, im gleichen Text zusammentreffen, kann mit verschiedenen Bedeutungen von provare gespielt werden; Beispiel: (5) Maestro Taddeo, leggendo a’ suoi scolari in medicina, trovò che, chi continuo mangiasse nove dì di petronciani, che diverrebbe matto; e provavalo [‚beweisen‘] secondo fisica. Un suo scolaro, udendo quel capitolo, propuosesi di volerlo provare [‚ausprobieren‘]: prese a mangiare de’ petronciani, et in capo de’ nove dì venne dinanzi al maestro e disse: «Maestro, il cotale capitolo che leggeste non è vero, però ch’io l’hoe provato [‚ausprobieren‘] e non sono matto [Resultat als Hauptsatz formuliert]»: e pure alzasi e mostrolli il culo. (Novellino, 1281/1300) 3.2.3 ‚wahrnehmen‘ Von den 80er Jahren des 13. Jh.s ab tritt in toskanischen Texten bei provare die Bedeutung ‚wahrnehmen‘, ‚empfinden‘ auf, und zwar zunächst unter recht speziellen morphosyntaktischen und kontextuellen Bedingungen: Die Verbform ist meist die des Partizips Perfekt, das direkte Objekt wird durch ein indefinites Pronomen u. ä. gebildet und in unmittelbarer Nachbarschaft findet sich Synonymendoppelung mit einem Verb der Wahrnehmung. Diese Bedingungen sind semantisch signifikant: Es geht im allgemeinen um eine globale, auch bilanzierende Feststellung (ein semantischer Wert des passato prossimo). Deren Gegenstand ist der sinnliche Erfahrungsbereich des Subjektreferenten (vgl. Synonyme) und der Akzent liegt nicht auf der Natur des Objektreferenten (der deshalb indefinit erscheinen kann und meist einen Sachverhalt bezeichnet), wie bei der Lesart ‚erproben‘, sondern auf dem Erfahrungsgewinn des Subjekts. Insofern sind diese Verwendungen subjektzentrierter als die bisher besprochenen. Das resultative Element, bei anderen Verwendungen von provare zur Nachgeschichte gehörig, erinnert an die Lesart ‚beweisen‘, allerdings fehlen im 9 Vergleich zu dieser die spezifische Vorgeschichte und die abstrakte Formulierung der Erkenntnis im Komplementsatz. Einige Beispiele: (6) La seconda ragione si è, che come l’uomo à più di ragione e d’intendimento in sè, tanto die meno avere di malvagi (7) (8) (9) movimenti e di malvagi desiderii. E perciò che i giovani ánno poco e d’intendimento e di ragione perciò che ánno provato e udite poche cose, essi seguiscono molti malvagi movimenti e desiderii. (Del reggimento de’ principi di Egidio Romano,1288 (sen.)) La quarta ragione che proverà ciò, si è quello che l’uomo à provato e veduto, cioè le terre e le città e i reami, che sono istati sotto un buono signore il quale abbia avuta la signoria ragionevole, sono istati più in pace e più in concordia, che quelle […] (ebd.) La terza cosa si è, che l’uomo si die consigliare con più savi e con tanti, quant’elli ne può avere, e fatti siccome noi diremo appresso. Perciò che molti veggono e conoscono più che i pochi, ed ánno più provato e sentito, e l’uomo ben savio non die crédare alla sua propia testa. (ebd.) E consigliasi per via di perseveranza quando il consigliatore, nel consiglio che pone, dà per consiglio cosa laonde egli à veduto o provato che, sopra quello onde consiglio si piglia, sempre è stato il meglio di così fare. (Bono Giamboni, Fiore di rettorica, redazione beta,1292) In dieser Verwendung gehören also sowohl das Wahrnehmungsverb provare als auch seine Objekte16 anderen onomasiologischen Klassen an, als dies in den übrigen bisher untersuchten Lesarten der Fall war, anderen z. B. als bei kognitivem proverà (‚beweisen‘) in (7), dessen zeitlicher Referenz die von provato im gleichen Satz vorausgeht. Die semantische Rolle des Subjekts von Verben der Sinneswahrnehmung ist bekanntlich nicht einheitlich zu beurteilen, da der Experiencer je nach Verb, Lesart und Kontext eine mehr aktive (als Agens) oder passive (als Patiens) Rolle haben kann17. 3.2.4 ‚erleiden‘ Eindeutig zum Patiens wird der Subjektsreferent von provare bei der Lesart ‚erleiden‘, die im OVIKorpus des 13. Jh.s nur sehr spärlich vertreten ist; Beispiele: e ch’i’altro facesse, il contraddico, però ch’i’ho provato quel dolore, ched esser ricch’e divenir mendico è appo quell’un farsi ’mperadore. Chi nol mi crede, sì ’l possa provare, sì come io che per lo mio peccato cinqu’anni ho tempestato ’n su quel mare. (Cecco Angiolieri, Rime, Ende 13. Jh.) (11) Certo si è, che noi vedemo che le madre portano li filioli viiij mese con grande fatiga e con grande travaglio di corpo, e sì le vedemo parturire colla magiore pena che si possa provare sensa la morte. (Il bestiario toscano, Ende 13. Jh.) (10) In provare un dolore/una pena liegt nicht mehr eine Wahrnehmung von Erscheinungen der Außenwelt vor. Vielmehr wird der Subjektreferent zum Gegenstand einer Einwirkung, die vom Referenten des grammatischen Objekts ausgeht, der aber seinerseits zur Sphäre des Subjektreferenten gehört. Es geht hier also um eine Form der reflexiven Wahrnehmung, die auch für die modernen Entsprechungen dieser Lesart typisch ist (vgl. WIV, provare 4.: provare angoscia, paura e senso di forte costrizione; provare il mal di denti; mit von außen kommender Wirkung allerdings mi ha fatto provare tanti dispiaceri). Da sowohl Quelle als auch Ziel der Einwirkung im Subjektreferenten liegen, haben wir es hier mit einer stärkeren Form der Subjektzentrierung des Verbs zu tun als bei der Lesart ‚wahrnehmen‘. Provare hat also zusätzlich zu seinen ursprünglichen Bedeutungen, die eine vom Subjektreferenten auf die Außenwelt (im Objektbereich) gerichtete, kognitive und/oder materielle Tätigkeit bezeichnen, Lesarten erhalten, in denen die Vorgangsrichtung des Verbs geändert ist. Je nach Kontext lässt sich 16 Soweit es sich um einen nominal oder pronominal formulierten Sachverhalt handelt, erscheint dieser wie bei einem Verb der Wahrnehmung als „expansion“, und nicht wie nach provare ‚beweisen’ als „projection“ (zu diesen Begriffen vgl. Halliday 1994: 219, 249). Wo mittelalterliches provare in anderen Bedeutungen als ‚beweisen’ einen Komplementsatz mit che regiert (vgl. Battaglia, provare 9., 774c), geht es nicht mehr um sinnliche Wahrnehmung, sondern um abstraktes ‚Feststellen, Ermitteln’. Anders provare come, das im folgenden Beispiel (ebd., 20. Jh.) offensichtlich eine Sinneswahrnehmung meint und eine expansion regiert: provar come punge una tenera spina. 17 Dass Verben der Wahrnehmung eine relativ schwache „force transitive“ besitzen (und deshalb in frühen Stufen der indogermanischen Sprachen oft mit Genitiv konstruiert wurden), hat lange vor Gamillschegs Theorie der „Stoßkraft“ des Verbs schon Bréal (1904) beobachtet. 10 diese Änderung als Umkehr hin zur Richtung Objekt Subjekt interpretieren oder als Fall von Ungerichtetheit, wie er beispielsweise durch das häufig mögliche Synonym avere ausgedrückt werden könnte. 3.2.5 Übereinzelsprachliche Regelmäßigkeiten Diese Entwicklung ist weitgehend parallel zu der von conoscere, einem ursprünglich und auch heute noch überwiegend kognitiven Verb, das in manchen Lesarten das Subjekt aber als Patiens erscheinen lässt, vgl. è gente che ha conosciuto la fame; la manifestazione, che ha conosciuto un crescente successo,… (WIV, conoscere 4.18). Zingarelli macht die Beziehung zwischen beiden Verben explizit, indem er diese Lesart von conoscere wie folgt definiert: „cominciare a provare un sentimento, un’emozione e sim.“ Die Form der Bedeutungsentwicklung dürfte auch hier durch Kontiguität bedingt sein: Das Kennenlernen oder Erkunden eines Gegenstandes kann zu einer Rückwirkung des Gegenstandes auf das (zunächst nur erkennende) Subjekt und schließlich zu einer ausschließlichen Einwirkung auf das Subjekt führen. Dabei kehrt sich die Stoßrichtung (s.o. 2.3.1) des Verbs um. Das Oxford English Dictionary stellt die entsprechende Entwicklung von to prove (belegt ab 1175) lapidar, aber einleuchtend durch folgende Bedeutungsaffiliation dar: „To find out, learn, or know by experience, ‘go through’, suffer“ (unter prove 3.). Etwas später folgt (nach Robert historique) altfranzösisch éprouver dem gleichen Weg: ‚mettre à l’épreuve‘ ‚vérifier, connaître par une expérience personnelle‘ ‚ressentir‘ (1273). Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s wird bei italienisch sentire die Umkehr der Verbrichtung vollzogen. Battaglia nennt als Etappen u. a. ‚percepire con l’udito‘, ‚venire a sapere qualcosa‘, ‚provare una sensazione dolorosa, una pena, un’afflizione fisica; accusare colpi, percosse, ferite‘ und schließlich mit eindeutigem Patiensstatus des Subjektreferenten ‚subire attacchi, scorrerie piratesche‘ und ‚subire l’azione di agenti esterni o del tempo o danni, inondazioni, terremoti‘ (ebd. provare 14., letztere Lesart erst Ende des 15. Jh.s) 19. Deutlich sind die Parallelen auch in der Entwicklung von essayer, das in den altfranzösischen Texten bisweilen in Synonymendoppelung mit esprover und prover erscheint. Tobler-Lommatzsch (unter essaiier) führt für transitives essayer u. a. die Bedeutungen ‚erproben, prüfen‘ und ‚eine Probe bekommen, erfahren‘ (im Sinne von lat. COMPERIRI) auf; zitiertes Beispiel – bezeichnenderweise wie die ähnliche Verwendung von provare im analytischen Perfekt (Erec): Ceste chose ai bien essaiiee Et esprovee au mainte guise. Die in der Umkehrung der Einwirkungsrichtung weiter gehende Bedeutung tritt hervor in Maint fort assaut et maint estor plenier Li covendra maintes foiz essaier (ebd., Aym. Narb.). Der Umschlag von Kognition und Wahrnehmung der Außenwelt (Subjektsreferent agentiv) zu Selbstwahrnehmung und materiellem Erleiden (Subjektsreferent patientiv) ist also für das Hochmittelalter in verschiedenen europäischen Sprachen gut belegt und verlangt wohl nach einer spezifischeren (vielleicht kulturgeschichtlichen) Erklärung als Gamillschegs Notiz, „die Labilität der Stoßrichtung der verbalen Vorstellung“ sei im Altfranzösischen noch allgemein (18). Genauer zu untersuchen bleibt auch der mögliche Beitrag bestimmter Präfixe wie RE- (it. risentire20) und EX(franz. éprouver) zur Umkehr der Verbrichtung. Der Übergang von einer kognitiv/sensuellen Bedeutung zu einer den Subjektsreferenten zum Patiens machenden findet sich auch bei erfahren (‚eine Neuigkeit erfahren‘, ‚Rückschläge erfahren‘) – allerdings ohne Umkehr der Verbrichtung21. Außerhalb des ursprünglich kognitiven Bereiches kommt Es fällt auf, dass diese Verwendung von conoscere – wie die oben analysierte Wahrnehmungslesart von provare – ganz überwiegend im passato prossimo vorkommt (vgl. Hinweis in WIV). Diese Erscheinung könnte sich durch die Hypothese erklären, dass das passato prossimo aufgrund seiner morphosyntaktischen Herkunft eine Bedeutungskomponente besitzt, die das für das Subjekt erreichte Resultat betont und insofern im Verblexem vorhandene Tendenzen zur Subjektzentrierung verstärken kann. 19 Eine ähnliche Polysemie war allerdings auch schon dem lateinischen SENTIRE nicht fremd (vgl. Robert historique, sentir). 20 Zingarelli: „sentire vivamente patendo, soffrendo per danni morali o materiali“. 21 Genauer zu untersuchen bleibt die Entwicklung eines anderen Verbs mit dem gleichen Präfix, erleben, bei dem wir ein ähnliches Bedeutungsspektrum finden: laut Duden Universalwörterbuch ‚betroffen und beeindruckt werden’, 18 11 eine Umkehr der Verbrichtung mit dem semantischen Ergebnis ‚erleiden‘ z. B. bei französisch enregistrer22 und essuyer vor (Robert historique unter essuyer; vgl. essuyer un échec). 3.2.6 ‚versuchen‘ Am spätesten hat sich die in den mittelalterlichen Texten nur schwach vertretene Lesart ‚versuchen‘ von provare entwickelt, die einen präpositionalen Infinitiv regiert. Im heutigen Italienisch entspricht sie hinsichtlich ihrer syntaktischen Valenz den Konstruktionen N-V-a Inf (ho provato a chiamarlo) und N-si V-a Inf (provati almeno a chiederglielo, vgl. WIV, provare 11. und 18.). Im Bereich dieser Bedeutung trat in den ersten Jahrhunderten des Italienischen am relativ häufigsten die reflexive Konstruktion mit di auf, behandelt in Battaglia, provare 24; vgl. den ersten Beleg bei Galliziani o Rinaldo d’Aquino: Eo mi voi’ provare di dir lo mal ch’eo aggio; später Compagni (14. Jh.): Molti ve ne erano che volentieri arebbero dato loro il guasto e provatisi di vincere la terra. Die Datenbanken (OVI, LIZ) fördern noch einige bedeutungsähnliche Konstruktionen zu Tage. Beispiele: - e con questo provava di pescare sanza il pesce di legno (Novellino in LIZ) - E Ercole provarsi a disvestirla (Domenico da Montichiello, Rime, 1358, erster im OVI-Korpus vorhandener Beleg für den Infinitivanschluss mit a). In OVI finden sich für das 14. Jh. (bis 1375) 5 Belege für nicht-reflexives provare di (z. B. Prova di spegnare, se vuoi, li nuovi incendi) und 2 Belege für provarsi a. Der erste Beleg für nicht-reflexives – in Battaglia gar nicht aufgeführtes – provare a stammt vom Ende des 15. Jh.s. Im folgenden Jh. findet sich diese Form mehrmals, u. a. einmal bei Machiavelli. Allgemein gilt für das 16. Jh., dass die Verwendungen des Verbs frequentiell hinter dem recht häufigen Funktionsverbgefüge far prova di + Inf zurücktreten. Manzoni verwendet in den Promessi sposi nach LIZ je einmal provarsi di und provare di, in beiden Fällen nach volere (Ma ai primi che avevano voluto provar di resistergli […], 1840). Provar(si) a kommt bei Manzoni (LIZ-Korpus) nicht vor. Auffallend ist bis zum Ende des 19. Jh.s – wie z. B. im letzten Zitat – die fast stereotype Verwendung von provar(si) di/a nach einer Form von volere oder im Imperativ, in Konstruktionen also, die die Ausrichtung auf Nachzeitigkeit explizit machen (s. u.). Im LIZ-Korpus treten zu Beginn des 20. Jh.s zwei Entwicklungen sehr deutlich hervor: Als Präposition überflügelt a das im heutigen Italienisch verschwundene di bei reflexiver und nichtreflexiver Verwendung, vorangehendes volere wird selten. Etwas schematisiert ausgedrückt verläuft die Entwicklung also nach Ausweis von Battaglia und vor allem des maschinenlesbaren Materials über folgende Etappen: provarsi di, provare di, provarsi a, provare a – wobei die beiden erstgenannten heute verschwunden sind23. Am Anfang standen die reflexive Form und die Präposition di – was auf der Grundlage der von Gamillscheg (1957: 372ff, 462ff, 470ff) für das Französische beobachteten Tendenzen auch zu erwarten war. Für die Interpretation dieser Entwicklung ist wohl anzusetzen bei Lesarten mit hoher Subjektzentrierung (reflexive oder intransitive Konstruktion; vgl. Battaglia, provare 23, 25, 26, 28). Allerdings ist in diesen Fällen der Subjektsreferent nicht als Patiens vorzustellen, sondern als agentiv. Benveniste (1966: 172) hat die von uns für die betreffende Lesart von provare vermutete Situation wie folgt beschrieben: „Le sujet est centre en même temps qu’acteur du procès.“ Von diesem Stadium der semantischen Zentriertheit auf das Subjekt geht dann eine neue Expansion in Richtung auf einen außerhalb des Subjekts liegenden Gegenstandsbereich aus, auf den zunächst das durch di eingeleitete präpositionale Syntagma referiert. Es handelt sich dabei um das von Gamillscheg (1957: 265, 373, 471) so genannte „Respektivobjekt“ (de ‚bezüglich‘), das allerdings nach den Kriterien der Valenztheorie den Charakter einer (valenzfreien) Angabe, und nicht den einer Ergänzung besitzt24. ‚kennenlernen’, ‚als Reaktion der Außenwelt, als Folge seines Tuns an sich erfahren’ (mit semantisch relevanter Vorgeschichte). 22 « Criblé de dettes, le pays enregistre une croissance nulle due à la baisse du prix de pétrole » (Le Monde 25.1.2000). 23 Provare di hat heute die Bedeutung ‚beweisen, dass‘ (vgl. WIV, provare 13.). 24 Ein anderer Typ von di vor dem Infinitiv dürfte vorliegen bei cercare di, da sich diese Konstruktion aus der transitiven Verwendung des Verbs entwickelt hat. Das Respektivobjekt der frühen romanischen Sprachen hatte als lateinisches 12 Gleiches gilt, wenn man Gamillschegs auch auf das Altitalienische übertragbaren Analysen folgt, für einige Verwendungen von altfranzösisch à. Wo diese Präposition einen Begleitumstand einführt (1957: 470) oder geradezu die Aufgabe hat, „Hauptverbum und Infinitiv gegenseitig zu isolieren“ (1957: 468), dürfte das eingeleitete Syntagma Angabe sein. Andererseits weist das Ergebnis von lat. AD aber auch auf die Zukunft hin (1957: 467) oder dient „der Bezeichnung der Stoßrichtung des Hauptverbums“ (1957: 472). In letzterem Fall ist es semantisch und syntaktisch eng mit dem Verb verbunden, was die Interpretation des entsprechenden Syntagmas als Ergänzung nahe legt. Im Französischen hat es seit dem Spätmittelalter im Zuge der Grammatikalisierung der präpositionalen Verbanschlüsse eine über mehrere Jahrhunderte dauernde, durch die Desemantisierung der Präpositionen geförderte Entwicklung von à zu de gegeben (1957: 672f). Für das Italienische, das diese Entwicklung in viel geringerem Maße durchgemacht hat, ist hinsichtlich der Konkurrenz von di und a die Geltung eines sprachgeschichtlich älteren Verteilungsprinzips anzunehmen: Die Wahrscheinlichkeit für die Verwendung von a nach provare wird in dem Maße größer, in dem der angeschlossene Infinitiv syntaktisch in die Verbvalenz integriert wird und semantisch beim präpositionalen Syntagma die unspezifische Bedeutung des Betreffs gegenüber der auf ein Ziel im Objektbereich ausgerichteten zurücktritt. Die semantische Entwicklung vom subjektzentrierten Ausgangspunkt zum mehr (aber nicht vollständig, s. u.) objektzentrierten Ergebnis lässt sich paraphrasieren durch die deutschen Entsprechungen ‚sich bewähren‘ (medial) bzw. ‚sich selber erproben‘ (echt reflexiv) ‚sich erproben in Bezug auf‘ ‚versuchen zu‘. 3.2.7 provare a vs tentare di Das letzte Äquivalent (versuchen zu) vermittelt allerdings insofern ein falsches Bild von der semantischen Struktur der Verwendung provare a, als es die Nuancen gegenüber tentare di ‚versuchen zu‘ verdeckt. Dabei gibt es charakteristische Unterschiede im semantisch-syntaktischen Verhalten beider Verben, die ihre Quelle in der ursprünglichen Subjektzentrierung der mittelalterlichen Vorgängerform von provare a haben dürfen. Möglich sind zwar: - provare a suicidarsi, - tentare di suicidarsi; - provare a salire il Cervino, - tentare di salire il Cervino. Aber bei tentare können die Infinitivkonstruktionen durch ein nominales Objekt ersetzt werden: - tentare il suicidio/l’ascensione del Cervino, während die entsprechende Umformung beim Synonym nicht möglich erscheint: - *provare il suicidio/l’ascensione del Cervino25. Der Grund für diese Asymmetrie dürfte darin liegen, dass die Infinitive das gleiche implizite Subjekt haben wie die regierenden Verben. Die Infinitive sind damit stärker auf das Subjekt ausgerichtet als die deverbalen Nomina suicidio und ascensione, die sich auf außerhalb des Subjekts stehende Vorbild den „Genitiv des Sachbetreffs“ (häufig auch mit DE umschrieben), den Hofmann/Szantyr (1972: 74) wie folgt beschreiben: „Dieser in freier Verbindung neben einem Verbum oder Adjektiv stehende Genitiv bezeichnet den Bereich, in den die Handlung fällt“. Hieraus hat sich ein „Genitiv causae bzw. finalis“ entwickelt. Vgl. Hofmann/Szantyr (1972: 81) zum „Genitiv der Zielstrebigkeit“, der wie der G. finalis auch in semantischer Hinsicht ein Modell für die altit. Konstruktion provarsi a darstellt. 25 Wo dieses Verb ein direktes Objekt regiert (provare una commedia ‚proben‘, provare una mela ‚probieren‘) liegt eine andere, stärker objektzentrierte Bedeutung vor, für die es unter den Lesarten von tentare keine Entsprechung gibt (*tentare una mela). In ihrer transitiven Bedeutung ‚auf die Probe stellen‘ waren beide Verben schon im frühen Italienisch anscheinend synonym; vgl. „Da che tu averai provato e tentato l’amico“ (OVI für das Jahr 1268). 13 Entitäten beziehen26. Dies führt beim subjektzentrierten provare zu Ungrammatikalität, nicht aber bei tentare, das anscheinend keine eindeutige Zentrierung besitzt. Die differenzierte Gestaltung des gleichen Wortfeldes findet sich im Französischen wieder: essayer ist relativ stärker subjektzentriert (?essayer l'ascension27), tenter objektzentriert. Die Parallele zwischen beiden romanischen Sprachen wird an zahlreichen weiteren Einzelheiten deutlich: - essayer besitzt wie provare und anders als tentare eine reflexive Variante; - essayer hatte intransitive Lesarten mit starker Subjektzentrierung (Robert historique: „faire l’essai de ses capacités“, vgl. die entsprechende Bedeutung von essai in Montaigne, Essais I, 26) ; - transitives essayer hat in seiner Geschichte eine Umkehr der Verbrichtung erlebt (‚erleiden‘, s. o.). Trotz der soeben herausgearbeiteten Unterschiede zwischen provare und tentare ist offensichtlich, dass beide Verben eine Nachgeschichte erwarten lassen, die über Erfolg oder Misserfolg des Versuches informiert. Das Resultat der Handlung ist also nicht in die Hauptgeschichte integriert. Die starke Ausrichtung des älteren provare + Inf auf die Nachgeschichte könnte in Zusammenhang mit einer oben festgestellten Auffälligkeit stehen, nämlich dem häufigen Auftreten von provare ‚versuchen‘ nach volere oder im Imperativ. Hier liegt nach unseren Feststellungen zur Häufigkeit des passato prossimo bei provare ‚wahrnehmen‘ ein weiterer Hinweis darauf vor, dass in älterer Sprache bestimmte Lesarten viel stärker als heute eine zeitlich-modale Dimension hatten und dass ihre Selektion durch morphosyntaktische Erscheinungen mitgesteuert werden konnte. Zu diesen gehört bei provare ‚versuchen‘, soweit das vorhandene Material in dieser Hinsicht für eine Schlussfolgerung ausreicht, im älteren Italienisch auch der Anschluss des Infinitivs28. Dagegen konnte intransitives provare ohne Infinitiv schon im 14. Jh. eine resultative Bedeutung (zu interpretieren als integrierte Nachgeschichte) haben, die Battaglia definiert als ‚riuscire in un’attività, in un’impresa, nella vita; ottenere un certo risultato‘ (unter provare 26). 3.2.8 Idiomatisches Die hier vorgeschlagene Analyse der Verbbedeutung soll nicht nur zur Erklärung der in der Sprachwirklichkeit festgestellten Kombinationsmöglichkeiten mit nominalen und infiniten Syntagmen beitragen, sondern auch Aufschluss über die Voraussetzungen idiomatischen oder auf bestimmte pragmatische Situationen festgelegten Sprachgebrauchs geben. Hierzu nur einige wenige Beispiele, die dem WIV (unter provare) entnommen sind: - Provaci! ‚Untersteh dich!‘; - Non provare a parlare in quel modo, nemmeno per scherzo. ‚Untersteh dich, .../Was fällt dir ein, ...‘; - Potrebbe comunque provare a scrivere alla Banca d’America e d’Italia di Milano. ‚Sie könnten ja vielleicht an die Banca d’America e d’Italia in Mailand schreiben‘/‚Schreiben Sie doch einmal...‘ (aus der Ratgeberecke der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore). Beginnen wir mit dem letzten Beispiel. Eine Übersetzung mit dem Verb versuchen zu, dessen Bedeutung Äquivalente der Bedeutungen von provare a und tentare di umfasst, wäre hier unpassend, weil sie die Aufmerksamkeit zu sehr auf die Schwierigkeit des Unternehmens lenken würde. Im Mittelpunkt der zitierten Empfehlung steht jedoch die angesprochene Person, der ein bestimmtes Verhalten empfohlen wird (Antwort auf Leserbrief-Frage: „Was soll ich tun?“). Dieser Situation 26 Die Blockade der Umwandlung in ein nominales Komplement wird nicht durch die Präposition a bestimmt, wie das folgende (banale) Beispiel beweist: imparare l’uso di uno strumento – imparare ad usare uno strumento. 27 Vgl. aber mit einer anderen Bedeutung essayer un vêtement (vs *tenter un vêtement). Chercher à, vom Petit Robert definiert als ‚essayer de parvenir à‘, ist offensichtlich noch stärker auf ein Resultat in der außersubjektiven Sphäre ausgerichtet als tenter de. Aus ontologischen Gründen sind beide Verben aber schlecht vergleichbar, da chercher à anders als tenter de auf abstrakte, oft kognitive Infinitivkomplemente festgelegt ist (chercher à comprendre); bei nominalem Komplement (in der Bedeutung ‚essayer d’obtenir’ laut Petit Robert ab 1538; vgl. chercher femme/querelle) liegt dagegen anscheinend keine ontologische Festlegung vor. Anders als bei essayer/tenter ist die Nachgeschichte dieser Lesarten von chercher auf eine Haben-Relation aus der Sicht des Subjekts eingegrenzt (z.B. ‚avoir une femme‘). 28 Vgl. dagegen im modernen Italienisch prova pure ‚versuch es doch mal!‘. 14 entspricht das potentiell subjektzentrierte Verb provare, das hier bereits in der Übergangszone zur Klasse der behavioural verbs (Halliday 1994:138f) steht. Eine zugleich stilistisch adäquate und semantisch genaue Übersetzung gibt es vermutlich im Deutschen nicht, da es in dieser Sprache schwer fällt, die dem italienischen Verb entsprechende Balance zwischen Subjekt- u. Objektzentrierung zu finden. Umgangssprachlich könnte es (mit semantisch nahezu objektlosem und deshalb stärker subjektzentriertem versuchen) heißen: „Versuchen Sie es doch einmal so: Schreiben Sie ...“. Bei den beiden zuvor genannten Beispielen (provaci, non provare a parlare...) käme eine Übersetzung mit ‚versuchen‘ noch weniger in Frage. Denn der Bedeutungsschwerpunkt liegt hier noch stärker im Bereich des Subjekts. In diesem mehr oder weniger phraseologischen Sprachgebrauch ist offensichtlich die sprachhistorisch in Richtung Objektbereich gehende Ausdehnung der Verbdynamik, die bei der völlig subjektzentrierten mittelalterlichen Verwendung von provare ansetzte (s. o. 3.2.6), weniger weit gelangt als bei den „freien“ Verwendungen von provare a. Sie ist in einem noch subjektnahen Bereich stehen geblieben, so dass die Bedeutung die eines behavioural verb, vielleicht sogar mental verb, ist. Semantisch liegen diese Verwendungen in der Nähe des heutigen provarsi a, das im modernen Italienisch näher an der Subjektsphäre zu stehen scheint als provare a und dementsprechend auch mit ‚osare‘ paraphrasiert wird29. 3.2.9 Fachsprachliche Verwendungen Zum Abschluss des Überblicks über Bedeutungsstrukturen von provare sei noch auf eine Erscheinung eingegangen, die gemeinhin als typisch für die moderne Sprache gilt – obwohl sie seit Jahrhunderten nachweisbar ist: Nominalisierungstendenzen im Objektbereich. Beispiel: Ames mise anni fa a punto un test utilissimo per provare in vitro l’azione mutagenetica delle sostanze chimiche. (‚nachweisen‘; WIV, provare 8., zitiert aus Il Sole 24 Ore) (12) Der propositionale Inhalt der Vorgeschichte, die Hypothese „le sostanze chimiche hanno una azione mutagenetica“, ergibt sich hier nicht aus einem Komplementsatz („che le sostanze...“), sondern aus der komplexen Nominalgruppe. Dieser Konstruktionstyp findet sich typischerweise bei der Ableitung comprovare, die zwar seit altitalienischer Zeit belegt ist (vgl. Battaglia), aber in LIZ erst im 16. Jh., insbesondere seit Guiccardini, mit größerer Frequenz auftritt. Die relativ hohe Frequenz von comprovare in modernen fachsprachlichen Texten30 dürfte verschiedene Gründe haben: Das Verb ist anders als provare nahezu monosem (‚beweisen‘, ‚nachweisen‘); es repräsentiert komplexe kognitive, für Natur- und Rechtswissenschaft charakteristische Vorgänge; c) es besitzt die Fähigkeit einer höchst ökonomischen Informationsverdichtung. a) b) Zu b): Die Bedeutungsangabe im LUI (unter comprovare) lautet: „Provare, dimostrare efficacemente; si dice di solito di argomenti che si aggiungono ad altri o di fatti che confermino quanto già asserito per vero“. Diese Definition lässt auf die Möglichkeit einer Vorgeschichte zweiten Grades schließen: Es wird mit weiteren Argumenten (evoziert durch das Präfix com-) erhärtet oder untermauert, was zuvor schon vermutet und bewiesen worden ist. Zu c): Im Korpus (vgl. Fußnote 26) regiert comprovare nur selten einen Komplementsatz oder eine Infinitivkonstruktion (di aver...). Meist tritt im Objektbereich eine Nominalgruppe auf, die als Kopf ein Verbalabstraktum besitzt, dem ein weiteres Verbalabstraktum folgt („Questo comproverebbe l’esistenza di un movimento clandestino“) und die insofern leicht in einen prädikativen Ausdruck zurückverwandelt werden kann („esiste un movimento clandestino“). Bisweilen fehlt aber ein solcher semantisch abstrakter Kopf und in Komplementposition findet sich die Bezeichnung eines Gegenstandes oder Ereignisses; Beispiel (vgl. provare in (12)): (13) 29 L’iscrizione all'albo nazionale dei collettori si comprova mediante certificato rilasciato a richiesta [...] Vgl. Vocabolario della lingua italiana unter provare 2.b. Comprovare nimmt in den Jahrgängen 1989 und 1990 von Il Sole 24 Ore unter den Verben den Frequenzrang 1084 ein. Dagegen findet sich das Verb nicht unter den 1729 Verben des VELI (1989), der eine erheblich breitere Materialbasis besitzt. 30 15 Als impliziter Kopf von iscrizione ist hier ein Nomen mitzudenken, dass die Tatsächlichkeit des Sachverhalts ausdrückt. In solchen Fällen geht die Informationsverdichtung noch über die üblicherweise durch Nominalisierung erzielte hinaus. Comprovare präsentiert sich also als zugleich kognitiv komplexes und – bei Einbeziehung seiner Ergänzungen – informativ kompaktes Verb. 4. Rückkehr zum Modell Wir haben bisher versucht, die in den maschinenlesbaren Korpora enthaltenen Belege für verschiedene valenzielle und semantische Gebrauchsmöglichkeiten von provare zu einer möglichst minutiösen Darstellung der allmählichen Polysemie-Entfaltung des Verbs zusammenzufügen. Wir sind dabei von Modellvorstellungen zur Struktur der Verbbedeutung ausgegangen, die auf der Grundlage des Beobachteten nun fortentwickelt, präzisiert und verallgemeinert werden sollen. 4.1 Mechanik und Zeit Einige Elemente unseres oben verwendeten Beschreibungsmodells gingen von räumlichen Vorstellungen aus: Wir haben mit räumlichen Metaphern von der Sphäre des Subjekts, der des Objekts und von Einwirkungsmöglichkeiten in beiden „Richtungen“ gesprochen. Bei einigen analysierten Lesarten hätte man, bei der räumlichen Vorstellung bleibend, auch von der Innenwelt des Subjekts und der ihr gegenüber stehenden Außenwelt des Objektbereichs reden können. Die Einwirkungen zwischen beiden Sphären, etwa die verändernde Einwirkung des Subjektreferenten auf den Objektreferenten, verlaufen in der Zeit, was ihnen in der üblichen intuitiven Vorstellung des Geschehens einen linearen Charakter verleiht. Die Analogie zu räumlichen Verhältnissen soll hier nicht im doktrinären Sinne mancher Formen des Lokalismus vertreten werden, sondern als Denkmodell, dessen Nützlichkeit je nach Verbgruppe und Lesart unterschiedlich ist (vgl. Helbig 1992: 60). Am überzeugendsten ist sie in Anwendung auf transitive „materielle“ Verben (im Sinne von Halliday 1994, s. o.). Diese beziehen sich auf eine Gegenstandswelt, in der die Grundbegriffe der klassischen Mechanik mit ihren Teilbereichen Dynamik und Statik gelten: Gegenstände, Bewegungen und die sie verursachenden Kräfte, Energie31, Impuls, Vektoren usw. Man denke an Verben wie schieben, ziehen, stoßen, zerstören usw. Im übrigen folgt die Lehre von der Verbbedeutung schon seit mehr als zwei Jahrzehnten Analogien zur Mechanik. So Hopper/Thompson (1980: 252), wenn sie zur punctuality, einem Parameter für „Transitivität“, argumentieren, eine zeitlich punktuell wirkende Kraft habe typischerweise eine stärkere Wirkung auf den Patiens als eine kontinuierlich wirkende32. Vor allem findet sich die Neigung zu Modellen der Mechanik in neueren Entwicklungen der kognitiven Semantik.33 Bei abstrakteren, z. B. mentalen Verben nimmt das „Einwirken“ von einem Bereich auf einen anderen eine metaphorische Bedeutung an, bleibt aber linguistisch überprüfbar.34 Die mechanischen Aspekte des Modells sind, wie schon gesagt, untrennbar mit den zeitlichen verbunden. Letztere betreffen Chronologie und Dauer des Verbgeschehens: auf der horizontalen Achse die handlungslogische Abgrenzung von Vor-, Haupt- und Nachgeschichte sowie auf der vertikalen Achse die Unterscheidung aktionsartlicher Kategorien, u. a. +/- Dauer und +/- Resultativität (Fortdauer des erreichten Zustandes in der Nachgeschichte). Einige Teile dieses zeitlichen Modells, z. B. die Aktionsarten, befinden sich bei Hopper/Thompson innerhalb eines überwiegend vom Denken der Mechanik bestimmten Entwurfes. 4.2 Aufmerksamkeit Beiden Komponenten, der mechanischen und der zeitlichen, ist das Element der „Erstreckung“ gemeinsam: Handlungen verlaufen, Zustände dauern in der Zeit an, auch Punktuelles lässt sich auf 31 Metaphorisch übertragbar auch auf intransitive Verben, deren Subjekt als Agens Energie in ein Geschehen investieren kann (Beispiel: losrasen), oder an dem sich als passiv bleibendem Mitspieler etwas vollzieht (z. B. brennen, zusammenbrechen, leiden, fallen). 32 Vgl. auch die Bezeichnung „kinesis“ für einen anderen hochrangigen Parameter (ebd.). 33 Vgl. Ungerer/Schmid 1996: 174ff, Talmy 2000: 407ff. 34 Anders als sehen impliziert beobachten eine Einwirkung auf den Objektbereich; deshalb Ich fühle mich beobachtet vs *Ich fühle mich gesehen (s.o. 2.3.1). 16 einer linearen Zeitachse verorten; Einwirkungen von Gegenständen aufeinander setzen ein räumliches Kontinuum zwischen ihnen voraus. Diese Erstreckung haben wir oben als die referenzielle Grundlage für die horizontale Dimension der Verbbedeutung bezeichnet. Auf dieser Ebene wird nun neben Raum und Zeit ein dritter Faktor der Semantik des Verbs relevant, die lexikalisch bedingte Hierarchisierung der Information durch Lenkung der Aufmerksamkeit („Zentrierung“). Intuitiv oft leicht nachvollziehbare Aussagen über Subjekt- oder Objektzentrierung35 der Verbinformation sind aus linguistischer Sicht nur dann von Belang, wenn objektive und möglichst formale Kriterien benannt werden können. In Zusammenfassung einer ausführlicheren Diskussion an anderem Ort (Blumenthal 2002) können hier die folgenden Kriterien für Zentrierung genannt werden: a) Richtung der Einwirkung (falls vorhanden): Der Aktant, auf den eingewirkt wird und der sich dadurch möglicherweise verändert, ist informationell zentraler. b) Inhalt der (realen oder virtuellen) Nachgeschichte: Der Aktant, an den die Nachgeschichte anknüpft, ist zentraler. c) Passivierbarkeit: Die Unmöglichkeit der Passivierung spricht gegen die zentrale Position des direkten Objekts. d) Die Unmöglichkeit einer transitiven Konstruktion mit direktem Objekt spricht für Subjektzentrierung. Aufgrund der genannten Kriterien ist das Verb beispielsweise in voltare la chiave ‚den Schlüssel umdrehen‘ objektzentriert, dagegen in voltare l’angolo della strada ‚um die Straßenecke biegen‘ subjektzentriert. Unsere Untersuchung zur Polysemieentfaltung von provare liefert für die Relevanz des informationellen Zentrums reichliches Anschauungsmaterial. Hier einige Beispiele: Intuitiv ist zu vermuten, dass die Lesart ‚auf die Probe stellen, prüfen‘ stärker auf die Sphäre des Komplementes zentriert ist als auf die des Subjekts. Folgende Argumente sprechen dafür: - Die Lesart bezeichnet eine Aktivität, die von der Sphäre des Subjektreferenten auf die des Objektreferenten zielt (Stoßrichtung des Verbs also in unserer Symbolisierung: ). - Die Lesart impliziert eine Nachgeschichte, in deren Mittelpunkt die Qualität des Objektreferenten steht. - Die Lesart wird nicht nur in den Texten des Korpus sehr häufig ohne Agensangabe passiviert, sondern die Form des Passivs findet sich als Nominalisierung auch zur Bezeichnung des auf das Objekt bezogenen Ergebnisses36. Die Argumentation zur Bedeutung ‚erleiden‘ verläuft umgekehrt: Die Richtung der Einwirkung geht vom Komplement in Richtung auf das Subjekt37; soweit eine Nachgeschichte evoziert wird, steht in deren Mittelpunkt nicht die Quelle des Unglücks, sondern der Zustand des Subjektreferenten; Fälle von Passivierung sind im zu dieser Frage genauer untersuchten mittelalterlichen Korpus nicht belegt. Die Zentrierung von provare a wurde oben bereits diskutiert. Zusammenfassend: In moderner Sprache geht die Handlung von Subjektreferenten aus (= ), worin grundsätzlich ein Faktor der Objektzentrierung liegt; andererseits weist der ungrammatische Charakter der entsprechenden Struktur N-V-N1 auf Spuren von Subjektzentrierung hin – eine Deutung, die durch die Sprachgeschichte38 leicht zu erklären ist. Fazit: Die Zentrierung dürfte im Grenzbereich von Subjekt und Komplement anzusiedeln sein. 35 In anderen valenztheoretischen Ansätzen zur gleichen Problematik steht die Frage im Vordergrund, auf welchen Aspekt der im Satz beschriebenen Situation in besonderem Maße die Aufmerksamkeit gerichtet wird (vgl. Storrer 1992: 310f). 36 Hier eine in den zeitgenössischen Texten aus OVI typische Verwendung (Andrea da Grosseto 1268): „[...] secondo che dice Marzial Cuoco ad un suo amico, c’avea nome Cre[si]ppo: innanzi che tu ami, Cre[si]ppo, pruova [den möglichen Freund]. E studiati d’amare ’l provato, e di retenello e tutto nel tuo senno; perciò che ’l Savio lungo tempo e spesse fiate pertratta, e pensa ch’è degno d’essere amato da lui, e così ama ’l provato.“ 37 S. o. 3.2.5 zu Battaglia, provare 14. 38 Herleitung aus objektloser Verwendung, s. o.; die im 16. Jh. so häufig Wendung far prova di ‚versuchen‘ veranschaulicht die Mittelstellung des ‚Versuchs‘ zwischen den beiden Sphären. 17 Dass die rein intransitiven mittelalterlichen Lesarten (z.B. ‚sich bewähren‘) ganz subjektzentriert sind, braucht kaum erwähnt zu werden, ebenso wenig wie die ausgeprägte Objektzentrierung des so häufig passivierten und in Bezug auf das Objekt resultative comprovare. 4.3 Schematisierungen Die folgenden schematischen Darstellungen zur Bedeutungsstruktur von provare sind weder diachron noch synchron. Sie beruhen auf der Zusammenschau verschiedener synchroner Schnitte seit dem 13.Jh. Die Grundlage für die Symbolisierung der horizontalen Bedeutungsdimension ist die Abfolge der „Geschichten“: I. VORGESCHICHTE HAUPTGESCHICHTE NACHGESCHICHTE Innerhalb der Hauptgeschichte sind u. a. Vektoren (Richtung und Stärke der Einwirkung), Aktionsarten und der Ort der Zentrierung (im Schema: Z) zwischen Subjekt und Komplement relevant. Symbolisierung: HAUPTGESCHICHTE II. Vektoren SUBJEKT Z { KOMPLEMENT Z Z Z VERB Auf der Grundlage der in den Schemata erfassten Faktoren lassen sich die Bedeutungsstrukturen einiger der vorgestellten Lesarten wie folgt beschreiben: 1. provare ‚erproben‘: Subjekt: Agens; Verbrichtung: ; Zentrierung im Objektbereich; Aktionsart durativ; Erwartung des Resultats in Nachgeschichte. 2. provare ‚beweisen‘: Subjekt: Agens; Verbrichtung: ; Zentrierung im Objektbereich; Aktionsart durativ-resultativ39; Resultat ist Teil der Hauptgeschichte; Relevanz der Vorgeschichte (= Formulierung des demonstrandum); Nachgeschichte: Annahme fortdauernder Gültigkeit des Bewiesenen. 3. provare ‚wahrnehmen‘ (s. o. altit. Beispiele (6-9)) Subjekt: Experiencer; Verbrichtung: nicht eindeutig, kontextabhängig; Zentrierung im mittleren Bereich; Aktionsart durativ-resultativ; Resultat ist Teil der Hauptgeschichte; Nachgeschichte: Informiertsein des Subjektreferenten. 4. provare ‚erleiden‘ (im Sinne von Battaglia, provare 14.: ‚subire l’azione di agenti esterni‘): Subjekt: Patiens;Verbrichtung ; Zentrierung im Subjektbereich; Aktionsart durativ; Vor- und Nachgeschichte nicht relevant. 5. provare (altit., mit reflexiver Variante) ‚sich bemühen/bewähren‘ u. ä. (vgl. Battaglia, provare 23., 25.f, 28.): Subjekt: Agens; Verbrichtung: nicht vorhanden, da Verb objektlos; Zentrierung (banalerweise) im Subjektbereich; Aktionsart je nach Lesart durativ oder durativ-resultativ; in letzterem Fall Nachgeschichte: fortdauernde Gültigkeit der Bewährung. 6. provarsi a Inf: Subjekt: Agens; Verbrichtung im modernen Italienisch ; Zentrierung im Grenzbereich Subjekt/Objekt; Aktionsart durativ; Erwartung des Resultats in Nachgeschichte. 39 Vgl. Bertinetto 1991: 32. 18 Hinsichtlich der Beschreibung der Diachronie könnte jedes der genannten Elemente der Verbbedeutung als Parameter herangezogen werden. Als besonders aufschlussreich erweist sich die Bewegung der Zentrierung. Dieser Wert hat einen teilweise synthetischen Charakter, weil er von mehreren anderen mitbeeinflusst wird. Wenn man – in zweifellos zu schematischer Weise – von den im Lateinischen und frühen Altitalienischen vorherrschenden Lesarten ‚prüfen‘ und ‚beweisen‘ ausgeht und, wie hier ausführlich beschrieben, eine Entwicklung einerseits über ‚wahrnehmen‘, zu ‚erleiden‘ annimmt, andererseits vom gleichen Ausgangspunkt zu intransitivem ‚sich bewähren‘40 und schließlich zu ‚sich bemühen‘, ‚versuchen‘ (mit di/a Inf), so entspricht die Entstehung neuer oder häufiger werdender Lesarten einem Dreiviertelkreis: von anfänglicher Objektzentrierung zu immer stärkerer Subjektzentrierung und bei einer Art Rückwanderung im Grenzbereich zwischen Subjekt und Komplement endend. Die folgende graphische Darstellung geht stark schematisierend vor und verzichtet auf feinere Abstufungen zwischen den Positionen von 4. gegenüber 5. und von 3. gegenüber 6.: III. HAUPTGESCHICHTE 4. 3. SUBJEKT 1./2. 5. KOMPLEMENT 6. Zentrierung von 6 Lesarten (Pfeile: vermutete semantische Affiliation) Dass sich diese Entwicklung aus einer anderen Perspektive auch als eine Anzahl von Verschiebungen im Bereich der Makrorollen (actor, undergoer) beschreiben lässt, wurde in 2.3.3 bereits angedeutet. Wir hatten oben auf die Nähe zwischen der Bedeutungsstruktur einer Lesart von provare und der mittelalterlichen Konzeption des Beweises hingewiesen. An dieser Stelle wird erneut eine Affinität zwischen Wortbedeutung und kulturellen Gegebenheiten deutlich. Innerhalb von Piolettis (1998: 706) literaturwissenschaftlicher Typologie der „prove“ (Erzählsequenzen zu den Proben, die der Held zu bestehen hat) in der mittelalterlichen italienischen Literatur entspricht der erste Typ (Held = „soggetto attivo dell’azione“) den Lesarten 5. und/oder 6. des Schemas, der zweite Typ („fattori esterni che sottopongono a prova il personaggio“; Held = „oggetto dell'azione“) dagegen der 4. Lesart41. 4.4 Zur Interdependenz der beiden Achsen Auf der horizontalen Ebene haben wir einerseits für die jeweilige Lesart relevante Positionen der Zentrierung, andererseits Vektoren markiert. In einem größeren Zusammenhang könnte leicht gezeigt werden, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der horizontalen Ebene und der vertikalen Ebene besteht, auf der sich außer den Aktionsarten die semantische Klassenzugehörigkeit des Verbs und seiner Mitspieler entscheidet. So entspricht der horizontalen Verschiebung der Zentrierung von 1. zu 3. dem vertikalen Übergang von einem „materiellen“ Verb zu einem Wahrnehmungsverb. Der Unterschied zwischen 1. und 2. liegt, horizontal betrachtet, nicht in der Zentrierung, sondern u. a. in der unterschiedlichen Relevanz der Vorgeschichte; dem entspricht wiederum ein vertikaler Unterschied bei den Verbklassen: 2. (‚beweisen‘) ist ein kognitives Verb. Das Prinzip der Interdependenz beider Ebenen gilt auch für die Ontologie der Verbaktanten. Beispielsweise hat Lesart 1. als Objektergänzung häufig einen (+/-belebten) Gegenstand, Lesart 2. dagegen einen Sachverhalt (meist als Komplementsatz). 5. Zusammenfassung 40 Auf das Nebeneinander in intransitiver und reflexiver Form gehe ich hier nicht mehr ein. Zu Affinitäten zwischen mittelalterlichen Beweismodellen und der deutschen Literatur des Hochmittelalters vgl. Christian Hasenfelder: „Edle Körper, Kleider und Gebärden: Poetik der Sichtbarkeit in höfischen Epen. Die Augenzeugen des Mittelalters“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.2000, S. N 5. 41 19 Diese letzten Überlegungen leiten über zu einer kurzen Zusammenfassung. Es sollte an einem Beispiel gezeigt werden, dass die Gesamtheit der Lesarten eines Verbs, also sein „semantisches Potential“, weitgehend aus seiner Fähigkeit entstehen, auf der horizontalen Achse unterschiedliche Abschnitte in unterschiedlichen Kombinationen zu aktivieren. Für das Verständnis dieser Ebene wurde ein spezielleres Modell vorgeschlagen, das sich einerseits an Grundbegriffen der Mechanik, andererseits an zeitlichen Verhältnissen orientiert. Hinzu kommt als rein sprachliche Komponente die Zentrierung des Verbs auf Subjekt oder Objekt. An das Gesamtmodell der Verbbedeutung werden verschiedene Erwartungen geknüpft42. Das Modell soll: - Kriterien für die Unterscheidung von Lesarten und die Abgrenzung von Synonymen bieten; - die semantischen Gründe für die Herausbildung von Valenzbeziehungen, idiomatischen - Wortkombinationen und Kollokationen erkennen lassen; - die Beschreibung der historischen Entfaltung von Verbbedeutungen, auch in Zusammenhang mit den für eine Epoche kennzeichnenden Konzepten (vgl. 3.2.1 zu ‚Beweis‘), erleichtern; - den Blick für kognitiv Bedeutungswandel schärfen; - als Vergleichsgrundlage die kontrastive Betrachtung von bedeutungsähnlichen Verben verschiedener Sprachen ermöglichen. bedingte und übereinzelsprachliche Regelmäßigkeiten im Bibliographie Ballmer, Thomas/Brennenstuhl, Waltraud: Deutsche Verben: eine sprachanalytische Untersuchung des deutschen Verbwortschatzes, Tübingen: Narr 1986. Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana, Turin: UTET 1961ff. Beaumanoir, Philippe de: Coutumes de Beauvaisis, Tome premier, Paris: Picard 1970. 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