1 Fritz U. Krause & Eva Müller (Oktober 2003) Aktuelles Theater im Schatten Grabbes Ein Kind wird kommen. Anästhesierte Gesellschaft. Ein Stück nach Eisfelder nach Anna Langhoff (Berlin) Die Theaterwerkstatt „OFF“ aus Bielefeld poltert zum großen Entsetzen der Gutmenschen mit Anna Langhoffs Stück Eisfelder. Vorbemerkung. Anna Langhoff (Berlin): Eisfelder. Preisgekröntes Stück der GrabbeGesellschaft und der Stadt Detmold 2001. Bisher keine Uraufführung. Arbeitstitel der Proben: Ein Kind wird kommen. Anästhesierte Gesellschaft. Beiträge zum preisgekrönten Stück stehen im Grabbe- Jahrbuch 2001. Fritz U. Krause und Ulrich Linke haben in Form einer Theaterwerkstatt mit Anna Langhoffs Theaterstück mit der Dramaturgie und Regie experimentiert und das Ergebnis einer (eingeschränkten) Öffentlichkeit vorgeführt. Mittelstufenschüler waren als Besucher nicht zugelassen. Das Ensemble und die Technik setzten sich aus Oberstufenschülern zweier Gymnasien zusammen. Der Werkstattort war das Ceciliengymnasium Bielefeld. Zahlreiche Helfer, vom Bielefelder Stadtheater bis zum Auto-Händler und dem Stadt-Marketing, ermöglichten die Arbeit. Das Interview Eva Müller.Warum spielen Sie Anna Langhoffs Stück Eisfelder? Fritz Krause. Die Eisfelder haben den Grabbe-Preis 2001 gewonnen. Ich war als damaliger Präsident der Grabbe-Gesellschaft befürwortender Juror. 2 E.M. Gehört es nicht zu den Verpflichtungen der Preisvergabe, das ausgelobte Stück im heimischen Detmold aufzuführen? F.K. 1994 hat der Preisträger Igor Victorowitsch Kroitzsch mit seinem Stück Das Drama keine Aufführung erfahren. Ich habe auch sonst nie wieder etwas von ihm gehört. 1997 haben sich Ralf N. Höhfeld mit Erschossen nach dem ersten Satz und Johann Jakob Wurster mit Fitzfinger, ab geht er! den Grabbe-Preis geteilt. Höfelds Stück haben wir, nachdem die Detmolder kein Interesse zeigten, in Bielefeld gemacht. Es erwies sich als sehr zeitnah. Fitzfinger ist mit größtem Erfolg an vielen deutschen Bühnen gespielt worden, - in Detmold allerdings nicht. Wurster ist inzwischen übrigens auch als Regisseur erfolgreich in Erscheinung getreten, in Rostock zum Beispiel.In Braunschweig spielt er zur Zeit in den Physikern die Rolle des Newton. Termine bis Januar 2004. Höhfeld ist mit anderen Stücken häufig an deutschen Bühnen gespielt worden, so Adipös in Magdeburg. Ein anderes Stück von Wurster habe ich in Bielefeld zur Uraufführung gebracht. 2001 schließlich wurde Anna Langhoff (Berlin) preisgekrönt. Mit Eisfelder ist ihr ein schauspielerfreundliches Stück gelungen, das auch zum Zeitgeist paßt. „Die Minderheit der Künstler, auf die es ankommt, kann man Seismographen nennen. Ezra Pound nannte sie Fühlhörner der Menschheit.“ (Helmut Dahmer 2003). Ich selbst hatte als Juror Martin Heckmanns Stück Kränk bevorzugt, war aber auch von der Theatergerechtheit der Eisfelder überzeugt. Martin Heckmanns Stück habe ich unter dem Titel Bitte verstehen sie meine Verhalten als Zeichen der Ablehnung (Die Ärzte) in Bielefeld und Detmold-Stapelage gespielt. In Detmold wären unsere Preisträger also noch zu spielen. E.M. Sie haben mit ihrem OFF-Theater – ihr Schultheater sehen Sie ja so – die Eisfelder aufgeführt. F.K. Dazu ist mehreres zu sagen. Es stimmt: Das Schultheater ist in Wirklichkeit ein OFF-Theater. Schulisch gesehen entspricht es einer Theaterwerkstatt. Das ist auch gut so, denn die Aufführungsrechte 3 sind nicht zu bezahlen, wenn sie überhaupt zu bekommen sind. Proben darf man aber – besonders, wenn keine kommerziellen Absichten dahinter stehen. OFF-Theater aber auch deshalb, weil die heutige Schulkultur in ihren künstlerischen Vorstellungen mit der Theaterwirklichkeit nicht übereinstimmt. Hier werden oft Gutmenschen-Werte mit pädagogischen Gutgemeintheiten verknüpft. Das Ergebnis steckt in der Regel in unpassenden Kostümen. Schüler sind keine Schauspieler, sie sind Glaubwürdige. In einem OFF-Theater spielen Glaubwürdige. Man darf sie nicht mit Unglaubwürdigem verderben. Der gemeine Schüler ist oft genug schon nicht mehr glaubwürdig. Er ist es nur dann, wenn er radikal sein darf. Er beantwortet die schulisch geforderte Streitschlichtungsmentalität mit Brutalität, wenn er um die Häuser zieht. In der Schulkultur zählen nicht die Offenheit und Radikalität der Auseinandersetzung mit der Welt; hier zählen nur die Opportunität des Eindrucks nach außen und das Ruhigstellen im Innern. Meine Theaterstücke sind Wiedergeburten der Radikalität. Sie hören Lessing aus meinen Worten. Nun zu den Eisfeldern. Wir haben geprobt – Anna Langhoffs Stück vor Augen. Wir haben viele dramaturgische Zugriffe verschlissen. Das Stück ist immer genauer und kraftvoller geworden. Wir haben dem Stück mit der Bearbeitung auch einen anderen Namen verpaßt: Ein Kind wird kommen. Schließlich haben wir das Geprobte aufgeführt, Ende Juli 2003. Einer professionellen Gruppe an einer professionalen Bühne bleibt das Vergnügen der Uraufführung des Originals. Wenn ich Wir sage, dann meine ich übrigens mit dem Ensemble besonders auch den Musikwissenschaftler Ulrich Linke. Er hat den Rentnerhasserrock aus Volker Ludwigs Stück Baden gehen (2003) neu vertont und musikalisch für uns eingerichtet. E.M. Was reizt Sie denn bei Ihren Inszenierungen immer wieder, auf Stücke der Grabbe-Preisträger zurückzugreifen? 4 F.K. Ich habe diese Stücke als Juror nicht aus Verwaltungsgründen ausgewählt. Ich war immer auch davon überzeugt, daß sie in den heutigen Aufführungszirkus passen. Mit ihnen wird gespielt, was man heute spielen muß. Aufführungsinhalte sind der Mode unterworfen, erst in zweiter Linie dem ästhetischen Anspruch. Paßt aber beides zusammen, dann reizt es mich, zur Tat zu schreiten. Wir haben die Aufführungsgaps, die die Repertoirezwänge erfordern, immer gut und aufwendig ausgefüllt. E.M. Erzählen Sie etwas von der Aufführungsidee. F.K. Von den zur Zeit gängigen Aufführungsmoden und dem Trend, neben der Platik-US-Grimasse die hysterogenen Zonen auszureizen, will ich jetzt nicht sprechen. Ich muß aber gestehen, daß ich den Aufkleber VORSICHT VOLKSBÜHNE, der eines Tages an unserem Theateraushang hing, nicht abgemacht habe. Ich sehe mich da schon in aller Bescheidenheit in der Tradition. Schließlich komme ich aus Berlin Pankow. Ich hätte auch einen Aufkleber ACHTUNG THALIA gerne gesehen. Zum Stück: Angesichts der Hintertücke der Gutmenschen kann nur ästhetische Offenlegung gesellschaftlicher Wirklichkeit das schauspielerische Ziel sein. Der ästhetische, nicht moralisch zu verstehende Leitsatz DIE REALITÄT MACHT HUMAN stand uns ständig vor Augen. Die moralischen Werte sind ohnehin so unter die gesellschaftlichen Räder gekommen, daß man sie durch ästhetische Werte ersetzen sollte. Erst in ihrem Lichte dämmert das Menschengemäße wieder auf. Mit meinem Ensemble, das unter der Prägung der Schulkultur stand, dieses Menschengemäße zu suchen, war jede Anstrengung wert: Das Menschengemäße lebt in Abkehrung von der Natur und ohne jede sülzige Versöhnung mit der Natur; das Menschengemäße bescheidet sich in Abkehr von jedem Paradiesesschein und ohne jede prothetische Versöhnung. Das Menschengemäße wird aus der Genauigkeit des Umgangs mit der Realität gewonnen. Allein der Zugang zur Realität kann zur Katharsis führen. Das bedeutet die Abschaffung der Begriffe Behinderter und out law oder, wenn Sie 5 wollen, die Ausdehnung der Begriffe auf jedermann. Es ist der Kampf gegen das Inhumane der Gutmenschen, ihren Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch. (Klaus Bittermann). Unsere Welt ist hier vor der Tür; unsere Bedürfnisse schreien uns an: Rentnerhasserrock. Die Verlogenheit des Erfolgsgesinnung gehört auf die klagende Bühne: Eisfelder. Das Menschengemäße kommt aus der Ästhetisierung des Scheiterns. Die Fehlschläge unserer Entscheidungen führen uns zur Milde gegenüber unseren Mitmenschen. Humanität ist milde Stärke und rücksichtnehmende Kraft beim zupackenden Überleben. Stärke und Kraft machen das Leben lebenswert; die Sauce jeglicher Macht verschmiert dagegen die Seelen. Glaubwürdig ist der Mensch, wenn er die Unversöhnbarkeit von Stärke und Macht lebt: Lessing, Canetti, Hannah Arendt, Susan Sontag. Die Realität ist zu unbekannt: Der Teufel ist ein netter Mann; die Höflichkeit ist eine Tugend der Mörder. Höflich ist, was bei Hofe den Vorteil brachte. Hoffnung auf das Menschengemäße steckt hinter der Bewältigung der Eisfelder. Das Stück lebt. Wir suchen mit dem Bühnengeschehen zähe gesellschaftliche Ignoranz durch Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit zu ersetzen. Hören Sie genau: Die Leicht-Fertigkeit ist die Fahrbereitschaft; die Gleich-Gültigkeit ist Bedingung der Zuwendungsbereitschaft. Beide werden getragen von Stärke und Kraft. Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit werden aber zu der Gebrauchsbedingung (Bedeutung) pejorisiert, die sie kennen. Macht, die schwache Menschen in böser Absicht an sich ziehen, um die Starken zu lähmen und auszubremsen. Das veranschaulicht das Stück. Das ist die erhellende Weltsicht, zu der uns Ein Kind wird kommen verhilft. In Ein Kind wird kommen stoßen die Bösartigkeit, die unter den Brücken herrscht, und die Inhumanität einer YuppieVerköstigungsgesellschaft zusammen. Ein Abbild unserer HeuteHier-Gesellschaft. So stand es in unserem Theaterheft: 6 Heute-Hier-Gesellschaft Absaugen Aussaugen umbringen Beseiseiteschaffen Sich-prostituieren Beziehungsimplosion Verwesung Süßlichkeit Schwäche Gewalt kriminelle Energie Wertverlustklagegesellschaft Pädagogik ohne Katharsis ist wirkungslos. Gute Lenkung ohne radikale Fragestellung führt nur zu Lebensschwäche und Anspruchsdenken. Hinter der Sanftheit der Erzieher und ihren Märchenstunden nistet häufig softe Gewalt. Rechthaberische Erzieher lamentieren in Dauerrede alles ins Schweigen. Der Schulkultur muß man mit Theater-Glaubwürdigkeit begegnen. E.M Können Sie Grabbe hierbei erkennen? F.K. Ich habe mir immer eingebildet, daß Grabbe in Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung auf demselben Empfindungswege war. Sein Verhalten in Detmolder Kneipen – ich habe in Verehrung und Distanz davon geschrieben - hatte einiges vom Bloßstellen der Gutmenschen. Der Schulmeister des Dorfes vermengte auch – wieder sei unsere Schulkultur genannt - Genieförderung und persönliches Interesse am Knaben Gottliebchen. Für ergiebiger, was kathartische Radikalität angeht, halte ich heute Grabbes Gothland oder Shakespeares Titus Andronicus. Hier sind Stärke und Kraft zu spüren, die Macht wird bloßgestellt. E:M. Wie war die Reaktion der Öffentlichkeit auf ihr Stück? 7 F:K. Der Eintritt war frei. Es sind wie üblich dreihundert und mehr Zuschauer gekommen. Sie haben stehend applaudiert. Natürlich war der Skandal nicht weit, denn die Schule war nah. Mein Ensemble hat sich vom Ausgangszustand weit entfernt. Das ist mein Erfolg. Ein Freund hatte mir, als ich an meine Arbeit nicht recht glaubte, ein paar Verse von Pietro Metastasio zugesteckt: Doch wenn dem Blendwerk der Kunst ich ferngeblieben, Bin weiser ich wohl dann? Was ruhlos ich räsoniere, Vielleicht verstummt es irgendwann? Vielleicht zerstiehen Aus bess´rem Grund Glut und Groll, die ich spüre?