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„In den Sozialversicherungen funktioniert der Markt nicht“
Ex-FdP-Präsident Franz Steinegger, bekannt als „Katastrophen-Franz“, fände die Privatisierung der Suva eine
reine Katastrophe: Sie würde unsere Volkswirtschaft Milliarden kosten. Interview: Oliver Fahrni.
Work: Herr Steinegger, wie geht es Ihnen, wenn Sie an die 30 Milliarden denken, die die Suva auf den
Finanzmärkten angelegt hat?
Franz Steinegger: Gut. 2008 stehen wir schwach im Minus. Im Vergleich zu anderen ist unsere Performance
sehr ordentlich.
Die Suva versichert die gefährlichen Berufe in Industrie und Gewerbe, also die grossen Risiken, weist
350 Millionen Gewinn aus, betreibt viel Prävention und senkt gerade die Prämien. Dennoch schreit die
SVP nach ihrer Privatisierung, und der Bundesrat versucht, der Suva die Geschäftsgrundlage zu stutzen.
Wie erklären Sie das?
Ich kann die politischen Kräfte, die dem Gewerbe nahestehen, nicht verstehen. Denn die Privatisierung würde
bedeuten, dass Gewerbe und Industrie deutlich mehr Geld für ihre Versicherung bezahlen müssten. Unsere
Verwaltungskosten sind gering: Von jedem Franken gehen 95 Rappen an die Versicherten zurück. Weil die
Suva viel billiger ist als die privaten Versicherer, begrenzte der Bundesrat zuerst die Kosten der Versicherer auf
10 Prozent. Sie verlangten mehr. Vor ein paar Jahren musste man die Begrenzung ganz streichen. Mehrere
Studien, etwa jene von Professor Franz Jaeger,…
…der gerne nach Privatisierungen und Deregulierungen ruft…
…zeigen, dass eine Privatisierung der Suva die Schweizer Volkswirtschaft viele Milliarden kosten würde. Es ist
absurd. Die staatliche, von den Sozialpartnern genossenschaftlich verwaltete Suva ist die effizienteste Form von
Sozialversicherung.
Was macht sie effizient?
Die Suva arbeitet nicht gewinnorientiert. Was wir erwirtschaften, geht an die Versicherten zurück und wird nicht
an Aktionäre ausgeschüttet. Eigentlich ein ethischer Grundsatz der Sozialversicherung. Wie Bismarck, der
Begründer des Modells, schon im 19. Jahrhundert meinte: Der Unfall darf nicht Gegenstand von Dividenden
sein.
Die Selbstverwaltung verstärkt das?
Sie ist der zweite Grund für die Effizienz der Suva. In unserem 40-köpfigen Aufsichtsrat sind die wichtigsten
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, also die Versicherten, vertreten. Alle haben sie ein gemeinsames
Interesse: Sie wollen sicher sein, dass ihre Risiken abgedeckt sind – bei möglichst tiefen Prämien. Also sorgen
sie gemeinsam für eine gute und kostengünstige Pflege und für Prävention. Nur in der Suva sind diese beiden
Seiten, Versicherung und Prävention, vereint. Ohne Suva müsste der Bund bald eine eidgenössische
Arbeitssicherheitsanstalt schaffen.
Der frühere FdP-Präsident verteidigt die genossenschaftliche Selbstverwaltung?
Sie ist ein urschweizerisches Prinzip. Sozialversicherungen organisieren die Solidarität. Das kann man auf zwei
Arten tun. Entweder man schafft die Zwangsmitgliedschaft in einem Versicherungsmonopol. Das ist das Modell
Suva. Oder man lässt den Markt spielen – dann aber fischen die Versicherungen nur die guten Risiken heraus,
die Jungen, Gesunden, die ungefährlichen Berufe.
Schlechte Risiken werden abgeschoben.
Dennoch müssen alle versichert werden. Also führt man den Zwang wieder ein, indem man einen
Risikoausgleich organisiert. Das ist das System Krankenkassen. Der Unterschied besteht darin, dass bei diesem
Pro-forma-Wettbewerb Werbekosten und Dividenden anfallen. Das kostet heute jährlich zwischen 200 und 300
Millionen. Ich bin ein Freund des Wettbewerbs. Aber in den Sozialversicherungen funktioniert das nicht. Sie sind
allenfalls Pseudomärkte. Unvollkommene Märkte aber sind die schlechteste Form. Sehr viel effizienter ist das
Modell Suva.
Und doch rufen rechte Politiker und die Versicherer nach mehr Wettbewerb?
Es gibt da eine ideologische Welle, man spricht von Wettbewerb und Markt und fragt sich erst gar nicht, was die
Voraussetzungen sind, damit ein Markt funktioniert oder was er kostet.
Volkswirtschaftlich ist er teuer. Aber betriebswirtschaftlich bringt er den Versicherungskonzernen hohe
Profite.
Der Markt der Unfallversicherung ist gesättigt. Man kann sich nur gegenseitig Anteile abjagen. Was mache ich,
wenn ich der Chef Schweiz eines Versicherungskonzerns bin und in Frankfurt beim obersten Chef Wachstum
ausweisen muss? Ich politisiere, wettere gegen Monopole, rufe nach Wettbewerb in der Hoffnung, der Suva
Marktanteile wegzunehmen. Das kann man so machen. Aber dann sollen die Unternehmen nicht jammern,
wenn sie für ihre Versicherungen viel mehr bezahlen.
Auch der Bundesrat will im neuen Unfallversicherungsgesetz mehr Wettbewerb. Öffentliche
Verwaltungen sollen frei wählen können, ob sie sich bei der Suva oder privat versichern.
Das ist das eine. Dazu kommt aber, dass man der Suva verbieten will, neben der Grundversicherung
Zusatzversicherungen abzuschliessen. Zudem soll der maximal versicherte Verdienst gesenkt werden. Was
heisst das? Die Verwaltungen können wählen. Sie werden jene Versicherung nehmen, die alles aus einer Hand
anbieten kann. Weil zugleich der höchstversicherte Verdienst gesenkt werden soll, werden viele
Zusatzversicherungen abschliessen müssen. Also werden die Verwaltungen zunehmend aus der Suva
rausgehen. Zudem agieren manche Versicherungskonzerne mit Dumpingangeboten.
Und die Solidarität bröckelt. Wie kann der Bundesrat das wollen?
Der VR-Präsident der Suva kritisiert den Bundesrat, seine Aufsichtsbehörde, nicht. Aber ich gehe davon aus,
dass die Vorlage im Parlament scheitert. In den Räten haben die Sozialpartner, die eine effiziente Suva wollen,
eine starke Stellung.
Was wäre das schlimmste Szenario?
Neben der Privatisierung? Die stetige Verkleinerung der Suva. Die Gesundheitskosten würden explodieren.
Welche anderen Lösungen gäbe es?
Die Suva könnte das Monopol auf die Grundversicherung aller Betriebe bekommen. Wir haben das nicht
gefordert, sondern nur die Möglichkeit, auch Zusatzversicherungen anzubieten. Aber es wäre eine sinnvolle
Lösung.
Für die SVP und neoliberale Freisinnige sind Solidarität und Gesellschaft Werte, die man bekämpft.
Wofür stehen Sie noch?
Eigenverantwortung ist wichtig. Aber manche denken, man könne mit Privatschulen, Privatpolizei,
Privatversicherung allein für sich sorgen. Sie sind eine kaufkräftige Minderheit. Eine Mehrheit muss alles
Interesse an der organisierten Solidarität haben. Schon mein Vater ...
... ein Arbeiter, der beim SMUV organisiert war ...
... stritt für die genossenschaftliche Selbsthilfe.
Oliver Fahrni.
Work online, 3.7.2008.
Personen > Fahrni Oliver. Suva. Work, 2008-07-03.
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