Interview_Chevrier

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Gespräch mit Jean-François Chevrier
Martine Dancer und Dirk Snauwaert im November 2004
Dirk Snauwaert
Welches Ziel verfolgten Sie bei Ihrer Arbeit für den FRAC (Fonds régional d’art
contemporain, Regionalfonds für zeitgenössische Kunst)?
Jean-François Chevrier
Christian Bernard bat mich 1985, eine Sammlung von Fotografien für den FRAC
Rhône-Alpes zusammenzustellen.
DS
Sollten Sie eine historische Sammlung zusammenstellen oder...?
JFC
Ich sollte eine Sammlung zeitgenössischer Werke schaffen, das heißt, von lebenden
Künstlern, aber ich regte an, zehn Prozent des Budgets für den Ankauf älterer Werke
zu verwenden. Mir schien, dass die Geschichte der Fotografie noch viel zu
unbekannt war, um sich ganz der Gegenwart zuzuwenden. Die ersten Käufe tätigte
ich Anfang 1986. Ich hatte Zeit, da ich die Veröffentlichung der Zeitschrift
„Photographies“1 hatte aufgeben müssen. Ich wurde noch durch das Ministerium für
Kultur bezahlt, aber ohne bestimmten Aufgabenbereich. Bis zum Frühjahr 1988
arbeitete ich an der Zusammenstellung der Fotografiesammlung des FRAC, ohne
mich damit ausschließlich zu befassen. Ich möchte an dieser Stelle unbedingt
Jacqueline Rozier dankbar erwähnen, die mir bei dieser Arbeit mit bemerkenswerter
Einsatzfreude und Zuverlässigkeit zur Seite stand.
DS
Sie haben eine Sammlung für einen FRAC zusammengestellt, sie aber dann gleich in
ein Museum einfügen lassen: in das Musée d’art moderne in Saint-Étienne.
JFC
Ja, das war mir wichtig. Wenn ich in dieser Sache nicht die Zustimmung des
Museumsdirektors gefunden hätte, würde ich, so meine ich, die Sammlung nicht in
Angriff genommen haben. Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich die
französischen Museen – und daran hat sich kaum etwas geändert – nur sehr wenig
„Photographies“, eine Zeitschrift, die vom Ministerium für Kultur finanziert wurde, unter Leitung von JeanFrançois Chevrier stand und zwischen 1983 und 1985 in acht Bänden und vier Supplementbänden oder
Sonderausgaben erschien.
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für die Fotografie interessierten. Selbst Sammlungen moderner Kunst waren selten.
Von Paris abgesehen, war das Museum von Saint-Étienne eine der wenigen
Einrichtungen dieser Art. Außerdem war ich nur wenig überzeugt von der
administrativen Effizienz des FRAC Rhône-Alpes. Die Sammlung sollte den
Ausgangspunkt für das Engagement eines Museums, im vorliegenden Fall des
Musée d’art moderne in Saint-Étienne, im Bereich der Fotografie bilden. Ich verfügte
über eine Million Francs, Auslagen inbegriffen, für Ankäufe innerhalb von drei Jahren.
Wie bereits erwähnt, wurden zehn Prozent dieses Betrages für den Kauf von Werken
verstorbener Künstler verwendet, was eine leichte Verletzung der Richtlinien des
Regionalfonds für zeitgenössische Kunst darstellte. Zehn Prozent sind sehr wenig,
aber damals konnte man noch gute Ankäufe mit hunderttausend Francs tätigen. Ich
habe mir demnach einige Käufe von Werken des 19. Jahrhunderts und der
Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts genehmigt. Das Musée d’art moderne sollte
zusätzliche Käufe tätigen. Tatsächlich konnten einige Stücke, besonders nach der
Eröffnungsausstellung des Museums, erworben werden.
Martine Dancer
Aus dem Schriftverkehr geht hervor, dass viele Käufe rasch erfolgen mussten, weil
sich günstige Gelegenheiten boten, die nicht so bald wiederkehren könnten.
JFC
Ja, das stimmt. Einer der Grundsätze, die ich festgelegt hatte, bestand darin, die
Sammlung an einem Thema auszurichten. Ich entschied mich für das Thema des
Körpers. Vielleicht sollte ich mich dazu noch genauer erklären. Erste Bemerkung: Die
Geschichte der Autorenfotografie oder der künstlerischen Fotografie hat sich in der
Tradition der bildenden Künste vollzogen, indem sie die traditionellen Gattungen der
Landschaftsdarstellung, des Porträts, des Stilllebens usw. übernahm. Es war schon
immer meine Auffassung, dass die Fotografie als künstlerisches Medium zwischen
den bildenden Künsten und den Medien angesiedelt war. Ich betone: zwischen den
bildenden Künsten und den Medien, nicht etwa zwischen der Kunst und den Medien,
wie ich immer wieder lese. Es erschien mir notwendig, sich diese Sachlage vor
Augen zu führen, ohne deswegen ein Genre im strengen Wortsinn als Thema zu
wählen.
Ich zog es vor, mich für eine polyvalente, intermediäre und vieldeutige Kategorie zu
entscheiden. Der Körper steht zwischen dem Porträt und der Momentaufnahme oder
dem Straßenbild, denn in der Momentaufnahme oder dem Straßenbild sind immer
Körper in Bewegung, die im Bild festgehalten oder erfasst werden. Der Körper war
somit eine intermediäre Kategorie zwischen den Gattungen, mit der man die
Umorientierung zeigen konnte, welche die Fotografie in der Klassifizierung, wie sie
durch die bildenden Künste vorgegeben war, bewirkt hat.
Andererseits war der Körper, so wie ich ihn verstand, der figürliche ebenso wie der
dargestellte Körper. Man denke nur daran, dass der Körper im Mittelpunkt der
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akademischen Tradition stand, denn eine Akademiestudie ist ein Akt, eine
Körperstudie. Wenn man den Körper als Thema wählte, dann bedeutete dies, dass
man mit dieser Vorstellung von der Akademie die Fotografie mit der Tradition der
bildenden Künste in Verbindung brachte.
Von daher ergab sich die Notwendigkeit, einige Bilder aus dem 19. Jahrhundert mit
akademischen Modellen sowie Reproduktionen von Skulpturen zu haben.
Was ich den figürlichen Körper nenne, geht, genau genommen, über die Darstellung
und die Studie hinaus. Die „Figur“ ist nicht auf eine Kategorie der Darstellungs- und
Nachahmungskünste beschränkt. Es ist ein überaus inhaltsreicher Begriff, der an die
Literatur, besonders die Rhetorik, denken lässt: so spricht man etwa von „Stilfiguren“.
Es ist ein Begriff, der den Inhalt von mentalen Bildern, Phantasmen und
Traumvisionen bezeichnen kann. Man spricht beim Traum von Figuren und nicht von
Darstellungen.
Ich habe mich aber noch aus einem dritten, eher persönlichen Grund, für den Körper
entschieden: Ich hatte viel über das Land und die Landschaft in der Fotografie
gearbeitet (und tue dies noch); es drängte mich danach, mich woanders
umzuschauen. Der Körper war so ein wenig die andere Richtung.
Der vierte und keineswegs geringste Grund war: Ich wollte auch zeigen, dass die
Fotografie mit dem Körper gemacht wird, dass man Fotografien nicht nur mit dem
Auge macht, dass Fotografie nicht eine rein optische Leistung ist; dass sie nicht
entmaterialisierte Bilder erzeugt, sondern dass es eine fotografische Materie gibt,
und der Fotograf erst dann zu ihr vorstößt, wenn er seinen Körper beteiligt. Mir
schwebte der Satz von Merleau-Ponty aus Paul Valérys „L‘Œil et l’Esprit“ vor: „Der
Maler beteiligt sich mit seinem Körper.“2 Mir lag daran zu zeigen, dass es sich mit
dem Fotografen genauso verhält, selbst wenn man bei der Fotografie nicht dem
gestischen Aspekt der Malerei, dem Pinselstrich usw. begegnet. Ich wollte die
materielle Dimension des Bildes als Studie hervorheben. Denn die Fotografie ist eine
Studie der Welt und unseres Daseins in der Welt. Sie ist Kunst in der Welt, worldly,
wie die Amerikaner sagen. Mit der Betonung der Idee des Körpers wies man
schließlich auch auf das realistische Wesen der Aufnahme hin. Ich sage bewusst
realistisch, nicht naturalistisch. Für mich bedeutete Realismus zunächst und vor
allem die Erkenntnis, dass Kunst in der Welt entsteht. Der Realismus ist ein
Antiidealismus: Es geht ihm nicht darum, Ideen auszudrücken oder darzustellen,
sondern eine Erfahrung von Welt in ein Bild zu transkribieren, das selbst Teil der
Welt ist.
DS
Damit verbindet man die Entstehung der Fotografie auch wieder mit dem historischen
Realismus.
2
Maurice Merleau-Ponty: L’Œil et l’Esprit. Paris 1985, S. 16.
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JFC
Ja, das trifft zu. Die Kunst der Fotografie entwickelt sich zeitgleich mit der Entstehung
des Realismus, vor allem in Frankreich. Im Hinblick auf die Fotografie kann man nicht
an Realismus denken, ohne auf den Beginn der 1850er Jahre und den Skandal
einzugehen, den die Malerei von Courbet auslöste. Die Zeitschrift „Photographies“
hatte mehrere Aufsätze und Dossiers dieser Frage gewidmet.
Ich hatte noch einen fünften Grund, mich für den Körper zu entscheiden. Schon 1984
hatte ich die ersten Selbstporträts von John Coplans gesehen, mit denen ich mich
1985 in einem Aufsatz in der Nummer 8 der Zeitschrift „Photographies“ befasste.
John Coplans starb im August 2003, und ich nutze die Gelegenheit dieses
Gesprächs, um noch einmal seiner zu gedenken. Wir standen uns sehr nahe. Er war
einer meiner besten Freunde, und ich verdanke ihm viel. Wahrscheinlich war diese
Freundschaft ausschlaggebend bei der Wahl des Themas der Sammlung.
Ich weise darauf hin, dass man damals andere fotografische Arbeiten beobachten
konnte, bei denen der Körper präsent war, und zwar der Körper in der ersten Person,
so als trete der, der hinter dem Objektiv steht, vor das Objektiv.
DS
Das betraf die Performance... neben der konzeptuellen Fotografie.
JFC
Ja. Aber als ich dieses Thema vorschlug, war es nicht in Mode. Die Mode folgte
später. Außerdem standen die Mitglieder des FRAC-Ausschusses dem eher
ablehnend gegenüber. Sie begriffen nicht, dass ich mein Vorhaben auf ein Thema
begrenzte. Die Zeit war noch nicht reif dafür. Im Rahmen des vorgegebenen Themas
habe ich dann einige Leitlinien entworfen, um die Auswahlkriterien näher zu
bestimmen. Die erste bestand darin, keine Werke zu kaufen, welche die Mitglieder
der Kommission hätten interessieren können.
MD
Das heißt: keine Werke zu kaufen, die auch anderweitig hätten gekauft werden
können?
JFC
Genau. Das heißt, dass ich es mir beispielsweise versagte, Cindy Sherman oder
Patrick Tosani anzukaufen, selbst wenn mich diese Künstler interessierten. Ich
könnte noch weitere Beispiele nennen. Bevor ich mich jeweils entschied, hatte ich
natürlich geprüft, was bereits zur Sammlung gehörte, und ich habe stets die Käufe im
Auge behalten, die nach meinen Vorstellungen getätigt wurden. Dinge wurden
gekauft, die mir nicht gefielen, andere aber gefielen mir, und ich hätte mich ebenso
für sie entscheiden können. Ich versagte es mir einfach, erneut auf die einmal
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getroffenen oder möglichen Entscheidungen des FRAC-Ausschusses für Ankäufe
zurückzukommen.
MD
Jeff Wall zum Beispiel.
JFC
Zum Beispiel. Heute bedaure ich es, keinen Jeff Wall gekauft zu haben, weil dieser
von der Kommission nicht in Betracht gezogen wurde. Ich muss allerdings
hinzufügen, dass die Stücke, die ich mir nicht zu kaufen erlaubte, oft ziemlich teuer
waren. Ich wollte mein begrenztes Budget lieber für Werke verwenden, die vielleicht
nicht die Wertschätzung der Kommission finden könnten.
MD
Im Grunde versuchten Sie also, das Erbe zu retten.
JFC
Nein. Mir war vor allem klar, dass die Kommission zu der Zeit kein Interesse an John
Coplans, Thomas Struth, Patrick Faigenbaum, Craigie Horsfield, Suzanne Lafont,
Robert Adams haben konnte... – um nur einmal einige Künstler zu nennen, die
inzwischen anerkannt sind, damals aber nicht zur Kenntnis genommen wurden. Aber
natürlich habe ich auch Dinge gekauft, die sich nicht durchgesetzt haben und dies
auch nicht unbedingt verdienten.
In den Jahren zwischen 1985 und 1988 konnte ein FRAC-Ausschuss die Arbeiten
von Coplans, Lafont oder selbst von Struth nicht verstehen: Sie waren zu
„fotografisch“.
Man bevorzugte noch systematisch die Künstler, die sich „der Fotografie bedienten“.
So sonderbar das heute erscheinen mag, aber die Aufteilung in Fotografen und
Künstler, die sich der Fotografie bedienten, war noch sehr ausgeprägt. Natürlich
lehnte ich diese Trennung ab. Ich schrieb historisch und theoretisch orientierte
Aufsätze, um sie aufzuheben, das heißt, ich stellte sie in ihren historischen Kontext
und versuchte, sie zu überwinden, besonders im Hinblick auf zwei Ausstellungen, für
die ich als Mitbeauftragter im Jahre 1989 unmittelbar nach meiner Zusammenarbeit
mit dem FRAC tätig war: „Eine andere Objektivität“ (Paris-Prato) und „Photo-Kunst“
(Stuttgart-Nantes).3
Schließlich möchte ich sagen, dass mir daran lag, im weitesten Sinn den Auftrag des
Regionalfonds für zeitgenössische Kunst zu respektieren, auf dem die Schaffung der
Sammlung basierte. Ich musste also das Risiko eingehen, Werke von noch wenig, ja
vollkommen unbekannten Künstlern zu kaufen.
„Une autre objectivité – Another Objectivity”, in Zusammenarbeit mit James Lingwood, Paris (Centre National
des Arts Plastiques) und Prato (Museo Pecci ) 1989; „Photo-Kunst“, in Zusammenarbeit mit Ulrike Gauss,
Stuttgart (Staatsgalerie) 1989.
3
5
DS
Ich würde gerne auf Ihre Präferenzen bezüglich der Schlüsselfiguren eingehen, auf
das Hin und Her, oder sagen wir, auf die Dialektik zwischen der Geschichte und dem
Zeitgenössischen – letzteres ist ja in der Sammlung mit großen Ensembles vertreten
–, danach auf den Akademismus, die Neuentdeckung von Kategorien durch die
Avantgarde inmitten einer umfangreichen, allerdings ein wenig „undifferenzierten“
Produktion.
JFC
Ende der 1970er Jahre begann ich mich mit der Fotografie aus zwei wesentlichen
Gründen zu beschäftigen. Der erste Grund war meine Ausbildung als Kunsthistoriker.
Es wurde mir bewusst, dass die Kunstgeschichte, besonders die des 19.
Jahrhunderts, die Fotografie nicht kannte. Außerdem hatte ich die Sichtweise eines
Liebhabers zeitgenössischer Kunst, und auch von daher war ich unzufrieden. Ich
habe immer versucht, die beiden Annäherungsweisen miteinander zu verbinden,
denn im Grunde haben sie ein und dasselbe Ziel: die Kunst als solche, ihre Definition
und ihre Anwendungsbereiche. Deswegen versuche ich auf Ihre Frage zu antworten,
indem ich etwas weiter zurückgehe.
Ich kannte zum Beispiel die Situation der Kunst in Deutschland oder in Belgien nicht
besonders gut, Länder also, in denen ich das, was mich wirklich interessierte, hätte
finden können und dann auch gefunden habe. In Lyon geboren, also sicherlich ein
Provinzler, war ich allzu sehr fasziniert von der Pariser Szene und der Geschichte
der modernen Kunst, wie sie sich in Frankreich, und besonders in Paris, entwickelt
hatte. Man darf nicht vergessen, dass damals die französischen Museen fast nichts
von der zeitgenössischen Kunst zeigten, was mich interessiert hätte. Die Fotografie
war so etwas wie ein Schlupfloch, durch das sich ein außergewöhnlicher Zugang zur
Welt öffnete. So einfach lässt sich das ausdrücken.
Hinzu kommt, dass ich eine literaturwissenschaftliche Ausbildung hatte und die
Fotografie für mich eine Form visueller, der Literatur nahe stehender Kunst war. Für
mich war immer ganz klar, dass eine gute Fotografie einem Gedicht gleichkommt. Im
Werk Walker Evans, der vielleicht der historische Fotograf ist, den ich am meisten
angesehen habe, lässt sich trefflich die enge Verbindung zwischen der Fotografie
und dem Prosa-Gedicht nachweisen. Aber sogar die illustrierende Fotografie
interessierte mich, eben wegen ihres Verhältnisses zur Literatur. Hinter den Bildern
steht vielleicht immer ein Bericht, der es erlaubt, eine biographische Kontinuität bei
aller Diskontinuität der gesehenen und gespeicherten Dinge zu erkennen. Ich habe
auch viel Raoul Hausmann angesehen, und es scheint mir, dass man bei ihm die
Fotografie nicht von der literarischen Praxis trennen kann. Das Gleiche gilt für
Broodthaers und viele andere. Broodthaers war sogar Journalist und Fotograf in
einem, ehe er Bildhauer wurde.
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Was Frankreich anbelangt, gibt es Anfang der 1980er Jahre die Autorenreportage,
wie sie ein François Hers macht, es gibt die Agentur Viva, die Alternative zu
Magnum. Andererseits gibt es die so genannte „kreative“ Fotografie – eine Art
Kunsthandwerk –, die die Fotografie in die Nähe des Kupferstichs rückt. Eine
wirkliche Alternative gibt es also nicht.
Ich erinnere mich, wie Anfang der 1980er Jahre John Szarkowski, der Direktor der
Abteilung für Fotografie des Museums of Modern Art in New York, nur Verachtung für
die französische zeitgenössische Fotografie übrig hatte. Er war davon überzeugt,
dass alles in den Vereinigten Staaten stattfand. Vielleicht hatte er nicht ganz Unrecht,
aber ich möchte doch in aller Deutlichkeit sagen, dass das, was er vertrat, mich
keineswegs überzeugte. In Frankreich stellte sich die Alternative einfach dar: Es gab
die Autorenreportage und die kreative Fotografie. Ich verschlang das alles und
versuchte, mich damit auseinanderzusetzen. Was ich aber suchte, war eine
Alternative. In New York habe ich sie jedenfalls nicht gefunden. Winogrand war tot,
Friedlander verlor immer mehr an Interesse. Szarkowski nahm die NeopopFotografie oder die neo-konzeptuelle Fotografie mit semiologischer Ausrichtung zu
Beginn der 1980er Jahre im Grunde überhaupt nicht zur Kenntnis. Aber er hatte ihr
auch nichts entgegenzusetzen, was von Interesse gewesen wäre. Seine Einstellung
hatte sich seit der Ausstellung „New Documents“ 1967 (Arbus, Winogrand,
Friedlander) praktisch nicht von der Stelle bewegt. Es gab am Ende zwei Debatten
vor Ort, eine französische und eine amerikanische, mit denen ich mich aber nicht
identifizieren konnte.
MD
Und die Situation in Deutschland?
JFC
Ja, es gab Deutschland. Ich habe mich ernsthaft damit auseinandergesetzt. Ein
Beweis dafür ist der ausführliche Aufsatz, den ich für die Eröffnungsausstellung des
Museums in Saint-Étienne verfasste. Auch da gab es eine Auseinandersetzung, die
sich einerseits zwischen der Tradition der Subjektiven Fotografie, wie sie von Otto
Steinert in der Nachkriegszeit kreiert worden war, und der Alternative, für die die
Bechers standen, bewegte. Sie war klar, nachvollziehbar, hochinteressant. Sie macht
es möglich, bis zur Generation der 1920-1930er Jahre zurückzugehen, sich erneut
mit August Sander, Raoul Hausmann usw. zu befassen.
Das Problem ist nur, dass die Bechers im Gegensatz zu dem, was man behauptet,
nicht wirklich einen neuen Weg gegangen sind. Ihr Werk ist außergewöhnlich, es
sind vorbildliche, sehr humane Künstler, aber mir scheint, dass ihre Schule
überbewertet wird. Ich habe mich sehr mit dem Werk von Thomas Struth
auseinandergesetzt, der in „Une autre objectivité“ vertreten war. „Unconscious
Places“ ist ein großes Buch. Aber der deskriptive Standpunkt der Becher-Schule sagt
mir nicht zu. In der Formulierung „eine andere Objektivität“ ist das Wort „andere“
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wichtig. Die Subjektive Fotografie, die die Bechers ablehnten, taugte nicht als
Ausgangspunkt für ein Umdenken hinsichtlich der Fotografie Anfang der 1980er
Jahre. Objektivität und Geschichte mussten neu überdacht werden. Allerdings sollte
man Objektivität und systematische Beschreibung nicht verwechseln. Die „andere“
Objektivität, die mir wichtig ist, bezieht die Subjektivität, das Unbewusste, die
Vieldeutigkeit mit ein.
Als ich in den 1980er Jahren die europäische Fotografie zu Beginn der 1950er Jahre
betrachtete, fielen mir die beiden Namen Wols und Raymond Hains auf.
Als ich die Sammlung für den FRAC zusammenstellte, suchte ich nach einem Weg
zwischen all diesen unechten Alternativen: Autorenreportage / kreative Fotografie,
straight photography / Neopop-Semiologie, Subjektive Fotografie / deskriptive
Fotografie. Auf jeden Fall wollte ich das vermeiden, was damals in meiner Sicht auf
einen Neopiktoralismus hinauslief. Man darf nicht vergessen, dass wir in einer Zeit
lebten, in der das „neo“ herrschte.
Mir schwebte eine Fotografie vor, die sich der Welt, dem Zeitgeschehen, der
Gegenwart stellte, aber mehr in psychischer denn in psychologischer Sicht.
Deswegen hatte ich das Thema des Körpers gewählt, des wieder entdeckten
Körpers, der Fotografie mit dem Körper.
DS
Auffallend an der in Frankreich geschaffenen Sammlung scheint mir indessen, dass
der poetische Realismus – wenn diese Bezeichnung zutrifft –, zum Beispiel eines
Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau usw., überhaupt nicht vorkommt.
JFC
Das war Absicht. Das geschah ganz bewusst. Zunächst einmal, weil ich damals
gegen Cartier-Bresson arbeitete. Um damals den Diskurs über die Fotografie in
Frankreich zu beleben, musste man sich unbedingt von der Autorität CartierBressons frei machen. Über Doisneau hatte ich zum Teil bereits in diesem Sinne
geschrieben. Was den poetischen Realismus betrifft, war er eine Art nationaler
Mythologie, auf die ich mich nicht einlassen wollte. Es galt und gilt immer noch,
zunächst die Geschichte aufzuarbeiten. Aber diese Aufarbeitung konnte nicht im
Rahmen der Sammlung eines FRAC geleistet werden.
DS
Sie haben einmal auf einen Unterschied zwischen dem bürgerlichen Lyon, dessen
Blick für die Realität der Gesellschaft oder des Alltags weniger geschärft ist, und
Saint-Etienne, der Arbeiter- und Industriestadt, hingewiesen, in der die Fotografie
besser platziert wäre.
Aber Lyon ist doch die Wiege des Films, der das Phantastisch-Wirkliche einzufangen
vermag.
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„Eine andere Objektivität“ war wirklich so etwas wie ein Stützpfeiler im Morast.
An ihm führte kein Weg vorbei: Er rief Positionen des Für und Wider, Spaltungen und
heftige Diskussionen hervor. Sie haben die Dinge strenger auf den Begriff gebracht,
ihnen eine neue Richtung hin zu einer rein an der Fotografie orientierten Position
gegeben.
Und dann gibt es in der Auseinandersetzung um die Neo-Konzeptuellen nicht nur die
Gruppe um die Zeitschrift „October“, sondern auch die Künstler, welche sich der
Massenmedien bedienen. Die Fotografie ist die Brücke, der Weg zu den
Medientheorien. Von dort gelangt man schließlich zum Film und möglicherweise zu
anderen Massenmedien, zum Fernsehen usw. Noch etwas: In der Sammlung ist
auch das Diapositiv nicht vertreten.
JFC
Nein. Ich hielt viel vom Papier, und das ist so geblieben; denn für mich steht die
Fotografie der Zeichnung nahe, die meine erste künstlerische Leidenschaft war, wie
dies, glaube ich, an der jüngsten Ausstellung in Barcelona4 deutlich wird.
DS
Aber es gibt auch noch den Film.
JFC
Ich komme gleich darauf. Jedenfalls galt meine Vorliebe dem Papier. In der
Geschichte der Fotografie spielt natürlich die Projektion eine große Rolle, und das
führte zum Film. In der neueren Fotografie sind das Diapositiv und die Projektion eine
Mischung von Fotografie und Film. Ich habe die ersten Projektionen von Nan Goldin
in New York gesehen. Sie waren meinem Empfinden nach den an den Wänden
aufgereihten Fotoabzügen weit überlegen, aber ich war der Meinung, dass es die
Sache des FRAC-Ausschusses gewesen wäre, einen Ankauf zu tätigen. Was die
Frage der Medien betrifft, habe ich sie, wie ich bereits sagte, nie als solche in
Betracht gezogen. Die Fotografie interessiert mich, weil sie zwischen den bildenden
Künsten und den Medien angesiedelt ist. Das bedeutet: Sie steht dazwischen,
zugleich aber auf beiden Seiten. Es kommt immer auf diese beiden Seiten an. Was
ich den Künstlern, die die Medien einbeziehen, oft vorgeworfen habe, war, dass sie
sich allzu sehr von der Tradition der bildenden Künste entfernten. Sie produzieren
nicht nur unbefriedigende Ergebnisse auf der Bildebene, sondern verzichten
obendrein auf den Abstand, der es ihnen ermöglichen würde, ihrem Tun eine
Richtung und kritische Aussagekraft zu geben.
DS
Die von Jean-François Chevrier kuratierte Ausstellung „Art i utopia: l’acció restringida” in Barcelona (Museo
de arte contemporáneo de Barcelona) 2004.
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Aber zu den bildenden Künsten gehört auch das Tableau der Historienmalerei.
JFC
Nicht die Fotografie, sondern der Film setzt die Tradition der Historienmalerei fort.
In jedem Fall scheint mir das Alltagsleben und nicht so sehr das historische Ereignis
die Domäne der Fotografie zu sein. Man kann von Geschichte sprechen, indem man
sich den Augenblick zu Nutze macht, und dies erscheint mir sogar notwendig, aber
man muss sich von der Faszination durch das Ereignis frei machen. Das Problem,
das der Fotojournalismus für mich darstellte, hatte immer mit dieser Faszination zu
tun. Die Zwangsvorstellung, dazuzugehören, im Fokus des Ereignisses zu stehen,
hat mit der Mythologie der Medien zu tun. Ich sehe aber durchaus ein, dass durch
diese fixe Idee Fotografien entstanden sind, die tatsächlich eine Wirkung in der
Geschichte erzielten. Ich stelle keineswegs die Nützlichkeit des Augenzeugnisses in
Frage. Ich erinnere nur daran, dass ich im Jahre 2001 zusammen mit Philippe
Roussin eine Nummer von „Communications“5 mit dem Titel „Le Parti pris du
document“ („Das Urteil des Dokuments“) publizierte. All dies hat aber wenig mit der
Historienmalerei zu tun. Die dokumentarische Fotografie braucht, wenn sie sich
wirklich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzen will, eine Textergänzung, nicht
aber den Effekt des Tableaus. Die Notwendigkeit der dokumentarischen Aussage
darf indessen das Bildhafte an der Fotografie nicht überlagern.
Jeff Wall ist der einzige Künstler, bei dem ich eine anspruchsvolle Verwirklichung der
Vorstellung erkenne, zu der ich hinsichtlich des fotografischen Tableaus gelangt bin.
Er verdeutlicht in meiner Sicht, was die Fotografie für die Geschichte der Malerei
bedeutet hat. Die Dimension des Körpers ist bei ihm zunächst und wesenhaft der
Maßstab für das Bild.
Nachdem er sich zu Beginn der 1990er Jahre an das Phantastische und Groteske,
für das sich die Fotografie nur wenig eignet, herangewagt hatte, verfällt er nunmehr
in einen gewissen Quietismus. Aber in den letzten, gelungensten Fotografien lässt
sich hinter dem Deskriptiven eine Arbeit in die Tiefe erkennen, die es ermöglicht ,
jenen mehr oder weniger verhaltenen Naturalismus zu vermeiden, der scheinbar zur
Norm geworden ist.
Vielleicht sollte ich noch etwas zu dem Wort „Tableau“ sagen, weil ich soeben diesen
Begriff in Bezug auf Jeff Wall verwendet habe. Als die Sammlung für den FRAC
geschaffen wurde, bezeichnete dieser Begriff in meiner Sicht vor allem eine Form,
die es erlaubte, dem Experiment des fotografischen Bildes mehr Dichte zu verleihen
und ihm zu geben, was ich „Aktualität“ nannte. Die Fotografie als Tableau war nicht
mehr die Erinnerung an etwas Gesehenes, sondern ein Bild von etwas Aktuellem,
das in die Aktualität des Blickes eingebunden war, die ihm der Betrachter verleihen
mochte. Ebenso wurde mir klar, dass das Tableau, von der Renaissance an, die
Nr. 71 von „Communications“, französische Zeitschrift seit 1961, hrsg. vom Centre d'Etudes
Transdisciplinaires Sociologie, Anthropologie, Histoire (EHESS).
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Voraussetzung für die Erfahrung der Konfrontation war, die in der
Wesensbestimmung des autonomen Kunstwerkes gipfelt. Was der Künstler von sich
aus, unabhängig von einem Auftrag, also einer spezifischen Zweckbestimmung,
erdachte, wird als Erfahrung dem Betrachter angeboten, der die Freiheit des
Künstlers auf eigene Weise neu erlebt.
Mir scheint – und bei dieser Meinung bin ich geblieben –, dass das Tableau ein
hervorragendes Gegengift gegen jene Vereinnahmung der Kunst als Teil einer Kultur
ästhetischer Aneignung und Konsumtion war, zu der das Medium Fotografie
beigetragen hat. Das Tableau ist nicht nur eine Form der Konfrontation, es ist, würde
ich sagen, eine Barriere, und zwar gegen die Überflutung durch das Design. Ich
meine nicht das Design als Arbeit am Objekt oder am Lebensumfeld, dessen Finalität
eingeschränkt ist. Ich spreche vom Design als einem privilegierten Modus einer
allumfassenden Ästhetik, die dazu neigt, alle Spannungen und Widersprüche
zugunsten einer im Kern nicht wirklich befriedeten Umwelt auszuradieren.
DS
Was ich immer interessant, ja provozierend fand, das war der seinerzeit formulierte
Gedanke einer am lebendigen Objekt gemachten Fotografie, der zur Norm für eine
Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wurde.
JFC
Aber das ist kein Widerspruch. In meiner Sicht gab es keinen Widerspruch zwischen
dem Tableau und dem Engagement des Fotografen in der Welt. Ich meinte nur, dass
das Tableau den fotografischen Bildern eine noch größere Stringenz, Konsistenz,
Unmittelbarkeit sowie all das, wovon ich sprach, zu verleihen vermochte.
Übersetzung: Gerhard Frey, Heidelberg
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