Anrede

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Prof. Dr. R. Knütel
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univesität Bonn
Rechtslexika im Wandel der Zeiten: Fundgruben einst und jetzt
I.
Vorbemerkung
II.
Einführung
1. Vorbilder des Jap. ZGB v. 1898
2. Das antike römische Recht und das Corpus iuris civilis
3. Die Rezeption und das ius commune
III.
Die Rechtslexika
1. Der Digesten-Titel D. 50,16 – Über die Bedeutung der Wörter
2. Erste Wörterbücher (Verrius Flaccus, Sextus Pompeius Festus, Paulus
Diaconus)
3. Die Anfänge (Jodocus von Erfurt, Albericus de Rosate)
4. Ausweitungen der Materie
5. Sprachgeschichtliche Bedeutung
6. Die Ausrichtung der Rechtslexika auf die Praxis
7. Die Rechtslexika als Zeugnisse vergangener Welten
8. Die Rechtslexika und Rechtsfragen unserer Zeit
IV.
Schlußbemerkung
I. Vorbemerkung
Zwei Anlässe bestehen, um Glückwünsche auszusprechen. Auf den einen werde ich am
Ende eingehen, mit dem anderen mache ich den Anfang. Die auch international
hochangesehene Chuo-Universität begeht das Jubiläum ihres Bestehens über 125 Jahre.
Dazu sei ihr der lateinische Glückwunsch: Vivat, crescat, floreat! entboten, sogleich
ergänzt: in multa saecula – sie möge also lebhaft wirken, wachsen und erblühen, und
dies weitere Jahrhunderte lang!
Fünf Vierteljahrhunderte sind eine lange Zeit. Denken wir an die damalige Zeit zurück,
so ist aus juristischer Sicht wohl bemerkenswert, daß im Gründungsjahr 1885 Gustave
Boissonade 60 Jahre alt wurde und mitten in seinen Arbeiten für ein „Projet de Code
civil pour l´Empire du Japon“ steckte (1881-1888); das Buch über Sachenrecht hatte er
bereits abgeschlossen (Les Biens, 2. Aufl., Tokyo 1882). Und im fernen Deutschland
ging es mit den Arbeiten für den (Ersten) „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für
das Deutsche Reich“ zügig voran (1874-1887); 1888 kam die Druckfassung heraus.
II. Einführung
1. Vorbilder des Jap. ZGB v. 1898
Bekanntlich sind der französische Code civil von 1804 – vermittelt insbesondere durch
die Entwürfe Boissonades – und der Erste Entwurf des deutschen BGB die
maßgeblichen Vorbilder für das japanische Zivilgesetzbuch v. 1898 geworden. Da der
Code civil zum überwiegenden Teil und der Erste Entwurf des BGB zum noch größeren
Teil Rechtsfiguren, Rechtsprinzipien und rechtliche Entscheidungen aus dem römischen
1
Recht übernommen haben, versteht es sich ohne weiteres, daß auch das Japanische
ZGB weithin römischrechtliches Gedankengut enthält. Für einige Bereiche habe ich das
vor 12 Jahren anläßlich der Hunderjahr-Feier im einzelnen dargelegt.
2. Das antike römische Recht und das Corpus Iuris Civilis
Unter dem römischen Recht ist zuvörderst das Recht des antiken römischen Imperiums
zu verstehen. Dieses Recht wird mit der Zwölftafel-Gesetzgebung von 450 v. Chr.
erstmals hinreichend faßbar, und es gedieh zur Hochblüte in den ersten 250 Jahren nach
der Zeitenwende, in der sog. „klassischen Periode“. Genauer müßten wir von der
„klassischen Periode der römischen Rechtswissenschaft“ sprechen, denn das römische
Recht war in erster Linie Juristenrecht; seine Lösungen und Regeln wurden also von
Fachjuristen aus der rechtlichen Problematik heraus entwickelt. Die staatliche
Gesetzgebung beschränkte sich in Rom, wenn man von der Zwölftafelgesetzgebung
(450 v. Chr.) und der Reformgesetzgebung des Kaisers Augustus (27 vor – 14 nach
Chr.) absieht, im wesentlichen auf die Regelung von Einzelfragen. Das Recht dieser
klassischen Zeit wurde knapp 300 Jahre später von dem byzantinischen Kaiser Justinian
(527-565) in einer bereinigten Sammlung zusammengefaßt und in den Jahren 533, 534
mit Gesetzeskraft ausgestattet und verkündet. Diese Sammlung, die später (ab 1583) als
Corpus Iuris Civilis bezeichnet wurde, bestand zunächst aus drei Teilen, den
Institutionen, einem die Grundlagen vermittelnden Lehrbuch (bestehend aus 4
Büchern), den Digesten, einer Sammlung von Auszügen aus den Schriften der
klassischen Juristen in 50 Büchern – diese Digesten sind das Herzstück des Corpus
Iuris; sie enthalten die höchststehenden juristischen Erörterungen der Menschheit. Den
3. Teil des Corpus Iuris bildet der Codex (Iustinianus), der eine Vielzahl von Erlassen
oder Gesetzen der römischen Kaiser ab Hadrian (117-138 n. Chr.) in 12 Büchern
enthält. Zu diesen 3 Teilen kamen nach 534 weitere Reformgesetze Justinians hinzu, die
„Novellen“ (Novellae constitutiones post codicem, die neuen Gesetze nach dem Codex),
von denen 168 in der maßgeblichen Ausgabe erfaßt sind.
3. Die Rezeption und das ius commune
Im Jahr 395 war es zur endgültigen Teilung des römischen Reiches gekommen und die
Westhälfte war seit 476 unter germanische Herrschaft gelangt. Damit gingen die
Kenntnisse vom römischen Recht immer mehr verloren. Erst als 1135 eine
hervorragende Handschrift der Digesten entdeckt wurde, kam es – ausgehend von
Bologna in Norditalien – zu neuen und schon schnell sehr intensiven Arbeiten an
diesem Gesetzbuch und damit am römischen Recht. Von hier aus breiteten sich das
Studium des römischen Rechts und seine Anwendung in der Praxis recht schnell über
Italien, Frankreich und Spanien auch nach Mitteleuropa und damit auch nach
Deutschland aus. Es war ein sehr komplexer Vorgang mit vielfältigen und in den
einzelnen Territorien auch unterschiedlichen Ursachen, der dazu geführt hat, daß
römisches Recht an den europäischen Universitäten gelehrt wurde und in den
kontinentaleuropäischen Ländern zur Geltung kam. Wir bezeichnen diesen Vorgang als
die Rezeption, die Aufnahme oder Übernahme des römischen Rechts, und unterscheiden
eine frühe Phase von ca. 1200 bis 1450, in der römisches Recht mit einzelnen
Regelungen in die Territorialgesetzgebung eindringt und im römischen Recht geschulte
Juristen in den Verwaltungen der Landesherren der Kirche und der Städte auftauchen.
Darauf folgte die Hauptrezeption von ca. 1450 bis 1600, in der die Juristen und mit
ihnen das von ihnen studierte römische Recht die Gerichtsbarkeit „übernehmen“, als
Richter oder als Anwälte, eine Zeit, in der aus dem zuvor mündlichen Prozeßverfahren
ein weithin schriftliches wird und eine Verwissenschaftlichung der Rechtspflege
2
einsetzt. In Deutschland, um nur dieses Beispiel zu nennen, fand die Rezeption 1495
ihren Abschluß in § 3 der Gerichtsordnung des Reichskammergerichts, des damals
höchsten Gerichts im Reich. Dieser § 3 bestimmte, es sei römisches Recht anzuwenden,
soweit nicht Partikularrecht, also besondere Gesetze, Statuten oder Gewohnheiten, als
einschlägig nachgewiesen, in seiner Geltung also bewiesen werde. Das heißt, römisches
Recht galt subsidiär, freilich nicht das gesamte römische Recht, denn nicht alle Bereiche
waren überall rezipiert worden, z.B. generell nicht das Sklavenrecht, großenteils nicht
das Strafrecht oder prozessuale Besonderheiten.
Die Zeit gebietet, es bei diesen oberflächlichen Bemerkungen bewenden zu lassen. Als
Fazit sei festgehalten, daß sich aufgrund der Rezeption in Kontinentaleuropa ein
gemeinsames Recht, das sog. ius commune, herausbildete, das das römische Recht zur
Grundlage hatte, in den einzelnen Territorien aber in vielen Einzelheiten unterschiedlich
ausgestaltet war. Die durch das ius commune begründete Rechtseinheit im alten Europa
zerbrach seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts mit dem Inkrafttreten der großen
Naturrechtskodifikationen von Preußen (ALR v. 1794), Frankreich (Code civil v. 1804)
und Österreich (ABGB v. 1811). Doch sind diese Gesetzbücher ebenso wie die dann
folgenden Kodifikationen der anderen Länder aus dem Material des ius commune, also
letztlich des römischen Rechts, gebildet. Davon abgesehen wurde das ius commune zu
Anfang des 19. Jh. auch dadurch verdrängt, daß die Wissenschaft nach dem Programm
der von Savigny begründeten „Historischen Rechtsschule“ erneut unmittelbar an die
Texte des Corpus Iuris anknüpfte – und damit die sog. „Nachrezeption“ auslöste. –
Dessenungeachtet bleibt bemerkenswert, daß in unserer Zeit beim Europäischen
Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) seit längerem nicht selten auf Rechtsprinzipien des
ius commune zurückgegriffen wird, vor allem natürlich von den Generalanwälten.
III. Die Rechtslexika
1. Der Digesten-Titel D. 50,16: De verborum significatione – Über die Bedeutung der
Wörter
Nach diesen Einführungen komme ich nun zu meinem Hauptanliegen, und das mit zwei
Fragen zu diesem juristischen Fachbuch von 1647 (im Duodez-Format):
1) Warum ist dieses Buch so klein?
Die Antwort ist ganz einfach: Damit es sich leicht mitnehmen läßt. Wir müssen an die
Zeiten zurückdenken, als überall in Europa der Rechtsunterricht auf der Grundlage der
Texte des Corpus Iuris stattfand und die Studenten auf ihrer peregrinatio academica,
ihrer akademischen Pilgerreise, von Coimbra in Portugal nach Krakau in Polen oder von
Perugia in Italien nach Heidelberg oder von Paris nach Prag zogen. Auf diesen Reisen
zu Fuß oder zu Pferde mußte man möglichst wenig Gepäck dabeihaben, brauchte aber
doch seine juristische Basisliteratur.
2) Die 2. Frage: Was ist der Inhalt des Buches?
Wie sehr viele andere in diesem Format aus der Zeit von 1500 bis 1800 vereint es auf
seinen 444 Textseiten (plus Register) die Institutionen Justinians, die seit dem späten
Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert hinein am Anfang und am Ende des juristischen
Studiums standen – als eine Art juristischer Elementargrammatik. Im Anschluß an den
Institutionentext folgen die beiden letzten Titel aus dem 50. Buch der Digesten: D.
50,16 „Über die Bedeutungen der Wörter“ und D. 50,17: „Über die verschiedenen
Regeln des alten Rechts“ – also die wichtigsten Rechtsregeln oder -prinzipien und die
wichtigsten Begriffe. Sie stehen als besonders bedeutungsvoll und als Ertrag der Mühen
aus der Auswertung von 2000 Büchern der klassischen Rechtsliteratur am Ende der
Digesten und sind damit sehr hervorgehoben. Das ist auch ohne weiteres begreiflich,
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denn ein Jurist muß mit den Prinzipien der Rechtsordnung und mit den „Wörtern“ –
womit die Begriffe gemeint sind – gut vertraut sein. Man darf bei dieser Gelegenheit an
das berühmte Wort Savignys zur Methode der römischen Juristen erinnern (im „Beruf“,
1814, S. 29): „Die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft erscheinen ihnen nicht wie
durch ihre Willkühr hervorgebracht, es sind wirkliche Wesen, deren Daseyn und deren
Genealogie ihnen durch langen vertrauten Umgang bekannt geworden ist. Darum eben
hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht
findet, und man kann ohne Uebertreibung sagen, daß sie mit ihren Begriffen rechnen“.
2. Erste Wörterbücher (Verrius Flaccus, Sextus Pompeius Festus, Paulus Diaconus)
Die Zusammenstellung von Begriffen nebst Erläuterung ist freilich keine Erfindung
Justinians. Unter Augustus und Tiberius, also um die Zeitenwende, hatte bereits der
berühmte lateinische Grammatiker Verrius Flaccus (der Beiname Flaccus bedeutet
übrigens „Schlappohr“) ein Werk von wohl 80 Büchern mit dem Titel „De verborum
significatu“ (Über die Bedeutung der Wörter) verfaßt, das ein Lexikon seltener Begriffe
mit grammatikalischen und antiquarischen Erklärungen war. Aus diesem Werk ist uns –
ebenfalls unter dem Titel „De verborum significatu“ ein Auszug in 20 Büchern von
Sextus Pompeius Festus überliefert, einem Grammatiker aus dem 2. Jahrhundert. Das
erst um 1470 in Rom entdeckte Original ist leider beklagenswert lückenhaft; doch
können manche Lücken aus einem vereinfachenden Auszug ergänzt werden, den im 8.
Jahrhundert der Mönch Paulus Diaconus (ca. 725-795) im Kloster Montecassino (in
Mittelitalien) ausfertigt hat.
„Wörterbücher“ haben also eine rund 2000-jährige Tradition. Und was das Wörterbuch
des Festus angeht, so weist dieses zahlreiche Rechtsbegriffe auf, vor allem aus dem
älteren römischen Recht, etwa zu der eigenartigen „Haussuchung lance et licio“, bei der
der Verfolger nackt und nur mit einem Strick und einer Schale versehen vor dem Hause
erscheinen mußte, oder zur Scheidung durch diffarreatio, bei der die Eheleute offenbar
auf zusammengebundenen Stühlen saßen, deren Bindung gelöst wurde, während sie ein
Brot aus Dinkel verspeisten, oder das nexum, ein Geschäft, mit dem sich ein
Darlehensschuldner in die Schuldknechtschaft beim Gläubiger begab. Alldas hat
Wurzeln, die weit in das altrömische Recht zurückreichen und die Forschung noch
heute beschäftigen. Das Werk des Festus sollte deshalb in einer Sammlung von
Rechtslexika nicht fehlen – und es fehlt auch nicht in der Sammlung, die wir nun in den
Blick nehmen wollen.
3. Die Anfänge (Jodocus von Erfurt, Albericus de Rosate)
Die höchst eindrucksvolle Sammlung umfaßt 95 Werke in insgesamt 287 Bänden. Sie
reichen von der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts bis in die Anfänge des vergangenen
Jahrhunderts. Das vom Erscheinungsjahr her älteste ist der Vocabularius iuris utriusque
des Rechtslehrers Jodocus von Erfurt in einer Ausgabe von 1513, also das
„Wörterverzeichnis beider Rechte“, womit das rezipierte römische Recht und das
Kirchenrecht gemeint sind. Zum Kirchenrecht sei hier nur gesagt, daß es sich um eine
Rechtsmasse handelt, die das Organisationsrecht,
das Prozeßrecht und die
Rechtsmaterien umfaßte, für die die (katholische) Kirche die Entscheidungsgewalt
beanspruchte, wie etwa Ehe-, Testaments- und Eidessachen. Diese Rechtsmasse ist in
vier Teilen in der Zeit von 1140-1317 zusammengestellt worden, gründet sich jedoch
weithin auf wesentlich ältere Rechtstraditionen (Bibel, Konzilsbeschlüsse, Schriften der
Kirchenväter, Papsterlasse [Dekretalien] etc.); wo eigene Regelungen fehlten, griff auch
die Kirche auf das römische Recht zurück. Hervorzuheben ist noch, daß der Einfluß des
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in vielem moderneren Kirchenrechts auf die abendländische Rechtsentwicklung groß
war. Es war deshalb selbstverständlich, daß die Rechtslexika bis ins 19. Jahrhundert
hinein das Kirchenrecht mit Sorgfalt einbezogen.
So verhält es sich auch mit dem in der Sache ältesten Werk in unserer Sammlung, dem
Dictionarium des Albericus de Rosate, das in der Sammlung in der Ausgabe Venedig
1581 vorliegt. Albericus lebte jedoch von etwa 1290-1354 in Bergamo (Norditalien) –
hochberühmt. Er hatte ursprünglich zwei Dictionarien geschrieben, eines für das
römische und eines für das kirchliche Recht, die dann nach seinem Tod vereinigt
worden sind. Das Werk enthält eine Unmenge an in der Regel knappen
Worterklärungen mit Nachweisen, wo der Begriff im Corpus Iuris, im Kirchenrecht
oder in sonstigen Gesetzen oder in der Literatur (Glossen, Kommentare) vorkommt,
ferner sind in die alphabetische Ordnung eingefügt außerordentlich viele Rechtsregeln
oder auch mehr oder minder passende Gemeinplätze. So wird etwa zum Begriff der
Frau, mulier, angeführt: Mulier dicitur à molliciementis, das Wort sei also von der
mollities, der Nachgiebigkeit oder Schwäche ihres Geistes her geprägt – was schon
etymologisch eine unsinnige Erklärung ist. Andererseits Mulierem bonam qui invenit:
inveniet bonum, wer eine gute Frau findet, wird das Gute finden. - Albericus bietet also
zu einer Unmenge von Wörtern, die irgendwo im Recht vorkommen, Information und
Nachweise; er ist so etwas wie Google für die Juristen des späten Mittelalters – kein
Wunder, daß die juristischen Praktiker ihn „anbeten“ (Practici adorant eum), wie wir
aus einer späteren Quelle erfahren (Diplovataccius, 1468-1541).
4. Ausweitungen der Materie
Da es nun nicht meine Aufgabe sein kann, alle 95 Werke vorzustellen, beschränke ich
mich darauf, einige allgemeine Eindrücke wiederzugeben.
Das bekannte Phänomen, daß juristische Nachschlagewerke im Laufe der Zeit immer
umfänglicher werden, wird auch bei den Rechtslexika deutlich: Müllers Promtuarium
vom Ende des 18. Jahrhunderts (1785-1790) kommt bereits auf 12 Bände. Das ist
jedoch gut begreiflich. Denn mit den Jahrhunderten sind weitere Rechtsmassen
hinzugekommen, insbesondere die Territorialrechte und unter ihnen vor allem das
Sächsische Recht, dessen wesentliche Grundlage der Sachsenspiegel aus der Zeit
zwischen 1220-1235 war und das eine mächtige Ausstrahlungswirkung hatte, ferner das
Lehnsrecht (ius feudale), die Rechtssetzungen des damaligen Heiligen Römischen
Reichs Deutscher Nation („Reichsabschiede“, etc.), die Rechtsprechung des
Reichskammergerichts und des Wiener Hofgerichts, die zahlreichen Kommentare und
Traktate zum ius commune, daneben die von großem Erkenntnisdrang getriebenen
Werke der Humanisten (Cujaz, Donellus, Dionysus und Jacobus, Gothofredus, Faber
u.a.m.) und hernach die Systeme des Naturrechts. Des weiteren sind die Entwicklungen
des Handels- und des Personengesellschaftsrechts anzuführen, beispielsweise bringt
Karl Ferdinand Hommel (1722-1781), ein sehr bedeutender sächsischer Jurist, „der
deutsche Beccaria“, im 1. Band seines Promtuarium von 1777 eine sehr ausführliche
und darum wichtige Darstellung des Wechselrechts und des Wechselprozeßrechts (S.
175-206, zu Cambium bis Cambialis processus).
Demgegenüber befolgten andere den Weg der strikten Beschränkung, etwa auf die in
den römischen Rechtstexten verwendeten Wörter und Begriffe, wie zum Beispiel
Brissonius (1531-1591) und Heumann (1812-1866) in ihren Spezial-Lexika, mit denen
die Wissenschaft noch heute arbeitet. Oder die Beschränkung erfolgt auf die
kirchenrechtlichen Dekretalien mitsamt ihren Kommentierungen bei Zabarella (1360-
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1417) in seinem Aureum et singulare Repertorium. Oder auf das sächsische Recht, wie
Thomas Haymen in seinen Digesta Iuris Saxonici v. 1732.
Ein besonderes Wort ist noch zu Barnabas Brissonius zu sagen. Er hebt sich (ebenso
wie Hotman, der ein Jahr vor ihm ein Rechtslexikon im Geiste des Humanismus
herausbrachte) von den früheren Verfassern von Rechtslexika deutlich davon ab, daß er
sich an den römisch-juristischen Sprachgebrauch ohne die ab 1135 hinzugekommenen
Beimischungen hält und diese Begriffe aus hervorragender Kenntnis und Anschauung
der Überlieferung im Corpus Iuris Civilis und in weiteren antiken Texten erläutert.
Ferner berücksichtigt er die Berichtigungen und Verbesserungen, die zu diesen Texten
erkannt oder vermutet worden waren, jedoch nur nach kritischer Überprüfung; er geht
also von der – wissenschaftlich gesehen – zu seiner Zeit besten Überlieferungen aus.
Drittens schließlich bringt er viel mehr als die früheren Lexikographen zu den
verschiedenen Wortverbindungen und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen
Bedeutungen des jeweiligen Wortes. Wissenschaftlich stellt das Lexikon des Brissonius
– die erste Ausgabe erschien 1559 – deshalb einen sehr großen Fortschritt dar. Es
verwundert deshalb nicht, daß nach seinem Tod das Werk von hervorragenden Juristen
fortgeführt und erweitert worden ist (etwa von Heineccius).
Natürlich spielen auch persönliche Neigungen der Autoren eine Rolle. Müller etwa
nahm in seine 12 Bände eher mehr als weniger auf; zum Beispiel bringt er (im Band
VIII, ed. 1788, S. 1523) das Stichwort „Narr“, das selbstverständlich kein Rechtsbegriff
ist, nur um mitzuteilen, daß eine Beschimpfung des Vaters mit den Worten „du Narr“,
den Vater nicht schon berechtigt, das Kind zu enterben.
5. Sprachgeschichtliche Bedeutung
Daran läßt sich der Hinweis anknüpfen, daß die Rechtslexika auch sprachgeschichtlich
sehr aufschlußreich sind. Die deutsche Rechtsterminologie hat sich unter dem
deutlichen Einfluß der römischen Rechtssprache herausgebildet. Diese Entwicklung
setzte im frühen 16. Jahrhundert ein – ein Markstein ist Thomas Murners Übersetzung
der Institutionen von 1519 (weitere folgten) – und die Entwicklung wurde vor allem
dadurch gefördert, daß die großen Gesetze des damaligen Reichs schon im 16.
Jahrhundert
in
deutscher
Sprache
erlassen
wurden
(etwa
die
Reichskammergerichtsordnungen, die Reichspolizeiordnungen, die Peinliche
Gerichtsordnung Kaiser Karls V v. 1532). Als Beispiele für den prägenden Einfluß und
die Vorbildfunktion der römischen Rechtssprache seien aus der riesigen Fülle nur einige
Lehnübersetzungen genannt: Verbindlichkeit (von obligatio), Eigentum (von
proprietas), Gläubiger (von creditor), Schuldner (von debitor), Nießbrauch (von
ususfructus), Erbeinsetzung (von heredis institutio) etc. etc. Soweit als Rechtsbegriffe
im Japanischen Recht in Anlehnung an Begriffe des deutschen Rechts gebildet worden
sind, werden sie nicht selten letztlich auf das römische Recht zurückgehen.
In den Rechtslexika des 16. Jahrhunderts, bei Jodocus von Erfurt (1513), in Oldendorps
De copia verborum etc. und De duplici verborum et rerum significatione (1546 bzw.
1558, beide freilich in Lyon erschienen) und in Nebrissensis’ Vocabularius Iuris
Utriusque (1579, ebenfalls Lyon) kommen deutsche Begriffe noch nicht vor. Doch
dringt im 17. Jahrhundert die deutsche Sprache auch in diese Literatur ein, und im 18.
Jahrhundert treten dann in den deutschsprachigen Territorien Lexika in deutscher neben
die in lateinischer Sprache. So ergab sich für das wichtige und wertvolle Promptuarium
Iuris Practicum, das von Benedikt Carpzov in lateinischer Sprache begründet und dann
in zwei weiteren Auflagen von Johann Georg Bertoch fortgeführt worden war, eine
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Spaltung: Da Buchhändler Anstalten machten, eine deutsche Übersetzung davon
herauszubringen, kam Bertoch ihnen zuvor und brachte die Neuauflage 1740 (Leipzig
und Zittau. Auch J. A. Hellfelds Repertorium von 1753 ist in deutscher Sprache
geschrieben) in deutscher Übersetzung heraus. Eine deutlich erweiterte Neuauflage der
lateinischen Version wurde hingegen 1777 von Karl Ferdinand Hommel in seinem
Promptuarium Iuris Bertochianum ad Modum Lexici Iuris Practici etc. (Bertochs
Nachschlagewerk des Rechts nach Art eines praktischen Rechtslexikons) publiziert.
6. Die Ausrichtung der Rechtslexika auf die Praxis
Die Rechtslexika sind Werke für die juristische Praxis, und man konnte mit ihnen – wie
mit den heutigen Büchern für den Praktiker – auch damals gut Geld verdienen. Der
Praktiker will Informationen, nicht Diskussionen; die Lexika bringen deshalb
Definitionen, Darstellungen und Hinweise, vor allem auf die Rechtsquellen, aber kaum
jemals Begründungen, warum etwas so ist wie dargestellt. Zum Beispiel wird zum
Stichwort „Schatz“/„Thesaurus“ durchweg die Definition mitgeteilt: „eine Sache, die so
lange verborgen gewesen ist, daß der Eigentümer nicht mehr zu ermitteln ist“ und
dargelegt, daß bei einem Schatzfund auf fremdem Boden das Eigentum zur Hälfte dem
Finder zufällt und zur anderen Hälfte dem Grundstückseigentümer. Nicht aber wird
gesagt, weshalb diese Lösung gilt, die sich in den meisten Zivilgesetzbüchern findet,
auch in Art. 241 des Jap. ZGB. Die Lösung, die auf eine Entscheidung des römischen
Kaisers Hadrian (117-138 n. Chr.) zurückgeht, erklärt sich aus der Kollision zweier
Prinzipien: Einerseits folgen Nebensachen in ihrem Rechtsschicksal der Hauptsache
(accessio cedit principali, vgl. etwa Art. 87 Abs. 2 Jap. ZGB) – dies spricht für den
Grundstückseigentümer –; andererseits erwirbt derjenige, der eine herrenlose
bewegliche Sache mit Eigentumswillen in Besitz nimmt, das Eigentum an ihr (kraft
occupatio, Aneignung, vgl. Art. 239 Jap. ZGB) – dies spricht für den Finder. Der
Anwendung jedes dieser beiden Prinzipien steht jedoch entgegen, daß der Schatz keine
herrenlose Sache ist; vielmehr jemandem gehört, der jedoch nicht ermittelt werden
kann. Da beide Prinzipien also unter derselben Schwäche leiden, sonst aber gleichwertig
sind, drängt sich die „Mittellösung“ (media sententia) auf, die Hadrian denn auch
getroffen hat.
Aus ihrer Anlage als Praktikerliteratur erklärt sich auch, daß die Verfasser der
Rechtslexika juristisches Bildungswissen weitestgehend beiseitelassen. Für die Zeit des
Humanismus (ca. 1500-1620) sind freilich einige Einschränkungen zu machen. So
finden wir beispielsweise bei Antonius Nebrissensis (in seinem Vocabularium Iuris
Utriusque in der vorzüglichen Ausgabe von Lyon 1579, S. 125) ein Stichwort zu dem
römischen Juristen Caius (heute: Gaius), den er als den erfahrensten von allen
bezeichnet (peritissimus omnium) – was dem Kenner recht abwegig erscheinen muß.
Auch widmet sich Nebrissensis über eine gute Seite der Frage, weshalb die Digesten in
der früheren Literatur mit einem doppelten f, also ff, zitiert werden, und gelangt am
Ende zu der Erklärung des Alciat (1492-1550), die auch heute weit überwiegend für
richtig gehalten wird (Mißverständnis zum Akzent circumflex über dem griechischen
-Pi, für Pandectae, S. 227f.). Man wird diese und vergleichbare Informationen jedoch
nicht überbewerten dürfen. Sie sind (wie Hans Erich Troje zu dem sog. „Genfer
Rechtslexikon“, von dem eine Ausgabe von 1607 sich ebenfalls in unserer Sammlung
befindet, beobachtet hat) wohl kaum mehr als werbestrategisch motivierte Anpassungen
an den Zeitgeist.
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Im 17. und 18. Jahrhundert, nach dem Auslaufen der humanistischen Periode, tritt die
praktische Ausrichtung noch deutlicher zutage. Zunehmend wird in die Titel oder
Untertitel der Rechtslexika das Adjektiv „praktisch“ (practicus oder pragmaticus)
aufgenommen, etwa von Bertoch 1740: „Promptuarium Iuris Practicum oder
Practischer Vorrath zu einer gründlichen Rechts-Wissenschaft“ (und auch Hommel
kommt in der lateinischen „Schwesterausgabe“ nicht ohne entsprechende
Kennzeichnung aus: Promptuarium ... ad Modum Lexici Iuris Practici ..., Leipzig 1777;
s. ferner etwa die Titel von Calvin, Wehner, Sabellus, Castejon und Hellfeld). Diese
Orientierung an den Anforderungen der Praxis hat übrigens den für uns heute noch
wichtigen Vorteil, daß in den Lexika vermehrt angegeben wird, auf welchem
Territorium welches Recht gegolten hat – eine Frage, die heutzutage nicht immer ganz
einfach zu klären ist.
Mit der zunehmenden Ausrichtung der meisten Rechtslexika auf die Praxis wird der
Unterschied zu denjenigen Lexika deutlicher, die an dem ursprünglichen Anliegen
dieser Werkgattung festhalten, die lateinischen Begriffe und Wörter der römischen und
der zeitgenössischen Rechtssprache ins Deutsche zu übersetzen und zu erklären, wie das
– außer dem bereits gerühmten Werk des Brissonius – insbesondere in dem Lexicon
Juridicum Romano-Teutonicum von Samuel Oberländer der Fall ist (erstmals 1721 in
Nürnberg erschienen, sodann 1723 [diese Auflage in der Sammlung], 1725, 1726, 1736
und 1753). In diesem Werk konnten die Zeitgenossen Näheres zu den Rechtsbegriffen
und Namen erfahren, die dem römischen Recht entstammten und weithin auch im ius
commune noch benutzt wurden. Das Buch bietet mit der Fülle seiner Informationen
bisweilen auch Überraschendes. Nach meinem Eindruck dürfte es das einzige
Rechtslexikon des 18. Jahrhunderts sein, das Ausführungen zum Stichwort „Lex Regia“,
Königliches Gesetz, enthält. Oberländer weist darauf hin, daß dieser Begriff in einer
seiner beiden Bedeutungen ein Gesetz aus der römischen Königszeit (753-510)
bezeichnet, und er hebt dazu hervor, davon sei keines mehr außer dem einen in Digesten
11,8,2 „noch übrig“ (Ausgabe Nürnberg 1753, S. 442) – was wohl meint: noch in
Geltung. Der angeführte Digestentext lautet:
Ein Gesetz aus der Königszeit besagt, daß es dem Sakralrecht widerspricht, eine schwangere Frau,
die gestorben ist, zu bestatten, bevor ihr das Kind [durch Kaiserschnitt] entnommen worden ist;
wer dagegen verstößt wird so angesehen, als habe er mit der [Bestattung der] Schwangeren die
Hoffnung eines beseelten Lebens auf Leben zerstört.
Dazu nur zwei kurze Bemerkungen: Erstens liegt der Grund für dieses Gesetz, das auf
religios Unerlaubtes Bezug nimmt, offenbar in dem Bestreben, das Unheil zu
vermeiden, das sich aus einem Konflikt oder sogar Zusammenstoß ergäbe zwischen den
Göttern der Unterwelt, die „Anspruch“ auf die Verstorbenen haben, und den Gottheiten
der Oberwelt, die die Lebenden schützen.
Zweitens haben wir es hier mit einem Fall zu tun, in dem das Recht den Fortschritt, hier
den medizinischen Fortschritt, vorangebracht hat – in der Regel behindert es ja den
Fortschritt –, müßte es danach doch schon in der römischen Königszeit den sog.
„Kaiserschnitt“ gegeben haben. Der Name kommt übrigens (wie Plinius, Naturalis
historia 7,7,47 berichtet) von caedere, schlagen, aufschneiden (mit dem Partizip Perfekt
caesum), und einer der Vorfahren des Imperators Gaius Iulius Caesar soll auf diese
Weise zur Welt gekommen sein und deshalb den Beinamen Caeso erhalten haben (der
sich schon im 3. Jahrhundert v. Chr. in Caesar verändert haben muß).
7. Die Rechtslexika als Zeugnisse vergangener Welten
Lassen Sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Ende kommen mit zwei
Beobachtungen, die an sich etwas Selbstverständliches wiedergeben, aber bei dem
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heutigen Anlaß doch angesprochen werden sollten. Die erste ist, daß wir in den
Rechtslexika zwei vergangenen Welten begegnen, wie schon verschiedentlich deutlich
wurde, der antiken römischen Welt, und zwar aus dem Blick der zweiten, der
spätmittelalterlichen und mehr noch der frühneuzeitlichen christlich europäischen Welt.
Die Autoren der Rechtslexika sehen natürlich die Unterschiede und berücksichtigen sie,
so bringen sie z.B. in der Regel wenig zur ältesten Art des Eigentumserwerbs, der
occupatio (Aneignung), aber viel zur venatio, der Jagd, die in der aufgeteilten Welt der
praktisch wichtigste Fall der occupatio geblieben war. Das rührt daher, daß es in Rom
einem jeden frei stand zu jagen, wann und wo es ihm beliebte (sofern er nicht von
Grundstückseigentümern daran gehindert wurde), während seit dem Mittelalter die Jagd
zum Vorrecht der Landesherren und des Adels geworden war – grundsätzlich und mit
zahllosen – in den einzelnen Territorien überdies sehr unterschiedlichen –
Besonderheiten, die in den Lexika mehr oder minder breit dargestellt werden.
Überdies lassen sich aus den Rechtsbegriffen und den rechtlichen Regelungen, auf die
wir in den Lexika stoßen, die Nöte und Probleme erschließen, mit denen die Zeit
unserer Lexikonautoren zu kämpfen hatte. So lesen wir etwa von der obsessio viae, der
Wegelagerei, bei der es in der Regel um die Beraubung der Reisenden ging, oft unter
Mord oder Totschlag, mit der Strafe der Enthauptung, in minder schweren Fällen durch
Handabschlagen, Prügelstrafe oder Landesverweisung (Müller, Bd. VIII, S. 1650) – und
wir erkennen sofort die Unsicherheit der damaligen Verkehrswege. Wir lesen von einer
Vereinbarung der „Kerker-Pflicht“ (pactum de obligatione ad carcerem imitum).
Müller, der darüber 18 Seiten schreibt (Bd. VIII, S. 1814-1832), gibt auch ein
Standard-Formular für die Erklärung des Schuldners wieder: „Ich gebe auch meinem
Gläubiger volle Macht und Gewalt, mich im Fall der Nichtzahlung an allen Orten und
Enden, wo er mich antreffen möchte, mit persönlichem Arrest zu belegen, aus welchem
ich vor gänzlichem Abtrag des Kapitals samt den Zinsen und verursachten Unkosten
nicht entweichen will“ (S. 1818). Zu solchen Vereinbarungen, die grundsätzlich als
wirksam anerkannt wurden, kann es nur kommen, wenn im jeweiligen Territorium die
Justiz zu langsam oder überhaupt ineffektiv arbeitet. Oder – ein letztes Beispiel – wir
lesen, daß Selbstmörder bestraft wurden, daß vor- und überhaupt außerehelicher
Geschlechtsverkehr strafbar war (und stoßen deshalb auf lange Ausführungen, ob dann,
wenn ein Kind schon nach weniger als 7 Monaten nach Eheschluß zur Welt kommt,
vorehelicher Verkehr zu vermuten ist) – und wir erkennen, daß hier christliche
Moralgebote, nach denen außerehelicher Verkehr Sünde ist, unter dem Druck der
Kirche in weltliche Rechtsvorschriften übersetzt wurden.
Die Beispiele machen deutlich, daß die Rechtslexika immensen Stoff nicht nur dem
Rechtshistoriker bieten, sondern auch
dem
Wirtschaftshistoriker, dem
Allgemeinhistoriker, dem Soziologen und anderen Wissenschaftlern.
8. Die Rechtslexika und Rechtsfragen unserer Zeit
Was den letzten Punkt angeht, so sei daran erinnert, daß die Rechtsvorstellungen in
Europa aus dem römischen Recht und dem ius commune erwachsen und an weiteren
Geistesströmungen, wie Humanismus (im Zeitalter der Renaissance), Naturrecht (im
Zeitalter der Aufklärung) und dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts gereift sind. Die
Rechtslexika enthalten deshalb vieles, sogar sehr vieles, was uns das Verständnis des
heutigen Rechts und auch seine Ausfüllung erleichtert, etwa über die Generalklauseln,
in deren Rahmen ja insbesondere Rechtsprinzipien Anwendung finden können. Dazu
ein letztes Beispiel:
Im Zuge von Antidumping-Maßnahmen hatte der Ministerrat der Europäischen Union
1968 eine Grundverordnung (Nr. 459/68) erlassen. Später war er im Hinblick auf die
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japanischen „Großen Vier“ der Kugellagerbranche jedoch in einer weiteren Verordnung
(Nr. 1778/77) von den Regeln der Grundverordnung abgewichen. Dagegen klagten die
benachteiligten japanischen Hersteller vor dem Europäischen Gerichtshof, EuGH. Im
Verfahren hob der Generalanwalt Werner hervor, hier komme der Grundsatz zur
Anwendung: Patere legem quam fecisti, erdulde das Gesetz, das du gemacht hast oder
freier: Laß das Gesetz, das du gemacht hast, auch gegen dich gelten! Der Generalanwalt
kennzeichnete diesen Grundsatz wie folgt: Nach diesem Grundsatz darf eine Behörde,
die im Wege des Erlasses allgemeiner Rechtsvorschriften die auf eine bestimmte
Fallgruppe anzuwendenden Regeln festgelegt hat, diese Regeln zwar jederzeit durch
den Erlaß weiterer Rechtsvorschriften ändern; sie darf jedoch bei der Behandlung von
zu dieser Gruppe gehörenden Einzelfällen nicht von ihnen abweichen“. Es ging also um
den Grundsatz einheitlicher Rechtsanwendung. Der EuGH ist dem Generalanwalt
gefolgt und hat die der Grundordnung widersprechenden Bestimmungen der späteren
Verordnung wegen Verstoßes gegen das Prinzip Patere legem quam fecisti... für nichtig
erklärt (EuGH, Sammlung 1979, S. 1185ff., 1211; GA Warner ebda., S. 1249f.).
Der genannte Rechtsgrundsatz ist juristisch erstmals durch die lex Cornelia de
iurisdictione von 67 v. Chr. festgelegt worden, durch die bestimmt wurde, daß die
Prätoren, die Höchstbeamten der römischen Justiz, an die Bestimmungen, die sie in
ihren Edikten getroffen hatten, auch selbst gebunden waren. Zudem enthalten die
Digesten einen Titel (D. 2,2): Quod quisque iuris in alterum statuerit, ut ipse eodem
iure utatur, das Recht, das jemand einem anderen gegenüber festgesetzt hat, das muß er
auch selbst befolgen. Der kommentierende römische Jurist Ulpian hebt die summa
aequitas, die höchste Gerechtigkeit eines solchen Prinzips hervor. Sie sichert die
gleichmäßige Rechtsanwendung und enthält das Verbot willkürlicher Rechtsfindung,
das heutzutage im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes um so nachdrücklicher zu
betonen ist. In unseren Rechtslexika wird dieses Prinzip mehrfach hervorgehoben:
Müller bringt es in der soeben zitierten Formulierung des Digestentitels (D. 2,2: Quod
quisque ...; s. Bd. VI, S. 620 Nr. 10), Hommel formuliert: Princeps legibus a se datis
parere debet (S. 1074 Nr. 5), der Fürst muß den von ihm erlassenen Gesetzen
gehorchen, auch Albericus spielt darauf an (ed. Venedig 1573, S. 425: Licet conditor
...), und man darf annehmen, daß sich in dem einen oder anderen Lexikon der
Rechtsgrundsatz auch in der Formulierung Patere legem quam fecisti ... findet. Es ist
nicht selten, daß sich ein Rechtsgrundsatz in unterschiedlichen Formulierungen findet.
Mit Fug und Recht können wir also sagen, daß wir in den Rechtslexika auch
Informationen finden, die für die Bewältigung von Problemen unserer Zeit wertvoll
sind, auch in Fällen, in denen es um viel Geld geht.
IV. Schlußbemerkung
Die Stichworte „wertvoll“ und „viel Geld“ führen mich zu meinem zweiten
Glückwunsch: Aus unseren Betrachtungen dürfte deutlich geworden sein, daß die Chuo
Universität mit dem Erwerb der großartigen Sammlung von Rechtslexika, die weltweit
kaum ihresgleichen finden dürfte, einen überaus wertvollen Schatz erlangt hat. Möge
dieser Schatz unter der Obhut der Chuo Universität dazu dienen, möglichst Viele auf
dem Wege zur Erkenntnis des Guten und Gerechten voranzubringen!
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