Interview mit Alexander Freiherr Knigge

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Einsichten mit Zuckerchen
Ein Gespräch mit Alexander Freiherr Knigge über seinen stets falsch verstandenen Urahnen,
den neuesten Boom von Erziehungsratgebern und das, was gutes Benehmen wirklich ausmacht
Alexander Freiherr Knigge, ein UrUrUrneffe des Adolf Freiherrn von Knigge, hat zusammen
mit Claudia Cornelsen ein Jugendbuch geschrieben. Es soll den großen Vorfahren
rehabilitieren, dessen bekanntestes Buch Vom Umgang mit Menschen (1788) hartnäckig als
Handbuch für Benimmregeln missverstanden wird.
In Alexander Freiherr Knigges Jugendsachbuch und Fantasyroman Expedition Knigge trifft
der Außerirdische Philo auf Schüler eines Internats, die ihn als amerikanischen Gastschüler
ausgeben, damit er die Zeit bis zur Rückkehr seines Raumschiffes überbrücken kann. Philo
weiß aus seinem „Erdkundebuch“ viel über die Menschen. Dieses Buch ist kein anderes als
Knigges Vom Umgang mit Menschen, aus dem der Gast zur Verwunderung seiner neuen
Freunde bei allen passenden Gelegenheiten zitiert.
Bei der Beschreibung des Internats und der Entwicklung der Figuren konnten die Autoren des
Buches auf eigene Erfahrungen zurückgreifen: Sie waren Zöglinge der evangelischen
Landesschule zur Pforte, eines demokratisch organisierten Internats, in dem die Schüler
mitbestimmen und Verantwortung übernehmen konnten.
Alexander Freiherr Knigge (33) lebt als Rechtsanwalt in Berlin.
Herr Knigge, wie ist Ihr Buch entstanden?
Alexander Freiherr Knigge: Ausgangspunkt war, dass ich fand, man müsse kein Buch
schreiben. Ich bekam oft von Verlagsleuten zu hören: „Leute wie Gloria von Thurn und Taxis
schreiben Benimmbücher; mit deinem Namen müsstest Du das doch eigentlich machen.“ Ich
fand es überflüssig, denn jeder Erwachsene, den das interessiert, kann in den Buchladen
gehen und sich den richtigen Knigge kaufen.
Wie ist es dann doch zu dem Buch gekommen?
Ich dachte trotzdem weiter darüber nach und unterhielt mich mit Claudia, der Mitautorin.
Zunächst hatten wir die Idee, das weit verbreitete Missverständnis über Knigge auszuräumen
und endlich einmal klarzustellen, dass in seinem Buch nicht steht: Wie löffle ich meine
Suppe? Wie knacke ich Austern? Wie halte ich eine Tür auf? Das haben wir kombiniert mit
der Idee, unserer Schule ein virtuelles Denkmal zu setzen. Der Plot war schnell klar. Wir
teilten uns die Handlungsentwicklung auf und Claudia fügte am Ende alles zusammen.
Was halten Sie von den Erziehungsratgebern, die gerade in Mode sind?
Wenn die Leute einsehen, dass sie Rat und Hilfe brauchen bei der Erziehung, dann ist das der
erste Schritt zur Besserung. Wenn man dann zu den richtigen Büchern greifen kann, ist es
umso besser. Ich finde grundsätzlich überhaupt nichts dagegen einzuwenden.
Wurden Sie vom Verlag aufgefordert, im Zuge dieses Trends Ihr Buch zu schreiben?
Nein, es gab schon vorher Kontakt mit dem Verlag. Und Fragen, wie „Sollte man seine
Kinder heute zu gutem Benimm oder zu dem und dem erziehen?“ sind nicht mein Thema.
Wenn man sich gut benehmen kann, ist es wunderbar, aber ich will nicht viel dazu beitragen.
Gibt es denn Erfahrungen, ob das Buch tatsächlich von Jugendlichen gelesen wird oder eher
von Erwachsenen?
Es wird auch von Jugendlichen gelesen. Es wäre schade, wenn nicht. Aber wir sind keinem
Erwachsenen böse, der es liest.
Wie haben Sie die jugendliche Sprache hingekriegt?
Wir haben lange daran gearbeitet. Wir wollten keine anbiedernde „ey cool“- und „super“Sprüche schreiben. Zwei Leute in den Dreißigern, die anfangen in der Jugendsprache zu
reden, das fanden wir doof.
Hatten Sie Jugendliche, die Sie ab und zu mal belauschen konnten?
Nein, wir hatten ein paar Test-Leser aus unserer Zielgruppe, die haben uns ihr Placet gegeben.
Es ist ja nicht so, dass die Jugendlichen eine andere Sprache sprechen und man sich nicht
mehr verständigen kann.
Wie viel von der realen Schule, die Sie als Autoren gemeinsam erlebt haben, ist in Expedition
Knigge eingeflossen?
Ziemlich viel. Man ist natürlich nach 15 Jahren nicht frei davon, das alles mit einem
Glorienschein zu versehen, aber im Großen und Ganzen war es dort so wie im Buch
geschildert.
Hat diese evangelische Landesschule zur Pforte Sie auf das Leben vorbereitet?
Absolut. Besonders wichtig war dort das Thema Verantwortung. Man hatte eigene
Aufgabenbereiche und bekam eben nicht alles serviert. Wenn jemand eine Idee hatte, hieß es:
Hier sind fünf andere, die das auch wollen, macht mal. Man wurde in der Landesschule als ein
Teil des Mikrokosmos Schule ernst genommen, als jemand, der etwas tun kann. Die Schule
wurde 1968 gegründet und war durch und durch demokratisch organisiert. Es gab eine
Verfassung, Wahlordnungen und Ausschusssitzungen bis zum Abwinken. Ich bin heute noch
ein Vereinsmeier, der sich gerne engagiert.
Was haben Sie dort für den Umgang mit Menschen gelernt?
Man hat auf der Schule gelernt, mit Konflikten umzugehen. Wie im Buch beschrieben, gab es
die Präfektur, das heißt, die älteren Schüler erziehen die jüngeren, es gibt keine
professionellen Erzieher. Man hatte unter Umständen gute Freunde unter den Jüngeren, für
die man aber gleichzeitig verantwortlich war. Viele Lehrer sahen ältere Schüler ein wenig als
Kollegen, sie haben sich auf die Aussagen der Präfekten verlassen. Da kommt es gelegentlich
zu einem Konflikt: Jemand aus dem eigenen Zimmer hat eine Freundin im Ort und möchte
abends länger dort bleiben. Man will ihn nicht verpetzen, andererseits wird man vom Lehrer
gefragt: „Und, sind alle da?“ Das ist ein Konflikt, dem man später im Leben immer wieder
begegnet. Damit groß zu werden, das fand ich gut.
War das Leben in der Schule eine Form von angewandtem Knigge?
Knigge passt genauso gut auf diese Schule, wie er auf das Leben passt. Bevor wir die Idee zu
dem Buch hatten, habe ich nicht daran gedacht, dass die Schule eine Verwirklichung von
Knigges Ideen sein könnte.
Was sollen Jugendliche aus der Lektüre mitnehmen?
Idealerweise macht es sie nachdenklich und sensibel für Situationen in ihrem eigenen Leben,
in denen Vertrauen und Freundschaft eine Rolle spielen. Oder in denen es um das Akzeptieren
von Schwächen geht, wenn zum Beispiel einer Pickel hat, krank ist oder immer alles besser
weiß. Und wenn sie dann vielleicht ein paar Jahre später einmal in den Buchladen oder ans
Bücherregal der Oma gehen und den Knigge lesen, dann ist unser Anliegen wirklich erfüllt.
Das ist auch ein bisschen Werbung für den Original-Knigge.
Das Buch ist doch eigentlich ein Roman. Warum läuft es unter Sachbuch?
Es ist in der Jugenbuchreihe des Campus Verlages erschienen. Das Besondere an dieser Reihe
ist, dass Wissen in Geschichten verpackt wird. Sachbücher für Jugendliche müssen eben
anders sein als Sachbücher für Erwachsene.
Würden Sie sagen, dass man Jugendlichen heutzutage Unterhaltung bieten muss, um sie
belehren oder verändern zu können?
Das hat nichts mit der heutigen Zeit zu tun. Es gibt ein Zitat von Knigge, das heißt „man
sollte nie vergessen, dass die Gesellschaft lieber unterhalten als unterrichtet wird.“ Es ist doch
ganz schön, bestimmte Einsichten mit einem Zuckerchen vermittelt zu bekommen. Das geht
mir selber heute noch so.
Das ist im normalen Schulsystem nicht so. Da wird kein Zucker geboten, sondern Stoff, und
der Stoff wird gefälligst gelernt.
Was mit echtem Verstehen zu tun hat, muss man auf eine andere Weise dargereicht
bekommen. Das kann man nicht so zack zack auswendig lernen. Das muss man aus dem
Zusammenleben der Menschen verstehen, aus ihrer Geschichte. Aber alles, was mit Verstehen
und Herzensbildung zu tun hat, ist für einige eine Art Luxuswissen.
Ist das, was Knigge vermitteln wollte – die Kunst des Lebens, eine bestimmte Haltung in
alltäglichen Situationen – ein solches Luxuswissen?
Nein, es ist absolute Basisbildung. Es ist aber kein direkt anwendbares, auswendiglernbares,
trainierbares Wissen wie Vokabeln.
Für Jugendliche, die eine einigermaßen gute Erziehung genossen haben, ist das in Expedition
Knigge vermittelte soziale Verhalten selbstverständlich. Und die anderen, denen soziales
Verhalten abgeht, werden wohl kaum dieses Buch in die Hand bekommen.
Ich nehme für mich selber in Anspruch, eine gute Erziehung genossen zu haben und erinnere
mich noch an das Alter von 13, vielleicht auch 14, als ich anfing, selbst den Knigge zu lesen.
Natürlich waren das letztlich banale Einsichten, aber die noch mal schwarz auf weiß zu sehen,
ließ mich ganz anders darüber nachdenken und half zu verstehen, warum ich mich in
bestimmten Situationen so oder so verhielt.
Aber das wird nicht helfen, die allgemein desolate Erziehungssituation in unserer
Gesellschaft zu verändern.
Das wäre für dieses Buch vielleicht auch ein zu hoch gestecktes Ziel.
Wo würden Sie sich persönlich positionieren, wenn Sie an die zwei Pole autoritäre oder
antiautoritäre Erziehung denken?
Das finde ich schwierig. Es ist absolut unabdingbar für Kinder und Jugendliche, dass es
Autoritäten gibt. Die Frage ist, worin diese sich gründen. Wenn ich an meine Schulzeit zurück
denke, dann sind mir die Alt-68er-„Ey wir sind doch Kumpels“-Lehrer nicht so gut in
Erinnerung geblieben wie die Lehrer, bei denen man sagte: „Wow, der erkennt mich, der lässt
mir nichts durchgehen, aber der respektiert mich. Den kann ich auch respektieren, der hat
Autorität auf Grund seiner Erscheinung, auf Grund seines Wissens.“ Man braucht Autorität.
Insofern habe ich einen Ausschlag in Richtung autoritär. Aber das heißt nicht „Es gibt links
und rechts eine gepfeffert, wenn du jetzt nicht die Klappe hältst“.
Wenn Sie Kinder hätten, würden Sie sie nach Knigge oder ähnlichen Grundsätzen erziehen?
Ich hoffe es sehr, auch wenn das anstrengender ist als eine laxe Erziehungsmethode. In
meinem Umfeld gibt es viele Kinder, und da kann man sehr unterschiedliche Beobachtungen
machen. Letztlich tun sich die Eltern keinen Gefallen, die immer nachgeben und zugucken,
wie sich das Kind aus sich selbst heraus entwickelt. Man merkt, dass Kinder, die von
vornherein klare Ansagen bekommen, keineswegs verstört oder verängstigt sind. Das setzt
voraus, dass man sich als Eltern vielleicht auch mal zwingt, bestimmte Dinge auszuhalten, die
einem auf den ersten Blick nicht geheuer sind. Eine strenge Erziehung – auch im Sinne von
streng gegen sich selber– macht sich sicherlich bezahlt.
Wie kommt es eigentlich, dass der alte Knigge so missverstanden wurde?
Missverstanden könnte man nur sagen, wenn er überhaupt gelesen würde.
Knigge hatte ja durchaus aufklärerische Gedanken. Warum, glauben Sie, ist davon nie die
Rede?
Sie wissen, was nach der Aufklärung kam. Damals hatte man noch kein Urheberrecht. Man
konnte unter dem Namen Knigge alles publizieren, was einem Spaß machte. Karl Goedeke,
der Herausgeber von Über den Umgang mit Menschen im 19. Jahrhundert hat den Text
verhunzt und gerade auch die aufklärerischen Spitzen glatt gebügelt. Außerdem hatte Knigge
selbst viele Feinde, die versuchten, ihn lächerlich zu machen: „Das ist der Knigge, der ist so
ein bisschen für gespreizte Manieren.“ So hat sich das dann verfestigt.
Iring Fetscher sagt in seiner Einleitung zu Über den Umgang mit Menschen von Knigge:
„Der letzte Unterschied zwischen ihm und seinen „Erben“ liegt aber wohl darin, dass Knigge
den gemeinsamen Aufstieg des moralisch und bildungsmäßig zur Führung der Gesellschaft
berufenen Bürgertums anstrebte, während die Autoren zeitgenössischer Etikette-Bücher
einzelnen Parvenus die Anpassung an eine vermeintlich noch existierende Upper-class
ermöglichen wollen“.
Da ist viel Kluges dran. Knigge lebte lange am Hofe und fand die höfische Gesellschaft
abstoßend. Trotzdem riet er dem Bürgertum, Formen einzuhalten, die auf bestimmte Werte
gründen.
Ärgert es Sie, dass es so viele Knigge-Bücher auf dem Markt gibt, Business-Knigge oder
Reise-Knigge, die im Grunde dieses Missverständnis immer weiter tragen?
Das ist eine zweischneidige Sache. Denn wie viele hervorragende Leute und Zeitgenossen
sind komplett in Vergessenheit geraten? Knigge hat zumindest als Gattungsbegriff überlebt.
Wenn das den einen oder anderen dazu führt, vielleicht auch nur aus Versehen ins richtige
Regal zu greifen, dann ist es nicht schlecht.
Sie sind Jurist. Könnte man rechtlich dagegen vorgehen, wenn Autoren ihre Bücher „Knigge“
nennen, obwohl sie nichts mit Knigge zu tun haben?
Das ist eine ausgesprochen komplizierte Sache. Dass „Knigge“ Eingang in die Sprache
gefunden hat, dagegen kann man nichts machen. Man kann nur verhindern, dass allzu arg
Schindluder damit getrieben wird. Meine Familie ist einmal dagegen vorgegangen, dass
Henkel mit Knigge für einen Kloreiniger warb – sogar nach Knigge würde das Klo hinterher
glänzen. Ich glaube, damals ist die Klage in die Hosen gegangen oder Henkel hat die Reklame
eingestellt. Als Rechtsanwalt würde ich so eine Herausforderung heute gerne wieder
aufnehmen.
------------Das Interview führten Anja Karen Kölling, Elena Philipp und Sigrid Scheurer.
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