P R E S S E I N F O R M A T I O N Teil 6 der Serie: Orphan-Krankheiten – Waisenkinder der Medizin Tyrosinämie Typ I: Eine Störung im Eiweiß-Stoffwechsel Frühzeitige Diagnose und Therapie mit NTBC + Diät hält die Krankheit in Schach Köln, Juli 2001. Der Begriff ‚Stoffwechsel’ bezeichnet die Verwertung der aufgenommenen Nahrung, die beispielsweise Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße enthält. Der Abbau und die Umwandlung dieser Nahrungsbestandteile ist bei gesunden Menschen gut geregelt. Er erfolgt durch körpereigene, hochspezialisierte Werkzeuge, die sogenannten Enzyme. Bei einer angeborenen Stoffwechselerkrankung kann ein Enzymdefekt zu einer kleinen aber manchmal fatalen Störung im Abbau der Nahrungsbestandteile führen. Im Falle der extrem seltenen Tyrosinämie Typ I ist der Eiweißstoffwechsel gestört. Tyrosin lebensnotwendiger ist eine essentielle Eiweißbausstein, Aminosäure, der mit eiweißhaltiger also ein Nahrung aufgenommen wird. Bei der Tyrosinämie Typ I funktioniert der letzte Schritt im Tyrosinabbau nicht. Die Organe und der Blutkreislauf werden dann von krankmachenden, giftigen Zwischenprodukten „überschwemmt“, die alle Organsysteme mehr oder weniger stark belasten. Meist ist die Leber das Organ, das am stärksten betroffen ist. Allerdings ist die Tyrosinämie Typ I nicht an eindeutigen Anzeichen zu erkennen und die Schwere der extrem seltenen Erkrankung variiert stark, wie Dr. Ulrich Baumann vom Zentrum für Kinderheilkunde an der Universität Essen betont. Betroffen von der Tyrosinämie Typ I sind überwiegend Leber, Nieren, Hirn und Knochen, jedoch von Patient zu Patient in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Unterschiedliche Ausprägung erschwert Diagnose In Deutschland erkrankt etwa einer von 100.000 Menschen an Tyrosinämie Typ I. Am häufigsten kommt es in den ersten 3 Lebensmonaten zu akutem Leberversagen. Auch bei chronischen Lebererkrankungen, einer Kombination aus Leber- und Nierenerkrankung oder einer vergrößerten Niere sollte an Tyrosinämie Typ I gedacht werden. Nach dem Zeitpunkt des ersten Auftretens der seltenen Stoffwechselerkrankung lassen sich drei Formen der Tyrosinämie Typ I unterscheiden: Am häufigsten erkranken die Kinder an der akuten Form, bei der sich die Symptome vor dem 6. Lebensmonat zeigen. Im Falle der subakuten Tyrosinämie Typ I sind die ersten Anzeichen zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat zu erkennen. Bei der chronischen Form werden die Kinder erst nach dem ersten Lebensjahr klinisch auffällig. In sehr seltenen Fällen sind die Kinder sogar schon älter als 10 Jahre. Wie unterschiedlich sich die Tyrosinämie Typ I äußert hat Familie Ritter erfahren müssen. Als der Bauch des kleinen Daniel im Alter von 2 ½ Monaten immer dicker wurde, suchten die Eltern während eines Türkei-Aufenthaltes eine Kinderklinik sowie eine Universitätsklinik auf. Die Ärzte stellten mittels Ultraschall fest, dass sich Wasser im Bauch des Säuglings befand. Die genaue Diagnose sollte jedoch eine Woche dauern. In der Hoffnung auf eine schnellere Diagnose reiste die besorgte Mutter zurück nach Deutschland, wo sie sich sofort an die Spezialisten der Essener Universitätsklinik wandte. Dort konnte die Tyrosinämie per Differentialdiagnose nach einem Tag festgestellt und die Therapie begonnen werden. Schwerwiegende Folgen einer späten Diagnose Gleichzeitig wurden auch die beiden älteren Schwestern auf die angeborene Stoffwechselerkrankung hin untersucht. Während Laura, die „mittlere“ Tochter der Ritters vollkommen gesund ist, zeigte sich, dass Melanie ebenfalls an Tyrosinämie Typ I erkrankt ist. Bei der damals 4jährigen war es im Laufe der Jahre bereits zu einer fortgeschritten Leberzirrhose gekommen. Auffällige Hinweise auf die Erkrankung gab es jedoch keine. Der Mutter war zwar aufgefallen, dass Melanie - „eine gute Esserin“ - einen dicken Bauch hatte, obwohl ihre Beine dünn waren, die konsultierten Ärzte kamen jedoch zu dem Schluss, dies „liege in der Familie“ – zumal die Laborwerte des kleinen Mädchens keinen Grund zur Sorge darstellten. Erst kürzlich wurde bei Melanie ein Leberzellkarzinom festgestellt – eine Folge der zu lange unbehandelten Stoffwechselerkrankung. Zur Zeit versuchen die Ärzte den Krebs mit Medikamenten zu bekämpfen. Gleichzeitig steht Melanie auf der Warteliste für eine Transplantation, bei der die weitgehend zerstörte Leber des kleinen Mädchens durch eine gesunde ersetzt wird. Ein Segen für die Kinder: Eine Zufallsentdeckung rettet Leben 2 Eine Lebertransplantation stellt allerdings nur die letzte Möglichkeit zur Behandlung der Tyrosinämie Typ I dar. Eine medikamentöse Therapie, kombiniert mit einer Tyrosin-armen Diät sollte zuerst versucht werden. Die Vermeidung oder rechtzeitige Entdeckung eines Leberzellkarzinoms stellt heute die Herausforderung in der Behandlung der Tyrosinämie Typ I dar, erklärt Baumann. Mit dem Medikament NTBC und einer strengen Tyrosin-armen Diät ist die Stoffwechselstörung heute in der Regel gut in den Griff zu bekommen. Das Unkrautvernichtungsmittel NTBC wurde ursprünglich für den Pflanzenstoffwechsel entwickelt. Die Substanz wurde in den 80er Jahren eher zufällig als wirksames, aber nebenwirkungsarmes Medikament zur Behandlung der Tyrosinämie Typ I entdeckt und ist „ein Segen für die Kinder“ so Baumann. Schwieriger Verzicht: Kindgerechte Ernährung ohne Eiweiß Trotzdem müssen die kleinen Tyrosinämie-Patienten lebenslang eine strenge Tyrosin-arme Diät einhalten. Dabei darf nur ein kleiner Teil der vom Körper benötigten Eiweiße als natürliches Eiweiß aufgenommen werden. Damit der Körper trotzdem ausreichend mit allen lebensnotwendigen Eiweißen versorgt ist, müssen die Kinder - als Ersatz für Fleisch, Joghurt und Milch - ein schlecht schmeckendes Tyrosin-freies Eiweißpulver zu sich nehmen. Die Diät stellt vor allem dann ein Problem dar, wenn die Erkrankung erst nach einigen Jahren erkannt wird. So fiel es Melanie natürlich sehr schwer, als sie im Alter von 4 Jahren plötzlich auf Nahrungsmittel wie Milch, Nüsse, Eier, Schokolade oder Fleisch verzichten musste. Das Mädchen darf pro Tag nur 11-12 Gramm natürliches Eiweiß aufnehmen. Dabei enthält ein Ei allein bereits 7 Gramm, 100 Gramm Fleisch enthalten sogar bis zu 28 Gramm dieses wertvollen Stoffes. Inzwischen kann Melanie ihre Erkrankung besser verstehen und Frau Ritter muss nicht mehr ständig aufpassen, dass ihre Tochter heimlich „Verbotenes“ isst. Beim einmal wöchentlich stattfindenden „gesunden Frühstück“ im Kindergarten ist eine genaue Abstimmung zwischen Eltern und Erzieherinnen nötig. Schließlich soll sich Melanie nicht ausgestoßen fühlen. Ob Melanies Körper mit allen wichtigen Nährstoffen ausreichend versorgt ist, wird bei den regelmäßigen Untersuchungen in der Essener Universitäts-Kinderklinik, bei denen unter anderem auch die Stoffwechseleinstellung sowie die Organe ausführlich untersucht werden, überprüft. Bei schwerer Lebererkrankung sofort ins spezialisierte Zentrum So schwierig sich das Leben mit Tyrosinämie Typ I gestaltet, Familie Ritter hat Glück gehabt. Dr. Baumann vermutet, dass die sehr seltene Erkrankung oft gar 3 nicht erkannt wird und die Kinder sterben, bevor sie überhaupt in ein entsprechend spezialisiertes Zentrum, z.B. für Lebererkrankungen, eingeliefert werden. Das Bewusstsein für die angeborene Stoffwechselstörung ist zwar in den letzten Jahren gewachsen, dies reicht jedoch bei weitem nicht aus. Grundsätzlich müssen einfach mehr Ärzte an die Erkrankung denken. Kinder mit schweren Lebererkrankungen sollten generell in ein spezialisiertes Zentrum gebracht werden, um rechtzeitig die optimale Therapie zu erhalten, so der Experte. Die Tyrosinämie Typ I muss so früh wie möglich diagnostiziert werden, damit schwerwiegende – und oftmals lebensbedrohliche – Folgen vermieden werden können. Die Chancen, dass dies in Zukunft möglich sein wird, stehen gut. An der Universitätsklinik Heidelberg wird zur Zeit eine Screeningmethode entwickelt, mit der die Orphan-Erkrankung schon beim Neugeborenen entdeckt werden kann. Herausgeber: Orphan Europe GmbH, Max-Planck-Straße 2, 63128 Dietzenbach Bei Rückfragen: Eberhard Kroll 06074 / 81 21 60 Dr. Barbara Donnerstag06074 / 81 21 60 Redaktion: Medizin & PR GmbH – Gesundheitskommunikation, Im Klapperhof 33a, 50670 Köln Bei Rückfragen: Iris Huth Birgit Dickoré 0221 / 77 543 – 14 0221 / 77 543 – 11 Abdruck honorarfrei, Beleg erbeten. Köln, Juli 2001 4