Verbrannte Erde, bewegtes Leben

Werbung
VERBRANNTE ERDE, BEWEGTES LEBEN
A
m Beginn der Wegstrecke war nichts anderes zu sehen als hohes Steppengras und
hunderte Fliegen. Schon bald bemerkte ich, dass diese Fliegen stachen und sich in
der sengenden Mittagshitze mit Begeisterung auf uns stürzten. Die schroff
aufsteigenden Felsen des hinter dieser flachen Graslandschaft liegenden Gebirges versprachen
zwar landschaftliche Abwechslung und Schatten, wollten aber partout nicht näher kommen.
Neben dem Gebirge am Horizont war das Einzige, das sich in dieser kargen
Steppenlandschaft erhob, eine große Anzahl von Termitenhügeln.Spätestens als unser Führer
Jean-Claude einen Stein umwendete und sich ein halbes Dutzend Skorpione zeigte, die er mit
stoischer Nüchternheit als tödlich bezeichnete, bereute ich, diese Wanderung mit kurzen
Hosen angetreten zu haben.
Es schien, dass meine Begleiterin und ich in den Vorhof der Hölle geraten waren. Und das,
nachdem wir uns in den letzten Tagen im Paradies wähnten, in Madagaskars Hochland, einer
Landschaft von blühenden und noch zu erblühenden Reisfeldern in einem Farbenspiel
zwischen Rot, Ocker und Grün. Tagelang begleiteten uns steil ansteigende Reisterrassen, die
an Landschaften in Indochina erinnerten, und Menschen, die in ihren oft bunten Kleidern wie
Farbtupfen in einer Pastelllandschaft wirkten. Hier nun war alles von der Sonne verbrannt,
das Gras dunkelgelb und hart, tiefschwarz der Boden, und Mensch war in dieser unwirtlichen
Gegend keiner zu sehen. Warum waren wir hierher gekommen? Um das Isalo-Gebirge zu
sehen, das mit seinen Canyonlandschaften an Colorado erinnerte. Ein Nationalpark im
Südosten Madagaskars, der inmitten des trockensten Gebiets der Insel lag. Was hatten wir auf
uns genommen, um hierher zu gelangen? Zwölf Stunden in einen Kleinbus mit 25
Madegassen eingezwängt, waren wir über ruppige Sand- und Steinpisten geschaukelt und
konnten uns danach nicht mehr bewegen. Neben den Beinen schmerzte meine Schulter, was
auf meinen Sitznachbarn zurückzuführen war, einem hageren Mann, der unbegreiflicher
Weise die meiste Zeit über geschlafen hatte und dessen knochiges Haupt bei unruhiger Piste
schmerzhaft auf meine Schulterknochen fiel. Als wir mit verrenkten Gliedern endlich gegen
Mitternacht in Ranohira, einem Bretterhaufen mitten in der Wildnis, ausstiegen, war kein
Mensch zu sehen. Lange noch hörten wir die Musik unseres Busses, jene so fröhlichen
afrikanischen Rhythmen, die uns stundenlang ohrenbetäubend gequält hatten und jetzt in der
1
sternenklaren Nacht verschwanden. Wir empfanden es als ein Wunder, dass wir in dem
kleinen Hotel des Ortes ein wohliges Bett vorfanden. Das Zimmer war zwar ohne Strom und
Warmwasser, aber das weiche Bett war eine Wohltat für unsere geplagten Glieder, die nur
mehr einem sadistischen Orthopäden Freude bereitet hätten. Wenn ich irgendwelche
Erfahrungen von meinen Reisen mitbrachte, dann war wohl die bedeutendste, dass ein gutes
Bett der wichtigste Faktor einer gelungenen Reise war.
Unser Führer war äußerst wortkarg, es schien mir, er erledigte seine Aufgabe nur mit
Widerwillen. Viel zu schnell lief er über die stechende Graslandschaft, wartete dann mit
gelangweiltem Blick auf uns, gönnte uns aber keine Ruhepause. Ich fühlte mich an so manche
rücksichtslose, bergsteigende Älpler erinnert, die nur so taten, als würden sie Solidarität mit
den Langsameren zeigen, dann aber, nachdem die Schwächeren eingetroffen waren, mit umso
atemberaubenderem Tempo den Weg fortsetzten.
Bei einem Dorf blieb Jean-Claude dann aber doch länger stehen. Die Häuser sahen sehr
armselig aus. Anders als die hoch aufragenden Lehmhäuser im Hochland waren diese kleinen,
flachen Verschläge aus Zweigen und Stroh gemacht, einsame Behausungen in dieser
trockenen Einöde. Man machte sich keine Mühe, festere Häuser zu bauen. Der nächste Taifun
würde sie ohnehin zerstören, zudem waren die Bewohner dieses Landstrichs, die Bera,
Nomaden, die weiterzogen, wenn die Götter es von ihnen verlangten. Jean-Claude unterhielt
sich mit einem Mann, der mit einer Fackel das Grasland rund um das Dorf in Brand steckte.
Wir konnten ihrer Unterhaltung in Malagassy nicht folgen, aber die beiden schienen ihren
Spaß zu haben. Kurz nachdem wir endlich das Gebirge erreichten, sahen wir schon, dass das
Grasland rund um das Dorf brannte und sich dieses niedrige Feuer knisternd ausbreitete. Uns
war nicht klar, welchen Sinn diese Brandrodung hatte, hatten wir doch keine Anzeichen von
Landwirtschaft entdeckt. Die hier lebenden Menschen waren immer Viehzüchter, erklärte
Jean-Claude, das Land war immer Weideland gewesen, wenngleich es über weite Teile des
Jahres trockene Savanne war. Doch aus den Grasnarben der verbrannte Erde würde schon
nach wenigen Tagen frisches Gras sprießen, und im Sommer, wenn der Regen käme, wäre
diese Landschaft eine üppige grüne Landschaft – ein Fest für die Rinderherden. Jener
Viehzüchter, der die meisten und best genährtesten Zebus, jene in Madagaskar verbreiteten
Höckerrinder, besaß, würde auch am höchsten geachtet werden und konnte auch die Tochter
eines anderen ehrenwerten Zebuzüchters heiraten und damit Ruhm und Reichtum vergrößern.
Deshalb brannte man von jeher die Felder ab, auch wenn die Regierung es verboten hatte. In
2
anderen Teilen Madagaskars waren Primärwälder dieser alten Sitte zum Opfer gefallen und
man hatte die Brandrodung unter Strafe gestellt. Aber seit jeher brannte man hier das Land
nieder und würde auch jetzt nicht damit aufhören. Wir wendeten ein, dass wir weder im Dorf
noch in dessen Umgebung Zebus gesehen hätten. Es gibt auch keine, lächelte Jean-Claude.
Seit das Gebiet unter Naturschutz steht, Ausländer kämen, um die Canyons zu besuchen,
seien die Viehzüchter weitergezogen. Diese lebten nun rund um die Stadt Ihosy, ein
wanderndes Volk, das seine Herden mit Speeren und Gewehren bewachte und sich damit die
Zeit vertrieb, die prachtvollsten Rinder des benachbarten Dorfes zu stehlen. Wer mehr als
zehn Zebus besaß, war ein gemachter Mann. Nicht, dass er mit seinen Tieren Geld verdiente.
Die Zebukühe gaben nur so viel Milch, um ihre Kälber zu ernähren, und geschlachtet wurde
ein Tier nur, wenn ein Totenmahl gehalten oder der verstorbene Besitzer einer Herde geehrt
wurde. Ein Zebu war ein Prestigeobjekt, und je mehr Zebuhörner auf einem Grab zu finden
waren, umso mehr wurde der Verstorbene geachtet. Dennoch war mir unverständlich, warum
man hier durch Brandrodung ein Weideland kultivierte, auf dem keine Tiere weideten. Es sei
schwer für die Menschen, alte Gewohnheiten aufzugeben, meinte Jean-Claude lächelnd, sie
hätten ja sonst nichts. Und so wanderten wir weiter und kamen nach zwei Stunden endlich vor
dem ersten Felsen an, während sich hinter uns der Himmel von den Rauchwolken der
brennenden Felder immer mehr verdunkelte.
Wir stiegen einen steilen Fußpfad hinauf, immer noch war die Landschaft karg und
unfruchtbar. Doch bei näherem Hinsehen erkannten wir auf dem brüchigen Sandstein der
Felshügel, versteckt in Nischen aus Stein, kleine Bäumchen, sogenannte Zwergbaobabs - die
Pachypodien. Als wir die erste Erhebung überwunden hatten, bot sich ein einmaliger Ausblick
auf eine Felslandschaft, die tatsächlich mit jener der nordamerikanischen Canyons zu
vergleichen war. Kerzengleich erhoben sich vor uns schroffe, bizarre Felsformationen, ein Tal
von Stalagmiten, bevor am Horizont wieder höhere Steintürme aufstiegen. Le Paradis nannte
unser Führer diese Landschaft, in der der Mensch der Formenvielfalt des Gesteins Namen wie
“Krokodilfelsen” gegeben hatte.
Nur wenige Menschen begegneten uns, darunter eine schlanke, junge Frau, die barfuß ging
und auf ihrem Kopf einen Kanister mit Wasser trug. Mit schwingenden Hüften ging sie an uns
vorbei und begrüßte uns mit „Bonjour Vazaha“ – „guten Tag, Fremder“, jener neugierigen
wie respektvollen Begrüßung, die aus zwei Sprachen bestand, und die auf eigenartige Weise
das Trennende mit dem Verbindenden in Einklang brachte. Die Frau hatte einen weiten Weg
zurückgelegt, um Wasser zu holen, denn innerhalb dieser kargen Felslandschaft gab es nur
3
einen kleinen, fruchtbaren Streifen entlang eines Bächleins, das von den kleinen RavenalaBäumen gesäumt war. Die Ravenalas werden Bäume der Reisenden genannt, denn wenn man
ihren Blattstamm knickt, fließt daraus reines Trinkwasser. Diesen Bäumen folgten wir, bis wir
an einen oasengleichen Platz gelangten, an dem klares, hellgrünes Wasser in ein natürliches
Steinbecken floss - das Piscine naturelle.
Nachdem wir uns von den Strapazen der bisherigen Wanderung erholt hatten, gingen wir
die Canyonlandschaft zurück, stiegen dann - wieder der prallen Sonne ausgesetzt - ein Tal
hinab, das von steilen Felsen flankiert war. Dennoch waren wir sehr überrascht, in der
Talsohle dichten, grünen Regenwald zu erblicken. Die Hoffnung, nun nach vier Stunden
anstrengender Wanderung, in schattiges, bequem zu begehendes Terrain zu kommen, wurde
alsbald enttäuscht. Denn in der kühlen Schlucht des Waldes galt es, über Felsblöcke zu
klettern, bis man einen steil herabfallenden Wasserfall erreicht hatte. An allen Steinen des
Felsens herrschte ein fröhliches, kühles Tropfen, nur ganz am Rande gab ein kleines Fenster
im Berg den Blick auf den blauen Himmel frei. Es schien mir unglaublich, dass wir nur
wenige Kilometer entfernt von einer trockenen Landschaft waren, die seit Monaten kein
Wasser mehr empfangen hatte und nun in Flammen stand.
Als wir durch die Schlucht zurückwanderten, war die Hälfte des Graslandes schon
abgebrannt – dunkelgelbe Flächen wechselten sich mit schwarzen ab, Falken kreisten über der
Landschaft, um flüchtende Nagetiere zu erhaschen. Auch wir mussten einige Umwege
nehmen, um nicht in einen Brandherd zu gelangen und nicht nur einmal kam uns ein
Schwarm von auseinanderstiebenden Riesenheuschrecken entgegen. Die tierischen Bewohner
dieses verbrannten Landes waren in Aufruhr, nur die Menschen schienen ihren Spaß zu
haben.
Der Duft der verbrannten Erde und die Rauchwolken reichten bis nach Ranohira. Im
einzigen Restaurant des Ortes gab es an diesem Tag zwei Speisen zur Auswahl, Huhn oder
Zeburind. Wir entschieden uns für Zeburind, und während ich das Fleisch, das härter als
gewöhnliches Rindfleisch war, schnitt, blickte ich hinauf zur Decke des Restaurants und
bewunderte die kunstvolle Verzierung an der Mauer, auf der ein wahrscheinlich unbekannter
Künstler die Tierwelt Madagaskars, hauptsächlich Spinnen und Geckos, abgebildet hatte.
Dann erkannte ich aber, dass sich dieses Spektrum bewegte. Hier waren Spinnen auf der
Decke, wahrscheinlich nicht weniger als zwei Dutzend. Diese Exemplare waren etwa
4
tellergroß, und ich hatte Angst, sie würden herunterkommen. Als eine Spinne der anderen
über die Wand hinterher jagte, wahrscheinlich um sie zu fressen, fragte ich den Kellner, ob
diese gefährlich seien. Er verneinte und meinte, diese Spinnen seien wie Katzen. Bis heute
frage ich mich, ob sich dieser rätselhafte Vergleich auf deren ständige Kopulationsbereitschaft
oder eher auf ihre Behaarung bezog.
Wir gingen an diesem Abend früh zu Bett, und eigentlich waren wir durch die mangelnde
Elektrizität froh über eine dunkle Nacht, die uns so manches Ungeziefer nicht vor Augen
führte. Durch das Fenster kam nur der Schein des sich weiter ausbreitenden Feuers des
Graslandes...
A
m nächsten Tag erwartete uns Jean-Claude für den nächsten Ausflug, zum Canyon
de Maky, das Tal der Affen. Wiederum mussten wir zwei Stunden das Grasland
durchwandern, doch heute war die Veränderung schon augenscheinlich.
Wahrscheinlich zwei Drittel des Gebietes waren bereits abgebrannt. Wir gingen
ausschließlich an Feuern und neuen Brandherden vorbei. Die Brände würden von selber
aufhören, versicherte unser Führer. Meine Begleiterin, langsam beunruhigt über die
verheerende Ausbreitung, fragte, ob den Menschen dieses Feuer nicht sinnlos erschien. Nein,
im Feuer manifestiere sich die Macht des Schöpfergottes Zanahary, antwortete Jean-Claude.
Viele Madegassen glauben, je näher sie sich beim Feuer befinden, umso mehr überträgt sich
auf sie die Kraft von Zanahary. Deshalb sei der „Brandstifter“, den wir am Vortag getroffen
hätten, auch so fröhlich gewesen. Und auch Jean-Claude schien es Spaß zu machen, über die
allerorts verbreiteten Glutnester zu hüpfen und zu beobachten, wie die Sohlen unserer
Sportschuhe langsam vor sich hin schmolzen.
Als der Mittag nahte, tauchten vor uns gelb-ockere Felsen auf, dann kamen wir in ein
kleines Wäldchen mit Eukalyptusbäumchen und vor uns öffnete sich das dicht bewachsene,
wiederum von einem Bach durchflossene Tal der Affen. Wanderer, die uns begegneten,
teilten uns mit leiser Aufregung mit, dass sie zwei verschiedene Lemurenarten, die nur in
Madagaskar beheimateten Halbaffen, gesichtet hätten. Wir folgten einem Pfad, der teilweise
durchs Dickicht führte. Schließlich entdeckten wir, durch Zweige von allerlei Dornengestrüpp
spähend, eine Gruppe Kattas auf einem Felsvorsprung. Es waren vielleicht zehn Tiere, die es
sich hier im Schatten der Felsnische gemütlich gemacht hatten und ihre langen, geringelten
Schwänze hinabhängen ließen. Sie schauten neugierig in die Ferne und blickten eher beiläufig
5
auf uns herab.
Danach machten wir uns auf die Pirsch nach den Sifakas, einer anderen Art, die man
abschätzig als „weiße Baumpudel“ bezeichnen konnte, da sie ein sehr buschiges, weißes Fell
und schwarze Nasen hatten und durch ihre Wendigkeit, mit der sie sich von Baum zu Baum
schwangen, einen ausgesprochen heiteren Eindruck machten. Beeindruckend ihre
Sprungkraft, mit der sie zehn Meter und mehr, nur mit dem Schwanz steuernd, von Baum zu
Baum flogen. Jean-Claude, der uns beim Aufspüren der Halbaffen behilflich war, wollte
ihnen dann aber doch nicht zu nahe kommen. Im Naturglauben der Madegassen sind die
Lemuren die Träger von Geistern der Ahnen. Und tatsächlich kann einem mulmig werden,
wenn man den nächtlichen Schauergesängen dieser kleinen Geschöpfe lauscht.
Auch bei der Rückkehr nach Ranohira war einmal mehr ersichtlich, wie sehr Jean-Claude
den weithin verbreiteten Naturglauben respektierte und praktizierte. Am Ausgang des Tales
machte er einen großen Bogen um einen rechteckigen Steinhaufen, und als ich auf diesen
zuging, pfiff er mich zurück und bedeckte die Augen mit den Händen. Als ich fragte, warum,
sagte er nur „fady“ – Tabu. Hier war ein Grab, das man nicht betreten durfte. Ich sah trotzdem
hin – es war mit Dutzenden Zebuhörnern geschmückt.
Zurück im Grasland erwartete uns eine schwarze Landschaft aus Rauch und Staub. Es war
vollendet, das gesamte Gebiet zwischen dem Ort und den Felsen des Isalo-Gebirges war
abgebrannt. Wir erreichten das Dorf, an dem uns am Vortag noch der „Brandstifter“ begegnet
war, und - hier war selbst Jean-Claude überrascht - auch die kleinen Hütten aus Stroh und
Zweigen waren abgebrannt. Die Bewohner waren weitergezogen. Warum? Hier wusste auch
Jean-Claude keine Antwort. Er selbst sei sesshaft, was in den Köpfen der Nomaden vorgehe,
wisse er nicht. Er nehme aber an, dass sie der Landschaft, in der sie lebten, überdrüssig
waren.
Am nächsten Tag verließen wir dieses ausgebrannte, öde Land. Ich kann nicht behaupten,
dass es vorher schöner als nachher war. Das Feuer hatte nichts zerstört, was nicht schon zuvor
die Sonne vergewaltigt hatte. Das Feuer war die einzige Abwechslung im Leben der
Menschen. Anderswo ging man auf den Kirtag, hier zündete man sein Land an – und das
Feuer brachte Bewegung in das eigene Leben.
_________________________________________________
6
Herunterladen