Peter Handke: Immer noch Sturm Personen: »Ich« Meine Mutter Meine Großeltern Gregor, »Jonatan«, der älteste Bruder der Mutter Valentin, der zweitä1teste der Brüder Ursula, »Snezena«, Schwester der Mutter Benjamin, der jüngste Bruder EINS Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mitteigrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Sanft abschüssig erscheint diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick. Ich habe sie vorzeiten, in einer anderen Zeit, gesehen, und sehe sie jetzt wieder, samt der Sitzbank, auf der ich einst mit meiner Mutter gesessen bin, an einem warmen stillen Sommer- oder Herbstnachmittag, glaube ich, fern vom Dorf, und zugleich in der Heimatgegend. Ungewohnt weit war und ist jener Heimathorizont. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten. Und auch wenn das wieder eine Täuschung ist: im Nachhinein scheint es, daß die Mutter und ich uns an der Hand halten. Überhaupt geschieht in meinem Gedächtnis da alles paarweise; die Vögel fliegen zu Paaren im Himmel, die Schmetterlinge flattern paarweise durch die Lüfte, paarweise schwirren die Libellen, undsoweiter. Das Apfelbäumchen freilich ist mir, zusammen mit den nachleuchtenden Äpfeln, solcherart in wieder einer anderen Zeit begegnet, in einer Nachtsekunde, in einem Tagtraum, oder wann. Ich bin zunächst dagesessen mit geschlossenen Augen. Jetzt schlage ich sie auf. Und was sehe ich nun? Meine Vorfahren nähern sich von allen Seiten, mit dem typischen Jaunfeldschritt, deutlich von einem Fuß auf den andern tretend. Einzeln kommen sie daher, ausgenommen das Großelternpaar, einzeln die mehr oder 1 weniger oder vielleicht gar nicht verwirrte Schwester meiner Mutter, und ebenso einzeln wandern mir deren drei Brüder daher, jeder auf einem eigenen Weg, oder Nichtweg. Der jüngste purzelt eher, läßt sich rollen, wie übermütig. Einzeln steuert ein jeder auf den ihm scheint‘s vorgegebenen Ort oder Stehplatz zu, bis auf meine Großeltern wieder, welche sich auf die Bank setzen. Gar nicht alt ist dieses Paar, und ausnahmslos jung deren fünf Kinder, selbst der Erstgeborene, der Einäugige dort mit dem dichten Schnurrbart, geboren doch ziemlich lang vor den andern. Der jüngste der Söhne ist fast noch ein Kind, und meine Mutter erscheint mir buchstäblich blutjung, und beinah als heimliche Geliebte des mittleren Bruders, des schon früh weithin bekannten Frauenhelden. (»Blutjung« ist dagegen ihre kaum ältere Schwester angeblich nie gewesen.) Und daß ich‘s nicht vergesse: Sie alle erscheinen mir in Schwarzweiß, nicht nur ihre Gewänder, und alle schön, wie eben nur welche in Schwarzweiß. Seltsam, daß diese Gestalten da ganz und gar nicht den Vorfahren ähneln, wie sie im Leben, oder auf Photographien, oder in den Erzählungen sich mir eingeprägt haben. Sie sind es nicht, weder in Aussehen noch Haltung noch Mienen. Und zugleich sind sie es. Sie sind es! Und dazu paßt es, daß sie mich jetzt auf kleinsten. Um so sichtbarer muß ich so wohl geworden sein: Eine heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den andern, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar. Meinem Alter nach könnte ich zum Beispiel den ziemlich bejahrten »Vater« der blutjungen »Mutter« darstellen. Deren jüngster Bruder, das Fastkind, ist, mit mir im Schatten, immer wieder, sagen wir, dreimal, zur Seite getreten, und ich bin ihm nachgerückt. Und zugleich ist die Sippe, geleitet von meiner Mutter, mir auf ähnliche Weise nähergerückt und hat einen eher lichten Halbkreis um mich gebildet. Diese gemeinsame Bewegung hat mich freilich nicht geängstigt: Ich bin zuletzt meinen Leuten entgegengekommen und habe ihnen nacheinander die Hand gereicht (eine andere Berührung kam ja, oder kommt, bei unsereinem kaum in Betracht). Nur vor der Mutter dann habe ich im Abstand innegehalten, und habe gesagt: »Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe, nicht und nicht. Hallo, Frau Mutter! Seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und noch immer redest du mit deinem landfremden Akzent, als ob die Truppen Napoleons weiterhin die 2 Herren von Kärnten und Kram wären, du Karawankenfranzösin du. Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan. Guten Tag, Großvater, stari oce, dober dan, tesar, bzw. Zimmermann. Guten Tag, Onkel und Taufpate Gregor, moj stric in moj boter, mein Onkel und mein Pate, dober dan. Guten Tag, teta, das ist: Tante, Ursula, keine Angst, und schon gar nicht hier, vor mir. Cheers, Mutterbruder Valentin, Englischsprecher of our family, Schachmeister, und auch sonst ein kleiner Meister. Guten Tag und dober dan, stric Benjamin, Fastkind du, dem die Erde der Tundra, gemäß dem Spruch auf dem Gedenkstein, leicht sein sollte. Und jetzt du, Mutter: So jung wie jetzt warst du in meinen Tag- wie Nachtaugen nie. Und auch eine andere Erscheinung bist du jetzt, mit anderen Zügen, einer anderen Stimme, einem anderen Akzent, anderen Augenfarben. Und doch bist du dieselbe. Du bist es. Aber sag: Wo sind wir jetzt alle zusammengekommen? Denn unsere Gegend scheint das hier nicht zu sein, bis vielleicht auf den Apfelbaum da. Nur schauen bei uns zuhause die Äpfel ganz anders aus, wie eben Äpfel zum Hineinbeißen, zum Stehlen. Und dieses Dörrzeug da verlockt einen weder zum Hineinbeißen noch zum Obstdiebwerden, und schon gar nicht zum Sündebegehen. (Obststehlen war in unserer Gegend ja nie eine Sünde — oder mittlerweile doch?) Und unsere Gegend und das Gelände hier: erst recht kein Vergleich. Was soll das-da-da eigentlich darstellen? Eine Heide? Die Steppe? Die Taiga? Die Tundra? Für mich: zum Davonlaufen. Nur daß das nächste Gelände ziemlich sicher noch um eins gottverlassener ist, und die übernächste Station ganz sicher eine Jauchenstation, und die überübernächste todsicher ein Minenfeld, und so fort, bis zuletzt an gar keinen Ort.« Die blutjunge Mutter hat gleich geantwortet: »Auch ich habe dich nicht gleich erkannt. Und bevor du ins Reden kamst, war ich — unsicher. Aber so weiß ich, du bist es, mein Sohn. Mein Sohn, der nie zu uns hier, zur Familie, zur Sippe gehören wird, Vaterloser du, der du Ersatz, Halt und Licht suchst bei deinen Vorfahren. Und jetzt zu deiner Frage, die wieder einmal keine war: Doch, das hier ist unsere Gegend. Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten, slowenisch Koroška, lepa Koroška, das schöne Kärnten. Und da hinten irgendwo mußt oder kannst du dir unsere Saualpe oder die Svinjska planina vorstellen, die, obwohl sie ja nach außenhin daliegt wie eine Riesen-Sau, in Wirklichkeit nach dem Blei, in unserer Haussprache svinec, heißt, dem Blei oder svinec innen im Berg, von welchem die wüsten Sommergewitter auf der Svinjska planina oder Saualpe her - -‚ her - -‚ hilf mir, Sohn, nein, hilf mir nicht, herrühren, herstammen, und ebenso unser Haus- und Familienname, erinnere dich, nein, erinnere dich nicht, du hast seit je ein schlechtes 3 Gedächtnis, merk es dir, Sohn. Und merk dir: Sau haben, heißt bei uns hier: Glück haben, und: Auf die Saualpe gehen, heißt bei uns: glückselig gehen, ohne Bleifüße gehen.« Ich habe kurz ihr Spiel mitgespielt wie sie das meine zuvor: »Und was muß ich mir dort hinten für einen Totschlägerberg, für ein Jammertal, für eine Teufelsschlucht, für eine Drachenwand, für ein Steinernes Meer, für eine Mammutfurzklamm, für einen Selbstmördergrat vorstellen?« Die Mutter hat mein Spiel nicht mehr mitgespielt: »Dort hinten kannst du dir die Karawanken denken, und dahinter dann Slowenien, Jugoslawien.« Ich, in einem Versuch, weiterzuspielen: »Aber Jugoslavija, das gibt es doch seit einer Ewigkeit nicht mehr, nicht das königliche nach dem Ersten, und erst recht nicht das ohne König nach dem Zweiten Weltkrieg. Was für eine Art von Zeit soll hier eigentlich gelten? Wann ist das, jetzt? Die Heide-Steppenzeit, oder was? Die Sonntagsschürzenzeit? Die Knickerbockerzeit? Die Butterfaßzeit? Die Apfelveredelungszeit? Die Mistausfuhrzeit? Die Kukuruz- oder, wie war das Wort, Türkenschleißzeit, wo ihr alle abends beim Maisschälen im Stall gehockt seid und euch beim Geschichtenerzählen und Liederabsingen eine andere Zeit vorgegaukelt habt? Oder doch die Realzeit, die historische, die beschissene, die auf ewig verlorene, von euch und auch mir verlorene, und ihr Kümmerer, wir Kümmerer, bleischwer verloren in ihr?« Darauf die Mädchenmutter: »Unbekannte Gestalt, bekannte Sprache. An deiner Sprache erkenne ich dich, Affensohn. An unserer Sprache sind wir alle Versammelten hier zu erkennen, erkennen wir uns wenigstens untereinander, jeder von uns Unsrigen den andern als einen Unsrigen. Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir. Zeigt es ihm.« Allgemeines Innehalten. Die Wortmeldung kommt dann von dem Mutterbruder, den ich als »Valentin« angeredet habe. (Als er vortritt, sehe ich, daß er tatsächlich etwas wie »Knickerbocker« trägt.): »Ich, der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat, der einzige ein bißchen reich und, na ja, mächtig Gewordene, verdanke das vor allem dem Umstand, daß ich mich von unserer Haus- und Sippensprache, der vermaledeiten, losgesagt habe. Ja, verdammt soll sie sein, diese Sprache, die dem Benjamin und dem Gregor da, dem einen im hintersten Rußland, dem andern gleich hier auf der vermaledeiten verbleiten Saualpe, das Leben geraubt hat, unserer Mutter das Herz zerbrochen hat, unserem Vater den Hut über die Augen, die Ohren und dann auch noch den Mund gedrückt hat, mit dem Schweißband als 4 Selbstknebel, die Sprache, die meiner Schwester Ursula ihren Liebsten, ihren Einzigen, ihren Bräutigam abspenstig gemacht hat, noch bevor die Liebe spruchreif, geschweige denn hautnah werden konnte — nur, wie sagst du, >gebräutelt< hat der Mann, gebräutelt habt ihr beide, nicht wahr, jahrelang, bis daß deine Sprache euch geschieden hat, dein Bräutigam sich verzupft hat — ausgebräutelt —‚ und du alleingeblieben bist, Schwester, mit deiner Sprache, deinem Ersatzbräutigam.« (Sie hat, wenn ich recht gehört habe, eingeworfen: »Nein, dem wahren!«) »Und verflucht soll sie sein, unsere Sprache« — er hat sich jäh an mich gewendet — »die, gesprochen von ihr, meiner Lieblingsschwester hier, oder, wenn du willst, deine, na ja, warum nicht, Mutter, sie kann ja nichts dafür, Frau ist Frau, verflucht sei sie, unsere Sprache, die, gesprochen von meinem darling, meinem Darling Clementine, in den Ohren nicht bloß der Dorf-, sondern auch sämtlicher Landmannschaften das Begehren geweckt hat, so daß ein jeder, der hörte, wie die da, speziell sie, unsere Sprache sprach, sie, die da, auf der Stelle haben wollte. Seltsam übrigens, wie eine gewisse Sprache und eine gewisse Art, sie zu sprechen, einen auf die Sprünge bringen kann, habe ich‘s nicht am eigenen Leib dann erfahren, als ich bei dem Ausgang in Narvik die Lappländerin reden hörte, gar nicht zu mir, weit weg, am anderen Ende der Straße, und im selben Moment hier an meiner Rippe, daß es mich buchstäblich überrieselt hat —‚ bloß daß derjenige welcher, der mein Sweetheart dann heimgeführt bzw. geschnappt hat, dein Vater war — mehr brauche ich dazu nicht zu sagen‚ und wie der Vater, so der Sohn, mehr ist darüber nicht zu sagen.« Allgemeines Innehalten wieder. Die Großeltern haben sich danach auf die Bank in der Heidesteppe oder im »Jaunfeld« gesetzt, mit ihrem halbwüchsigen jüngsten Sohn in der Mitte. Und dann ist die von mir als ältere Schwester der Mutter angeredete und »Ursula« genannte düstere, auch düster gekleidete junge Frau zu Wort gekommen: »Alle wart ihr gegen mich, von klein auf. Nie habe ich meinen Platz bei euch gefunden. Bei keinem Spiel habt ihr mich mitspielen lassen. Und wenn, dann habt ihr mich bei der ersten Gelegenheit ausgelacht. Besonders du, Schwester: Ah, wie du mich auslachen konntest. Alles ist mir vergangen bei deinem Auslachen, vergangen, alles. Und wenn ich mich im Abort eingesperrt habe, hast du vor der Tür, der mit dem Herzen, herzlos weitergelacht. Herzlos, herzlos. So bin ich vor euch davongelaufen in den Wald, aber der Wald, speziell unser finsterer Fichtenwald, hat mir nie gutgetan. Genauso finster wie er bin ich aus ihm zurückgekommen, in euren Augen die Spielverderberin. Dabei glaubte ich lange an das Glück, gerade an das meinige, und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mitzuspielen, mit euch, mit meiner Familie. Nur waren da alle Rollen besetzt, und still dabeisitzen, wie unsere Mutter, kam für mich nicht in Frage. Ich wollte mittendrin sein und mich einmischen, einmischen, mich. Warum bloß? So war es 5 gedacht, ja, so gedacht war es. Folglich bin ich wohl wirklich zu der verkümmert, als die ihr mich von klein auf gesehen habt, zu der Person, die in unserer Gegend >der ledige Unwille< geheißen wird, eine, die die anderen spüren läßt, daß sie nicht geliebt wird. Ja, niemand hat je mich geliebt, auch die Mutter nicht. Ich habe ihr bloß von meiner Geburt an erbarmt. Aber was habe ich vom Erbarmen? Ich spucke darauf Euer Auslachen und das Erbarmen haben mich gleich nach der Schulzeit aus dem Haus gejagt, und ich habe bis zum Krieg als eine, für die im Haus kein Platz war, als Magd in der Fremde gelebt, wie das seinerzeit eben für uns Aushäusige üblich war. Und mitten im Frieden, den ihr anderen so himmlisch gefunden habt, nicht wahr, Gregor, du Obstbauer, so biblisch, waren meine Gedanken schon längst im Krieg. Im Krieg, so habe ich gedacht, werde ich endlich meinen Platz finden. Im Krieg werde ich geliebt werden. Und so ist es dann ja auch gekommen? Wenn ich das nur wüßte. Im Haus waren zwar von einem Tag auf den andern drei Plätze frei, und man hieß mich willkommen, liebevoll, wie mir vorkam, sogar du, Schwester. Aber ... aber ... Früher einmal war noch am ehesten mein Platz im Stall bei den Kühen und Pferden gewesen, oder in deinem Obstgarten, Gregor, gelegentlich. Aber jetzt: nirgends mehr. Vielleicht stimmt er also doch, der andere Spruch aus der Gegend: Einen Platz findet nur, wer ihn selber mitbringt? Habe ich vielleicht nie das, wie soll ich sagen, Platzhaben verkörpert? Und bin vielleicht gerade so für euch zur Spielverderberin geworden, schlimmer, zur Unglücksstifterin? Nicht ihr habt mir also keinen Platz gelassen, sondern ich bin schon platzlos geboren, und demgemäß auf Krieg aus, auf Welt- wie Familienkrieg? Erbarmen, Mutter. Hast du mir nicht erzählt, daß in unserer Sprache hier >Mutterleib< und >Erbarmen< dieselbe Wurzel haben?« Schon während dieser wohl familienüblichen Suada hat ihre bis dahin vollkommen still neben Mann und »Benjamin« auf der Bank in der Heide sitzende Mutter aus ihrer Feiertagstasche, oder was das ist, das Strickzeug, Wolle und Stricknadel, umständlich und auffällig geräuschvoll hervorgekramt und an einem bereits begonnenen Strumpf, oder was, weiterzustricken sich angeschickt. Ihr Mann, mein Großvater, hat, im Gegenzug, ein kariertes Feiertagstaschentuch, ein eng zusammengefaltetes, aus der Innentasche seines Sonntagsrocks geholt, es ebenso umständlich aufgefaltet, bis es in seiner Beinahgeschirrtuchgröße prangte, und hat sich hineingeschneuzt. Dazu hat er dann uns im Kreis eine seiner familienüblichen Kurzgeschichten erzählt: »Lang, bevor ich eure Mutter kennengelernt habe, lang vor dem Ersten Weltkrieg, bin ich einmal von den Gendarmen für ein paar Stunden eingesperrt worden, in den Gemeindekotter — für unsern Letzten hier erklärt: in das Arrestloch neben der 6 Gendarmerie, nein, nicht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wofür wir sonst bekannt sind — ich muß dich leider enttäuschen. Und zwar kam das so: Ich war damals schon ausgelernt als Zimmermann, aber mit Frauen: nichts, und wieder nichts. Ich habe mich an keine herangetraut, was ja ein anderer Sippenzug ist, mit gewissen Ausnahmen, dann allerdings heftigen, siehe zum Beispiel den Valentin da, den Deftigen, nomen est omen, den über die Gemeindegrenzen und über das Jaunfeld hier im gesamten Kärntner Becken bekannten — sagt man heute noch so? — Weiberer, der — so sagte man zu meiner Zeit noch nicht — nichts anbrennen hat lassen und kein Bett hat kalt werden lassen, außer sein eigenes ... Also: Wie zu einer Frau kommen, ich, ich!, endlich? Damals habe ich noch kaum deutsch gesprochen, wie fast alle vom Land hier, Schule? gefehlt — entschuldigt, unentschuldigt. Ein bißchen Deutsch beigebracht hat mir zuerst ein Wanderzimmermann, aus Bremen, oder Hamburg, oder Eckernförde, oder wie die Löcher dort im Norden halt heißen, und dem sind unsere Mädchen nur so zugelaufen und zugefallen, nicht wahr. Warum bloß? Die einen von uns meinten, wegen seiner besonderen Zimmermannstracht, hinter der die girlies eben nicht Johnny Cash oder Graham Nash vermuteten, sondern, operettenvernarrt, wie sie waren — so war das damals noch —‚ einen verkleideten Zaren, oder wenigstens einen seiner Matrosen. Und die andern: Weil er deutsch sprach. Hat nicht auch deiner Mutter dann so ein Deutschsprecher den slawischen Kopf verdreht, mon petit fils, moj vnuk, mu engene, mi nieto? Hochdeutsch sprechen hat bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein in unserer Gegend nicht bloß die Haus- und Hoftore geöffnet. Wer rein deutsch sprach, versprach, ein Herr zu sein. Deutsch, das war damals der Magnetpol für die hiesigen Weiberleut. Aber wie es kam, daß euer Vater als Junger damals in den Kotter gesperrt wurde? Es war ein Mittwoch — ich weiß nicht, warum ich euch mit dem Wochentag behellige —‚ es war der Markttag in Völkermarkt, oder Bleiburg, oder wo. Und verhaftet bin ich worden, weil ich mir dort an einem bestimmten Stand Rindsaugen gekauft habe, einen ganzen Kübel voll, der da angeboten wurde, zum Rindssuppekochen, so war das damals, und weil ich mit diesen Augen, ganz schön glitschig waren die, nicht wenige sind mir aus der Hand geglitscht, dann quer durch die Stadt die jungen Frauen, auch einige nicht so junge, beworfen habe — dabei habe ich die Augen nicht einmal geschmissen, die Mädchen schon gar nicht bombardiert, sie denen eher zugeworfen — zugedacht, zart, fast wie Rosen, na ja, noch dazu wie Rosen ohne Dornen, unschuldig. Und unschuldig war ich ja wirklich. Denn was hatte mir der deutsche Zimmermann in meiner Frauennot geraten? —« 7 Hier hat den Erzähler endlich die düstere seiner zwei Töchter unterbrochen: »Vater, die Geschichte hast du uns schon tausendundeinmal erzählt, nur daß der Augenwerfer immer ein anderer war, der Dorftrottel, der Hausstock des Nachbarn oder sonstwer. Vater, warum willst du seit jeher ablenken? Warum kannst du nicht einmal ernst sein? Sind wir nicht letzten Endes fast alle verlorengegangen, nicht nur wir, sondernunser ganzes Volk? Vorletzter Akt: der allgemeine Jubel, letzter Akt: der große Fall, sang- und klanglos. Wenn unsere Geschichte keine Tragödie ist — was dann? —« Hier wird sie ihrerseits von ihrem Vater unterbrochen. Er ist dazu sogar von der Sitzbank aufgesprungen. Und er spricht laut, beinahe schreit er, und kommt dann gar kurz ins Brüllen: »Tragödie: das Wort will ich nicht gehört haben! Da sind mir die blödesten anderen Fremdwörter noch lieber: >Karnickel<, >Lumberjack<, >Konfitüre<, >Pumpernickel<, >Etagere<, >Klobrille<, >Rosenkohl<, >Streuselkuchen< ... In unserem Haus ist kein Platz für eine Tragödie und kein Platz für eine Tragödin. Und so beklage dich auch nicht, daß du hier nie deinen Platz gefunden hast, du Requiemsüchtige. Klageweiber: nicht bei uns! Kein größerer Widerspruch als unser Volk und die Tragödie. Eine >Tragödie<? Kannitverstan. Sooft uns etwas tragisch gekommen ist: augenblicks abgeschalten. Unser Innerstes, es sträubt sich gegen das Tragische, gegen das Tragischtun, das Tragischauftreten. Unsere Lieder sind oft traurig? Ja, gar zu oft, und so traurig, daß sie mir über den Hals hinauf stehen, zu den Ohren hinaus stauben, mit dem ersten Jammerton schon auf die Blase drücken. Unser Volk nennt sich oft, gar zu oft, Volk des Leidens? Ja, aber Leiden und Erleiden, sie sind doch nicht tragisch! Das Passive, die althergebrachte, heißgeliebte, vielbesungene Leideform, was hat die denn Tragisches? Unsere Geschichte hier kennt keine Tragödie die. Tragödie setzt voraus: Aktivgewordensein, Aktivwerden, so oder so. Und unsere Natur war seit jeher antitragisch und demgemäß mit der Zeit auch gegen das Handeln.« (Kommt er nicht allmählich durcheinander, zu spüren auch an seinem Leiserwerden?) »Oder ist unsere Natur seit jeher gegen das kollektive Handeln gewesen, und ist sie demgemäß mit der Zeit antitragisch geworden? Hat unsere Natur demgemäß unsere Geschichte bestimmt? Oder hat umgekehrt unsere Geschichte unsere Natur bestimmt? Unsere Leidensgeschichte: kommt sie aus unserer passiven Natur? Oder kommt unsere passive Natur aus unserer Leidensgeschichte? Und sind wir nicht doch einmal aktiv geworden, aktiv wie kein Volk sonst weit und breit mitten in Europa?« (Unvermittelt wird er nun doch wieder heftig) »Es ist das Wort! Das Wort geht mir auf die Eier! Tragisch, Tragödie. Lappalie. Kamelie. Zichorie. Geranie. Waschschüssel statt unser Lavoir. Geschirrschrank statt Kredenz. Jacke statt Rock. 8 Bohnerwachs! Schnürsenkel! Käffe! Aprikosen! Apfelsinen! Pfannkuchen! Kai! Jürgen! Uwe! Thorsten! Gunter ... Gernot ... Giselher ... Spülen Plätten ... Pinkeln ... Laufen statt Gehen ... Mit eurer Fremdsprache habt ihr unsere heilige Heimatluft entheiligt!! Tragödie: dieses Wort kommt mir nicht über die Schwelle! Gloria! — Ein einziges reichsdeutsches Wort hat mich allerdings aufhorchen lassen: >Bleibe<. Bleibe ... Bleibe! — statt der ewigen Leier mit >Heimat!< und >domovina<!« Er hat sich wieder gesetzt, die Taschenuhr aus der Tasche seines Feiertagsgilets gefingert und sie aufgezogen. Er hält sie ans Ohr. Das allgemeine Innehalten. Und dann noch einmal der Großvater: »Wer >Schrank< sagt statt >Kasten<, >Jacke< statt >Rock<, und >Káffe< statt >Kaffee<, der hat schon die Heimat verloren. Der hat schon die Heimat verraten. Und wer Wörter wie >Preiselbeeren< und >Frühäpfel< in den Mund nimmt, wird nie ein Henker sein. Was ich bin, was wir sind, sind wir von Haus aus, von unserem Haus aus, und ohne Haus sind wir nichts.« Und was sehe ich jetzt? Der von mir eingangs »Gregor« geheißene Einäugige, das älteste der Geschwister, tritt vor, mit seinem Jaunfeldschritt, der da einem Tanz gleicht, und verkündet, oder spielt nach Sippenart Verkünder: »Nach dem Gloria die feierliche Lesung aus dem heiligen Buch der Familie.« (Er zeigt mir und den andern dieses Buch, das sehr große, eher schlanke, in altersfleckiges Packpapier geschlagene.) »Mein weithin berühmtes Werkbuch zum Obstbau, Titel: >Sadjarstvo!<, das ist Obstwissenschaft, mit Rufzeichen!, oder eben Obstbau, eine Mitschrift von mir, Gregor Svinec oder Gregor Bleier — wie unser Name, wie du weißt, oder nicht weißt, dann zwangseingedeutscht wurde —‚ aus dem Winter und Frühjahr neunzehnhundertsechsunddreißig, der schönsten Zeit meines Lebens, die ich, wie ihr wißt, oder nicht wißt, jenseits der Staatsgrenze zugebracht habe, in Maribor pod Dravom, zu deutsch Marburg an der Drau, im damaligen ersten, dem königlichen Jugoslawien, in der Landwirtschaftsschule dort oder wo, nein, genau dort, alldort. Und ich schlage euch das Buch jetzt auf wie es kommt. Vorher aber drücke ich meine Lippen darauf und rieche daran.« (Er tut das und wendet sich dann wieder an mich.) »Mach mir das nach, Täufling, und laß das Buch dann im Kreis gehen.« (Gesagt, befolgt — wobei jeder von uns das Buch küßt und beschnüffelt nach seiner Art; bloß die finstere Schwester verweigert die Annahme. Das Buch, zurück in des Verfassers Händen, wird dann gemäß der Ankündigung aufgeschlagen.) »Jabolko Welschbrunner: Plod debel, pravilno oblaste oblike.« (Er hat gestockt, mit einem Blick auf meine blutjunge Mutter, worauf diese vorgetreten ist und übersetzt hat.) »Der Welschbrunnerapfel: Dicke Frucht, in der Regel von runder Gestalt.« (Ihr Bruder fährt in der Lesung fort.) »Koa gladka, zelena, pozneje rumena na sonni strani ivordee barvana.« 9 Meine Mutter übersetzt: »Die Haut glattgrün, später gelb, an der Sonnenseite lebhaft rot gefärbt.« Der Einäugige: »Na drevesu zori v prvi polovici oktobra in poaka do vigredi.« Meine Mutter, seine Schwester: »Auf dem Baum reift er in der ersten Hälfte des Oktober und hält sich bis in den Frühling.« (Allmählich sind die anderen in Lesung und Übersetzung eingefallen, bis auf, siehe oben, und die Großmutter bewegt nur stumm die Lippen. Hat sie womöglich eine stumme Rolle? Dafür unterstützt sie kräftig den Rhythmus mit ihrem Strickzeug.) Der Einäugige: »Drevo raste zelo mono in daje nato redne in bogate pridelke.« Fast alle: »Der Baum wächst sehr stark und gibt dann regelmäßige und reiche Erträge.« Der Einäugige: »Uspeva v vsaki zemlji in legi.« Fast alle: »Er gedeiht in jeder Erde und Umgebung .. . « Hier mischt sich die dunkle der Schwestern ein: »Lega heißt >Lage<! Nicht >Umgebung<! >Lage< und >Umgebung< sind nicht das gleiche!« Der Einäugige: »Jabolko Welschbrunner je zelo pripravno za izdelavo sadnih sokov —« Fast alle: »Der Welschbrunner Apfel. Er ist sehr geeignet zur Erzeugung von Fruchtsäften — « Die Finstere: »Von >Obstsäften<! — das Wort >Fruchtsaft< gab es damals noch nicht!« Der Einäugige: »Jabolko Welschbrunner je zelo pripravno za izdelavo sadnih soko ker ima mnogo kisline.« Alle (bis auf mich): »Der Welschbrunner ist sehr geeignet zur Erzeugung von Obstsäften, denn er hat viel Säure.« Der Einäugige: »Maribor, devet in dvajesetega februara tiso devetsto etintrideset.« Alle (bis auf mich): »Marburg, am siebenundzwanzigsten Februar neunzehnhundertsechsunddreißig.« Und der Vorleser hat seinen Codex geschlossen, ihn kurz wieder geküßt, und ist damit an seinen Platz oder sonstwohin zurückgetreten. Und dann von neuem das allgemeine Innehalten. An dieser Stelle meiner Zeitreise, oder um was es sich handelt, hat sich endlich das jüngste der Geschwister, der von mir eingangs als »Benjamin« Angesprochene, das Fastkind, als Einzelperson bemerkbar gemacht. Aus dem Sitz heraus, zwischen seinen Eltern dort, läßt er sich unversehens hören: »Ob ... ob ... ob mir jemand erklären kann, wieso die Birnen manchmal die Form von Äpfeln haben, nie aber ein Apfel die Form einer Birne? Und wie erkenne ich, ob im Apfel drinnen ein Ohrenschleicher sitzt? Und warum ist nach neunhundertneunundneunzig gelben Maiskolben plötzlich einer schwarz? Und warum haben alle männlichen Mitglieder unserer Familie trotz der neun Schuhlöffel im Haus an den Fersen heruntergetretene Schuhe? Und wer ist der Erfinder des Schuhlöffels? Und warum versteckt sich beim Erbsenschälen jedesmal eine einzelne Erbse hinten in der Schote? Und warum rutschen mir die Zitronenkerne, wenn ich sie aufheben will, jedesmal zwischen den Fingern weg? Und warum verliere ich, wenn ich den Hof kehre, aus dem Besen jedesmal eine Rute? Und warum bleibt mir bei jedem Schluck vom 10 Kaffee die Untertasse wieder an der Tasse kleben? Und warum ekle ich mich so vor der Milchhaut im Mund? Und überhaupt vor der Milch, wo ich doch, nicht wahr, Mutter, dir angeblich noch als Vierjähriger überall in Haus und Hof und Flur nachgegangen bin, mit einem Schemel in der Hand, auf den ich mich gestellt habe, um so im Stehen deine Muttermilch einzusaugen?« (Zu mir hin) »Schau nicht so blöd, du Neffe! So etwas ist möglich!« (Wieder im Kreis) »Warum all der Ekel in mir, der ständige Ekel? Familienkrankheit, oder bloß meine eigene? Ekel vor dem Morgengrauen. Ekel vor der sich duckenden Katze. Ekel vor dem eigenen Namen — überhaupt einen Namen zu haben. Ekel vor dem Loch zwischen den Rippen des Gekreuzigten, von der Lanzenspitze des römischen Soldaten. Ekel vor der Berührung des Sonntagsrockärmels hier auf meinen Handrücken. Ekel vor der haarlosen Wulst und Ritze zwischen den Beinen des angebeteten Nachbarmädchens. Ekel vor den Wahlplakaten mit den Monstern, die einander befetzen. Ekel vor Weihnachten. Ekel vor dem schwanzeinziehenden geliebten und als Kadaver dann beweinten Hund. Ekel vor dem Geruch der nassen Hühnerfedern. Ekel vor der Fremde, schon vor all den fremden Wegen nach dem heimatlichen Dreieckkreuzweg am Dorfende, Ekel allein schon vor dem Nachbarkorridor, dem Nachbarstall, der Nachbarlaube, wo die Weintrauben doch um einiges süßer sind als bei uns daheim. Und gesteigerter Ekel vor dem Nachbarort, und erst recht dann vor der Nachbartalschaft, wo der Dialekt ein klein wenig anders ist als bei uns — Ekel, unbeschreiblicher. Und nicht mehr zu steigernder Ekel vor der nächstgelegenen Stadt, und so von einer Stadt hierzulande zur andern. — Seltsam freilich, daß mein Ekel Halt macht jedesmal an den Grenzen, auch bloß in Gedanken an die. Das andere Land, gleichwelches: Ekel undenkbar, ich ekelfrei. — Und so wie der Ekel vor dem Raum, so auch vor der Zeit, eher vor den Zeiteinheiten, der Stunde, der Woche, dem Monat, dem Jahr, vor allem dem Jahr, und womöglich noch ärger vor der Minute, allein schon vor dem Wort— Mi-nu-te ... — Und wieder seltsam, daß der Ekel sich kaum bemerkbar macht vor dem Tag, und völlig verschwindet vor der Nacht, und fast Sehnsucht wird vor dem Ostertag, dem Tag der Auferstehung, und noch stärker in den Nächten vor Weihnachten, vor dem Tag der Geburt, und daß ich mich dann nach einer anderen Zeitrechnung, nein, nicht >Rechnung<, Ekel vor jeder Rechnung, vor den Zahlen überhaupt — daß ich mich nach einer anderen Zeit sehne. — Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, und jeder Schritt wird Unermeßlichkeit. Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht. Und Ekel vor meinem, unserem ewigen Heimweh. Heimweh nach der Sitzbank vor dem Haus, nach dem Räuchergeruch in der Speisekammer, nach dem Apfelgeruch im Keller, nach dem Angeschautwerden von der Mutter, nach den 11 Schimpflitaneien des Vaters, länger als je die Allerheiligenlitanei in der Kirche, und je länger, je lieber, Heimweh, vermaledeites, nach dem einen Auge meines einäugigen ältesten Bruders, nach den Prahlereien frisch aus den Liebesnächten des anderen Bruders, nach dem Geraune und Geraunze der düsteren Schwester, Heimweh, elendiges, nach dem Singen der hellen Schwester — auch wenn ich mir jeweils die Ohren zuhalten möchte, wenn sie dann wirklichwahr mit ihrem Singen anfängt. Heimweh, kaum außer Haus, nach Haus und Hof und Familie. Elendiges, ekelhaftes ewiges Heimweh! — Warum habt ihr mich bloß Benjamin genannt? Ewig muß ich der jüngste sein. Warum nicht Hans? Lukas? Absalom? Mein Name, mein Gefängnis. Absalom! Absalom!« Und wieder das allgemeine Innehalten. Dann ein Gesang, von dem ich erst mit der Zeit bemerkte, wer ihn angestimmt hatte: des Vorredners Schwester, meine blutjunge Mutter. Obwohl ihr Singen, und auch, was sie sang, nicht so trübsinnig war, wie ich es befürchtet hatte, hielt ich mir zunächst unwillkürlich die Ohren zu, nach dem Vorbild ihres kleinen Bruders, von dem ich im übrigen nicht nur den Widerwillen gegen ein gewisses Singen geerbt zu haben scheine. Ob er und ich dann im Laufe der Begebenheiten von selber die Hände von den Ohren genommen haben, oder ob sie ihm von jemandem heruntergeschlagen worden sind, worauf auch ich . ..: ich kann mich jetzt, im Licht des heutigen Tages, nicht mehr erinnern. Wessen ich mich entsinne: daß wir beiden, Benjamin und ich, zumindest beim Anheben des Lieds, als die entschiedenen Nichtsänger unserer Sippe wirkten, als Verstockte. Seltsam, daß sich mir dabei die Strophen des Jungmutterliedes Wort für Wort eingeprägt haben: »Das Jahr neunzehnhundertsechsunddreißig war unser glückliches Jahr. Es war ein Jahr von Sonne und Schnee. Sonne und Schnee, und das war schon die ganze Geschichte. Bistheimgekehrt, Bruder, aus dem anderen Land und hast mir das andere Land mitgebracht. Hast mir den Stolz auf unsere Sprache beigebracht: Sonne und Schnee. Hast aus unserer Keusche ein Anwesen gemacht, und aus unserem Hühnerdreckhof eine Hofstatt, und aus Haus und Hof eine Liegenschaft, hast Haus und Hof und Feld zusammengedacht zu unser aller Grund: Sonne und Schnee. Im Jahr neunzehnhundertsechsunddreißig ging ein großes Jammern hier durchs Land. Die Nachbarin heulte vor der leeren Vorratskammerwand, der Nachbar knirschte mit den letzten Zahnstummeln, die Nachbarskinder nährten sich von Maikäfern, Erdäpfelschalen und Hummeln. Ein Volk von Knechten mit Hungerlohn, von Arbeitern ohne Arbeit, von Freigelassenen ohne Freiheit, von Wählern ohne Wahl, von Unbezahlten ohne Zahl, von Feinden innerhalb der friedlichsten Gemeinden. Und Obdachlose vom Obdachsattel bis 12 Montafon, aus dem Sattel Geworfene von der Walhalla bis nach Gralla, Alteingesessene nur noch in den Gefängnissen, Schlägereien selbst bei den Begräbnissen, fortdauernd der Bürgerkrieg das ganze liebe Jahr, lang nach dem kalten zwölften Februar. Das Jähr neunzehnhundertsechsunddreißig war unser glückliches Jahr. Es war ein Jahr von Sonne und Schnee. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Während mein einer Bruder uns jenseits der Grenze das Land und die Sprache fand, zog mein zweiter Bruder Werktag für Werktag mit unserem Vater von Bauer zu Bauer, quer über die Sau- oder Bleialpe als minderjähriger Wanderzimmermann und Sonntag für Sonntag von Witwen- zu Witwenbett als Schaut-her-was-ich-alles-kann. Und während mein einer Bruder uns hier die Brache mit Obstbäumen umheckte und sich und uns, hört, zum ersten Mal in unserer Geschichte, die Freiheit, hört, sie, die Freiheit, absteckte, ließ mein jüngster Bruder nichtsahnend sich internieren, um in einer sogenannt höheren Schule als erster von uns unsere Unkultur zu verhexen, und was geschah dann? Umgehend heimgeflüchtet aus dem Heim, nichts wie heim aus dem Griechischen, dem Lateinischen, heim aus dem Deutschen, gleich heim in den Stall zu den seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den heimischen Dialekt und zu seinen Lauten aus dem Land namens Ur, unbeleckt von jeglicher Geisteskultur. Den Stall auszumisten, wurde dann seine Lust, und in der stockdunklen Rauchküche zu sitzen und auf die Räucherwürste zu spitzen, wurde unserm Jüngsten dann zum Ersatz für die Zitzen der Mutterbrust. Und das war nun die ganze Geschichte. Neunzehnhundertsechsunddreißig: unser glückliches Jahr. Ein Jahr von Sonne und Schnee —«. Ins Wort gefallen ist ihr hier ihre finsteräugige Schwester: »— und von Weh, und noch einmal Weh. Und Fliegen zuhauf, nicht bloß auf den Augen des Ackergauls. Dein eines Auge hast du so verloren, Gregor, in deinem glorreichen Jahr, nicht wahr? Und deine Braut hat dich verlassen in diesem Jahr, aus mit dem Paar, nicht wahr? Und keine Frau weit und breit, welche unser Einauge mehr angeäugelt hat nach dem Jahr, für immer aus mit dem Paar, nicht wahr? Und der Blitz, der in den Volksempfänger gefahren ist: aus mit der Volksmusik. Und die Jauchengrube, in der du um ein Haar ertrunken wärst: typisch Nichtschwimmer, tipien neplavalec. Und die Dachlawine, die deiner Lieblingskuh das Genick gebrochen hat: und du? Nicht versichert, typisch. Ein Jahr von Sonne und Schnee, ein Jahr wie jedes andere, ein Jahr von Jauche, Unglück und Weh.« Ob an dieser Stelle wieder ein Innehalten erfolgt? Mir scheint zumindest, aus einem solchen heraus komme die folgende Stimme mir zu Ohren, wobei eingangs wieder nicht deutlich wird, wer der Sprecher ist. Ah, es ist der Angesprochene, der Einäugige. Er ist es, der antwortet: »Und doch war das unser glückliches Jahr, wenn auch unser einziges. Danach gab es nur noch 13 ein paar glückliche Tage, nein, einen einzigen — immerhin. Und unser glückliches Jahr, es fing nicht erst an mit dem von euch allen gemeinsam umkränzten Haustor bei meiner Rückkehr aus der Obstbauschule in Slowenien, und es hörte schon gar nicht damit auf. Mitten im Sommer war das, zwischen Fronleichnam und Mariä Himmelfahrt, nach der zweiten Mahd, wenn kaum mehr welche Wiesenblumen blühen, und trotzdem habt ihr, hast auch du, noch Blumen gefunden, gottweißwo, und sie in den Torkranz geflochten. Unser Sippentriumphbogen. Ja, meine Lieblingskuh, >und so weich zu melken!<, das hast du selber gesagt, wörtlich. Und der Hausmost alsdann, die erste Pressung, Äpfel und Birnen gemischt, der säuerliche Jakob Lebel mit der süßen Angoulemka, genannt nach der Königstochter aus Angoulème in Frankreich, der Zar-Alexander-Apfel — da habt ihr euren Zaren und Zimmermann — mit der Guten Luise von Avranches, die grünhäutige, weißfleischige Magdalenenbirne mit dem speziell dickbäuchigen Scheckigen Kardinal. Und das novemberliche Sauschlachtessen alsdann, die Sau verstummt und abgebrüht, der Schnitt in ihren Rücken, und wie der weiße Speck zum Vorschein kam, fünf, sechs Finger dick, und dazu der von der Mutter auf den Herd gestellte Topf mit Sauerkraut, und ihr Ruf: >Kommt!<, und wie wir alle dann um den Mund herum und auch sonstwo fettig waren, und wie wir auch dem Nachbarn etwas von dem Segen brachten — womit es freilich bald danach aus war, keiner dachte mehr an den Nachbarn, wenn im Haus gefeiert wurde, und bald war ohnedies nichts mehr zu feiern. Glückliches Jahr bis noch in den nächsten späten Frühling hinein, oder? Ostern: daß doch immer Ostern wäre, oder? Und daß wir zum Essen, wie damals zu Ostern, immer noch >Segen< sagen könnten, und daß >himmlisch< nicht bloß so ein Wort wäre. Und die erste Mahd alsdann: Wie in aller Herrgottsfrühe unterwegs zu den Wiesen jeder von uns mit der Sense der erste sein wollte, und wie wir dabei — das gibt es auch schon längst nicht mehr, nicht einmal das Wort — wie wir dabei — jauchzten, nein, juchzten, und beim Arbeiten dann sangen: >Mrzla rosa, ojstra kosa, rada reze travnike< — übersetz das deinem Bankert, Schwester.« (Was meine Mutter unverzüglich befolgt: »Kalter Tau, scharfe Sense schneidet gern die Wiesen«). »Wo gibt es das denn noch, ein Jauchzen? Ein Juchzer? Wie heilig in jenem Jahr auf unseren Liegenschaften alles doch verrichtet wurde. Und wie alles, was das Herz begehrte, daheim erzeugt wurde. Hast du nicht selber, Finsterschwester, mich ja einmal >Königsbauer< genannt?« Und was hat die Angeredete geantwortet?: »Einaugbauer, sei‘s drum. Und was du da hast verkündet: das falsche Evangelium, die falsche frohe Botschaft. Wenn ich mich jetzt davor bekreuzige —« (sie tut das) — »— so nicht vor Gottes Namen, dem Wort Gottes. Die Arbeit heilig verrichtet? Daß ich nicht lache.« (Sie lacht so freudlos, wie ich das in unserer Familie, 14 und nicht bloß da, allein von ihr im Gedächtnis habe — hat sie überhaupt gelacht?) »Eine Zeitlang im Jahr haben wir ja noch alle zusammengearbeitet. Aber wie hast du da fluchen können, hast mit deinem Fluchen sogar unsern weithin fluchberühmten Vater in den Schatten gestellt. Nicht bloß geflucht hast du, sondern verflucht, verwünscht, verdammt: Verfluchte Sonne, verfluchter Regen, verdammter Steilhang, mitsamt den Weizengarben in der Wegkurve umgestürzter Leiterwagen: verdammt sollst du sein, und dazu das Pferd, und die verfluchte Wegkurve, und überhaupt die ganze gottverlassene Gegend. Es hat genügt, daß dir ein Apfel auf den Kopf gefallen ist, und du hast den ganzen Baum mit Ausreißen bedroht. Hast deine Stiefel nicht von den Füßen bekommen, und dafür den Stiefelknecht zerschmettern wollen. Ein Pfropfreis ist dir vertrocknet, und du hast es in Grund und Boden verdammt, und darüber hinaus die heimische Erde und Luft, undsoweiter, bis zur Welt und zum Weltraum im ganzen. Es stimmt schon, daß du der Friedlichste unter Tausend warst. Aber du konntest eben auch anders sein, ganz anders, und das hast du später im Krieg der Welt ja auch bewiesen. Süß war dir das Arbeiten, ja. Aber im Handumdrehen konnte es dir sauer werden, sauer der Schweiß statt schön salzig, das selige Dahintun auf einmal unselig. Und mit deinem Umschlagen vom Begeistertsein zum Vermaledeien hast du allen um dich herum Angst gemacht. Über das Fluchen unseres Vaters haben wir, heimlich zumindest, lachen können, vor deinem Verfluchen hätte ich mich jedesmal verkriechen mögen, ich habe mich davon mitgemeint und mit- verflucht gefühlt. Begeistert war ich von dir, und entgeistert hast du mich, Bruderherz. Und so, in dem Sechsunddreißigerjahr, als sich dann gezeigt hat, daß das Selbsterzeugte, die Liegenschaft, das Anwesen, das Gut, dein Königshof eben doch nicht uns alle ernähren konnte, war es mir anfangs sogar recht, von Zuhause weggehen zu müssen, in die Fremde, als Dienstmagd. Und was für Segen bekamen wir Hundertschaften, wir Hekatomben von Mägden und Knechten dazu essen? Hauptspeise: trockene Brotrinden, übergossen mit siedendem Wasser. Und welchen Most haben wir getrunken? Die erste Pressung? Ein Witz. Die zweite, bei der die Obstmaische noch einmal zerkleinert, mit Wasser versetzt und dann noch einmal gepreßt worden ist — die gewässerte? Auch ein Witz — die war für die Gäste.« (Hat sie sich nicht längst vom Bruder weg zu mir oder sonstwem, zu einem erweiterten Kreis hin gewendet?) »Für uns Springerinnen und Springer, ja, so hießen wir, so heißen wir Mägde und Knechte, gibt es als Trank die dritte Pressung. Verfahren? erspart. Geschmack? erspart. Und wo schlafen wir? Irgendwo, in einem Stall, im Stall irgendwo. — Im Krieg dann, mit den Partisanen im Wald, habe ich mich freilich zeitweise nach so einem kuhwarmen Stall gesehnt. — Und was haben wir zum Anziehen? Ein Gewand aus so hartem Leinen, daß es einem ständig in die Haut beißt, als hätten wir Läuse, und 15 außerdem haben wir wirklich Läuse. Und was arbeiten wir Springer in die Kreuz und in die Quer durch das heilige Heimatland denn so Heiliges? Sammeln den heiligen Tau in Parfümfläschchen zur Ausfuhr nach Übersee? Nein, ausfahren tun wir jetzt in der Vorkriegszeit höchstens den Mist auf die Felder, für die Saat des Wintergetreides, und verteilen dann dort den das ganze Jahr über im Stall vom Vieh noch einmal und noch einmal gepreßten Most, nein, Mist, die dreihundertdreiunddreißigste Pressung, so fest und schwer geworden, daß wir zum Ausstreuen eine eigene Mistgabel brauchen, eine besonders starke — und, hört!, gleichmäßig verteilen den heiligen Mist!, auf daß auf dem Roggen- und Weizenfeld keine unheiligen Fenster entstehen — auseinandergegabelt der Mist, und emporgegabelt die Herzen — heilig, heilig, heilig!« Und wieder ist jetzt ihr Vater aufgesprungen von der Sitzbank in der Heidesteppe: »Genug gelästert, Saudirn du, mannslose, Vierzehntageregenwettergesicht, Holzpantoffelklappergespenst, Leichenbitterin ohne eine Leiche, uns -Jauche-in-die- OhrenTropferin, Herrgottswinkelverpesterin, du mit dem Trauerprofil lang vor dem Trauerfall.« Er ist allmählich über seine Litanei ins Lachen geraten, worauf wir andern, auch die Geschmähte, mehr oder weniger einstimmen — bis auf deren Mutter —‚ worauf er sich wieder faßt, oder so tut: »Kein Wort von Gott hier bei uns! Daß mir keiner von euch seinen Namen ausspricht, kein Allmächtiger, kein Barmherziger, kein Heiliger, und schon gar kein Alleiniger! Und keine Rede von Religion in unserer Mitte, weder so noch so. Das ist weder der Ort für Gottes Lob noch für Gottes Lästerung, verstanden?! Schon ein bloßes >0 Gott!< oder >Ach, Gott!< oder >du lieber Gott!< von euch, und ihr —« (er gerät wieder ins Lachen, angesteckt von uns andern, bis auf ...‚ und seinerseits uns ansteckend, undsoweiter) »— sollt mich kennenlernen.« Dann von neuem das allgemeine Innehalten. Der Vater, aufgesprungen, hat sich nicht mehr gesetzt. Jetzt erhebt sich auch seine Frau, meine Großmutter, von der Bank inmitten des weiten Jaunfelds, nachdem sie ihr Strickzeug eingepackt hat. Und ebenso steht der jüngste Sohn auf. Wie mir scheint, schicken sich alle zum Gehen. Doch dann höre ich meine blutjunge Mutter, an die finstere Schwester gewendet: »Aber feiert nicht auch ihr Mägde und Knechte eure Feste? Feste, wo nicht nur Brotrinden gegessen, nicht nur Most mit neunzig Prozent Wasser getrunken wird, wo nicht nur die Leinenkleider an euch reiben, wo nicht nur die Läuse sich in euch zerbeißen, wo nicht nur der Mist schwer wiegt? Bist du nicht vielleicht die eine, die nie was zu feiern findet, Schwester, die ewig unfrohe Fronfrau?« Und dann der mittlere Bruder, der eingangs von mir mit »Valentin« angeredete: »Ah, nichts Anschmiegsameres als eine festfeiernde Magd. Meine liebsten Jagdgründe, die Sklavinnen. 16 Mein Vorzugswild. Mein Freiwild. Kein willigeres. Keine mütterlicheren Liebhaberinnen. Auch die, die mir mit ihren vom Kartoffel-, Verzeihung, vom Erdäpfelklauben, vom Saufutterkochen, vorn Sauerkrautraspeln beinhart gewordenen Fingernägeln den Rücken oder sonstwas zerkratzt haben. Selbst die eine, die mir in dem bestimmten Moment in den Mund gespuckt hat. Und sogar diejenige welche, die was, wie ich mit ihr hinter das Festzeit gegangen bin, vor meinem Bauch ein Schnappmesser hat aufschnappen lassen. Nichts Züngelnderes, wenn ich so sagen darf. Rot, hot, wie die Amerikaner sagen. Mit einem Wort: gottvoll. — Du schaust so neidisch aus deinem einen Auge, Bruder, stimmt‘s?« Und der Einäugige hat kurz geantwortet mit »Da«. Und darauf der allerjüngste der Brüder, das Fastkind, an seine düstere Schwester gerichtet: »Von mir aus lästere weiter, Schwester, unheilige Kümmernis, Schierlingsmunde, Krieglinde, Krampfhilde, Übelheid und Ekeltraud. Auch ich bin der Feind der Zeit, von neunzehnhundertsechsunddreißig bis neunzighundertsechsunddreißig, bin gegen die Zahlen und gegen alles Zählen. Nieder mit dem Jetzt. Nieder mit dem Hier.« Noch ein Innehalten. Und dann das gemeinsame Aufbrechen, gemächlich. Unwillkürlich meine Frage, an niemand Bestimmten: »Was habt ihr heute gefeiert?« Antwort, über die Schulter, des Einäugigen, Gregor: »Unser Hausfest. In unserer Gegend hat es das bisher nicht gegeben. Ich habe es bei uns eingeführt, nach meiner Rückkehr aus Jugoslawien, wo es slavje heißt, das Fest des Hauses und der Familie. Heuer feiern wir es zum ersten Mal.« Darauf die Düsterbraue: »Und, was mich betrifft, zum letzten Mal. Dem sein slavje: Propaganda. Mit all seinem Propagieren unseres Slawentums und Auf-die-Fahne-Schreiben, unserer Haus- und Hofsprache als einer Markt-, Stadt-, undnein, nicht Landes-, vielmehr Staatssprache hat er dem Haus kein Fest beschert, und schon gar kein frohes, sondern den Zwist. Der mit seinem ewigen Jugoslawien. Seinen höchst- persönlichen Traum hat er, voreilig, wie er ist, uns allen aufzwingen wollen. Der da ist es, der den Sturm sät zwischen uns, den hitzigen, herz- und kopfkrankmachenden Südsturm, von jenseits der Karawanken, den Jauk — wie der sich schon ausspricht, Jauk! —‚ den Jauk, den Krieg.« Aber wer mischte sich da ein, sorgte, allein mit der Stimme, für eine Art vorläufigen Friedens? Obwohl weder Gesten noch Mienenspiel mir auffielen, erkannte ich nach dem ersten Satz, daß es die Mutter der fünf war, die da sprach — so hat sie doch keinen stummen Part in der Geschichte?: »Gehn wir alle zusammen heim. Es wird bald Abend, und im Herbst wird es hier draußen schnell kühl. Die Nußschalen im Baum vor dem Haus sind schon fast alle aufgeplatzt, und die ersten Nüsse sind abgefallen. Ich habe sie uns in einem Korb auf den Tisch im Eßzimmer gestellt.« Darauf, im allgemeinen gemächlichen Weggehen, einer, oder 17 eine (es konnte auch die mit der gerade noch bösen Zunge sein): »Und was gibt es sonst zum Nachtmahl, Mutter?« Darauf die Mutter, meine Großmutter: »Das frischgebackene Brot, backo fenwarm, und dazu die eigenhändig frischgestampfte Butter, mit den Wassertropfen oben auf dem Klumpen.« Einer, oder eine: »Und das ist alles? Bauchwehessen!« Die Großmutter: »Seichwurst und gekochter Schinken, mit dem Osterkren —« Einer, eine: »Meerrettich, wie die Deutschen es hören wollen —« Die Großmutter: »Schweinsbraten mit Erdäpfeln und Bratäpfeln. Kärntner Nudeln —« Einer, oder eine: »Mit den Maden in der Käsefüllung?« Die Großmutter: »— und dazu Krautsalat mit Kümmel und Steinpilzsalat in Olivenöl aus Montenegro —« Einer, oder eine: »Nicht für mich!« Die Großmutter: »Apfelstrudel im Oblatenteig —« Einer, eine: »Wie die Hostien bei der Heiligen Kommunion, so geschmacklos —« Die Großmutter: »— mit Zimt und Zucker und Rosinen aus Mazedonien. Halva vom letzten Kirchtag —« Einer, oder eine: »Muß denn zuletzt bei uns immer noch was Türkisches auf den Tisch kommen? Immer noch Türkengefahr?« — Die Großmutter: »Halva, übersetzt einfach >Süßes<, beträufelt mit Honig —« Einer, oder eine: »Hoffentlich nicht aus Attika oder gar Antalya!« Die Großmutter: »— geschleudert von eurem Vater im Bienenhaus beim Obstgarten.« Einer, oder eine: »Und was gibt es zu trinken? Hoffentlich nicht wieder nur den ewigen Holler-, Verzeihung, Holundersaft und den Most, von dem sich einem der Arsch zusammenzieht?« Hier hat in meiner Erinnerung der Einäugige oder Obstbauer von seiner Mutter das Antwortspiel übernommen: »Weder Holler noch Most — Apfelsaft, jabolni sok, vom jabolko, das ist Apfel, Welschbrunner, und, wer will, trinkt mit mir heute einmal vino, Wein, den von jenseits der Karawanken dort — hier bei uns —« Einer, oder eine: »Bei uns<, sagst du, du?« — Der Einäugige: »— Ja, bei uns, hier bei uns wächst ja kein Wein —‚ den Wein aus Slowenien, von Maribor, Ormo, Jeruzalem.« Darauf einer, oder mehrere: »Halleluja!« Eine tiefstehende Sonne hat von der Seite, oder von sonstwo, über die Heide gestrahlt und die Gesichter meiner Sippenleute ausgeleuchtet, während sie, wie mir scheint, da und dort geradezu übermütig sich auf den Heimweg machen. Ein paar Gesprächsbruchstücke sind mir noch zu Ohren gekommen: »Abendrot, Morgenkot.« — »Morgenrot, Abendkot.« — »Wer kann mir die Krawatte binden?« — »Ah, eine Laufmasche!« — »Ich muß noch das Vieh füttern.« — »Morgen zum ersten Omnibus!« — »Ob wir noch einmal alle so zusammenkommen werden?« (Gesungen) »Gehn wir auf die Alm, fahr‘n wir übern See . . . « Sie haben dabei einander geschubst, gerempelt, untergehakt, ein Bein gestellt, getreten, in den Schwitzkasten genommen, 18 umschlungen, auf dem Buckel getragen, den Arm auf den Rücken gedreht wie zum Ab führen. Und so sind meine Vorfahren abgetanzt, und ich bin auf der weiten Flur allein zurückgeblieben. Ein paar Schritte bin ich ihnen, glaube ich, nachgegangen und habe dann meinerseits innegehalten, und dann gerufen: »So bleibt doch. Bleiben wir zusammen. Stand by me.« Und was sehe ich Bejahrter da? Meine blutjunge neunzehnhundertsechsunddreißiger Mutter, die als einzelne noch einmal zurückkommt und mir folgendes an den Kopf wirft: »Hör auf mit deinem Geschrei. Natürlich bleiben wir bei dir, wo denkst du bin? Weißt du denn nicht, daß wir bei dir bleiben bis ans Ende deiner Tage, und vielleicht noch darüber hinaus, du Erztrottel? So sind wir allesamt gemacht, und so wird hier gespielt. Aber du, Sohn: bist du bei uns geblieben? Wirst du bei uns bleiben? Hast du uns nicht immer wieder abtun wollen? Uns loswerden? So bleib du mit uns. Hast du denn nicht gemerkt, daß du gar nicht anders kannst, du Obstgartenflüchtling? Daß wir, ob du willst oder nicht, dich führen? Daß wir dich bestimmen, und nicht nur, wie du zeitweise gemeint hast, zu deinem Unglück, du Piaukel? Bleib bei uns, denn so bist du gemacht, und demgemäß sind deine Früchte. Und so dein Spiel, so steht dir frei zu spielen. Du hast im übrigen keine Wahl, es ist dein einziges Spiel, seit jeher, dein einziger Bauplan. Bleib bei uns, Sohn.« ZWEI Und so ist sie dann verschwunden. Und niemand mehr als ich auf der Heide. Ich habe mich auf die Bank gesetzt, an den Rand. Das Licht hat gewechselt, und Wind ist aufgekommen, ein leichter, kein Sturm, gerade so stark, daß die 99 Äpfel im Baum in eine schwache Bewegung geraten sind. So sitze ich lange im gleichmäßigen, kaum hörbaren Wind. So bin oder habe ich dagesessen. Und irgendwann einmal werde ich, nachdem ich eine Zeitlang die Lippen bewegt habe, auch laut geworden sein: »Ihr Vorfahren ihr: Ihr macht mir ganz schön zu schaffen. Wann gebt ihr endlich Ruhe? Wie kommt es bloß, daß ihr fortwährend auftretet? Und das nicht nur in den Träumen, die, im Unterschied zu den meisten Träumen sonst, wirklicher sind als je das laufende Datum, sondern auch im Laufe der Tage? Eine ältere Frau mit Kopftuch fingert an der Kasse des Supermarkts oder wo langwierig das Kleingeld aus ihrer Münzkatze, und die Großmutter meine klaubt womöglich noch endloser herum in ihrem Sparstrumpf beziehungsweise -socken. Im Bus oder wo sitzt vor mir ein gar nicht so alter Mann mit einem 19 etwas zu kleinen Hut auf dem Kopf, und auch wenn er den Hut gar nicht abnimmt, nimmt ihn auf einmal dann der Großvater ab, und ich habe klar vor mir wie zu seiner Zeit nie seine schweißverklebten Haare, die ewigbleiche Stirn mit der Kerbe des Schweißbands, und den ewiggebräunten Nacken mit der Haut, die gemustert ist von dem Netzwerk, dem überfeinen, aus lauter Fünf- und Sechsecken — kaum ein Viereck zu erkennen, seltsam, und schon gar kein Quadrat, seltsam. Im Fernsehen oder wo ein junges Kriegsopfer aus einem arabischen oder sonst einem Land unterwegs zur Grabgrube: der Jüngste unserer Sippe. In einem irischen Pub oder wo die Reproduktion eines Gemäldes von einer Meßfeier in einer Farmerhütte, ein Tisch in den Altar verwandelt, und im Hintergrund der Stube die Kredenz mit den geblümten Kaffeetassen, daneben der Butterstampfer und zwischen Priester vorn am Altar und Stampfer hinten unsere Sippe vollzählig versammelt, so vollzählig, wie sie mir zu ihrer Zeit nie vor Augen gekommen ist, und durch die Reihe alle so stillbegeistert bei der Sache, die Blicke ausgerichtet auf Altartisch, Kelch, Priester, sogar auf das heilige Buch, wie das den Erzählungen meiner Mutter ziemlich widersprach, und beim längeren Hinschauen doch nicht, wieder seltsam. In einem Western oder wo: aufgespielt zum Tanz, und die da tanzen, und wie, und die da aufspielen zum Tanz, und wie: alles die Unsrigen, auch die Tölpel, auch die Grämlichen, auch wenn es nicht bloß sieben sind, sondern siebzig. Aber zurück zu den Vorfahrenträumen: Wie habe ich gesagt — daß die wirklicher sind als sonstwas? Nein, wirksamer. — Schönes Wort übrigens: wirksam. — Inwiefern wirksam? Gebieterisch. Inwiefern gebieterisch? Ich soll. Was soll ich? Die Altvorderen überliefern? Zu großes Wort, und außerdem falsch. Nein, es gibt keine großen Wörter, nur welche am falschen Platz, im falschen Moment. Die Ahnen hochhalten? Das tue ich ohnedies, aber darum geht es nicht. Ihnen nachspüren? Sie zu Wort kommen lassen? Sie auftanzen lassen, wie sie vorzeiten gemalt sind auf dem Stirnbrettern der slowenischen Bienenhäuser? Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht. Was ich weiß: ich soll. Ein schlechtes Gewissen beschert ihr mir, von Zeit zu Zeit jedenfalls, Leute. Schlechtes Gewissen weshalb? Wegen meiner Undankbarkeit. Ganz schön lästig seid ihr mir, Leute, von Zeit zu Zeit. Andererseits: wenn ihr dann eine Zeitlang nicht auftretet, weder tagsüber noch im Traum, bekomme ich wieder mein schlechtes Gewissen, dann allerdings so: Was habe ich bloß falsch gemacht, daß ihr mir nicht mehr erscheint? Was habe ich Böses getan, daß ihr nichts mehr von mir wollt, meine Leute? Was habe ich verbrochen, daß meine Ahnen mich fallengelassen haben wie einen verlorenen Sohn oder wie einen stinkigen Erdapfel? Mein Spiel, Mutter? Ohne euch kein Spiel. Wer spielt mit mir? Kommt wieder. Gebt mir zu tun. Fordert mich. Kitzelt‘s aus mir heraus. Laßt mich nicht allein in meiner falschen Ruhe.« 20 Wie gewünscht, betritt auf das Stichwort hin meine Mutter den Plan, die Heide, die Steppe. Immer noch sehr jung wirkt sie auf mich, nur ist sie nicht mehr das resche junge Mädchen vom Land wie in den Vorszenen. »Herausgeschwanzt«, wie man in der Gegend einmal gesagt hat, kommt sie mir vor, städtisch offene Haare im Gegensatz zu dem Haarkranz gerade noch, und zu »herausgeschwanzt« paßt auch der Fuchsschwanz um ihren Hals, mit dem Fuchskopf samt Glasaugen hinten, die funkeln, sooft sie sich im Daherstöckeln — fast hätte ich gesagt »scharwenzeln« — um sich selber dreht. Ziemlich hoch sind die Stöckel, und ziemlichen Krach macht sie damit, auch Wind, in dem die Äpfel im Heideapfelbäumchen buchstäblich losrasseln, als seien sämtliche Kerne in den Gehäusen aus dem Lot geraten. Oder habe ich mich getäuscht? Und die junge Frau da, die sich nun wie eingeübt an das Bäumchen lehnt, ist gar nicht die Mutter von mir Angejahrtem, der von der Bank aufgesprungen ist und einen großen Schritt auf sie zugetan hat? Wie auch immer: Ich stocke, und dann frage ich: »Wer sind Sie?« Und die Unbekannte antwortet: »Einmal darfst du raten, Alterchen.« Und ich: »Frau Mutter.« Darauf die Mutter: »Woran hast du mich erkannt?« Ich: »An Eurer Stimme, Frau Mutter, ohne Akzent und ohne Dialekt.« Die Mutter: »Das kommt vielleicht vom Theater- spielen seinerzeit, vor dem Einmarsch der Deutschen. Auch wenn wir bloß eine Laiengruppe waren, und die Stücke, die wir aufgeführt haben, halt unsere alten Volksmärchen waren, und wir gespielt haben nie in einem Theater, höchstens im Pfarrsaal, und meistens irgendwo in einer Scheune, was sage ich, in einer Tenne, aber jedesmal vor voller Scheune oder Tenne, und manchmal bei schönem Wetter auch draußen im Freien, auf der Wiese, immer vor voller Wiese, oder auch hier draußen auf dem freien Jaunfeld, beim Apfelbaum, immer vor vollen Äpfeln. Und seinerzeit vor dem Einmarsch war ja fast fortwährend schönes Wetter.« Und ich: »Frau Mutter: Ich hätte Euch erkannt auch ohne Eure Stimme, in jeder Verkleidung, als Spanierin mit Ohrringen wie auf der Kaffeedose bei uns daheim, als Star in einem UFA-Film, als Piratenbraut in einem Film mit Errol Flynn, als balkanische Braut mit dem Kopf des in der Schlucht gefallenen Geliebten im Schoß, als Dienstmädchen im Deutschen Reich, als Rächerin, als Gärtnerin, als Mörderin — auch meine! —‚ und sogar von Grund auf verwandelt, in Gestalt einer buntscheckigen weißbewimperten Kuh ohne Hörner, verwandelt in einen zerschlissenen Hackklotz, in das Kleeblattmuster in dem hölzernen Scheißhaus bei uns daheim, in einen Kugelblitz, der einschlägt in unseren Herrgottswinkel.« — Die Mutter, nachdem wir zwei uns auf die Bank gesetzt haben wie eh und je: »Wie geht‘s dir, Sohn?« — Ich: »Ich kann nicht klagen.« Die Mutter: »Ja, stimmt, klagen konntest du schon von klein auf nie. Und was machen die Frauen?« Ich: »Bel pacific.« 21 Die Mutter: »Und dein Garten?« Ich: »Bel paese. Nur der Kirschbaum hat zu wenig Sonne, die Kirschen sind klein und sauer.« Die Mutter: »Schaust du noch immer so viel Fußball im Fernsehen? Und schreist dabei allein durchs ganze Haus?« Ich: »Ich schaue keine ganzen Spiele mehr, nicht einmal die Endspiele, höchstens eine Halbzeit, meistens die zweite. Und schreien tu ich dabei immer noch, nur nicht mehr im Haus, immer irgendwo in einem Café, mit irgendwelchen Fremden, die tun mir gut, das tut mir gut. Und immer noch halte ich mit den Verlierern.« Die Mutter: »Was liest du gerade? Immer noch alle die Nebelkrähen, wo einem das Buch aus der Hand fällt, weil darin nichts als das Unheil krächzt, das mir schon im Leben genug durch die Rippen fährt?« Ich: »Seit langem lese ich nur noch Geschichtsbücher.« Die Mutter: »Seit wann interessiert meinen Sohn denn die Weltgeschichte?« Ich: »Ich lese die Geschichte unserer Gegend und unserer Leute hier, soweit man die zurückverfolgen kann.« Die Mutter: »Das ist ja nicht weit ... Und was bringt dir so ein Lesen? Was nützt es dir? Was kannst du davon gebrauchen?« Ich: »Nützen: nichts. Gebrauchen: sehr wenig. Es macht einen hilflos. Hilflos, hilflos. Und es bringt mich in Wut.« Die Mutter: »Und was machst du mit der Wut?« Ich: »Nichts. Hilflos, hilflos. War ich einmal der innige Leser, so bin ich jetzt bei der Ortsgeschichte der dramatische. Hilflos dramatisch. Denn wie die Geschichte bloß dramatisieren? Oder doch nicht ganz so hilflos: Ich lese unsere Geschichte und stoße mich davon ab.« Die Mutter: »Aber wohin?« Ich: »Woanders hin, vielleicht aufs offene Meer.« Die Mutter: »Oder in einen Sumpf. In einen Tümpel. In die Jauchengrube, wo du ersäufst. Wie ich sehe, bist du also weiterhin unterwegs mit deinen Expeditionen an Ort und Stelle, aber hoffentlich nicht mehr so gefährlichen?« — Ich: »Doch, gefährlichen. So muß es sein, Mutter.« Und wieder das Innehalten, ein beiderseitiges. Darauf ich: »Du redest von >seinerzeit< und >damals<, Mutter. Fehlt uns das >Einst< und ein >Vorzeiten<. Wie kommt das? Was ist das für eine Zeit, da wir zwei hier auf der Bank im Jaunfeld sitzen? Was für ein Jahr? Was ist inzwischen geschehen?« (Ich zu mir selber: »Ah, seinerzeit die Fortsetzungsromane in der Kirchenzeitung jeweils mit dem Vorspann: >Was inzwischen geschah<!«) Die Mutter auf unserer Bank, mit erhobenem Kopf, ohne mich anzuschauen: »Was inzwischen geschah: Meine Brüder sind im Krieg für Großdeutschland, das auch bei uns ... bestimmt, alle drei. Sogar Gregor der Einäugige hat zwangseinrücken müssen, was sage ich, hat für ... Soldat werden dürfen, als Funker oder was. Jedenfalls darf er noch nicht für sein neues ... Vaterland mit der Waffe in der Hand ... kämpfen. Er schreibt schöne Briefe nachhause, von Holland, wo 22 keine Front ist: Endlich einmal keine Berge, keine Saualpe, kein Obir und keine Koschuta, keine Karawanken, kein himmelverrammelnder Triglav oder Dreikopf. Ebene nach Ebene bis ans Meer Das Meer! Das Meer! Und der Himmel über Delft. Und die Tulpenfelder von Haaaarlem. Und die fetten Kühe. Was für Euter. Holland ist das Land, wo Milch und Honig fließen!« Sie springt auf und spielt ihren abwesenden Bruder vor: »Und die Freude der Einheimischen an unseren siegreichen Truppen. Unsereiner kann sich an den holländischen Freudenschreien und sonstigen Lauten, fern vom Balkan, nicht und nicht satthören. Und erst die Meisjes, mit so großen Augen, so schönen, daß sie mein Milchauge übersehen, anders als alle die Mädchen bei uns daheim! Und stellt euch die Freude meinerseits vor, liebe Eltern und Schwestern, als ich im befreiten Holland bei einem Ausgang ausgerechnet auf den Baum stoße, der uns auf der Obstbauschule im endlich auch befreiten Jugoslawien als der König der Apfelbäume beigebracht worden ist, der, welcher den allererstklassigen aller Äpfel trägt, den Marktführer unter allen Äpfeln, den haarigen, den zotteligen Boskop, den boskopski kosma! Ja, der Boskop, richtiger >Boskoop< hat, wie schon der Name sagt, zur Heimat Holland, eben das Dorf Boskoop, und von so einem Baum habe ich hier endlich in Natur stehen und ihn salutieren dürfen, den kerzengeraden, von keinem Westwind zu biegenden Stamm, und die Krone, die nach jedem Blitzschlag unverzüglich wieder zur Pyramide auswächst. Und erst die zotteligen Früchte, die bei uns zuhause sicher noch zotteliger wären, blutrot marmoriert an der Sonnenseite — die werden weder runzlig von außen, noch faulen sie von innen. Und stellt euch vor: diese Boskoopski halten durch, sie bleiben dick und fett und marmoriert mindestens bis Ostern — halten sich vielleicht bis zum Ende des Krieges, do konca vojne!« (Sie verändert unversehens die Tonlage.) »Nas ne bodo odvadili slovenine. Sie werden uns die slowenische Sprache nicht abgewöhnen. Weit mehr als früher werden wir nun unsere Muttersprache ehren. Was uns die Mutter gegeben hat, wird uns niemand entreißen. Was wir sind, das sind wir, und niemand kann uns vorschreiben: Du bist ein Deutscher. Kar smo, to smo, nihe nam ne more predpisati: ti si Nemec. Eine grausame Zeit ist das, und am liebsten möchte ich alles verkehrt machen. >Ein Auge zudrücken<, sagt Ihr? Das wäre für mich Einäugigen bitter. Wenn ich tot bin, werde ich es Euch bekanntgeben. Aber unverhofft kommt oft, das ist meine Hoffnung. Verflucht, wie die Zeit dahingeht — das einzig Gute. Und so grüßt Euch Euer Euch liebender Sohn und Bruder Gregor.« Die Mutter wird sich dann wieder zu mir gesetzt haben. Und wieder werden wir dort auf dem freien Feld innegehalten haben. Schließlich habe ich gefragt: »Du hast den ganzen Brief auswendig gelernt, Mutter?« Die Mutter: »Ich weiß alle Feldpostbriefe Gregors auswendig, 23 und auch die zwei von Benjamin, und auch den einen von Valentin — obwohl da kaum was zu behalten war. Oder doch? Warum ich mir das angetan habe? Es war ein Wunsch. Und dann war es eine Lust. Ich habe mir die fernen Nachrichten meiner Brüder vorspielen wollen, wie die Sagen und Legenden damals aus meiner Laientheaterzeit. Und nicht bloß die Nachrichten — auch die Sprache der fernen Brüder, unsere Sprache, die nirgendwo sonst gesprochen wird, unseren Tonfall, der oft etwas ganz anderes sagt als die Wörter, und an dem wir einander erkennen — der hiesige Tonfall, das ist doch, bei Gott oder wem, unsere kostbarste Art und Weise. Mit der sind wir bisher noch immer einander gut gewesen, auch wenn sonst nirgends mehr etwas uns gut war. Es drängt mich, unsere Art Sprechen nach- und vorzuspielen — ob aus Liebe zu den Meinigen oder zu unserer Sprache: ich weiß es nicht. Nur ist unsere hiesige Spielweise seit Jahren strengstens verboten, und nicht erst mit dem Kriegsausbruch. Unsere Laienspielgruppen sind aufgelöst, und im übrigen auch unsere Sängergruppen — was dir wohl nur recht ist, Sohn: du brauchst für die nächste Zeit bei keinem Chor das Tremolieren deiner Mutter mehr zu fürchten — dafür gibt‘s inzwischen ganz andere Tremolos, und ganz anders zu fürchtende . . . « — Und ich: »Noch einmal: Welches Jahr seit Christi Geburt habe ich mir hier jetzt vorzustellen? Und was noch ist inzwischen mit den Unsrigen geschehen?« — Und die Mutter: »Sagen wir, es ist das Jahr neunzehnhundertzweiundvierzig, und wieder ein später Sommer wie vor sechs Jahren, oder ein früher Herbst, das Getreide, bis auf die Ajda — ah, verbotenes Wort!, verboten unsere Sprache —‚ den Buchweizen, eingebracht, das Vieh noch auf der Weide. Seit drei Jahren Weltkrieg, in der Gegend kaum zu spüren, höchstens im Fehlen der jungen Einheimischen — dafür noch und noch junge Tänzer von anderswo ... Unser Benjamin gemeiner Infanterist im Osten irgendwo. Aber er hat noch nicht in den Kampf dürfen, gedurft. Auf dem einzigen Photo sitzt er in Uniform undsoweiter auf einem sogenannten Waffenrad, sozusagen startbereit, in Wirklichkeit hockt er darauf wie der Affe auf dem Schleifstein — wenn dir dieser Ausdruck noch etwas sagt.« (Und neuerlich ist die Mutter von der Bank aufgestanden und spielt den abwesenden zweiten Bruder nach oder vor.) »Dem Benjamin hat der Krieg bisher nur Gutes gebracht. Er ist, so schreibt er nach- hause, dank des Krieges erwachsen geworden. Und lichtscheu, wie er früher war, hat er dort oben in der Tundra die Sonne schätzen gelernt. Nach drei Monaten ohne, schreibt er, ist sie heute zurückgekommen. Der erste Fleck Sonne, seit dem 17. November. Hurra, die Sonne! Vor allem ekelt er sich rein vor gar nichts mehr. Milchreis: eine meiner Lieblingsspeisen. Angewachsene Ohrläppchen eines Kameraden: zum Küssen. Schwimmhäute zwischen den Fingern eines anderen Kameraden: der Himmel scheint durch. Die Stimme des Feldwebels: Ruf zur Feldmesse. Die Kothaufen in 24 der Latrinengrube: Erinnerung an die lustigen Ringelschwänzchen der Ferkelchen daheim im Schweineställchen. Tages- und Nachtmärsche von fünfzig Kilometern: nema problema, umgerechnet in Werst sind es entschieden weniger. Überhaupt: >Werst< sagen können statt >Kilometer<! Dnjepr, Don, Wolga, Amur statt >Gurk, Glan, Gail und Lavant<! >Voskressenje< statt >Auferstehung<! Auch Singen freut mich inzwischen. Ich bin in unserem Zug sogar der Vorsänger, habe beim Essenrequirieren in den russischen Dörfern meine Stimme entdeckt, der Krieg hat mich zum Tenor gemacht! Und ihr solltet euren kleinen Bruder, den mit den zwei linken Beinen, einmal beim Tanzen sehen. Ich tanze hier im Felde mit den Mädchen, dass es nur so kracht. Und kein Mädchen, das unsere heimische Sprache nicht lieber hat als die übliche im Heer und mich mit — glaubt mir, oder glaubt mir halt nicht. Sonja! Natascha! Asja! Daran könnt ihr sehen: der Krieg mich zum Dichter hat gemacht. Unsere Jaunfeldgegend hat endlich den, der ihr seit der letzten Eiszeit hat gefehlt, auch wenn sein Fehlen allgemein unbemerkt ist geblieben — den Dichter, mich! Wäre es möglich, so würde ich euch meine Feldpostbriefe alle auf der weißen Birkenrinde schreiben, wo schon die Zeilen selber ein Gedicht sind.« (Die Mutter wechselt unversehens wieder den Tonfall, liest gleichsam zwischen den Zeilen.) »An Birken fehlt es uns in Rußland ja nicht. Und schlank wie Birken sind wir alle geworden. Schlank ist die neue Mode. Marschieren, marschieren, bis einem weiß vor den Augen wird. Weiß am Tag, weiß in der Nacht, und wieder weiß am Tag. Marschieren, marschieren, an den leeren Zeilen der Birkenrinden vorbei, an den leeren Zeilen der Kartoffeläcker vorbei, an den leeren Zeilen der Kraut- und Rübenäcker vorbei, an den leeren Zeilen der tausend leeren Dörfer vorbei, bis wir vor leeren Zeilen nur noch leere Zeilen sehn, und auf und zwischen und hinter all den leeren Zeilen kein >Auf<, kein >Zwischen< und kein >Hinter< mehr, und keine Welt. Ob noch einmal die alte, die gute Zeit wiederkommt? Ja, die alte, die gute! Und so grüßt Euch Euer Tundrajüngling Benjamin.« Und dazu dann die Mutter, wie ungespielt: »Ja, ohne den Krieg hätten wir nie einander geschrieben. Ohne den Krieg hätte ich nichts Schriftliches in der Hand von meinen Brüdern. Ah, Krieg! Gelobt seist du, Krieg! Durch dich sind meine Brüder in der Welt herumgekommen.« Hier ist es dann wieder zu einem beiderseitigen Innehalten von Mutter und Sohn gekommen. Aus diesem heraus hat sich die junge Frau neben mir ansatzlos aufgeschwungen und ist an den Rand des Steppenfelds gestöckelt. Und ebenso ansatzlos wendet sie sich jetzt dort an jemand, zumindest mir, nicht Sichtbaren: »Hail Sick, Herr Obersturmkommandant! Wir freuen sich, dir zwischen uns zu haben. Gut gewichst sind Stiefel deinige. Prosim, mach, 25 damit ich sich aber recht fürchte vor dich, Herr Untersturmwart! Daß ich sich Stürme zu deine braune Seite! Und daß Heimatschuß deiniger nicht losgeht in Hintenland deiniges! Hitro, beeil sich, und reich uns deine Hand, bevor vielleicht Volkssturm losstürmen auf der Heide gegen letzte roza!« Die Antwort läßt nicht auf sich warten — eine Stimme aus der von der Mutter angesprochenen Richtung, oder von woandersher, die in bestem Hochdeutsch zurückspricht: »Da hast du deinen Volkssturm, Frau Untermensch: Lern erst einmal deutsch. Deine Tarnung: perfekt — Respekt. Gekleidet wie Eva Braun und die Frisur von Heidemarie Hatheyer. Sogar deine Stimme — nicht gerade Zarah Leander, auch nicht Lale Andersen, aber immerhin — na, mir fällt jetzt der Name nicht ein. Deine Sprache, die hat dich verraten. Sprache? Daß ich nicht lache. Und rede dich nicht heraus mit dem Nichtwissen vom Oberbefehl, in der Öffentlichkeit hierzulande ausschließlich deutsch zu sprechen. Wie, du wagst einzuwenden, das hier sei kein öffentlicher Ort? Du hast die Stirn, dich in deinem Untermenschkauderwelsch zu suhlen, vor einer deutschen Öffentlichkeit? Über den Wurzenpaß mit dir. Hauruck, über den Hunsrück mit euch hinnigen hunnischen Hundlingen! Hinunter mit aich zum Triglav; zum Trigon, zum Trasimener See, zu den Tuareg — daß wir native speakers unter sich bleiben endlich —« Die Stimme ist abgebrochen, und da erst habe ich bemerkt, daß, wer da gesprochen hatte, meine Mutter höchstselbst war, als eine Art Bauchrednerin. Die junge Frau ist zu mir bejahrtem Sohn zurückgestöckelt, dann aber im Abstand auf dem weiten leicht geneigten Heideplan geblieben. Ich habe mich über die Schulter zu ihr gewendet: »Warum machst du den Feind nicht weiter nach, Mutter? Schon die längste Zeit fehlt mir in unserer Geschichte ein Gegenspieler. Einer, der aufmischt und durcheinanderbringt. Oder der die peinlichen Fragen stellt. Der nicht bloß das Maul aufreißt, sondern den Rachen. Und suchet, wen er verschlinge.« Die Mutter wendet ihrerseits den Kopf über die Schulter zu mir — die Augen des Fuchses und ihre: »Sohn, keine Sorge. Geduld — die allerdings nie deine Stärke war. Der Gegenspieler, oder die Gegenspieler, sie sind von Anfang an vorgesehen.« Und ich: »Woher weißt du das?« Und die Mutter: »Ich weiß es nicht, ich ahne es, mir schwant es. Und mir schwant, daß sie aus unseren eigenen Reihen kommen werden, aus unserem eigenen Stamm, womöglich aus unserm eigenen Haus. Im Lauf der Begebenheiten wird dir dies alles klar werden. Kann sein, daß auch ich selber mich eines gar nicht fernen Tages auf der Gegenseite finde oder mich dorthin verloren haben werde, in meinem ewigen Übermut und meiner ewigen Fröhlichkeit, die mich seit jeher anstecken, zu glauben, daß wir alle zusammengehören, und daß wir alle einander gut sind, und daß im Grund, Krieg hin, Krieg her, alles auf Erden gut ist 26 Seltsam: Seit ich lebe, war ich noch keinmal traurig. Hungrig, ja. Halberfroren, ja. Im Wald verirrt, ja. Vom Hund gebissen, schau, hier, ja. Vom Pferd in die Rippen hier und hier getreten, ja. Von der Kuh einmal fast zu Tode getrampelt, hier und hier und hier, ja. Von einer Hornisse zwischen die Augen gestochen und einen ganzen Monat lang blind gewesen, nicht bloß einäugig, ja. Aber traurig gewesen: noch nie. Eigentlich widernatürlich, oder? Dagegen meine ewig traurige Schwester, meine Schwester Finsterbraue, ärger als bloß traurig, auch wenn sie gar keinen Grund dazu hat — freilich hat sie fast immer einen Grund ... Du mit deinem Frohsinn! fährt sie mich an, als könne jemand Fröhlicher nur ihr Feind sein. Eine bloße Feindeinbildung? Ja. Aber kann schon passieren, daß aus so einer Einbildung ein leibhaftiger Feind herausspringt. Möglich, daß ich jetzt und hier geradeauf dem Sprung zum Feindwerden bin, und nicht allein für meine Düsterschwester. Schon, wenn ich mich im Spiegel sehe, meinen Aufzug, meine neue Frisur, die Wimperntusche, der Lippenstift ... Der Feind der Sippe, des Stamms, des Volkes von hier: ich? Wie seltsam, daß nicht einmal dieser fürchterliche Gedanke mich traurig stimmt. Ich, unser aller Feindin: Horror. Und doch hindert der keinen Moment meine Lebenslust. Die Lebenslust ist es also, die mich in der Kriegszeit bestimmt zum Feind? Weiß nicht, weiß Gott. Wie es mich wundert, daß ich nicht traurig bin. Ob mir im Lauf der Begebenheiten alles klar werden wird?« Und wieder kommt es zu einem Innehalten. Dann wendet sich die Mutter zu der Stelle, wo sie zuvor die Stimme gespielt hat: »Derjenige, welcher, den ich mir dort drüben aus dem Bauch geredet habe, das war kein Feind. Es handelt sich zwar um jemand Tiefbösen. Aber ich erlebe ihn nicht als unseren Gegenspieler. Er taugt dazu nicht. Er ist unserer Geschichte nicht würdig. Ja, richtig gehört: nicht würdig! Wenn ich könnte, würde ich ihn einfach nur auslachen und all dem seine Oberen mit, bis zum obersten Oberen hoch oben in seinem Jagdhundezwinger im Zwergengebirge. Und die ganze Gegend hier wird bezeugen, daß ich eine Meisterin im Auslachen bin. Ich habe es damit sogar schon bei dem und jenem probiert. Doch es hat da nicht funktioniert. Und das heißt was? Es hat den Betreffenden zwar den Schwanzeinziehen lassen, vorläufig, aber mich selber hat es kaum erleichtert. Ich war also doch beschwert, ich? Seltsam, wieder. Was man durch Reden nicht alles entdecken kann! Ich hatte mich demnach mit meinem Auslachen befreien wollen, ich? Befreiend? Nichts da. Und so ist es dann zum Bauch- reden gekommen. Ungeplant — es fährt jedesmal, wenn die Fuchtelkaspars mit ihren Schlagstöcken in die Kreuz und die Quer schlagen, mir aus dem Bauch — der eigentlich für was andres herhalten sollte — ... Bauchreden, Nachäffen, wie das befreit, in der Einsamkeit! So bin ich also einsam? Seltsam. Was man durch Reden nicht alles entdecken kann. Nachäffen, als eine Erlösung, momentane. Freilich, wißt ihr: So ein 27 Nachäffen bringt nur etwas, wenn es passiert im Vorübergehen. Sowie ich dann absichtlich weitertue, oder es mir überhaupt von vorneherein vornehme: Sense. Die stumpf bleibt. So eine Nachahmerei, die bedrückt mich bloß noch mehr. Bedrückung ist also im Spiel, im luftigen Frühherbst neunzehnhundertzweiundvierzig? Seltsam. Was man ... Ob mir im Laufe der Begebenheiten noch alles . . . ?« — Die Mutter hat das nur so in sich hineingemurmelt. Und zuletzt dann, wenn ich richtig gehört habe: »Damals bei unseren Laienspielen kam es nicht in Frage, jemanden nachzumachen Es war auch noch nicht nötig, wie jetzt im Krieg, bei all den fremden, bösen, Nagelschuh-, Peitschenhieb- und Gewehrkolbenstimmen .. . «Innehalten wieder? Dazu bleibt diesmal keine Zeit. Die Schwester meiner Mutter, die eingangs »Ursula« genannte, kommt nämlich dahergestürzt, im Aufzug fast einer Schweinemagd, mit den klassischen Holzschuhen undsoweiter, und fällt die andere Frau, die wie weltstädtisch gekleidete, augenblicks an. An-den-Haaren-Reißen, Stockschläge — wenn auch bloß in die Luft —‚ Rempeln, Stoßen, Beinstellen, Zu-Boden- Werfen — all das stumm. Danach erst läßt die Landarbeiterin sich hören, an die gleich wieder Aufgestandene gerichtet: »Das dafür, daß du dir einen von denen draußen angelacht hast. Daß du mit einem Anderweitigen gehst. Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit deinem reichsdeutschen Ziegenbock durchs Doppelbett des Hotels >Tigerwirt<. Während die Eltern sich allein zuhause abschuften, am Rand der Erschöpfung, am Rand der Verzweiflung über die drei ins Dritte Reich zwangsrekrutierten Söhne, sitzt ihr zweisam im Strandbad Mitte und schaut eurem zweisamen Zigarettenrauch nach, wie er von euren zwei Zigarettenspitzen hinaus auf den reichseigenen Wörther-, Ossiacher, Turner- und Keutschacher See segelt. Während unseren Brüdern dort draußen in Holland, dort droben in Norwegen; dort drüben in Rußland nicht bloß das Reden, sondern auch das Singen in unserer Sprache, das noch ganz anders lebenswichtige, das nothelferische, untersagt ist, unter Arrestandrohung verboten des einen Bariton, des zweiten Tenor, des dritten Baß, trällert ihr zwei Hübschen drinnen am Tisch des Offizierskasinos die Habanera, und du flötest ihm den weißen Holunder an sein angewachsenes Ohrläppchen, und er schmachtet und schmatzt und speichelt dir seinerseits seinen weißen Flieder durch deine Fetzen durch bis auf die Haut. Wie hast du bloß so vergessen können, wer du bist? Wer wir hier sind? Was wir darstellen? Was unser Platz ist auf Erden? Du hast uns verraten? Schlimmer: Du hast uns vergessen, schöne Schwester! Suchst die Liebe wie eh und je in einer fremden Sprache, in einem andern Land. Warum nur? Warum?« 28 Während die Dienstmagdschwester so redet, sind die Eltern, meine Großeltern, aus dem Hintergrund auf den Plan getreten, im ländlichen Arbeitsgewand diesmal, Schürze, Gummistiefel, undsoweiter. Sie sind ums Kennen älter geworden, und erscheinen inzwischen ungefähr gleich alt wie ich, der Enkel. Der Großvater hat in jeder Hand einen Brief, offensichtlich Feldpost, offensichtlich ungeöffnet. Die beiden haben still zugehört. Was sie da hören, scheint neu für sie. Entsprechend kommt es dann vom Vater: »Stimmt es, was deine Schwester da sagt? Ist es wahr, daß du mit einem von den anderen gehst?« Und darauf die Frau mit dem Fuchs: »Ja, ich gehe mit einem anderen. Und er geht mit mir.« Der Vater: »Was soll das heißen?« Die Tochter: »Ich liebe ihn. Und ich glaube, er liebt mich auch.« Der Vater: »Du glaubst. Die Liebe! Das Wort will ich nicht gehört haben. Noch niemand hat bisher bei uns hier von Liebe geredet. Und solange ich zu bestimmen habe, soll auch niemand hier so ein Wort in den Mund nehmen dürfen, Liebe nicht und nicht ljubezen.« Sie: »Dann, liebe Mutter, lieber Vater, sag ich es halt anders —« Und sie knöpft ihren weiten Straßenmantel auf: kräftig vor- gewölbter Bauch. Worauf Vater und Magdschwester zurücktreten, während die Mutter, meine Großmutter, vortritt, stumm, und ich? bin von der Bank inmitten der Heidesteppe aufgestanden, ebenso stumm. Worauf die Mutter — meine — mich näherwinkt: »Wolltest du dich nicht immer gefilmt sehen, Sohn, im Rücklauf, als Heranwachsenden, als Kind, als Säugling und zurück noch vor deiner Geburt? Da hast du den Film. Schau, da in meinem Bauch: du!« Worauf ich schaue. Worauf die Schwangere mich auffordert: »Leg deine Hand drauf!« Worauf ich zurückzucke. Worauf der Großvater sagt: »Ja, wenn das so ist . . . « Worauf die Düsterschwester fragt: »Wann ist das passiert?« Worauf meine Mutter antwortet: »Passiert? Im späten Frühling. Vigredi. Zwischen Flieder- und Holunderblüte. Zwischen Mitternacht und vier Uhr früh. Im >Tigerwirt<, oder wo wir gingen und standen. Die Liebe: meine Bestimmung. Und etwas Schöneres als meinen Bauch hat unser Jaunfeld nur zu allen heiligen Zeiten gesehen!« Darauf von neuem das allgemeine Innehalten. Und dann setzt sich der Großvater zu mir auf die Bank und winkt auch der mit mir schwangeren Tochter, sich zu setzen. Er öffnet den einen Brief und gibt ihn ihr zu lesen. Sie sagt zuerst den Namen des Absenders: »Valentin.« Und erst, nachdem sie den Brief für sich still gelesen hat — er ist nicht gar lang —‚ liest sie ihn der Restsippe vor, diesmal ohne die Stimme des Bruders zu spielen oder zu sein, mit dem Vorspruch: »Seltsam: Der große Weiberheld ist der einzige unserer Brüder, der nichts von einer Kriegsbraut schreibt.« — »Ihr lieben Angehörigen! Es geht mir blendend. Aber ich weiß eh, daß Ihr Euch keine Sorgen um mich macht — wenn, so wärt Ihr übrigens die einzigen, ich 29 selber habe mir noch nie Sorgen um mich gemacht, weiß gar nicht, was das ist, eine Sorge, in unserer Stallsprache ein hart in den Ohren klingendes Wort: skrb, otrok ga skribi er sorgt sich ums Kind —« Die Vorleserin unterbricht: »Das hat der Zensor durchgestrichen, aber wenn man‘s weiß, ist es noch lesbar.« Und sie liest weiter: »Mir kann nichts geschehen, das war mir schon von klein auf klar, damals, als der Blitz eingeschlagen hat in die Tenne, und später dann, als der Heimwehrmann oder was der halt war, vielleicht war‘s ja bloß ein eifersüchtiger Ehemann, auf mich geschossen hat. Wo wir sind —« Wieder unterbricht sie: »Der Brief ist im Frühsommer geschrieben, war zwei Monate unterwegs«, und liest weiter: »Wo wir sind, scheint noch um Mitternacht die Sonne. Mein Problem sind die Mücken, mein Blut schmeckt ihnen wohl besser als das der Kameraden. Mit den Eisbären ist erst im Winter zu rechnen, aber Du weißt ja, daß ich ein geborener Jäger bin. Die Engländer halten noch still, was von ihnen zu uns herüber kommt, sind nur die Namen ihrer Fußballmannschaften, die mir übrigens helfen, wenn ich nicht einschlafen kann: Aston Villa — Wolverhamp ton Wanderers — Tottenham Hotspurs — West Bromwich AJbion — Leeds United — Manchester United — Red Stars Newcastle — Partisan Belfast . . . « Die Vorleserin: »Auch da hat der Zensor geschwärzt, und ich hoffe, ich habe die Namen nicht ganz falsch entziffert.« Sie liest zuende (wie zwischen den Zeilen?): »Wie langweilig ist der Krieg — vor allem langweilig. Jeder Tag gleich. Kein Sonntag, kein Feiertag. Wieviel Nützliches könnte zuhause geleistet werden, das dem Land ganz, ganz anders zugute käme. Heimkehren, Arbeiten! Wie sehne ich mich nach einer ordentlichen Arbeit, statt mich zu langweilen bis zum Endsieg! Du fehlst mir, Schwester. Dir habe ich immer alles erzählen können. Aber diese Zeit kommt wieder. Und ich komme wieder als Millionär. Heil Euch, Heil Dir, Nordlichtsohn Valentin —« Innehalten. Alsdann öffnet der Großvater den zweiten Brief und reicht ihn meiner Mutter zum Vorlesen. Sie fängt wieder für sich zu lesen an und unterbricht sich gleich: »Seltsam, da schreibt ja gar nicht Benjamin selber —< Und dann läßt sie nur noch etwas wie einen Japser hören, einen Laut, wie solche Laute, ob des Schreckens, des Abscheus oder auch der Freude und des Entzückens, überhaupt eins der gemeinsamen Familienmerkmale gewesen sind. Und so antwortet auch jetzt dem Japser meiner Mutter ein ganzer Chor, Großvater, Großmutter, Schwester, und sogar ich Ungeborener japse mit. Und dann steht die Schwangere auf und entledigt sich ihrer Schuhe und ihres Mantels, die sie dahin und dorthin schmeißt, weit weg, außer Sichtweite. Und in der Folge steckt sie, geradezu zeremoniös, ihre Haare auf, so wie die am Anfang waren. Und der Brief? Ich erinnere mich nicht — vielleicht bin ich aber, mit dem Japsen, momentweise blind geworden? Was ich dann sehe: den Brief in der Hand der 30 Magdschwester. Und was ich von ihr höre: »Ich hab‘s gewußt.« Hat sie den Brief dann vorgelesen? Mir scheint, nur in Bruchstücken: »... bis zum letzten Atemzug, tapfer vor dem Feind ... Feind ... hat nicht gelitten ... für Fürer und Fatalant ... werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren ... die Feindeserde sei ihm leicht ... laiht ... laiht ... laiht . . . « Und daraufhin? Wieder ein gemeinsamer Sippen- oder gar Volkschorlaut — und ich wieder mit dabei —‚ jetzt freilich kein Japsen, vielmehr etwas anders Einsilbiges, zwischen einsilbigem Gewimmer und Geheul, für auf Trauerkultur eingespielte Ohren unschön anzuhören, an der Peinlichkeitsgrenze, aber so war es nun einmal bei uns, und so ist es, und außerdem ist unser Volkschor nach dem einen Laut gleich wieder verstummt. Wer läßt sich danach, nach dem Bruchteil einer Minute oder eines ganzen Jahres, als erster hören? Der Großvater, und wenn er im Lauf der Begebenheiten bisher eher in sich hinein geflucht hat, so flucht er jetzt erstmals aus sich heraus: »Verflucht sollen sie sein. Daß die Deutschländer alle der Schaitan hole, vom Arnulf bis zum Ziegfried, von den Anneliesen bis zu den Zieglinden. Daß Deutschland, Deutschland nichts und nichts wird in der Welt. Von der Maas bis zur Memel nichts und nichts und noch einmal nichts, und dazwischen da und dort ein vertrockneter Mäusedreck, ein Bandwurm in einem Nachttopf, eine verrostete Türklingel in einem kaputten Zahnputzglas im schmutzigen Schnee. Nie wieder jemand Deitschen sehen mit seinem deitschen Schädel, seinem deitschen Gestell, mit seinem deitschen Knochenbau, mit seinem deitschen Scheitel im Haar, mit seiner deitschen Fahrrad- klammer um das deitsche Hosenbein, mit seiner deitschen Schuhgröße für seine deitschen Haxen. Nie wieder jemand Deitschen hören, mit seiner Luftzerhackersprache, mit seiner Eintongabelstimme, mit seinem Trommelfelldurchstoßbrüllen, mit seinem sonoren Kreidefreßwolfsäuseln. In der Luft zerrissen sollen die Deutschen werden. Von den Marsbomben verschüttet. Im Feuersturm endlich mit einem Schatten, ihrem ersten, ihrem letzten.« Und er tut dann einen großen Schritt auf seine schwangere Tochter zu: »Und verflucht sei der Liebeswurm in deinem Liebesbauch. Verflucht sei die Frucht deines Leibes. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen, verflucht sei der Name des Herrn in Ewigkeit!« Und er hat dabei ausgeholt wie zum Schlag, und ich auf der Bank — habe ich mich geduckt? bin ich zurückgezuckt? Und meine Mutter? Hat sich nicht von der Stelle gerührt, hat nicht mit der Wimper gezuckt. Es war die Großmutter, die ihren Mann dann zur Ordnung gerufen hat, indem sie ihm den Arm auf die Schulter legte und sagte: »So ist Benjamins Taufkerze jetzt also zur Totenkerze geworden. Laßt uns nachhause gehen und sie anzünden. Außerdem muß das Vieh im Stall gefüttert werden, und die Eier im Heu gehören eingesammelt, bevor der Iltis sie aus saugt. Ah, wie ungeschickt er war. Als Ministrant bei der Heiligen Messe hat er die 31 Weihrauchschüssel umgeworfen und bis zum Schlußsegen die einzelnen Körner eingeklaubt, und dem Pfarrer den Wein neben die Finger gegossen, und die Glocke zur Wandlung des Brots in den Leib Gottes nicht zu läuten aufgehört, bis über das Vaterunser hinaus zum Agnus Dei. Und wieviel Kraft er dabei hatte in den Händen. Erinnerst du dich, wie du ihm einmal den Riesenschlüssel gegeben hast zum Aufsperren des Mostkellers? Zwar hat er die Tür nicht aufbekommen, aber den Schlüssel mittendurch gebrochen, so stark war er. Ungeschick läßt grüßen? Ja, jetzt gerade grüßt es, nicht wahr?« Die Großmutter und ihr Mann setzen sich langsam in Bewegung, weg von der Heidesteppe, heimzu? Dabei fährt sie weiter fort: »Das Brot ist noch im Backofen, es darf nicht schwarz werden. Und einmal war er ein Zwerg im Schultheater und ist das ganze Stück nur dagesessen im Schneidersitz und hat nichts getan als genäht, und sich dabei dauernd gestochen, und danach hat er gesagt: >Das war, weil die Mutter zugeschaut hat!< Seinen Feiertagsrock im Kasten auf der Galerie überm Hühnerhof: den soll der da —« (sie zeigt auf mich) »— bekommen, wenn er soweit ist, nach dem Krieg einmal, und auch die Firmungsuhr, nicht wahr? Schau doch, dort läuft ein Hase, im Zickzack. Und wie schön die Wolken sind, mit einem Goldrand wie auf dem Altarbild in der Pfarrkirche. Und das Gras ist schon naß, vom Abendtau. Ja, eine Seite ist ausgerissen aus dem Buch unseres Lebens, ratsch. Ich kann nicht glauben, daß er tot ist. Gott liebt es, zurückzukehren, hat der Pfarrer in der letzten Predigt gesagt. Ob das stimmt? Und morgen ist Sonntag. Vergiß nicht das Kartenspiel am Nachmittag. Königrufen! Es riecht nach Herbst. Riechst du ihn auch?« — Darauf ihr Mann: »Du mit deiner ewigen Versöhnlichkeit. Mit deinem Friedenswahn. Friede auf Erden? Unmöglich.« Inzwischen haben sich in gleicher Weise die zwei Schwestern auf den Heimweg gemacht. Und wieder hat das allgemeine Abgehen etwas von einem Tanz, einem — wenn es das gibt — der Trauer. Am Rand des Felds angelt die Düsterschwester sich den von meiner Mutter weggeworfenen hellen langen Straßenmantel und zieht ihn sich über ihr Magdgewand, und sagt dazu: »Das wird mein Tarnkleid sein. Unsichtbar werde ich damit sein, im Winter, in den Wäldern, den unsrigen!, in den Bergen, den unsrigen!, im Schnee.« Die Mutter darauf: »Das heißt also —« Ihre Schwester: »Ja, das heißt es. Ich ziehe in den Krieg. Ich gehe in den Krieg. Ich purzele in den Krieg, in den meinen, in den unsrigen. Eine von unsern grünen Kadern in den Wäldern der Petzen, des Kömmel, des Ursulabergs.« Meine Mutter dann: »Es ist aus mit meiner Freude. Nie wieder werde ich mich freuen.« Und darauf ihre Schwester: »Bist du sicher? Du — ohne Freude?« Und darauf — beide sind schon außer meine Sichtweite geraten — noch die Mutter: »Ja ... nein ... ja!« 32 DREI Und wieder bin ich als einziger auf der Bank inmitten des Jaunfelds zurückgeblieben. Wind, ums Kennen stärker als bei meinem ersten Alleinbleiben. Von den 99 Äpfeln etwas wie ein Klirren. Irgendwann bin ich ins Erzählen gekommen. Zuerst rede ich dabei eher in mich selber hinein. Und erst in der Folge fange ich an, mich zu äußern, klar und deutlich — soweit jemand wie ich dazu fähig ist. Beinahe gerate ich mit der Zeit sogar in ein Verlautbaren, für Momente vergleichbar einem Nachrichtensprecher, oder spiele das eher, so wie ich mich zunehmend verspreche, verplappere, verstottere, immer wieder steckenbleibe. Und so sage und spiele und stottere ich: »Grüne Kader<: >Grün< ist ja klar — der Wald, die Wälder. Aber >Kader<: Sind die nicht etwas Höheres? Offiziere? Kommandeure? Soweit mir bekannt ist, waren diejenigen, die sich selber mit dem Namen >Grüne Kader< schmückten, nichts als ratlose und verlorene Häuflein von Burschen — am Anfang kaum eine Frau dabei —‚ die sich in die Wälder geflüchtet hatten, weil sie nicht in den Krieg wollten. Der Weltkrieg der Schwaben, der svabi, wie bei uns daheim die Deutschen hießen, war nicht der ihrige. Und übrigens war noch nie ein Krieg der ihrige, der unsrige, gewesen. Aber immerhin >Häuflein<, da und dort ein paar, die sich tief im grünen Tann zusammengefunden hatten, und warteten, wie es nun weiterginge. In die Wälder aufgemacht hatte sich zuvor ein jeder ganz für sich allein, blindlings. Nur nicht in den Krieg. Sich erst einmal allein im Unterholz verkriechen, nicht gerade in Panik, andererseits, die erste Zeit dort jedenfalls, vollkommen hoffnungslos. So hoffnungslos waren sie nicht immer seit neunzehnhundertdreiunddreißig gewesen. Am Anfang des Krieges hatten sie noch auf den Beistand des großen russischen Bruders, auch Sprachbruders, gehofft. Aber der hat ja dann unverhofft mit den Schwaben paktiert. Kein Ausweg für die Alleingelassenen mehr als ab in die Wälder — in die äußerste der Ausweglosigkeiten? Ja, eine Zeitlang. Und ich möchte wissen, wie diese Vereinzelten dann die Kraft gefunden haben, einander durch die Fichten-, Föhren- und Tannennadeln hindurch zusammenzupfeifen. Fest steht, daß fast alle die Kerle kräftige Bronchien hatten. Gemäß unserer Geschichtsschreibung — wobei die 33 Geschichtsschreiber danach in der Regel die Grünen Kader selber waren — hatten die Waldmenschen im Frieden, als ihre Sprache noch geduldet war, durch die Bank im Kirchenchor gesungen, und seltsam, daß der Solosänger im Chor später, bei den Kaderhäuflein, tatsächlich so etwas wie ein Kapo wurde. Und fest steht weiter, daß vielleicht fürs erste die Ausweglosigkeit vorherrschte, nicht aber die Hilflosigkeit. Denn die Flüchtigen in den heimischen Wäldern kannten dort ein jedes nur mögliche Versteck und wußten sich auch zu versorgen. Nicht wenige von ihnen hatten im Vorkrieg als Holzfäller gearbeitet. Und die meisten von ihnen hatten daneben gejägert, nicht als vom Grafen oder sonst einem Herrn bestellte Jäger, wo denkt ihr hin — nein, als Wilderer. Sie konnten allesamt mit der Jagdbüchse umgehen, und diejenigen von ihnen, die dann in den Krieg gezwungen worden waren und nach einem Heimaturlaub, oder wie das hieß, in die Bergwälder gingen, genauso mit Handgranaten, Maschinenpistolen, -gewehren. Ein verlorener Haufen blieben sie trotzdem, verloren im ehemals eigenen Land, das für sie weiterhin das eigene war, mehr denn je! Sich einen Namen gegeben zu haben, das war immerhin nicht nichts. Aber diese Grünen Kader: was konnten sie tun? Wie kämpfen? Wie Widerstand leisten, sie, die trotz des stolzen Namens armselig Versprengten, Spärlichen, gegen die schon beim ersten Schritt an den Waldrand lückenlos zuschnappende Übermacht? Wie widerstehen, oder einfach bloß überstehen? Anders wurde das erst, als von jenseits der Grenze der im besetzten Jugoslawien allgegenwärtige Widerstand, den die durch die Wälder irrenden Grünen Kader lange nur vom Hörensagen gekannt hatten, übergriff auf sie nordwärts über die Karawanken, und sie sich, anders unverhofft, als Teil des europaweiten Widerstands sahen. Weg mit dem maulheldischen Namen! Keine Grünen Kader waren sie mehr, die über den Namen hinaus nicht wußten, was sagen und was tun, sondern Teil der Résistance gegen die weitherrscherlichen Unholde und Tunichtgute, ein Heer, eine Armee, vom Peloponnes nordwärts bis zur Svinjska planina, von der Koralpe westwärts bis La Rochelle — die Armee der Partisanen, und >Partisanen<, so hießen sie jetzt, zusammen mit all den übrigen, und ließen sich von der Übermacht auch, anders stolz als früher, gut und gern >Banditen< nennen. Nie hatten sie und ihre Vorfahren hierzulande Krieg geführt? Jetzt war er da, ihr Krieg, ja, ihr Krieg, geführt von den einheimischen ehemaligen Kirchenchorsängern, den Tenören, Baritonen, Bässen, welche als Partisanen den einzigen organisierten militärischen andauernden Widerstand innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs leisteten, als das Heer der Partisanen, und zuletzt auch als Sieger. Fragt sich nur, was der Krieg ihnen gebracht hat, und was der Sieg, ihnen, und dir und mir. Fragt sich nur, was das für ein Frieden war nach Krieg und Sieg, und ob überhaupt. Fragt sich, wo die Krieger sind, wo sind sie 34 geblieben? Fragt sich, fragen wir, fragt ihr, fragen sie, fragt wen oder was, fragt den Himmel, fragt die SINGER-Nähmaschine, fragt den verrosteten Schlitten, fragt alle, nur nicht mich! — Jetzt wollte ich endlich den Klartext reden, dem auszuweichen man seit jeher mir vorwirft — wieder nichts . . . « Als ich über die Schulter blicke, sehe ich knapp hinter mir die beiden überlebenden Brüder meiner Mutter stehen. Sie sind wohl schon vor einiger Zeit auf den Plan getreten. Aber wieder einmal war ich derart in mich versponnen, daß ich ihr Daherkommen nicht bemerkt habe. Beide sind augenscheinlich auf Heimaturlaub, für Gregor den Einäugigen, den ältesten, ist das nicht der erste Tag daheim, er trägt Zivilkleidung, ländlich-sonntägliche und, was sehe ich da?, schiebt etwas wie einen Kinderwagen hin und her, während er in der anderen Hand eine Baumschere, oder was es ist, hält. Valentin dagegen scheint gerade erst nach einer langen Fahrt zu Schiff und im Zug aus dem Postbus gestiegen — er ist noch in der Uniform eines »Gebirgsjägers« der weißgottvonwas und schleppt etwas wie einen Seesack. Erst jetzt auch höre ich, da und dort in dem weiten Jaunfeld, den feiertäglichen fernen Klang von Kirchenglocken. Ein hohes Fest ist vielleicht im Gange. Pfingsten? Mariä Himmelfahrt? (Das Grünen auf der Flur paßt eher zu Pfingsten.) Für die beiden Brüder existiere ich nicht, jedenfalls nicht als der von jetzt, der längst Erwachsene. Sie reden wie ohne Zeugen, und doch ist mir, ich sollte sie bezeugen. Von Zeit zu Zeit habe ich dann sogar mein Notizheft gezückt und mitgeschrieben. Etwa Folgendes: Gregor zu Valentin: »Keine Zehen abgefroren, Valentin?« — Valentin zu Gregor: »Ich reibe sie regelmäßig mit Schnee ein. So bleiben sie gut durchblutet.« — Gregor: »Mir summen immer noch die Ohren von meinem Funkgerät. Dabei bin ich schon seit einer Woche auf Heimaturlaub.« — Valentin: »Gemeinsam mit dir auf Urlaub daheim, Gregor. Wer hätte das gedacht. Die Oberen vom Heer meinen es gut mit uns.« — Gregor: »Sie hätten es noch besser meinen können, indem daß sie Benjamin mit seinen noch nicht zwanzig Jahren und seinem von Geburt an gelähmten Zeigefinger den Dienst mit der Waffe erspart hätten.« — Valentin, nach einem Schweigen, mit einer fremden Stimme, welche die seines gefallenen Bruders darstellt: »Schießen ist für die anderen. Wenn ich abdrücke, dann höchstens beim Scheißen, oder bei der Tatjana —« — Gregor, ebenfalls mit der fremden Stimme: »Aber leider Gottes läßt sie mich nicht.« Beide gemeinsam den Toten spielend: »Hätt‘ ich eine Mauser, ich schösse weder links, ich schösse weder rechts, ich schösse nicht des Morgens, ich schösse nicht des Nachts, ich ließe es wohl krachen, aber ganz anders als gedacht.« — Valentin: »Und weißt du noch, wie er damals gleich nach seinem letzten Schultag als Schmiedlehrling angefangen hat?« — Gregor: »Gerade noch hat er die Schultasche vom Buckel genommen 35 und einen Moment danach war ihm schon das Lehrlingsgewand, das blaue, mit der zu kurzen Hose, den zu kurzen Ärmeln, übergestreift.« — Valentin: »Es ist ein sehr kalter Morgen gewesen, nicht nur für den Sommer, als er sich auf den Weg in die Schmiede gemacht hat.« — Gregor: »Und weißt du noch, was er dabei so von sich gegeben hat?« — Und wieder spielen sie beide gemeinsam den Toten nach: »Herrschaften, für mich hat es sich ausgefroren, von heute bis in alle Ewigkeit!« Dann Valentin: »Und weißt du noch, was meine liebe Schwester uns von ihm geschrieben hat, als er nach einem Jahr Taiga- und Tundrakrieg erstmals —« — Gregor: »— und letztmals —« — Valentin: »— Fronturlaub hatte? Wie die Schwester gemeint hat, daß nach so einer Zeit sein Ekel oder seine Heikeligkeit von ihm weggeblasen, aus ihm herausgebrannt sein müßte.« — Gregor: »Und wie sie ihm zum Willkomm einen Kaffee vorsetzte, mit einem einzigen, einem kleinwinzigen Fetzen Milchhaut darauf —« — Valentin: »— und wie er da die Tasse auf der Stelle weit von sich weggeschoben und gesagt hat —« — Wieder sie beide einander den Toten vorspielend: »— >Kommen Sie gestern!« Und wieder sind die zwei Brüder in ein Schweigen verfallen, wobei nichts geschah als das Hin- und Herschieben des Kinderwagens. Und dann Gregor: »Zum Wundern, daß seit jeher in unserer Sippe immer die gleichen paar Geschichten weitererzählt werden. Und alle sind sie nur kurz, und bei keiner weiß man eigentlich, warum sie im Umlauf ist, was so überliefernswert an ihr ist, was sie überhaupt miteinander zu tun haben, bis vielleicht auf den ewigen Ekel.« — Valentin: »Die Geschichte von unserem Vater als Kind: Wie er zum Pfarrer geschickt worden ist mit der jährlichen Naturalienabgabe, einem dicken Sack mit Äpfeln in der Schiebtruhe Gregor: »— in der Carriola —« Beide gemeinsam: »— und wie unser Vater dann zum Pfarrer sagt: >Herr Geistlicher Rat, hier bringe ich Ihnen die Äpfel von unserem Scheißhausbaum!« — Gregor: »Und die Geschichte von der schwachsinnigen Dienstmagd, die irgend jemand hat geschwängert, und der man das Kind nach der Geburt hat weggenommen. Es ist aufgezogen worden von den Hofleuten, und eine der Hoftöchter hat ihm die Mutterstelle vertreten. Und eines Tages, das Kind hat schon sprechen können, hat es sich beim Spielen am Weidezaun in den Ruten dort verklemmt und ist nicht mehr freigekommen, und der Stier hat schon vor ihm gescharrt, und sein Schreien hat die Schwachsinnige weit weit weg gehört, und sie ist dahergerannt und hat das Kind aus dem Zaun gezogen, und danach, zuhause, hat das Kind seine vermeintliche Mutter, die Hoftochter halt, gefragt: —« Und wieder reden die zwei Brüder unisono: »— »Du, Mutter, warum hat die Blöde eigentlich so weiche Hände?« Ein 36 Schweigen ist dem wiederum gefolgt, und dann hat einer der beiden, ich weiß nicht mehr, welcher es war, den anderen gefragt: »Meinst du, wir werden noch jemals im Chor singen?« Der andere: »Nein. Jedenfalls in keinem Kirchenchor.« Sie versuchen nun eine Art Chorgesang im Duett, mit dem letzten Satz der gerade erzählten Geschichte: es mißlingt, noch einmal, und noch einmal — Mißklänge zum Ohrenzuhalten. Darauf der eine: »Mir scheint, ich kann nur noch allein singen — wenn überhaupt.« Und der andere: »Ich auch.« Nichts geschieht darauf wieder als das Hin- und Herschieben des Kinderwagens, skandiert vom Klappern der Baumschere. Valentin: »Wozu hast du die Baumschere dabei? Ist denn schon Baumschnittzeit?« Gregor: »Nein. Und trotzdem möchte ich, seit ich in Fronturlaub bin, immerzu etwas beschneiden. Lichten. Durchblicke schaffen. Oder dem Bengel da den Zipfel abschneiden. Ihn brüllen hören, ich, sein Pate wider Willen. Unzeit! Zuwider waren mir immer die Zwischenzeiten im Jahr — die Kirschen längst geerntet oder von den Amseln gefressen, leer die Kirschbäume im ganzen Land, nichts als Gewackel der Blätter und der leeren Stengel mit den vertrockneten Kernen, und kein Obst sonst noch reif außer den bleichen Frühäpfeln, die nicht einmal einen Namen haben, und im Vergleich mit denen eine Hostie ein Leckerbissen ist. Und jetzt auch noch dieser Windelscheißer da. In den Kirschbaumschatten, den kranken, mit dir, Krankgeburt.« — Valentin: »Und das sagst du, seit jeher der Zarteste von uns allen? Die Sanftmut in Person? Der Herzhafte? Der uns jedesmal Versöhnende? Der Gerechte?« — Gregor: »Ich will nicht mehr der Gerechte sein. Wenigstens nicht in der Jetztzeit. Und ich habe die Unversöhnlichkeit beschlossen gegenüber dem Feind, die Unbarmherzigkeit beschlossen, beschlossen, selber Feind zu sein.« — Valentin: »Du und Beschließen — nichts Fremderes. Du und Feind — nichts Widersinnigeres. Du und das bloße Wort >Feind< — Fremdsprache der Fremdsprachen in deinem Mund, in deinem — Reich, ja, lieber Bruder, in unserem Reich.« — Darauf Gregor: »Ich spucke auf mein Reich —« Und mir scheint, er hat dabei tatsächlich ausgespuckt, in die sämtlichen Himmelsrichtungen »— ein Desperado bin ich inzwischen, und nichts sonst mehr. Es geht mir ja selber gegen den Strich, daß ich sogar in dem käsigen Säugling da den Feind sehe. Aber so ist es, so ist es gekommen. Da liegt er, strahlt mich an, grapscht nach mir mit seinen zu keiner rechtschaffenen Arbeit geschaffnen Grapschhändchen, blubbert mich an mit seinen blassen Lippen, bei denen klar ist, daß davon in alle Ewigkeit nie ein Laut in unserer heiligen Muttersprache sich wird aufschwingen, geschweige denn ein Ton, nicht einmal ein Mucks — winkt mir in einem fort zu mit seinen Schlackeröhrchen, durchsichtig und fettig wie Butterpapier Feind hört mit. Ja, den Feind stellt der mir dar, den Kuckuck, der uns Heimische bis auf den letzten Piepser und Flaum aus dem Nest wird 37 schmeißen. Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind — Volksfeind. Heraus aus der Wiege — in die Hundehütte mit dem Bankert.« Dabei hat er den Wagen mit »mir« drin hin und her geschoben, wenn auch nicht gerade sanft, zuletzt gar mit einem Tritt, und nach wieder einem kleinen Schweigen wird Valentin ihm entgegengehalten haben: »Ist es nicht schade, Gregor, daß du dir, und mir, und uns allen so deinen letzten Urlaubstag vergällst?« — Darauf sein älterer Bruder: »Ja, die Fronten warten schon, in allen Richtungen des hiesigen Himmels, der unsere Heimstätte, naa hia, naa domovina ist: die Ostfront, die Westfront, deine Nordfront in Norwegen, meine Südfront auf dem Balkan. Aber sollen sie warten!« — Darauf Valentin: »Was willst du damit sagen?« — Gregor: »Daß ich die Fronten wechseln werde, heute.« — Valentin: »Du wirst in die Wälder gehen, du?« — Gregor: »Ja, ich, oder wer, oder was.« — Valentin: »Du bist bereit, zu töten, du?« — Gregor: »Ja, ich, oder wer.« — Valentin: »Du wirst auf Menschen schießen? Du, der beim Sauschlachten jedesmal in den Dachboden ist abgehaut? Der davongerannt ist, wenn der Vater einem Hasen die Kehle hat durchgeschnitten? Der sich heute noch hinter der Mutter versteckt, wenn das kopfabgehackte Huhn kreuz und quer über den Hof kugelt? Der jede erfrorene Biene anhaucht, um sie zum Leben zu erwecken? Der jedesmal der Katze die Maus abjagen will? Der einen jeden von der Schaufel entzweigeschnittenen Regenwurm wieder zusammenspeicheln möchte, mit der eigenen Spucke? Du: eine Handgranate abziehen und durch das offene Fenster auf die kartenspielenden Gendarmen schmeißen?« — Gregor: »Ja, ich. Ich!« — Valentin: »Wie willst du überhaupt zielen, halbblind wie du bist? Schon bevor du dein Auge hast verloren, hast du auf dem Kirchtag bei den Kunstrosen und den Stoffbären ständig danebengeschossen. Wer regelmäßig hat getroffen, das war ich. Und wenn der Vater und ich dich haben zum Wildern mitnehmen wollen, hast du ein jedesmal dringend in deinen Obstgarten müssen, zum Stützen eines angeblich zu schweren Astes, zum Veredeln einer Mostbirne.« — Gregor: »Das war einmal. Haben wir nicht andauernd gesagt und es uns untereinander von klein auf vorgehalten, daß in unserer Familie, in unserer Sippe, in unserem Volk die Entscheidung fehlt? Daß wir auch deshalb Pechkinder sind? Daß wir allesamt nichts Rechtes haben zustandegebracht, weil wir uns nie, und nie, und noch einmal nie für oder gegen etwas entschieden haben?« — Valentin: »Was für eine Entscheidung, Bruder? Gegen die Fremdherrschaft? Gegen die Zwangsherren von der Isar, vom Main, vom Rhein und von der Elbe?« — Gregor: »Zum Beispiel.« — Valentin: »Keine Chance. Nema anse. Die obrigkeitliche Gewalt läßt keinen Spielraum, und schon gar nicht die jetzige deutsche. Undeutsche Umtriebe? Im Handumdrehen ausgetrieben, und als Handlanger und Handumdreher unsre eigenen Leute, die hiesigen, in rauhen Mengen, und alle mit unseren 38 heimischen schönen Namen. Was für eine Entscheidung, Bruder? Für unsere Mutter-, Vater-, Kinder- und Haus-, Herd- und Stall-Sprache, für unsere slawischen oder illyrischen oder ostgotischen oder sonstwelche Urlaute, in denen angeblich, wie du behauptest, die Seele von unsereinem sich ausspricht, die angeblich die Sprache der Liebe und des Landes selber ist? Für die Sprache, die mir zum Beispiel höchstens zeitweise ein bißchen Stallwärme gibt?« — Gregor: »Ja, für die, meine, unsere Sprache.« — Valentin: »Auch unsere Sprache, lieber Bruder, dragi brat: keine Chance. Was mich betrifft: ich habe mich längst entschieden. Und meine Entscheidung heißt: Westen. Westwelt. Heraus aus der Eingeschlossenheit in die Berge und in die verstockte berglerische Sprache. Ins Offene. Weltbürger werden. Mir persönlich hat der Krieg bis jetzt fast nur Gutes gebracht, nicht wahr? Sogar Deutschland ist für mich schon der Westen, das Weltoffene. Sagen wir hier denn nicht: Hinaus nach Deutschland!? In Deutschland draußen, nicht wahr? Und zu den Balkanrichtungen dagegen: Nach Maribor, nach Ljubljana — hinunter. Und erst recht nach Belgrad — hinunter, hinunter. Und wenn wir von unseren eigenen Orten reden: in Eisenkappel drinnen, in Zell Winkel drinnen, in Gaffizien drinnen, in Heiligenblut drinnen, im Lavanttal drinnen, im Mölltal drinnen, im Bärental drinnen, nicht wahr? Deutschland: immerhin, von hier aus erlebt: draußen. Der Westen. Und erst England! Und erst recht Amerika! Was ich dank dem Krieg außer Schachspielen vor allem gelernt habe: das Englische! Das ist mir eine Sprache, lieber Bruder. Du willst wissen, wie ich dazugekommen bin? Militärgeheimnis. Love me tender. O my darling Clementine. Long distance information, give me Memphis, Tennessee. In the midnight hour, I gonna shake my tambourine. Come closer. Do you feel it? Knocking on heaven‘s door ... Long as I can see the light We shall gather at the river —« Er unterbricht sich: »Bist du dir bewußt, lieber Bruder, daß aus Widerstand, wenn der sich durchsetzen will, notgedrungen Krieg wird? Willst du den Krieg?« Und darauf Gregor: »Diesen ja. Ich war ja immer bereit, meine Feinde zu lieben. Aber die jetzigen — nein! — Kein Menschenschlag auf der ganzen Welt war friedlicher, war friedfertiger als wir hier. Wir, ja wir, haben den Frieden auf Erden verkörpert, gelebt, gespielt, vorgespielt, getanzt, vorgetanzt! Und jetzt — müssen, ja müssen wir hier den Krieg verkörpern, wir, wir!« Nachzutragen ist, daß während der Szene von irgendwoher meine Mutter auf den Plan getreten sein muß, unbemerktsowohl von mir auf der Bank als auch von ihren zwei Brüdern, dem einen von zuhause abschiednehmenden und dem andern, eben erst da angekommenen. Jetzt ruft sie des letzteren Namen, und wir anderen wenden uns über die Schulter ihr zu. Sie trägt das Magdgewand ihrer Schwester, welches an ihr ganz und gar nicht so wirkt. Zugleich 39 mit ihrem Ruf hat sie ihre Bienenschutzhaube, oder was es ist, abgenommen — sonst wäre sie wohl kaum zu erkennen gewesen. Valentin streift seinen Militärsack ab, und sie geht mit großen Schritten auf ihn zu, legt einen Arm um ihn und lehnt die Stirn an die seine. Der Sippenwindjammer, siehe oben, im Chor — dieser Chor tut‘s also noch —‚ in den auch Gregor einstimmt, aber gleich wieder abbrechend. Die Schwester reicht dem Ankömmling etwas, in das der hineinbeißt oder auch leckt: eine Bienenwabe? Ja, denn sie sagt dazu: »Ein gutes Honigjahr. Vor allem der Honig von den Manna-Eschen, jede weiße Blüte voll Saft, jede Rippe voll Honig.« — Gregor: »Dort unten auf dem Balkan bewillkommnen sie einen nicht mit Honig, sondern mit Brot und Salz.« Und wieder dann ein Verstummen, bis Valentin auf oder in den Kinderwagen zeigt: »Und der Mann dazu?« — Die Schwester: »Heim ins Reich.« Valentin: »Geflüchtet oder gezwungen?« — Sie: »Denk, was du willst.« — Valentin: »Was mich angeht: Ich habe bis jetzt immer die Flucht ergriffen, schon bevor so etwas in Frage ist gekommen.« — Sie: »Still! Es war Liebe. Es ist Liebe.« — Valentin: »Wenn unser Vater das hört: >Liebe< ... Wie lange wart ihr zusammen?« — Sie: »Eine Nacht.« — Valentin: »Eine einzige?« — Sie: »Ja. Und die zählt mehr als zehntausend andere.« — Gregor, sich einmischend: »Seltsame Mathematik. Wie zählt sie? Wo steht sie geschrieben? Wo ist sie gebucht?« — Sie: »Im Buch des Lebens.« — Gregor: »Bist du sicher?« — Sie: »Ja! Da steht es, für immer.« (Valentin ist zuletzt eingefallen und redet dann, über den Kinderwagen gebeugt, solo weiter.) »Das Ergebnis gibt ja tatsächlich eine Ahnung davon: wie glückselig unser Bankett daliegt. Das Gesicht zwar das einer kleinen Ratte. Aber wie die lacht übers ganze Gesicht, für nichts und wieder nichts! Sonnig und wonnig. Wahrscheinlich hat er sich schon in der Gebärmutter —« — Sie: »— unter meinem Herzen!« — Valentin: »— unter deinem Herzen all die neun Monde lang gefreut, hinaus in die Sonne zu kommen, hat es gar nicht erwarten können und ist schon ab dem dritten, vierten Monat ständig ungeduldig in deinem Bauch auf und ab gehüpft?« — Sie: »So ist es.« — Valentin: »Bist du sicher, daß er kein Idiot ist?« — Sie: »Ja. Nein.« — Valentin: »Ich sehe einen bösen Mond aufgehen. Eine Biene wird ihn in die Unterlippe stechen, und er wird ein ganzes Jahr lang ein Elefantenmensch sein. Wegen eingewachsener Zehennägel wird er bis zur letzten Volksschulklasse barfuß gehen. Mit sieben wird er mit seinem Himmeleinfangblick in eine Jauchengrube fallen und um ein Haar drin ersaufen, und mit zehn wird aus demselben Grunddelten, bin doch keine von den Zuzüglern aus Iserlohn oder aus Buxtehude oder von wo, die, jetzt hier eingenistet, wenn in der Nacht 40 draußen vor dem okkupierten Haus ein Kürbis vom Stapel rumpelt, sich unter die okkupierten Betten verkriechen und schreien: >Hilfe, die Partisanen!<. Und wie sie erst schreien, wenn eine Dachlawine in den okkupierten Hof rutscht, oder wenn nach dem Regen eine Mine den okkupierten Stall verschüttet: >Banditen! Titomörder!< — Aber Angst habe ich wohl.« — Gregor (der immer noch den Kinderwagen mit »mir« hin und her schiebt): »Um den da drinnen, um mein liebes Patenkind? Dem kann nichts geschehen, das sieht sogar ein Halbblinder wie ich.« — Meine Mutter: »Ich weiß, dem kann nichts geschehen, vorderhand. Angst habe ich um uns andere, um die Eltern, um unsere Liegenschaft, unser — An- wesen, unser — Land. Seltsam: auch um dich habe ich keine Angst, Gregor.« — Gregor: »Ja, wo ich jetzt hingehe, heißen die Fluren >Jenseits der Angst<.« — Meine Mutter: »Daß unsere Schwester in den Wald gegangen ist: den Schwaben ist das Putz wie Stengel. Eine Frau, aus unserer Gegend, was soll die kämpfen, und noch dazu eine Dienstmagd in Holzpantoffeln, in Zockeln, und noch dazu eine kurzsichtige, und noch dazu eine mit x-Beinen, über die sie schon in der Küche ständig stolpert, und wie erst querwaldein. Aber du, ein vereidigter großdeutscher Soldat, zu den Partisanen: das werden sie uns übrige büßen lassen, sie können gar nicht anders, das ist, ich weiß nicht, wo habe ich das gelesen, im Hermagoras Kalender oder wo, das physikalische Gesetz der Geschichte. Aussiedeln werden sie die Eltern. Klingt ja fast schön, das Wort: ich siedele aus, wir siedelen aus, wir Aussiedeler auf dem Aussiedelerschiff unterwegs nach Neufundland, Neuseeland, Neuschottland, Neubraunschweig, Neujaunfeld, Nova Podjuna. Aber in der Wirklichkeit jenseits der Wörter werden unsere Eltern Ausgestoßene sein, Heimatvertriebene, Verschleppte, Zusammengepferchte in einer Fremde, wo es für sie weder etwas zu besiedeln noch gar zu bestellen gibt, und wenn zu bestellen, dann ausschließlich die Felder und die Fabrikhallen ihrer Herren und Damen Sklavenhalter, im Spessart, im Teutoburger Wald, im Schwarzwald, im Harz, im Hunsrück, in der Eifel und im Riesengebirge. In den Baracken und um die Baracken herum: ein anderer Wald als deiner, einer aus Schildern, und jedes Schild ein Verbot, und jedes zweite Verbot geschmückt mit einem Totenkopf, und das Hauptverbot für unsere Barackeneltern: die eigene Sprache zu sprechen, die Stuben- und Küchensprache, die Natur-Sprache. Nur sie zu singen wird zeitweise erlaubt sein, an Sonntagen, zusammen mit den anderen Aussiedlern, auf dem besonnten Rundplatz inmitten der heimeligen Siedlerhütten. Aber das wird ein Gesang sein, wie nur Leute ihn singen, die wissen, daß sie nie wieder heimkehren werden.« Gregor, nach einem Schweigen: »Aber dafür gehe ich doch in die Wälder: daß es einmal für alle die Unsrigen eine Heimkehr gibt.« — Meine Mutter: »Was redest du da — die Eltern sind 41 doch daheim. Erst wenn du den Wald wählst —« — Gregor: »Und außerdem habe ich meine Uniform schon verbrannt.« — Meine Mutter: »Na und? In den Magazinen warten doch andre, noch und noch.« Wieder ein Schweigen. Dann läßt sich Valentin hören: »Es sind Gerüchte im Umlauf, wonach man für gewisse von den Unsrigen, zum Beispiel solche, die den Partisanen ein Schwein schlachten oder bloß einen Laib Brot überlassen, etwas ganz Spezielles bereithält. Solche werden nicht ausgesiedelt, heißt es. Sie bleiben angeblich im Land und arbeiten hier ihre Strafe ab, in Camps. Diese Camps sollen hauptsächlich aus gut gelüfteten Werkstätten und Fabrikhallen bestehen, Tag und Nacht rauchende Schlote, wie man sie aus englischen Industriegebieten kennt — das heißt, wie ich sie kenne, fragt mich nicht, woher. Nach Meinung der einen wird dort Kriegsmaterial hergestellt — eine Geheimwaffe gegen Rußland oder gottweißwen, eine Art Goethe-und-Schillerorgel gegen die Stalinorgel. Aber die Mehrheitsmeinung ist, daß es in den Camps in erster Linie um Produktion für friedliche Zwecke geht. Dank solchen Arbeitens, ist zu hören, werden die Camper auf den kommenden Weltfrieden eingestimmt und als Umgewandelte in die Freiheit entlassen. Nur ist aus diesen Läuterungsanstalten noch niemand zurückgekehrt. Es gibt angeblich viele Todesfälle, wenn auch natürlichen Todes, Herzversagen, Herzstillstand, gerade bei den Unsrigen, mit den starken Gebirglerherzen. Die Briefe aus den Camps sprechen freilich eine andere Sprache — frische Luft, gesunder Schlaf Paradiesträume, die Nachbarn nachbarschaftlicher als die zuhause. Auch das Bißchen, was ins Freie geschmuggelt wird, läßt eher Gutes ahnen. Meist sind das Taschentücher, reinweiße, von den Lagerleuten allerliebst bestickte, unsere Burschen müssen dort drinnen sticken gelernt haben!, und was sticken die da hinein, in die Tüchlein? — ausschließlich Heiteres: die lachende Sonne, Sternlein, an allen vier Tuch-Ecken Blümlein, Himmelsschlüssel, ein Haus, Herzen mit Pfeilen drin, Äpfel, Birnen, Weintrauben, das Auge Gottes, einen Fußball — und sogar Schriften sticken die Burschen, keine Kassiber, sondern einen Namen, den eigenen, und dazu, wie in den Baumrinden, vielleicht noch ein Mädchenname, manchmal auch mehrere! Dünn, sehr dünn, und klein, sehr klein, sollen diese Tücher sein, und noch dünner sind angeblich die Schriften, oft schwer zu lesen, weil immer wieder der Faden ausgeht und die Buchstaben durcheinandergeraten sind. Vermutlicher Grund: sie werden im Stockfinstern gestickt, und der mir das zugetragen hat und von Natur aus ein Schwarzseher ist, meint: diese Sticker, sie sitzen jeweils, ein jeder allein, in einer Todeszelle, und dieses Sticken im Stockfinstern wird ihnen zugestanden in der Nacht vor ihrer Hinrichtung — und sowie das bestickte Tuch alsdann ans Licht kommt, ist das das Zeichen für die Angehörigen: unser Sohn, unser Bruder, unser Vater — und für die Geliebte 42 oder die Geliebten: mein Liebster, unser Liebster —‚ er lebt nicht mehr, er ist für seinen Verrat am Volkskörper aufgehängt und verscharrt worden. Und schaut her: da ist so ein Sticktuch, Sticktüchlein —« Er läßt etwas Dergestaltiges zugleich vor den Augen seiner beiden Geschwister flattern und vorbeiziehen, auch vor dem Kinderwagen mit »mir« darin, und streift es zuletzt noch über das Gesicht seines älteren Bruders: »Der Blutfleck da hat nichts zu bedeuten, Gregor — der diesbezügliche Sticker hat sich beim Sticken in den Finger gestochen.« Wieder von uns anderen unbemerkt, muß inzwischen, vielleicht schon vor längerem, eine weitere Person auf den Plan getreten sein. Wir werden ihrer erst inne, als jetzt eine Stimme losgellt und unsere Köpfe in einer einzigen Bewegung über die Schulter schnellen. Eine Frau steht da im Halbschatten an der Feldgrenze, in Militärmantel und Lederstiefeln, auf dem Scheitel, in die Stirn geschoben, die bewußte Mütze mit dem bewußten Fünfzackstern. Folgend wird sie laut: »Laß dich von dem Valentin nicht herumkriegen, Gregor! Der verdient seinen Namen nicht — der Starke? Nein, der Schwächling, der Nachsprecher. Die Familie wird nicht ausgesiedelt. Haus und Hof bleiben unser! Unser Land hier wird unser Land sein wie noch nie! Die Todeszelle, die wird für die anderen sein, und nicht einmal eine Zelle — ein Urin-Fleck im Brombeerdorn am Rand des hundertmetertiefen Karstfelsenlochs, und ein Tritt hinein da in die Foiba! >Ich war ja nur der Koch<, >Ich war ja nur der Nachschub!< werden sie vorher noch gewinselt haben, und dann im Fallen: >Mutti-i-i . . . Sie ist dabei aus dem Schatten getreten, und von den übrigen drei Geschwistern kommt jetzt nacheinander: »Schwester . . . und dann vom Bruder Valentin, mit amerikanischem Akzent: »Die Dienstmagd als Befehlshaberin. Der Dorftrampel als Brigadier.« Darauf sie, mit unversehens sanfter Stimme: »Gut bemerkt, Bruder. Und gerade so — die Magd, die das Sagen hat — ist es der Fall. Aber nennt mich bis auf weiteres, bis zum Ende des Krieges, nicht mehr bei meinem Taufnamen. Ich bin nicht mehr Ursula. Ich habe bei der Osvobodilna fronta einen neuen Namen.« — Gregor: »O-svo-bo-dil-na fron-ta, was heißt das?« — Sie: »Befreiungsfront. Verstehst du denn deine eigene Sprache nicht mehr?« — Er: »Doch. Aber nur, wenn sie ausdrückt, was man sehen, hören und riechen kann. Wenn sie allgemein wird, begreife ich sie nicht. In unserer Sprache gibt es ursprünglich doch nichts Allgemeines, rein gar nichts, und für mich bis heute nicht.« — Sie: »Du wirst den Nutzen der abstrakten Sprache noch kennenlernen, Gregor. Du wirst lernen: ohne die Abstraktionen fehlt dem Kampf der Zusammenhalt. Ohne Doktrin kein kommunes Ziel. Ohne Organisation kein Überbau, und ohne Schlachtordnung: Stehen im Regen. Ohne Literatur keine Basis — Wille, Wald und Waffen allein tun‘s nicht.« — Gregor: »Was meinst du mit Literatur, Schwester? 43 Die Gedichte von France Preeren, die Romane von Ivan Cankar, die >Wildwüchslinge< von Preihov Voranc?« — Sie: »Unsinn! Reime und Romane sind für die kämpfende Truppe keine Literatur. Es ist eine Zeit, zu weinen und weich zu werden durch schöne Verse, und es ist eine Zeit, hart zu werden und auf Linie einzuschwenken kraft einer Sprache, die andere Saiten aufzieht. Es ist eine Zeit für das Geheimnis, und es ist eine Zeit für den Klartext. Literatur, das heißt jetzt: Kampfschriften, Flugblätter, Zeitungen, Manifeste. So ein Gedrucktes ist unser anderes Kampfmaterial. Ohne das wären wir nur ein verlorener Haufen im klirrkalten Bergwald. Wie lechzen wir nach solcher Literatur! Die Druckmaschinen, welche die englischen Verbündeten abwerfen, sind, mit den Granaten und den Gewehren, Teil unseres Arsenals — auch wenn beim Drucken die speziellen, die entscheidenden! ... Lettern fehlen ... Erst die Literatur hat die Truppe zusammengeschweißt. Nur werfen uns seit neuem die Briten ausschließlich Druckgeräte ab, bei denen der Hauptteil fehlt ... Und von den anderen Verbündeten, jenseits der Karawanken, ist, hier im Land, für die Literatur nichts zu erwarten, oder höchstens in den kyrillischen Buchstaben, die das Volk hier doch nicht lesen kann ... Aber auch so werden wir siegen, Gregor, zmagala bova ...‚ wir zwei, so wahr es in unser beider Sprache die Zweizahl, den Dual, gibt, bova ...‚ nicht wahr, Gregor? Und so wirst auch du dich dastehen wirst du, nicht mehr so wackelig, mit deinen ewigen Äpfeln und Birnen unter den Füßen, endlich auf festem Boden. Und zugleich wird er dich am Schopf nehmen, für einen anderen Stern.« — Er: »Ich kann nicht. Ein anderer Name, das gehört sich nicht. Ein Blitz wird mich dafür treffen, vom Himmel her oder von sonst wo.« — Snezena: »So werde eben ich deine Umtäuferin sein. Und hör jetzt endlich auf den Kinderwagen mit dem da drin hin und her zu schieben.« (Hat er gehorcht?) — — — »Also: Ab heute heißt du Jonatan — wie eine deiner Apfelsorten. Und entsprechend wirst du aktiv werden!« — Gregor-Jonatan, nach einem Schweigen: »Apfelaktivist.« Und nach einem weiteren Schweigen höre ich von Valentin: »Geheimnis des Glaubens. Ich wäre eher für >Cox< gewesen, der kommt aus England, oder, noch besser, für >Ontario<, der kommt aus Amerika .. . Ich auf meiner Bank inmitten der Heidesteppe habe dann kaum meinen Ohren getraut: Snezena hat im Anschluß an die Umbenennung eine regelrechte Ansprache an den Täufling gehalten: »Nun stehst du auf der guten Seite der Geschichte, Kamerad Jonatan. Wir sind im Krieg gegen ein großes Netz der Gewalt und des Hasses. Die Geschichte wird uns am Ende recht geben. Die Geschichte, sie entscheidet. Sie spricht die Wahrheit. Die Geschichte ist die höchste, die letzte, die unwiderrufliche Instanz. Wir Kämpfer in den Wäldern, in den Karawanken und auf der Svinjska planina, wir sind ihre Vorhut und ihre Herolde. Wir sind eine junge Truppe, viele von uns sind fast noch Kinder. Aber nach den Heiligen Schriften ist 44 die Zeit gekommen, von den Kindereien zu lassen. Unser Volk wird die Rolle spielen, die ihm zukommt in der Geschichte. Seltsam verschont waren wir bisher von ihr, und waren doch ein Geschlecht von Rebellen. Und jetzt sind wir da, den Weg zu weisen. Es ist die Zeit, den Weg der Geschichte zu wählen. Schütteln und rütteln wir, um unser Land neu zu begründen, nach dem Muster unserer Vorfahren, welche das Land weiter gesehen haben als die Summe bloß individueller Ambitionen. Die Augen geheftet an den Horizont, laßt uns konfrontieren die widrigen Winde. Wir sind die Patrouillen der Freiheit, und unser Volk ist dasjenige welches. Gott hat es berufen, daß es sich auf die Suche macht nach dem neuen Leben. Und in diesem werden wir unseren Hassern die Hände reichen — sofern sie bereit sind, ihre Fäuste zu öffnen.« Bei meinem Blick über die Schulter, im sporadischen Mit- schreiben, habe ich bemerkt, daß sie selber die Faust geballt hatte — beide Fäuste, und daß Gregor-Jonatan gebannt darauf gestarrt hat. Ursula-Snezena winkt ihm, ihr zu folgen, und macht sich auf den Weg. Er folgt ihr zunächst, geht dann jedoch in eine andere Richtung. Sie: »Wo willst du hin? Das ist nicht der Weg.« — Jonatan: »Ich weiß. Aber ich möchte noch einen Umweg machen.« — Snezena: »Hoffentlich keinen großen.« — Er schweigt. — Sie: »Laß deine Baumschere hier. In den Wäldern ist nirgends ein Obstbaum zu beschneiden.« — Jonatan: »Wer weiß. Auf später, Schwester.« Und er verschwindet vom Plan, in einem großen Bogen. Die Schneeige hält, ihrerseits im Abgehen, inne, auf einen Zuruf meiner Mutter (die das Schieben des Kinderwagens übernommen hat). »He, Schwester.« Und die »Kommissarin« wendet ihr tatsächlich ein Schwesterngesicht zu. Und jetzt meine Mutter: »Wer wäscht euch eigentlich die Wäsche im Wald, wer näht und flickt, wer kocht?« — Snezena: »Die Frauen, die Mädchen, Jelka, Andrina, Javora, Milena . . . « — Meine Mutter: »Und du?« — Snezena: »Auch ich, und auch die Schuhe putze ich den Männern, und auch den Nachschub trage ich auf den Berg, und auch die Nachtwachen mache ich mit. So ist es gedacht. So ist es eingespielt. Auf Wiedersehen, Schwester. Sreno. Mit Glück. . . Weg ist sie. Valentin und meine Mutter sind nun allein, mit mir, im Abstand. Die Mutter: »Wie fremd einem die aus dem Nachbardorf werden können. Und wie erst die Nachbarn. Und am fremdesten die eigenen Leute, die Eltern, die Geschwister.« Valentin, auf den Kinderwagen zeigend: »Und? Mutterliebe? Motherly love?« — Meine Mutter: »Einmal so, einmal so. Einmal Glück, trauriges, tieftrauriges. Dann wieder ist er mir so fremd, daß ich ihn verprügeln möchte, mit einem Holzscheit auf den Säuglingsarsch. Ihn, den Aussauger da, mitsamt dem Kinderwagen in die Brennesseln kippen. Ich allein bin nicht genug für ihn. Er braucht auch seinen Vater. Ich muß den suchen gehen, draußen im Reich, oder wo.« — 45 Valentin: »Und du? Brauchst du den Mann?« — Meine Mutter: »Nein. Nicht mehr.« — Valentin (höre ich wieder recht?): »Du hast mich betrogen, Schwester, mit einem anderen! Und was für einem! Wenn‘s wenigstens ein Apache gewesen wäre, oder ein Navajo, oder ein Athabaske.« — Meine Mutter: »Ich weiß. Anfangs habe ich mich auch schuldig gefühlt. Später nicht mehr.« Und wieder das Sippenschweigen. Dann höre ich meine Mutter: »Laß uns jetzt heimgehen, Valentin, heim zu den Eltern. Seit Benjamin nicht mehr ist, reden die kaum mehr miteinander. Jeder im Haus schaut von morgens bis abends in einen anderen Winkel. Und der Frischling da kann sie nicht aufheitern, der schon gar nicht. Was hat der bloß so still zu lachen? sagt die Mutter. Was glotzt der bloß dauernd himmelwärts? sagt der Vater.« — Darauf Valentin: »Nein, ich gehe nicht heim. Denn ich, ich werde die Eltern Urlaubstag für Urlaubstag darauf stoßen, daß ich, der Windige, lebe, und daß er, ihr Liebling, tot ist.« (Er ist dabei ins Singen geraten, ein gar nicht jaunfelderisches.) »Nein, ich gehe nicht heim, denn wenn ich dort eintrete, bin ich weniger noch als niemand. Nein, ich gehe nicht in den Wald, denn im Wald ist es finster, und es lauert dort meine finstere Schwester. Ich gehe dafür ins Nachbardorf, zu Milka mit dem gelben Band im Haar, und dann ins nächste Dorf, zu Lena mit der weißen Brust, und dann ins übernächste, zu Angelika mit der Maus im Strohsack. Und dann? Und dann? Heim in den fremden Käfig . . « So gehen die Geschwister in verschiedene Richtungen auseinander, und im Verschwinden höre ich von ihr oder von ihm: »Wie man doch herumverschlagen wird .. . «‚ und als Echo: »Ja, wie man herumverschlagen wird. Statt daß wir endlich wieder gottgefällig alle hier zusammensitzen.« Und als Echo: »Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist Politik!« VIER Und wieder sitze ich allein auf der Bank in der Heidesteppe des Jaunfelds. Böen von Wind, Rasseln von trockenem Laub, K]irren von kahlen Ästen wie im Eiswind, Raben, Meisen, Kuckuckrufe — wie alle Jahreszeiten in einem. Und wieder werde ich mich dann an Klartext versucht haben und wieder bald mich verhaspelnd, ins Stottern geratend, immer wieder abbrechend, das Gesagte zurücknehmend, in Frage stellend undsoweiter: »Etwa zeitgleich mit dem Tag, an dem der eine Bruder meiner Mutter, statt nach dem Urlaub in den Weltkrieg zurückzukehren, zu den Partisanen in die Wälder der Svinjska planina ging, und ein paar Tage vor dem erneuten Einrücken des anderen überlebenden Bruders an die Eis- front, kam es, am zwanzigsten August i 94, zur Feierlichen Moskauer Erklärung, in der die Österreicher zum 46 bewaffneten Widerstand gegen die reichsdeutsche Zwangsgemeinschaft aufgerufen wurden. Solcher Widerstand, der sei die Bedingung für eine Anerkennung der österreichischen Selbständigkeit nach dem Krieg. Vereinzelt folgten im Land welche dem Aufruf, die aber vereinzelt blieben. Sie wollten sich zwar widersetzen, wußten jedoch weder wie, noch wo, noch wann. Nur ein paar fanden den Weg hierher nach Kärnten, wo die Widerständler der slowenischen Minderheit sich militärisch organisiert hatten. Irrtum, zu meinen, die paar aus den anderen Bundesländern zu den Partisanen Dazu gestoßenen seien parteipolitisch Motivierte gewesen, etwa Angehörige der verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs. Diese bestand zwar weiter im Untergrund, aber ihre Führung sprach sich trotz der Moskauer Erklärung gegen einen bewaffneten Kampf aus, mit der Begründung, es gebe so wenig geheime Parteimitglieder, daß, würden diese zur Waffe greifen, die Kommunistische Partei Österreichs Gefahr liefe, bei Kriegsende ohne Mitglieder dazustehen. Die spärlichen deutschsprachigen Landsleute, die sich den slowenischen Partisanenverbänden in Kärnten anschlossen, waren vielmehr Deserteure, auch Eisenbahner, und dazu dieser und jener, wie man heute sagen würde, Irrläufer, ein Bildstockmaler aus Osttirol, ein Maultrommelspieler aus dem Land ob der Enns, ein früherer Schirennläufer aus dem Salzburger Pinzgau, ein Senner aus dem Montafon. Und der Kampf, Moskauer Erklärung hin oder her, ging ab dem Herbst neunzehnhundertdreiundvierzig richtig los — auf Grund der aus dem übrigen Österreich hier in unser Land und unser Jaunfeld dahergestolperten Verstärkung? Gott allein weiß es. Hierzuland fanden im Herbst und Winter und im folgenden Jahr jedenfalls die einzigen Schlachten innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs gegen dasselbige statt. Befehligt wurde die Widerstandsarmee ausschließlich von ehemaligen Holzfällern, Bauernburschen, Sägewerksarbeitern, Müllergesellen. Irrtum wiederum, anzunehmen, unter den Anführern seien einheimische Studierte, Lehrer, Anwälte, Ärzte, gewesen. Höchstens, daß ein paar Priester, für welche das Retten der eigenen Sprache zum Ausüben der Religion gehörte — Sprache retten ist Seele retten —‚ den Kampf ihrer Lämmer, oder was die halt waren, insgeheim unterstützten, und daß sogar dieser und jener Geistliche, der den jetzt vielleicht um so inbrünstiger der Worte Gottes Bedürftigen, und geradezu danach Lechzenden, die Messe las, das tat mit der an den Feldaltar gelehnten Maschinenpistole. Die Angehörigen der, wie sagt man, einheimischen Oberschicht, die, wie sagt man, Gebildeten, fehlten all die Zeit des großen und einzigen Widerstands hierzuland, und sie fehlten bis zuletzt. Ihr Fehlen war den Bauernburschen nicht etwa recht, es wurde von ihnen beklagt, wieder und wieder, wenn sie, untereinander sprachlos, nicht mehr weiterwußten. >Unsere Studierten, wo sind sie, wenn wir sie einmal brauchen? Das Volk, es kann unsere Worte kaum 47 erwarten. Aber wir, was haben wir zu sagen? Den Herren liegt nichts an unseren Menschen. Unsere Gelehrten, sie schonen sich für bessere Zeiten. Aber wir und das Volk, wir brauchen sie, als Sprecher, als Ausweg. Es genügt nicht, Waffen zu laden, Holz nachzulegen und Kaffee zu kochen. Gemäß dem Spruch, daß die einen das Vieh versorgen‘, und die andern die Wörter, und daß beide zusammen das Haus und den Hof versorgen . . . Über so viel Klartext ist mir mit der Zeit die Zunge schwer geworden. Eine Müdigkeit ist über mich gekommen, und ich bin von der Bank inmitten des Jaunfelds gerutscht, zu Füßen des Apfelbaums. In dessen Wurzelmulde ruhe ich nun, wie schlafend, und zugleich in Erwartung des Folgenden. Und was folgt? Die Großeltern kommen daher, jeder aus seiner Richtung. Beide, noch immer nicht recht alt, sind im ländlichen blauen Arbeitsgewand. Mein Großvater zieht ein kurzes, breites, fast viereckiges Boot hinter sich her, meine Großmutter ein Leiterwäglein voll mit zwei großen Milchkannen. Wortlos lassen sie die Gefährte stehen und setzen sich auf die Bank, knapp neben mir, als ob es mich gar nicht gäbe. Dann er: »Und?« — Die Großmutter: »Nichts.« — Der Großvater: »Keine Feldpost von Valentin seit letztem Sommer. Keine Zeichen von Gregor, obwohl der angeblich die ganze Zeit dort oben im Wald auf uns herabspäht. Und keine Nachricht von Ursula.« — Die Großmutter: »Die würde nicht von ihr persönlich sein. Besser gar keine Nachricht.« — Der Vater: »Briefe höchstens von der anderen. Daß sie für ihren halbdeutschen Kleinen draußen in Großdeutschland weiterhin ihren Ganzdeutschen sucht.« — Die Mutter: »Wie schön ihre Schrift ist. So war die Schule doch für etwas gut.« — Der Vater: »Nur: von Brief zu Brief immer weniger Wörter in unserer heimischen Sprache.« — Die Mutter: »Hm.« — Der Vater: »Hrn.« Und alsdann der Vater, auf die Kannen zeigend: »Wieviel Liter?« — Die Mutter: »Zweiundzwanzigeinhalb.« — Der Vater: »Gestern haben sie noch sechsundzwanzig gegeben. Gieß Wasser dazu, bevor du die Milch ablieferst bei den Schwaben.« — Die Mutter: »Führe mich nicht in Versuchung. — Und der See?« — Der Vater: »Voll mit Blutegeln. Die warten schon. Können‘s gar nicht mehr erwarten.« — Die beiden im Chor: »Hrn.« Unversehens nähert sich den beiden jetzt eine Gestalt. Niemand hat sie kommen sehen. Es ist, als sei sie aus dem Heideboden gewachsen. Vielleicht rührt das auch davon, daß sie einen Mantel trägt, einen langen, in der Farbe der Umgebung. Wie sie sich so im Näherkommen um sich selber dreht und zwischendurch auch rückwärts geht, könnte sie irgendein Müßiggänger sein. Dazu passen dann freilich weder die Waffe in ihrem Arm noch das geschwärzte Gesicht — jetzt erst, als sie vor dem Großelternpaar stehenbleibt, wird es deutlich. »Wer da?« entfährt es dem Großvater, als sei er selber noch im Krieg, im ersten, und dann: »Kdo si? Wer bist du?« Seine Frau neben ihm scheint es längst zu wissen, sie lacht aber nur still, worauf die 48 Gestalt einen Apfel aus dem Bäumchen pflückt und ihn vor sich hinhält, worauf der Großvater nur den Namen seines Sohnes sagt: »Gregor!«, und die Mutter: »Jonatan.« Gregor-Jonatan gesellt sich zu seinen Eltern, indem er sich niederläßt auf der Bootskante, oder wo. Dabei zeigt sich, daß er unter dem Mantel eine Uniform trägt, keine deutsche, und auf dem Rücken einen Rucksack, einen spürbar leeren. Er wischt sich den Ruß aus dem Gesicht. Die drei schauen und schweigen einander eine Zeitlang an. Dann läßt sich die Mutter hören: »Du mußt hungrig sein.« —Jonatan: »Die halbe Zeit dort oben im Wald reden wir nur vom Essen. Lammkeule in Speck gebraten, erbarme dich unser. Heidensterz in Grammelschmalz geschwenkt, bitte für uns. Weißwürste mit Sauerkraut, erbarmt euch unser. Gekochtes Rindfleisch mit Krensoße, bitte für uns. Hirschschinken mit Wacholder, erbarme dich unser. Palatschinken mit Preiselbeermarmelade, bringt unseren Mägen den Frieden.« — Die Mutter: »Hier, in der Kanne« — sie holt zwischen den großen eine kleinere Kanne hervor — »ist Ziegenmilch, von der nicht registrierten Ziege —« — Jonatan: »— die mit Vorliebe die Blüten von den Waldreben frißt. Was für eine Milch das gibt, Mutter! Heute noch werden wir dank ihr im Paradies sein, ein Mundabwischen lang.« Und schon hat er die Kanne im Rucksack verstaut. Rückwendend hat der Vater aus dem Bootsrumpf ein Bündel von scheint‘s frisch gefangenen Fischen, Forellen, oder Zander, oder sonstwas, gezaubert und dem Sohn wortlos hingehalten, der den Schatz wiederum im Handumdrehen einpackt, und sich dann hören läßt: »Unser Koch wird die Fische heute noch braten, in einem Feuer, wie nur er das brennen lassen kann, ohne Funkenflug, und ohne Rauch, der uns verrät, mit Reisig, das er ausschließlich allein holen geht, ein strohtrockenes.« — Der Vater: »Früher bin ich euch 1Km- dem ein jedesmal über den Mund gefahren, wenn ihr >ich< gesagt habt, weißt du noch?« — Jonatan: »Wie denn nicht, Vater? >In diesem Haus kein Ich!< Und obwohl es in unsrer lieben Sprache normal kein eignes Wort gibt für >ich< — >ich< bin versteckt in der Endung des Zeitworts, haben wir damals in der Schule von Maribor gelernt, gledam, >ich schaue<, ljubim, >ich liebe< —‚ hast du uns seinerzeit in Haus und Hof sogar die versteckte Ich-Form austreiben wollen, kein >ich fühle<, kein >ich denke<, kein >ich möchte<, und wie erst die betonte, >ich meine<, >ich denke<, >jaz menim<, >jaz mislim< >In unserem Haus ist Platz einzig für wir und uns!< hast du gesagt . . . « — Der Vater: »Noch als Zwangssoldat bei denen dort hast du >ich< gesagt, >ich< geschrieben, >ich< gesungen — das >Ich< sogar betont! Mir scheint, jetzt aber, dort oben in den Wäldern —« — Jonatan: »Ja, Vater: Bei uns Kämpfern ist das Wort >ich< aus dem Wortschatz gestrichen.« — Die Mutter: 49 »Mein Gregor ein Kämpfer?« — Jonatan: »Ja, Mutter. Es gelüstet uns nach Kampf, nach offenem. Gar zu lang schon liegen wir versteckt.« Und er streichelt und tätschelt dabei seine Waffe, und herzt sie sogar? — Der Vater: »Und wann greift ihr endlich an?« — Jonatan: »Es fehlen uns die starken Waffen — die Engländer werfen die fast nur ab über dem feindlichen Gebiet,‘ in den Ebenen. Und die Schwaben erwarten uns dort mit den modernsten englischen Maschinengewehren . . . « Er steht auf zum Gehen. Der Vater: »Wie schön du da stehst! Wenn ich bedenke, wie wir alle hier in unserem Jaunfeld, ob Weiblein oder Männlein, aus alter Gewohnheit immerfort von einem Bein auf das andere treten —« Er macht es vor — »— und wie ich seinerzeit im Ersten Weltkrieg, von der Isonzo-Front bis nach Galizien, mir das nicht und nicht abgewöhnen habe können ...‚ und wie es in jedem Dorf zwischen Saualpe und Karawanken mindestens ein Haus mit dem Hofnamen >Beim Zappier< gibt . . . « — Jonatan, nach einem Schweigen: »Wißt ihr, Eltern, daß wir, wenn wir von den Bergen hinab aufs Jaunfeld schauen, jedem der Höfe, wo wir Unsrige wissen, einen geheimen Namen gegeben haben, einen anderen als den grundbüchligen? Das gehört zur — Konspiration, Mutter. Zum Beispiel: Beim Hinterzauner, Beim Hintergärtner, Bei den Schaben, Beim Hammer, Beim Glimmerofen, Bei den Gemsen, Beim Buchsbaum, Beim Dreschflegel, Bei den Tollkirschen, Beim Himmeischlüssel, Beim Zitterer—« — Die Mutter: »Das würde zu uns passen —« —Jonatan: »Wir hier heißen anders.« Und er fällt in ein gespieltes Flüstern: »Wollt ihr wissen, wie unser Hof bei den Kämpfern im Wald heißt? — Pn Zavednem. Beim —« — Die Mutter flüstert auch: »Beim Bewußten?« — Jonatan: »Ja, Beim Bewußten!« — Der Vater, laut: »Und was tut ihr die andere halbe Zeit, außer daß ihr euch versteckt haltet?« —Jonatan: »Wir planen den Frieden — außer wenn uns ‘die Läuse gar zu sehr plagen.« — Der Vater: »So glaubt ihr also an euren Sieg?« — Jonatan: »Es kann nicht anders kommen.« — Der Vater: »Warum?« — Jonatan: »Die Geschichte will es so. Und die Geschichte ist die Siegermacht.« — Der Vater: »Jetzt trumpfst sogar du mit der Geschichte auf, Gregor —« — Jonatan: »Jonatan . . . « — Der Vater: »In unserm Haus: keine Geschichte! >Beim Bewußten< paßt nicht zu unserm Haus. Laßt ihm den angestammten Namen.« —Jonatan: »Zum Bleier?« — Der Vater: »Zum Bleier.« — Jonatan: »Dort oben im Wald ist nicht dein Haus, Vater. Dort hast du nichts zu bestimmen.« — Die Mutter: »Und wie wird der Frieden sein?« — Jonatan: »Wir werden nicht mehr die unerwünschten und verwünschten Fremden sein im Land zwischen den Karawanken und der Svinjska planina. Niemand mehr wird uns >Verbissene Slawen< schimpfen. Seit jeher sind wir hier die Letzten gewesen, in der Monarchie, dann in der Republik, dann im Ständestaat, und erst recht jetzt bei den 50 Tausendjährigen.« — Der Vater: »Und nach dem Krieg werden wir Letzten die Ersten sein?« — Jonatan: »Jedenfalls wird dieses Land dann endlich einmal auch unser Land sein, zum ersten Mal in der — Geschichte, liebe Eltern.« — Die Eltern haben darauf einander nur stumm angeschaut. Und dann höre ich wieder die Mutter: »Weißt du etwas von deiner Schwester?« — Jonatan: »Nein. Und im übrigen sind für uns alle Frauen, die mit uns kämpfen, Schwestern. So reden wir sie auch an, und zum Nebenmann im Wald sage ich Bruder.« — Der Vater: »Was für eine Sprache du sprichst, Sohn. So hat noch niemand in unserer Sippe geredet.« — Die Mutter: »So laß ihn, Vater. Nie hast du die deinigen lassen können.« — Jonatan hat sich inzwischen zum Gehen gewendet. Dabei ist er über mich am Fuß des Bäumchens Liegenden gestiegen, hat sich kurz über mein Ohr gebeugt und geflüstert: »Das merken und nicht vergessen! Träum zu, kleiner Träumer. Das kann zumindest nichts schaden, im Gegensatz zu den meisten anderen Tätigkeiten heutzutage, ein gutes und schlechtes halbes Jahrhundert nach dem Hier und Jetzt. Ah, Häuptling Morgenwind!« Und dann ist er, so unversehens, wie er erschienen war, verschwunden und hat die Eltern, meine Großeltern, auf der Bank in der Heidesteppe alleingelassen. Nachzutragen ist hier, daß kurz zuvor, wer weiß wann, der eine Apfel von Hand zu Hand gegangen ist und ein jeder einen Bissen davon nahm, entsprechend dem: »Tut das zu meinem Gedächtnis.« Und mir ist jetzt, der Satz sei auch deutlich zu hören gewesen. Zeit ist vergangen, ich weiß nicht mehr, wie. Weder ist es dunkel noch wieder hell geworden. Auch keine besonderen Geräusche haben ein Zeitvergehen angezeigt. Aber sie ist vergangen, die Zeit. Die Großeltern sind still sitzengeblieben. Fast kommt es mir jetzt vor, sie seien erstarrt, oder eher versunken, ein jeder für sich. Vielleicht haben sie auch die Augen geschlossen. Und der Wind hat vielleicht die Richtung gewechselt? Ja, so wird es gewesen sein. Und nach einer Zeit werden die beiden die Augen wieder aufgemacht haben. Der Wind ist kalt. Die Großmutter scheint zu frieren. Ihr Mann reibt ihr die Hände. Dann höre ich sie: »Sie haben unser Bienenhaus niedergebrannt, mit einem Flammenwerfer. Ein Nachbarkind haben sie mit dem Kopf nach unten in einen Zwetschkenbaum gehängt. Einer von den Unsrigen haben sie den Bauch aufgeschlitzt und den Leichnam geschändet.« — Er: »Das hast du geträumt, Mutter.« — Sie: »Teils, teils.« — Er: »Sie haben uns gezwungen, unseren Namen anders zu schreiben. Sie haben unseren schönen Namen eingedeutscht!« — Sie: »Das hast du geträumt, Vater.« — Er: »Stell dir vor: nicht mehr >Svinec<, s-v-i-n-e-c — nein, wir müssen uns nun >Swinetz< schreiben, bei schwerer Strafe! Stell dir vor: w statt y, und statt dem c am Ende tz. We, te, zet, ist das nicht scheußlich? Te, zet, te, zet — zuerst die Hunnen, dann die Türken, und jetzt die 51 Schwaben, diese drei. Die schlimmsten aber sind die Deutschen!« — Sie: »Laß sie.« — Er: »Immer willst du die anderen lassen, Mutter. Immer bist du versöhnlich. Immer willst du allen gut sein. Jedes Wort ein Evangelium. Kein Wunder, daß wir nicht vom Fleck kommen bei all dem Laß-Laß-Blei in den Schuhsohlen.« — Und sie: »Die gute alte Zeit — es hat sie gegeben, hier bei uns im Jaunfeld jedenfalls. Es hat sie gegeben, denn wir haben sie erlebt.« — Und er: »Ja, sie war kein Schmäh.« Und wieder unversehens, wie aus dem Boden gewachsen oder vom Himmel gefallen — ohne Fallgeräusch —‚ steht jetzt ihre Tochter Ursula, mit Kriegsnamen Snezena, vor ihnen und mir Liegendem. Anders als ihr Bruder ist sie nicht getarnt, so daß Vater und Mutter sie gleich erkennen. — Vater: »Mojdunaj, Ursula!«, und die Mutter: »Madonna! Jungfrau Maria! Laß dich anschauen! Snezena!« Und diese läßt sich anschauen. Eine Andeutung des bekannten Sippenfreudenjammers, oder der Jammerfreude schon wieder vorbei. Snezena geht im Kreis um Eltern, Leiterwagen, Boot, Baum und mich dort Eingeringelten herum. Auch sie ist, unter ihrem Mantel, der vielleicht nur ein Tarnleintuch (im Schnee) ist, militärisch gekleidet. Doch ihre Haltung ist nicht mehr danach, und ebenso nicht ihre Stimme: »In die Rauchküche eingesperrt ... die ganze Nacht sein Weinen und Schreien >Laß mich leben, bei meiner Mutter!< ... >Hilfe! Hilfe!< Noch nie war eine Nacht so lang ... Am Morgen habe ich mich auf die Knie geworfen vor dem Kommandanten und mit gefalteten Händen gebeten, Sergej zu begnadigen Aber er hat sich nicht erweichen lassen ... >Verstoß gegen die Partisanendisziplin hat mit dem Tode bestraft zu werden!< ... Und das alles für ein gestohlenes Stück Butter >Nicht zum ersten Mal zeigt er sich unserer Befreiungsfront unwürdig — schon vorher ist er auf Wache eingeschlafen!< Das mit der Disziplin habe ich ja noch verstanden, aber daß Partisanen einen der ihrigen — hinrichten! Er war doch trotz allem einer mit uns, einer für uns, im Widerstand ... ihn erschießen, weil er ein bißchen Butter für sich behalten hat Wie die Patrouille ihn weggebracht hat, habe ich mich in den Weg gestellt und gerufen: >Kinder, was tut ihr da?< ... Aber alle haben durch mich durchgeschaut, und am durchesten der Kommandant — sogar Sergej, der freilich mit riesengroßen Augen — wie sagt man bei uns? >Die Angst hat große Augen< ... Und wie die Patrouille ohne ihn zurückgekehrt ist, kam es: >Traurig — doch so ist es halt im Krieg, es geht nicht anders, es muß so sein<, und einer der Schützen: >Und außerdem, als all sein Betteln nichts geholfen hat, hat er uns in seinen letzten Momenten noch die Feinde an den Hals gewünscht: Die Deutschen werden mich 52 rächen! Die Schwaben sollen euch umlegen! Alle! Dabei, ich bin sicher, hat Sergej das Verfluchen bloß gespielt — denn wie sagt man wieder?: Die Angst spielt, aber sie spielt schlecht . . . < Und wißt ihr, wer ihn exekutiert hat? Ihn exekutieren hat lassen? Wer war der Kommandeur? Wer ist unser Kommandant? Ratet. Nein, ratet nicht. Wehe, wenn ihr ihn erratet.« (Sie hält im Kreis- gang inne.) »Mir ist dabei aufgegangen, Eltern: dort, wo getötet wird, gleichwie, gehöre ich nicht hin. Das ist nicht meine Welt. Für mich gibt es überhaupt keine Welt, ich gehöre nirgendswohin, außer in den Stall, zu den Kühen und Schweinen. Ich habe vom Töten immer nur geredet. So wie wir in unserer Sippe ständig vom Umbringen reden — >ich bring den um!<, >ich erschlage die!< — und nie und nimmer Töter sind. Ich tauge nicht für den Kampf. Wir taugen nicht fürs Kämpfen, gleich welches. Wir bäumen uns höchstens einmal auf, jetzt, und jetzt. Aber der wahre Kampf, das andauernde Kämpfen hat bei uns keine Zukunft.« (Sie fällt zurück in ihren Kreisgang.) »Aber was hat denn Zukunft? Was bloß?« — Die Mutter, irgendwann einmal dann: »Dort oben in den Lüften wird die Wilde Jagd daherbrausen, und wir, statt daß wir wie sonst, um uns vor ihr zu schützen, uns auf den Boden legen und untereinander ein Wagenrad bilden, werden aufrecht stehen bleiben und das Geschwader begrüßen: >Noch wilder! Noch böser!< In der Nacht, wenn wir schlafen, wird sich die Trota Mora auf uns hocken, und statt wie sonst keine Luft mehr zu bekommen, werden wir unter ihrem Gewicht aufatmen und singen: >Trota Mora, noch schwerer! Noch schwerer!< Und jedesmal, wenn einer von uns wieder im Grab liegt, werden wir sagen: >Da liegt er, unten im Juchhe.< Es führt fürs erste kein Weg zurück in den Stall, Snezena. Entweder—Oder. Entweder weitertun, als ob nichts gewesen wäre, oder — kein Oder. Nur das Entweder. Marsch, zurück in die Berge.« — Snezena: »Was könnt ihr mir mitgeben?« Und wie ihr Bruder hält sie den Eltern einen leeren Rucksack hin, der von Vater und Mutter aus Boot und Leiterwagen gefüllt wird, begleitet von einer Litanei, abwechselnd, zu dritt: »Bachkrebse.« — »Apfelstrudel.« — »Erdäpfel, leider schon mit Keimen.« — »Rauchfleisch, aus hauseigener Rauchküche.<‘ — »Gugelhupf, mit Zimt, Rosinen und Nüssen.« — »Eier.« — »Butter ... hier . . . « — »Quitten, gegen die Läuse.« — »Steinpilze.« — »Die nicht, von denen gibt es in den Wäldern übergenug, und niemand nimmt sie. Pilze und Partisanen, das paßt nicht zusammen.« Und zum Abschiednehmen hat sich Snezena auf die Bank zu den Eltern gesellt und durcheinandererzählt: »Wir essen, wenn überhaupt, nur einmal am Tag ... Unser Bunker ist eine Rindenhütte, wie sie nur Kärntner Holzfäller aufstellen können Wenn ich unsere Partisanenlieder singe, habe ich zugleich einen Rosenkranz zwischen den Fingern ... Wir haben mehrere Schreibmaschinen, aber niemand kann tippen ... Die Deutschen 53 erkennt man durchs Fernrohr an ihren breiten Gürteln, auf denen >Gott mit uns< steht ... Manchmal sind wir so müde, daß uns nur noch Lachen aufrecht hält ... Untereinander erkennen wir uns durch Losungsworte, zum Beispiel >Die Zwetschken sind reif< — >Aber es ist doch noch nicht Herbst< ... Der Bauer >Beim Buchsbaum< unterstützt uns am kräftigsten, nur mit dem Wort >Partisanen< kommt er nicht zurecht, er sagt jedesmal >fazani<, die Fasane ... Und im Frühling habe ich einmal auf einer Lichtung kleine Lilien gesehen im hohen Gras und dabei gedacht: >Mutter!< . . . « Und dann wendet auch sie sich zum Gehen, samt gefülltem Rucksack: »Daß ich mich zeitweise im Wald nach dem Kind der Schwester gesehnt habe: seltsam. Nach dem Wechselbalg mit dem fremdländischen Geschau, den Grottenmolchhändchen, den Haaren, die wie nasse Hühnerfedern riechen, der Haut, an der man auch nach dem Entwöhnen die Muttermilch riecht. Als ob nach all dem, was sich zugetragen hat, nur der Anblick eines unschuldigen Kindes einen reinigen könnte, sogar eines, das schon am Tag seiner Geburt gar nicht so unschuldig gewirkt hat . . . « Ich habe den Kopf gehoben, um mich ihr bemerkbar zu machen. Aber sie ist schon verschwunden, so unversehens, wie sie gekommen ist. Der Vater, oder wer, hat ihr noch ins Dunkel nachgerufen, ob sie etwas von ihrem Bruder gehört habe. Und Snezena hat aus dem Dunkel zurückgerufen, daß er vom Kurier aufgestiegen sei zum Kommandanten! Man nenne ihn den Entwaffner, weil es ihm gelinge, mit seinem Bataillon ganze feindliche Einheiten zu entwaffnen, ohne daß auch nur ein Schuß Munition verschwendet werde. Und die Mutter, oder wer, hat ihr noch nachgerufen: »Und die Liebe? Endlich geweckt, vom Krieg?« — Und, weit weg schon, Snezenas Zurückrufen: »Die Liebe ist etwas Unreifes, und außerdem führt sie zu nichts.« Und wieder ist, mit den Großeltern auf der Bank inmitten des Jaunfelds, und mir selbst an der Baumwurzel, die Zeit vergangen. Der Wind hat neuerlich gedreht und ist senkrecht von oben gekommen, ein Fallwind, wie manchmal in der Wüste der sogenannte San-Andreas-Wind, einzig über dem Bäumchen, das davon leicht zus ammengedrückt wurde. Die zwei auf der Bank haben davon kaum etwas abbekommen. Ob sie überhaupt das Fauchen gehört haben? Und wieder ein Brief, dahergeblasen von dem San-Andreas-Wind. Und wieder ist es der Großvater, der ihn öffnet. Und er ist es jetzt, der sagt: »Ich hab‘s gewußt.« Seine Frau nimmt ihm den Brief aus der Hand und liest ihrerseits laut: »... sein junges Leben für den Virer und unser großes deitsches Fatterland . . . « Beide im Chor: »Valentin.« Und darauf ebenso ein zweifaches Laut‘‘ ausstoßen, sich anhörend fast wie ein Aufschnarchen — und Stille. Dann der Vater, oder wer: »Nie hat er in kurzen Hosen gehen wollen, und erst recht nicht in langen Unterhosen, auch nicht im kältesten Wind.« — 54 Die Mutter, oder wer (beider Stimmen hören sich, für mich am Boden zumindest, eine Zeitlang gleich an): »Das war doch der Benjamin. Der Valentin, das ist der gegen Hosenträger. Bloß keine Hosen- träger! Entweder gar nichts, oder Gürtel! Die Mädchen stehen auf Burschen mit Gürtel, am besten mit einer bronzebeschlagenen Schnalle und einer Lasche, die an der Hüfte ein wenig herunterhängt. Kommst du einem Mädchen mit Hosenträgern, bist du von vornherein untendurch.« — Der Vater, oder wer: »Und seine Schrift, einmal ganz nach links, einmal ganz nach rechts, einmal winzig, einmal riesig — jeden Tag anders.« — Die Mutter, oder wer: »Und seine Fingernägelmonde.« — Der Vater, oder wer: »Und die Eisenplättchen an seinen Sonntagsschuhen.« Und wieder haben die Eltern eine Zeitlang geschwiegen. Und dann höre ich klar die Mutter: »Wenn diejenigen von uns, welche auf dem Boden des Reichs, der einmal unser hiesiger höchsteigener Boden war, von den Reichsoberen als Reichsfeinde angesehen werden, vor ihnen, den Oberen, zu stehen gezwungen sind, so ist es, wie du weißt, Vater, den Unsrigen verboten, ihnen, den Reichsoberen, in ihre Augen zu schauen, ausgenommen den Fall, daß eins unsrer Kinder auf dem Schlachtfeld oder wo sein Leben geopfert hat für ihr Reich, woraufhin, wie du weißt, Vater, der Reichsobrige, bevor er dem Unsrigen die traurige und ihn zugleich stolzmachensollende Nachricht vorliest, dem Unsrigen befiehlt: >Augen hoch!<, was für den Unsrigen die einzige und einmalige Gelegenheit und einmalige Begünstigung ist, dem Obrigen in die großdeutschen Augen schauen zu dürfen — verstehst du?« — Der Vater: »Hrn. So einen langen Satz habe ich von dir meinen Lebtag lang nicht gehört, Mutter.« — Die Mutter: »Also: Augen hoch!« — Und indem ich mich recke und strecke, sehe ich, daß das Großelternpaar aufgestanden ist von der Bank — und ihre Augen? hoch, hoch! weit über irgendjemandes, selbst eines Riesen, Augenhöhe. Und so höre ich sie gemeinsam himmelwärts spucken — schwach und schwächer, denn es fehlt dem einen wie der andern der Speichel. Und dann die Mutter: »Sie sollen wissen, daß wir ihre Feinde sind!« Und dann der Vater: »Wieder einer ab in Verzweiflung. >So, so!< sagt der liebe Gott. Ah, daß doch auch noch unser Gregor umkäme, und unsere Ursula, und die andere, mit ihrem Wechselbalg, unter den Bomben, draußen, dort, in ihrem deutschen Reich. So wären wir wenigstens ganz allein hier.« Und darauf die Mutter: »Du lästerst.« Und darauf der Vater: »Ja. Ja!« Und darauf die Mutter: »Lästere weiter! Lästere. Lästere für mich.« Nahen Gregor-Jonatans jetzt. Ohne Tarnung kommt er daher, geräuschvoll — ohne ein Geheimverhalten — ein (fast) vollständiges Sichgehenlassen. Auch abgerissen wirkt er, ohne Waffe, in seinem grauweißen Leintuch — oder Fallschirmmantel — nicht unähnlich einem, 55 der Gespenst spielt. Und entsprechend redet er jetzt auch, nach dem »Laß dich anschauen!« der Eltern, ohne anzusetzen los: »Recht gesehen: nur noch ein Gespenst bin ich. Berggespenster wir alle. Sie sind so viele unten in den Tälern. Kaum einer von uns glaubt mehr an den Sieg. Sie haben noch und noch falsche Widerständler eingeschmuggelt bei uns, die Partisan spielen und uns in Wahrheit verraten, unsere Lager, unsere Bunker. Diese Reißteufel sprechen unsere Sprache, sie kommen aus unserem Volk, und sind dabei die Henkersknechte des Herrenvolks, das sich so vornehm im Hintergrund halten und die Hände im Nichtwissen waschen kann, wie überall in Europa, von der Ukraine bis Oradour. Reißteufel, raztrganci, Entzweireißer, verkleidet als Pilz- und Almkräutersucher, mit Salz für das Wild im Rucksack. Wie sagt man: Schlangen, die ihre Beine verstecken. Nur einer hat sich einmal selber verraten, >ich bin Partisan!< hat er sich vorgestellt, mit einem deutschen >s<, statt einem slawischen >partizan< — dich haben wir! die Füße an eine Almföhre gehängt, kopfunter in einen Ameisenhaufen . . . « — Der Vater, oder wer, unterbricht ihn: »Woher weißt du das? Warst du dabei? Hast du am Ende —?« — Jonatan: »Ich hab‘s mir erzählen lassen.« — Die Mutter, oder wer: »Man erzählt heute so vieles . . . « — Jonatan fährt fort: »So wenige sind wir dort oben, gegen die Übermacht unten, und jeden Tag geht einer von uns drauf. Und nicht einmal begraben können wir unsere Toten. Fliehen, fliehen, fliehen, durch den Tag, durch die Nächte. Warten auf unsere Verbündeten? Keiner wartet mehr auf den Feuerschutz der Englischen. Und unsere eigenen Schutzengel? Zwar geben sie uns ein Stelldichein, aber wie im Volkslied erst in der Sterbenacht, und sie verlängern, wie im Volkslied, höchstens das Sterben und geben an Trost nicht einmal einen Hauch. Da liegen sie dann, die Sterbenden, im Schnee, und alles, was wir tun können, ist, ihnen einen Klumpen Schnee auf die Lippen zu legen, damit sie wenigstens nicht durstig sind, wenn dann der Tod kommt. Wie habe ich den Schnee einmal gern gehabt. Und wie zuwider ist er mir geworden, wenn er fällt und wenn er liegt und wir bei den Nachtmärschen bis zum Hals in ihn einsinken. Immer einer in den Fußstapfen des andern, damit es aussieht, als sei nur ein einziger Mensch da gegangen. Und an den baumfreien Stellen als Letztgeher die Spuren mit einem Ast verwischen. Fast eine Erholung, auf dem festen Schnee einer Lawine zu gehen, weil man da nicht einsinkt und kaum eine Spur bleibt. Bloß ist die verfluchte Saualpe viel zu sanft für saftige Lawinen. Und wie zuwider ist mir unsere vielbesungene Drau, naa Drava geworden. Still fließt sie, laut Volkslied wieder, durch unser Land hier, nicht wahr, im Gegensatz zur lebhaften Save jenseits der Karawanken. Aber nein! Nichts als kalt ist sie, und schmutzig ihr Wasser, und tief, und um ein Haar bin ich Nichtschwimmer — alle Partisanen sind wir Nichtschwimmet — ertrunken, als ich in der Nacht mit einem Boot wie dem da, einem 56 selbstgezimmerten, eher einem Faß, habe übersetzen wollen, um endlich wieder die Verbindung, die über- lebenswichtige, herzustellen unter uns Versprengten diesseits und jenseits. Weißt du, was ich denke bei deinem Boot, Vater? Sarg. Und bei Drau? Grab — und ganz und gar kein heiliges. Als meinen Feind betrachte ich sie, wenn ich sie von oben dort sich still in der Sonne durch unser Land schlängeln sehe. Verdammte Drau. Vermaledeiter Schnee. Auf den Nachtmärschen schlafe ich immer wieder ein, mit offenen Augen, und falle auf meinen Vordermann, der wiederum auf seinen Vordermann fällt. Am Rand des Verzagens hat es ansonsten jedesmal ein Wunder gewirkt, wenn einer aus der Kolonne ein Lied angestimmt hat, ein aus dem Rand des Verzagens geborenes, gleichwelches, es mußte kein Widerstandslied sein, vielleicht bloß >Ob wohl in der Fremde ein Stern mich kennt . . . <‚ und eine Kraft ist zurückgekommen. Nur singt bei den Märschen im Schnee inzwischen niemand mehr. Höchstens räuspert sich einer, oder flucht, und eins der Maultiere schreit auf. Als ein Toter schleppe ich mich dahin, lasse ich mich dahinschleppen. Eine Zeitlang ist es unterwegs noch von einem zum andern durch die Kolonne gegangen: >Hast du Verbindung? Halte Verbindung!< Aber nicht einmal davon ist inzwischen mehr die Rede. Stumm torkeln wir nachtlang, torkele ich bergauf und bergab, unansprechbar für gleichwelche Verbindung.« Er hält inne. »Verbindung ist Verbindung, oder? Hauptsache, es gibt noch das Wort, nicht wahr? Seltsam, wie das, was ich bloß so bei mir gedacht habe, mit dem Aussprechen zweifelhaft geworden ist ... Und ist dir aufgefallen, Vater, wie ich mehr und mehr >ich< gesagt habe? Und wieder seltsam, wie die Bilder von uns als Gespenster, als Tote, als Versprengte mich von Bild zu Bild, von Wort zu Wort etwas anderes haben sehen lassen als Gespenster, Haibtote, Verbindungslose — das Gegenteil? nein! — etwas anderes ... Soll ich mich stellen? Was soll ich tun?« — Der Vater: »Bleib bei uns, Gregor. Niemand wird dich hier suchen. Unser Haus wird nicht mehr überwacht, seit Benjamin — und schon gar nicht jetzt, seit — Du bist unser Letzter.« Er reicht seinem Sohn den Feldpostbrief mit der zweiten Todesnachricht. Jonatan liest. Keine Bewegung. Schweigen. Der Vater dann weiter: »Die Wirtschaft braucht dich. Dein Obstgarten wartet auf dich. Er vermoost. Die Äste gehören beschnitten. Nicht bloß der Jonatan-Apfel und die Gute Luise von Avranches fragen nach dir. Du bist ein Apfelmensch, und ein Apfelmensch ist nichts für den Krieg.« — Jonatan: »Und du, Mutter? Was sagst du? Du warst in unserer Sippe seit jeher die einzige, die wußte. Die einzige, die weiß.« — Und seine Mutter? Steht auf und füllt ihm den Tragsack, hast du‘s nicht gesehen, mit Proviant, einem ganzen Schinken? einem Sauschädel? einem gerupften Truthahn? Jedenfalls faßt der Sack so viel, als sei er ohne Boden. Und was sagt sie dann?: 57 »Marsch, zurück in den Schnee! Zurück über die Drau für ein zweites Bad.« — Und Jonatan: »Wo steht das geschrieben?« — Und die Mutter: »Im Buch unseres Lebens.« — Und der Sohn: »Und, was steht da weiter?« — Und die Mutter: »Ja, wenn ich das wüßte ... Nimm dich am Schopf, und ab.« Und verschwunden ist Jonatan, nachdem er sich am Schopf genommen hat. Und wieder vergeht die Zeit, mit den Großeltern auf der Bank in der Jaunfeldheide. Der Wind weht nun, scheint mir, von allen Seiten, und vordringlich von unten herauf, ein Aufwind, wie aus dem Erdinneren heraus. Das Bäumchen, in dessen Wurzelnest ich liege, biegt sich samt Restäpfeln aufwärts, und von den Früchten kommt ein blechernes Geräusch, ein Gerassel, ein Scheppern. Da heraus höre ich den Großvater, nach einem den Wind übertönenden Seufzen: »Wie lang dieser Krieg dauert. Im ersten Winter hat man gesagt: Das Ende, oder der Sieg, oder was, steht bevor. Und jetzt schon der sechste Winter, und der endliche Endsieg angeblich nur noch eine Frage der Zeit. Aber welcher Zeit?« — Darauf die Großmutter, nachdem auch sie unseren Seufzer geseufzt hat: »Ah, der Frieden. Nichts so schön wie seinerzeit der Frieden. Noch dazu in unserer Sprache: Mir!« — Der Mann: »Wie feierlich ist da alle Verrichtung in Haus und Hof. Das Einspannen des Pferds —« Die Frau nimmt ihm die Worte aus dem Mund: »Das Einkochen der Himbeeren, der Brombeeren, der Schwarzbeeren, und zuletzt im Jahr noch der Preiselbeeren, oben von der Svinjska planina — wie rubinrot die geglänzt haben ... und —« Der Mann nimmt ihr seinerseits die Worte aus dem Mund: »Und das Einsalzen der Speckseiten —« — Die Frau: »Und das Einstampfen des Sauerkrauts, das Einlegen der Essiggurken —« — Der Mann: »Und das Einwintern der Rüben auf den Feldern —« — Die Frau: »Und das Einkellern der Äpfel im Haus —« — Der Mann: »Und das Eintreten der Söhne und der Töchter in die Stube —« — Die Frau: »Heilig war der Frieden, heilig, heilig, heilig.« — Der Mann: »Ohne Politik, ohne Kaiser, ohne Republik haben wir auf unserer Wirtschaft gewirtschaftet —« — Die Frau: »— und waren unsere eigenen Könige —« Der Mann: »— waren die Festkönige. So war er, der Frieden. Und wo sind sie jetzt, die Könige?« — Die Frau: »Die Könige des Friedens sind gestorben, sie haben nichts zum Wirtschaften mehr gefunden.« — Der Mann: »Und wie wird der kommende Friede sein?« — Die Frau: »— wenn er sein wird ... Manchmal scheint mir, die Welt ist schon untergegangen. Es gibt nur noch ein Als-ob. Als ob Frieden käme. Als ob Welt wäre. Als ob Kinder wären.« — Der Mann: »Und das sagst du?« — Die Frau: »Und das sag ich.« Dabei scheinen die beiden auf der Bank gar nicht bemerkt zu haben, daß aus dem Himmel mitten in ihrem Palavern Flugblätter oder was herabgeflattert sind, ein ganzer Schwarm 58 davon, hin über das weite Feld. Und als ich jetzt den Kopf hebe und um mich luge, zeigt sich im Hintergrund unversehens jemand, ungewiß, ob Mann, ob Frau, der mit einer Leiter dahingeht, etwas wie einer Obstbaumleiter, samt Korb zum Brocken und Pflücksack, dem an den Rändern gezackten, samt langer Stange zum »Einfischen«. Zwar ist er gleich wieder verschwunden, aber es folgt ihm eine andere Gestalt, mit einem Ball unter dem Arm, gefolgt von wieder einer anderen, unterwegs mit einem Vogelbauer, darin ein Schock bunter Vögel im Durcheinander, gekreuzt von einer weiteren, die in einer Art Flechtkäfig eine riesenhafte Katze, oder was das ist, zum Tierarzt, oder sonstwohin, bringt, gefolgt von zwei Rauchfangkehrern, wie Vater und Sohn, gekreuzt von drei Anglern, wie Vater, Sohn und Enkel. Dann noch einer mit Steinen in beiden Händen. Wird er die schmeißen? Nein, er benutzt sie, rund, wie sie sind, als Kegelkugeln. Und am Rand der Szene ein Ringkampf? Nein, einer macht einem andern die Räuberleiter. Und dann wandelt noch der Mann vorbei, den ich vor einer Ewigkeit gehen gesehen habe am Rand einer Landstraße, im ländlichen Festtagsgewand, Wind um die Hosenbeine, da geht er von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und dazwischen zwei einander kreuzend mit »Friedenspfeifen«. Und einer, der im Gehen Spielkarten mischt. Und Momente einer Schneeballschlacht. Und Apfelwerfen. Und ein paar, die im Gehen Maiskolben schälen. Und jetzt kommt aus einem anderen Hintergrund Gregor Jonatan daher, »Militär« wie noch nie. Und er redet lauthalsschon von weitem, wobei er seine Waffe streichelt und tätschelt: »Livio, Eltern, zdravo! Kapitulation von denen nur noch eine Frage der Zeit —« Die Eltern im Chor: »— Frage der Zeit?« —Jonatan: »— von Stunden, von Tagen, von höchstens einer Woche. Sogar ihre Gendarmen, die allergiftigsten, werden sanft und nennen uns das Befreiungsheer. Und aus den zwei, drei Österreichern in unserem Heer — ja, ein Heer sind wir inzwischen! —« Die Mutter, oder der Vater: »Österreicher<?« — Jonatan: »Die deutsch Sprechenden. Aus den paar Österreichern ist inzwischen ein ganzes Bataillon geworden. Und die englischen Verbündeten sind wieder wirklichwahr unsere Verbündeten. Sie springen mit den Fallschirmen ab und kämpfen mit uns, sterben für uns hier, auch Offiziere, besonders die. Und alle jugoslawischen Völker, alle haben sich inzwischen befreit und sind auf unserer Seite.« (Er beugt sich für ein Extempore zu mir hinab.) »Ich weiß, Patenkind, Allgemeinheiten sind nicht deine Sache. Aber für Momente, da sind sie am Platz. Und du brauchst sie ja nicht alle mitzuschreiben. — Nach dem Krieg werden wir den Leuten im Land die Hand reichen, und wir werden zusammen zu dem großen freien Europa gehören. Keiner wird mehr ein Knecht sein hierzulande, kein Volk wird mehr ein anderes unterkriegen wollen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte werden wir frei sein, Eltern. Frei vor allem, unsere 59 Sprache zu sprechen. Niemand mehr wird uns im Gasthaus, in der Eisenbahn, im Omnibus, in den Ämtern anherrschen, gefälligst deitsch zu reden, oder ... Niemand mehr von denen wird, was uns betrifft, in unserm geliebten Land das Sagen haben. Ja, geliebtes Land, hier: Schon damals auf der Obstbaumschule drüben in Slowenien hat es mich ständig heimgezogen. Und auch jetzt im Krieg, sooft ich jenseits der Karawanken war, konnte ich es nicht erwarten, heimzukommen, hierher zur Svinjska planina, an unsere Sprachgrenze. Heimweh, ewigliches, domotoje, od vekomaj do vekomaj. Heimweh nach dem schönen Kärnten, nach der lepa Koroka, weiblich in unserer Sprache ... Wißt ihr übrigens, daß es da eine erste befreite Republik gibt? Die freie Republik von Zell PfarreSele?« — Der Vater, und/oder die Mutter: »Zell Pfarre ist doch bloß ein Dorf.« — Jonatan: »Aber ein großes Dorf, ein sehr großes. — Und wißt ihr, wie meine Truppe einen Vorgeschmack bekommen hat vom bevorstehenden Frieden jetzt? Und wie ich selber ihn vorgeahnt habe?« (Und neuerlich beugt er sich zu mir.) »Das ist jetzt was zum Mitschreiben, Patenkind. — Das war, als ich endlich einmal zum friedlichen Schlafen dort im Bergwald kam. All die letzten Monate, von Nachtmarsch zu Nachtmarsch, mußten wir immer auf den Steilhängen schlafen — wenn überhaupt von einem Schlafen die Rede sein konnte. Wir haben uns dabei mit den Füßen von den Bäumen abgestemmt, sonst wären wir in unserem Halbtotenschlaf hinuntergestürzt, kopfüber. Nächtelang waren wir allein damit beschäftigt. Und immer wieder sind einige von uns abgerutscht und dann gefallen, zum Glück meistens ins Dickicht hinein, auch ich. Aber seit kurzem gibt es keine Nachtmärsche mehr, wir flüchten nicht mehr vor denen. Und ich habe zum Schlafen meine Mulde gefunden. Ausgelegt ist die mit Farnen und Tannenzweigen, und darüber ist ein Gemsenfell gebreitet, nein, mehrere Felle! Und ein Gemsenfell auch zum Zudecken — wenn ihr hier im Flachland wüßtet, wie so ein Gemsenfell warmhält! Und so liegen wir alle, jeder in seiner Mulde, wie von der Erde verschluckt, in himmlischer Ruhe. Und dazu erst der Friedensvorgeschmack, ja, Geschmack, Patenkind: Das war, als wir auf einer Lichtung den frischen Löwenzahn ausgegraben haben, ihr wißt ja, Eltern, den ersten und feinsten Salat im Jahr. Von einem Moment zum nächsten haben wir alle unsere Waffen abgelegt — nein, nicht ganz alle, einer hat noch Wache gehalten —‚ haben uns auf den Bauch geworfen, Dutzende von Kämpfern, die Lichtung voll von Auf-dem-Bauch-Liegern, welchselbige die Löwenzahnsprossen mitsamt den Wurzeln ausgegraben haben, ein paar mit den Taschenmessern, die meisten bloß mit dem Eßlöffel, so einem —« — er zeigt den seinen im Kreis — »— den ein jeder seit Kriegsanfang bei sich trägt — wesentlicher Teil unserer Ausrüstung! Eimer um Eimer voll von dem frischen Löwenzahn. Und wie wir dann über den hergefallen sind. Nichts hat uns jemals besser geschmeckt, Leute. Und nichts wird uns je 60 besser schmecken. Und so wie das Essen jetzt, so wird der Friede sein! hat dabei einer gesagt, und danach alle, alle. Und mir nichts, dir nichts haben wir im Anschluß Projekte für den Frieden gemacht, ein jeder hatte auf einmal eins. Koch, Zimmermann, Feilhändler, Bootb auer, Schwimmlehrer, Sargtischler, Spielzeugschnitzer. Einer kam gar mit: Politiker. Aber die meisten haben spontan Löwenzahnsammler gesagt, fürs erste jedenfalls. Und in der Nacht dann haben wir überall auf der Svinjska planina, oberhalb der Baumgrenze, Höhenfeuer angezündet —« Und zum dritten Mal wendet er sich dabei an mich, bodenwärts: »Das schreib jetzt vollständig mit, auch wenn es dir gegen den Strich geht! — Und auf sämtlichen Bergen unseres Landes, auf der Petzen, auf dem Obir, auf der Koschuta, auf dem Mittagskogel, auf dem Dobratsch, auf der Gerlitzen, auf dem Ursulaberg, sind andere Höhenfeuer aufgeflammt und haben den Völkern unten vermittelt, daß nach den Jahren der teuflischsten Gewaltherrschaft der Menschengeschichte unseren heimischen Völkern der Tag der Befreiung bevorsteht, und dabei ist mir gewesen, nein, waren wir sicher, daß die Feuer zu sehen gewesen sind nicht bloß hier über diesem Land, sondern auch auf dem ganzen Kontinent und sogar jenseits der Meere, bis Alaska, Feuerland und Sumatra. Kein Ländchen war das, kein kleines Land ist das! Und wißt ihr, was wir am folgenden Morgen unternommen haben? Diejenigen von uns, die vor dem Krieg noch tanzen gelernt haben, haben denjenigen von uns, die damals noch zu jung dafür waren und die nichts als vom Wald und vom Widerstand wissen, das Tanzen beigebracht, damit, wenn der Frieden da ist, alle, alle von uns tanzen können! Ah, und vergessen habe ich noch zu erzählen — schreib mit, Patenkind, wörtlich! —‚ daß an mir auf der Löwenzahnlichtung ein Wunder geschehen ist. Beim Schmausen dort ist mein blindes Auge wieder gesund geworden. Ich habe momentlang mit zwei Augen gesehen, was noch kein Zweiäugiger je gesehen hat. Mein totes Auge, es lebt — da!« — Darauf der Vater und/oder die Mutter: »Und was weißt du von deinen Schwestern?« — Und Gregor Jonatan, ein paar Augenblicke später: »Die eine sucht noch immer draußen im Reich ihrem Kind den Vater, unter den Bomben. Da wird der Bankert schreckhaft werden. Schreckhaft und vaterlos. Aber vaterlos: recht so. Vielleicht zu seinem Glück.« — Worauf ich mich einmal einzumischen versuche, mit traumschwerer Zunge: »Schreckhaft ist nicht ängstlich.« So oder so hat mich niemand der Meinigen gehört, denn die Großeltern fragen weiter: »Und die andere? Und Ursula? Und Snezena?« — Jonatan: »Gefangen. Eingekerkert. In der Stadt. Mit mehreren in einer Todeszelle.« — Vater und/oder Mutter, wieder nach einigen Augenblicken: »Warum rettet ihr sie nicht?« — Jonatan: »Nur die Bomben können sie retten. Das Brummen der westlichen Tiefflieger, die einzige Hoffnung, Musik in den Ohren der Gefangenen. Bombt, Bomber, 61 bombt. Daß zittern und krachen die Mauern. Bombt, Bomber, bombt! — Wißt ihr, warum die nordische Rasse geglaubt hat, den Krieg zu gewinnen? Bei ihren Spitzköpfen würden alle Kugeln vorbeitreffen, wogegen die Feinde mit den runden Köpfen ... Auf bald, Leute! Salam Aleikum! Friede mit euch! Pax Christi!« Und schon ist er verschwunden. Und wiederum vergeht die Zeit auf der Jaunfeldheide, um die Großeltern und mich an der Baumwurzel herum. Es ist dann, als werde nicht nur ich entrückt, sondern auch das Paar auf der Bank neben mir, und ebenso mit ihm das Boot und der Leiterwagen. Das kommt vielleicht von dem Sturm jetzt, der aber einzig im hintersten Hintergrund bläst, still, fast ohne Geräusch, während wir da in der Windstille lagern. In diesem Hintergrund — allein ich sehe es — herrscht ein anderes Licht als vorne bei uns, ein klares, scharfes, wie nur im Frühling oder Vorfrühling. Immer wieder tauchen dort Gestalten auf, wahrzunehmen als bloße Silhouetten? Schattenrisse? Nein, dazu sind sie zu leibhaftig, und zu massiv auch, was dort hinten dann geschehen sein wird. So habe ich einen Briefträger erblickt, auf seinem Rad, auf dem er freihändig dahinfährt und sich dabei eins pfeift, bei Rücken- oder Gegenwind, wie auch immer, und unversehens, wie vom Blitz getroffen, fällt er vom Rad, kollert zur Seite und bleibt liegen, während aus der aufgesprungenen Posttasche die Briefe durch die Lüfte sausen. Ein — sehe ich recht? — Frühlingspilzsucher, den Korb voll mit dunklen Morcheln und hellen Maipilzen, sinkt ebenso jäh in sich zusammen, und die Pilze purzeln und kollern weg von dem gleichfalls Reglosen. Das gleiche geschieht mit dem Leitermann von vorhin, der dort scheint‘s auf dem Rückweg ist, gegen den Sturm: da kracht er zu Boden, samt Leiter; und das gleiche mit dem Rauchfangkehrerduo, das gleiche mit dem Anglertrio. Schußknall? Keiner. Eine Frau mit einem Wasserschaff auf dem Kopf: desgleichen. Eine Frau mit einem Windelpaket: desgleichen. Ein Paar mit einem weißen Tuch, deutlich im Sturm, an einem langen Haselnußstab: desgleichen — sie alle stürzen durcheinander, als werde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen. Ein paar, die eine spürbar frisch gegossene Kirchenglocke rollen- ziehen: desgleichen. Eine Hekatombe von Gefallenen wird bald dort starr gelegen haben. Dazugekommen sind dann noch: der Ballträger, der Kartenmischer, der Feiertagswanderer, und so fort; ein Koch bepackt mit Kartoffeln, Zwiebeln, Weinflaschen; ein Priester im Festtagsornat, unterwegs mit einer golden leuchtenden Monstranz, unter einem Baldachin, getragen von vier Ministrantenknaben. Als letzter, oder auch zwischendrin, quert eine Gestalt mit einer riesigen Hakenkreuzfahne den Hintergrund. Schwenkt sie die Fahne? Es scheint nur so, im Sturm. In Wahrheit schneidet die Gestalt, wo sie geht und steht, mit einer großen Schere die Swastika aus dem Stoff, und danach das Schwarze, rundherum. Durch das Loch fährt der Sturm und läßt das Restweiß himmelauf züngeln. Und was passiert mit dem 62 Fahnenträger? Nichts, gar nichts. Lang und breit, paradiert er auf und ab im Zickzack, dort im Hintergrund, hin und her zwischen all den Hinstürzenden oder Gestürzten, und ist zuguterletzt ungeschoren abstolziert, unberührt auch von den Steinen, oder was es ist, die nach ihm aus allen Hinterhimmeln fallen, und den Vogelfedern, die nachflattern, den ganzen Flügelteilen, ganzen Vogelleibern, dann Tierschädeln, Tierkörpern, die dem folgen. Ist neuerlich Zeit vergangen? Immer noch Sturm. Und durch diesen kämpft sich nun jemand zu uns dreien in den windstillen Vordergrund. Ist er es? Ja, es ist Gregor, mit Widerstandsnamen »Jonatan«, und er trägt jemand anderen in den Armen. Ist sie es? Ja, es ist Ursula, mit Widerstandsnamen »Snezena«, die Schneeige, seine Schwester. Und sie lebt nicht mehr. Oder: Sie lebt noch, einen Augenblick lang, oder täuscht das?, steht, sinkt, sitzt, liegt, stirbt. Ihre Eltern, meine Großeltern, kommen allmählich zu sich. Und von beiden das: »Ich hab‘s gewußt.« Und vom Vater, oder von der Mutter dann: »Wann ist es passiert?« — Jonatan: »Gerade erst. Ich bin zu spät gekommen. Sie hat den Blick nicht von den Folterern abgewendet. Und so haben die Folterer sie töten — müssen.« Sturm aus. Helles Licht allüberall auf unserem Jaunfeld, wie nur von der Maiensonne. Eine Taube flattert daher, und auch wenn sie mir eher papieren vorkommt: es ist eine Taube. Eine Riesenschrift schwebt aus dem Himmel und tanzt über den Lebenden und den Toten: PEACE — FRIEDEN — MIR — SHALOM — SALAM. Tausendvogelgesang, samt Nachtigall am helllichten Tag. Der Vater springt auf, reißt mir den Apfelbaum samt Wurzeln unter dem Kopf weg, schmeißt ihn ins Nichts, setzt sich zurück auf die Bank und schlägt mit der Faust darauf und schlägt, und schlägt, bis die Mutter ihm die Hand in die Ellbogenbeuge legt und sagt: »Ich weiß.« Darauf nimmt er dem Sohn die Tochter ab, bettet sie in das Boot und zieht dieses aus meinem Blickfeld. Die Mutter steht auf von der Bank und ruft, als sei ihr Sohn weit weg: »Jonatan!« — Dieser: »Kein Jonatan mehr, Mutter. Der Kampf ist vorbei ... Wir haben ... gesiegt ... Ich bin wieder Gregor. Nur Snezena wird Snezena bleiben, für immer.« — Die Mutter: »Hat sie noch etwas gesagt?« — Gregor: »Ja: >Unser Vater hat das Wort Liebe ja nicht hören können. In meinem Haus keine Liebe. V moji hii ni ljubezni. Aber ich liebe euch alle. Ampak jaz vas vse ljubim.<« Sie gehen mit dem Leiterwagen heimwärts, oder wohin, Gregor mit der Hand auf der Schalter seiner Mutter, als ob er sich dort abstützt. 63 FÜNF Ich, der Nachfahr, allein auf der Bank inmitten des Jaunfelds, ohne den Baum; in einem jahreszeitlosen Licht, ohne Luftzug. Neben mir auf der Bank eine Art Seesack ähnlich dem, mit welchem einst einer der Brüder meiner Mutter im Krieg auf Heimaturlaub gekommen ist. Ich werde dem Sack einen Stapel von Büchern entnommen und eins nach dem anderen aufgeschlagen haben. Unterstreichen, notieren, zwischendurch in die Luft schauen. Dabei geschieht neuerlich eine Verwandlung. Alles bleibt aber auf seinem Platz, nur das Licht wird zu dem des längst oder gar nicht vergangenen Maientags, und eine Mailuft umweht mich, und nicht allein mich. Und allseits setzt wieder das Glockenläuten ein, wenn auch aus weiter Ferne. Wenn dazwischen Sirenen zu hören waren, so zur Entwarnung. Wer sich dann nähert, das ist Gregor, der Überlebende der drei Brüder meiner Mutter. Er ist nicht mehr in seiner Partisanen-oder-sonstwas-Uniform, sondern im Feiertagsgewand, wie seinerzeit im Frieden. Ein bißchen ungewohnt scheint er sich darin zu bewegen, und immer noch hat er eine Waffe nötig, die aber gar klein ist, oder überhaupt nur ein Luftdruckgewehr? Und als er die Waffe, oder was sie ist, jetzt mir zuwirft, fange ich sie nicht auf weiche ihr vielmehr aus — rühre sie nicht an — schiebe sie von mir weg. Unbemerkt hat er dann einen leeren Papiersack aufgeblasen und ihn an meinen Ohren zum Platzen gebracht, worauf ich gehörig zusammengefahren bin. Darauf nimmt er eine Zündholzschachtel zwischen die Lippen und bläst mir den leeren Behälter, wie einen Pfeil durch ein Blasrohr, gegen den Kopf, worauf ich mich wegducke. „Zdravo. Dober dan“, sagt er dann. »Bog s teboj!« — Ich: »Wie bitte?« — Gregor: »Ich hab‘s gewußt. Er versteht unsere Sprache nicht, kein Wort. Wärst du doch in Wilhelmshaven oder Osnabrück geblieben. Zurück mit dir nach Reinbek, Wandsbek, Lübeck. Gott mit dir!« Er setzt sich zu mir, die Bücher zwischen uns, zieht eine Mundharmonika hervor und bläst hinein, schlägt eine Maultrommel. Als er dann redet, wendet er sich selten an mich. Was er sagt, kommt ungerichtet aus ihm heraus, entsprechend auch dem Ton der Harmonika, in die er zwischendurch immer wieder so ziemlich den gleichen Ton geblasen hat. »Der achte Mai des Jahres neunzehnhundertfünfundvierzig war der glücklichste Tag meines ganzen Lebens, und nicht nur für mich, sondern für alle, die in den Wäldern der Saualpe, der Petzen, der Karawanken für unsere Heimat das Ende des Krieges erkämpft haben. Zuerst hat mir meine Uniform noch gefehlt. Bald aber nicht mehr. Ungewohnt war es besonders, nach der langen langen Zeit fast nur versteckt auf den steilen Gemsenpfaden, mich 64 frei hier in meinem Jaunfeld bewegen zu können. Ich habe mich an die Ebene erst wieder gewöhnen müssen, und auch an die freien Hände, und an den unbeschwerten Rücken. Einfach so auf den alten Feldwegen und am Rand der Landstraße dahinzugehen, in ich es hierzulande schlecht gesehen — oder überhaupt nicht. Aber an dem bewußten Tag habe ich das Schöne gesehen, hier, und kristallklar, mit einem, meinem einzigen großen Auge, taglang und über den Tag und die Tage hinaus. Allein schon, daß die Hausnamen wieder die alten geworden sind, Schluß war mit den Geheimnamen aus dem Krieg. Nicht mehr >Beim Bewußten< die Bezeichnung für unser Anwesen, sondern wie seit altersher >Beim Bleier<. Nie hat mir unser Hausname etwas gesagt — aber jetzt finde ich ihn schön. Und alle anderen zurückgekehrten Haus- und Hofnamen klingen mir in den Ohren, so wie zu Ostern bei der Auferstehungsfeier die zurückgekehrten Kirchenglocken — und in der Zwischenzeit, nach dem Tod Jesu am Kreuz, ist an ihrer Stelle nur das Geklapper der Karfreitagstatschen zu hören gewesen. Diese Zwischenzeit, sie ist vorbei, und von den zurückgekehrten Hausnamen kommen mir auch die schön vor, mit denen wir vorher in der Gegend Spott getrieben haben. >Beim Schoißwohl<, >Beim Faulhaber<, >Beim Pruntzer<, >Beim Wixer<, >Beim Knozer<, >Beim Wanzerl<, >Beim Figger<, >Beim Zottel<, >Beim Rauber<, >Beim Tscherfler<, >Beim Trentscher<, >Beim Tschentscher<, >Beim Eierer<, >Beim Schlecker<, >Beim Kropf<, >Beim Hungerleitner< — die alle hören sich auf einmal genau so schön an wie >Valparaiso<, >Rijeka<, >Nininovgorod<, >Savannah/Georgia<. Ah, unendlich schöner! Ah, überhaupt die Schönheit der Orts- und Flurnamen des Jaunfelds heutigentags, egal welcher, der einsilbigen wie der mehrsilbigen, der deutschen wie der slowenischen, ob Aich oder Dob, ob Lipa oder Lind, ob Pliberk oder Bleiburg, ob Saualpe oder Svinjska planina, ob Diex oder Djeke, ob Altendorf oder Stara vas, ob Gallizien oder Galicija. Und jeder Gupf und jede Mulde prangt mit einem Namen, statt >C6te Nr. Zwei< oder >Stellung D<. Wie schön ist das. Und erst die Landschaft selber, das Grün der Wiesen, ohne Flüchtende und Verfolger, das Braun der Wälder, ohne Kugelblitzen und Rindensplittern, das Blau des Himmels, ohne Bomber, und erst recht das Weiß meines blühenden Obstgartens, ohne — ohne ohne, nichts als das weiße Blühen. Und die Drau nicht mehr unser Feind, sondern fürwahr der stille Fluß.« Er ist in eine Art Sitztanz geraten. »Und die südlichen Berge keine Wolfsschanzen und Winterfestungen mehr, sondern Teile des Friedenslands. Und das Trommeln der Bäche an den Bachsteinen das Gegenteil zu einem Kriegstrommeln. Und das Glimmerflimmern auf dem Grund der Bäche hier. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese langsamer fließen, die Schatten der Wasserläufer oben. Und auf dem Grund der Bäche, wo 65 diese schneller fließen, die Schatten der oben dahinflitzenden abgefallenen Blätter zusammen mit den in der Tiefe dahinrollenden Kieselsteinen. Und so viele Vögel zu Paaren im Himmel. Und die Feldhütten sind nichts mehr als Feldhütten, mit der Speck-und-Brot-Jause im Korb, über den ein weißes Tuch gedeckt ist, und mit dem Mostkrug daneben. Und die Heuharfen hier werden nichts als Heuharfen sein. Und der Dachboden der Dachboden. Und die Bildstöcke Bildstöcke. Und die Blume, die daneben blüht, ein Frauenschuh. Heute ist der erste Tag des Friedens hier im Land, und so zeigt er sich uns, Patenkind. Und zeigt, und zeigt: zeigt, daß niemand mehr uns von hier weghaben wollen wird, daß die Zwangsausgesiedelten in ihre Heimat zurückkehren werden, daß niemand mehr in der Bahn, im Bus, in den Ämtern die Stirn haben wird, unserer Sprache wegen uns über den Mund zu fahren. Im Namen der Unterdrückten hierzuland haben wir unser Recht in die Hand genommen, frei nach dem Leitspruch des Aufstands der Bauern, eintausendsiebenhundertunddreizehn drüben in Tolmin, Slowenien: >Der Kaiser ist bloß unser Diener, wir werden die Dinge selber in die Hand nehmen< — und heute ist der Tag, da wir dieses Recht endlich, endlich erkämpft haben. Spet gre za staro pravdo, es geht wieder um das Alte Recht. Und dieses Recht kann uns ab dem achten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig keine Macht mehr streitig machen. Ab heute sind wir selber eine Macht — wir, die wir nie etwas zu schaffen haben wollten mit Macht und nicht einmal ein einheimisches oder eingeborenes Wort dafür hatten. Ab heute ist es uns selbstverständlich, die Macht zu verkörpern, zum ersten Mal in der Geschichte. Und in den Vortagen habe ich sie sogar gewollt, die Macht, ich! — seltsam. Und wieder seltsam: daß heute, am ersten Tag des Friedens, so scheint es mir hierzuland, Republik und Königreich zusammenfallen! Alle Macht war beim Volk, endlich, und gleichzeitig ist unser Sagen-König Matja mit seinem Heer aus den Höhlen des Petzengebirges nach jahrtausend- langem Schlaf hinaus ins Land gezogen. Unsere Sprache, unsere Macht. Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich. In der Sprache bleiben. Auf ihr beharren! Sprache, meine, unsere: Hühnerleiter wird Jakobsleiter. Luft — Morgenluft — Osterluft — Jaunfeldluft! Das sind die Steigerungen.« Das allseitige Glockengeläut ist längst verklungen. Und jetzt flauen auch die Mailüfte ab. Kein Frühling mehr läßt sein Band oder was durch die Lüfte wehen. Ich bin von der Bank aufgestanden und habe, während Gregor noch am Reden war, meine Kreise über das Feld gezogen. Dann nähere ich mich ihm, wie ein Bote, oder Herold: »Kaum zwei Wochen lang hat es das gegeben. Gerade zehn Tage Maimorgenluft habt ihr gewittert. Kein Blut mehr sehen, sondern Leben. Frieden! Dann ist der gute Frieden in einen bösen umgeschlagen; ihr wieder einmal die Nichtsahnenden. Es war so geplant, von langer, langer Hand. Zehn Tage 66 lang der warme, warme ‘Frieden, und dann der kalte, kalte Krieg — der andauert. Der kalte Krieg, in Kraft getreten ist er, verfügt vom Westen her, aus dem hier im Jaunfeld auch sonst die kalten Winde wehen. Die Engländer, gerade noch eure, einmal weniger, einmal mehr, Verbündeten in eurem Sprach- und Freiheitskampf, sind von einem Tag zum andern als eure Feinde aufgetreten. Aus ist es mit eurer Macht. Sie sind die Machthaber, das Land ist ihnen zugeteilt, und eure slawischen Brüder im Osten lassen‘s geschehen. Eure Sprache wird schon wieder befeindet, und ihre einheimischen Gegner, die sie und euch wie eh und je weghaben wollen, sind ein Herz und eine Seele geworden mit den Besatzern, die nicht bloß eure Kriegswaffen mit Beschlag belegen, sondern auch eure Sprache.« — Gregor: »Auf einmal sind sie die Ritter der freien Welt, und wir, gerade noch die Freiheitskämpfer mit ihnen zusammen, sind nun die zu bekämpfenden Drachen. Und ihre Knappen? Die gerade gemeinsam mit uns Bekämpften — die Brut der tausend Jahre. Gestern habe ich mich mit ein paar Freunden unterhalten, auf dem Heimweg in der Nacht, und auf einmal sind Steine geflogen gegen uns, und geschrieen ist worden, dount spik jugoslav! Dis is Ostria! Und keiner von den neuen Besatzern spricht unsere Sprache, und wenn wir in ihre Ämter bestellt sind, müssen wir uns über Dolmetscher verständigen, und alle die waren im Krieg mit den vorigen Besatzern zusammen, diesseits und jenseits der Karawanken, waren unsere Todfeinde, aus unserem eigenen Volk. Und weißt du, was einem Unsrigen geschieht, wenn er gegen das neue Versammlungsverbot verstößt? Er wird in eine Zelle gesperrt mit den aus Jugoslawien geflüchteten Weißgardisten, die mit BeMu killten, und den Heimwehrleuten und Ustascha, die für AHi mordeten. Und weißt du, was dabei in mir vorgeht? Ich denke an unsere Toten auf der Saualpe, auf der Petzen, auf dem Kömmel, auf der Koschuta, auf der Sattnitz, und ich wünsche mir, bei ihnen zu sein, tot, unter meinen Toten, den Meinigen. Und ich zittere, und zittere. Und der Englische Gruß, das heißt jetzt: den neuen Besatzern den Arsch zeigen!« — Dann ich als Bote, wobei ich mich zunehmend verspreche: »Die Ausgesiedelten hat man bei ihrer Rückkehr zurückschicken wollen in die deutschen Lager, und erst einmal waren sie eine Zeitlang interniert im eigenen Land. Und als man sie endlich zu ihren verödeten Fluten und leergeplünderten Höfen hat lassen, mußten sie, so es ihnen gelang, wenigstens ein paar Hühner zu ziehen, einen Teil der Eier abliefern. Und wenn ihr eure alten Feste wieder feiern wollt und eure alten Theaterstücke wieder spielen, so macht euch darauf gefaßt: Sie werden gestört werden. Man wird versuchen, eure Feste und Spiele zu verhindern.« — Gregor: »Ja, ein >man<, ein Namenloses, hat zehn Tage nach dem Ende des Kriegs den Platz der früheren Raumverdränger eingenommen und den frischen Frieden in einen faulen umschlagen lassen. 67 Mitten im Tanz — eine einzige Einladung war der an alle Welt, mitzutanzen! — stürmt so ein vermummtes >man< in den Saal und bewirft den Tanzboden mit Äpfeln und Birnen, nicht mit faulen, nein, den allerbesten einheimischen — und wir? tanzen weiter, nur frag mich nicht, was für einen Tanz!« — Ich: »Den Weltverdrußwalzer?« — Gregor: »Die Teufelsaustreibungspolka. Den Fahrt-zur-Hölle-Kolo. Oder, wenn du willst, den Square Dance, der das Böse wegtanzt, wie in deinen Western. Eine Zeitlang hat es zu unserm Tanz gehört, die Äpfel und Birnen aufzufangen und in sie hineinzubeißen. Aber dann ... die Schlägerei, Knochenbrüche, ein ausgeschlagenes Auge. Und frag mich nicht, wie der zuständige Friedensrichter dann wieder entschieden haben wird.« Er zitiert: »Die Verletzungen fallen nicht ins Gebiet der Rechtsprechung, denn zu Kirchtagen und Tanzfesten ist es seit Menschengedenken wie überall in Österreich Sitte, daß man sich prügelt.< Und mitten in unserm Theaterspielen, dem wiederaufgenommenen, das Zersplittern der Scheiben und das I<rachen der Steine auf die Bühne, und aus dem Dunkeln das Gebrüll: >Weg mit der Banditensprache, weg mit euch. Bühne frei für die Quellensprache, die Sprache des Landes, die einzige Sprache hier!< Wir spielen trotzdem zuende, frag mich nicht, wie. Vermummt und maskiert sind diese Steinewerfer. Ich war ja selber im Krieg zeitweise maskiert. Aber nie wieder möchte ich Masken sehen. Es gibt keine friedlichen Masken. Und frag mich jetzt nicht, was mir und den anderen Kämpfern beim letzten Sonntagsgottesdienst geschah.« — Ich: »Ich weiß es. Ihr seid zur Kommunionbank gegangen —< — Gregor: »— und wie wir uns dort niedergekniet haben, um den Leib des Herrn zu empfangen, nach dem wir während der Jahre im Wald nur so gelechzt haben, ein Bedürfnis sondergleichen war uns allen diese Kommunion, wie andererseits das Bedürfnis, bei einer Frau zu liegen, ein Bedürfnis? ein Heimweh!, da —« — Ich: »Da hat der Priester euch, wie ihr da gekniet habt, übergangen, mir nichts! dir nichts!« — Gregor: »— und den Leib Christi den anderweitigen Kniern dargereicht, und ich und die Unsrigen sind noch die längste Zeit mit den empfangsbereit herausgestreckten Zungen dagekniet, bis ich begriffen habe — nein, nichts habe ich begriffen und werde es nie begreifen. Die gerade noch im Evangelium >Das Leben ist erschienen!< verkündet haben, haben dieses Leben mit der verweigerten Kommunion wieder verschwinden lassen, für immer und ewig.« — Ich als Bote oder Berichter: »Viele der Priester im Land sind neu. Sie waren im Krieg die Mitgewaltigen der fremden Gewaltherren jenseits der Berge und sind nach ihrer Flucht hier in ihre jenseitige Amtsgewalt eingesetzt worden, während viele eurer hiesigen Seelsorger, Lehrer, Anwälte und Ärzte euch wieder alleingelassen haben und ins Neue Jugoslawien übersiedelt sind.« — Gregor: »Das Neue Jugoslawien die einzige Möglichkeit: zu meinem Kummer, zu meinem Leidwesen! Denn ich gehöre hierher, und 68 hierher zieht es mich seit jeher, nur hier bin ich glücklich gewesen, wenn je. Mein Herz ist im Jaunfeld. Das Neue Jugoslawien, es ist bloß der letzte Ausweg. Ist es einer? Nein, denn würde ich das Jaunfeld verlassen, wäre es um unser Anwesen, unsere Liegenschaft, unsere Wirtschaft geschehen. Nicht wenige von uns sitzen nun unten am milden Adriatischen Meer, in Koper, im schönen Piran, in Portoro, in Ankaran, und — haben Heimweh nach den Wäldern und dem Schnee allhier, höchstselbst! Sind bedürftig, bedürftig des Hierseins — so wie mein Bruder Benjamin dort aus der Tundra sich einmal hören ließ: >Jede Seele sehnt sich nach dem Heimfahren.< Unser ewiges JaunfeldHeimweh — wie ich es satt habe, dieses domotoje. Und trotzdem werden wir es nicht los, nimmer und nimmer. Denn hier sind wir zuhause, nicht jenseits der Karawanken, nicht in Slowenien, nicht in Jugoslawien, nicht an der Adria, nicht in Piran. Zuhause sind wir hier, allhier, im Jaunfeld, zwischen Saualpe und Petzen, in unserem Kärnten, v nai Koroki. Andererseits: unsere Wirtschaft, sie ist ohnedies halb tot. Die Schwester im fremden Land, und fremdes Land ist abgebrannt. Und im Haus ein Wegschaun stumm, um viermal- vierzig Ecken herum. Selbst im Stall wird unsre Sprache nicht mehr laut, und ohne Kümmel und Essig kein Sauerkraut.« — Ich: »Und das Allerneueste . . . « — Gregor: »Spiel den Boten.« — Ich: »Auch den des Unglücks?« — Gregor: »Spiel ihn.« — Ich: »Die neue Macht hat deinen Obstgarten, den aus dem Vor- krieg, abgebrannt — man braucht einen Parkplatz für die Panzer.« — Gregor: »Sie waren noch jung, meine Bäume.« — Ich: »Sie haben geschrieen im Feuer, die Birn- und Apfelbäume, so voller Saft die Stämme, und als die dann geplatzt sind, hat sich das angehört wie Böllerschüsse —« — Gregor: »— die wir sonst abgefeuert haben zur Auferstehungsfeier in der Osternacht.« Eine Zeitlang haben wir in uns hineingeschwiegen und unsere Kreise um die Bank inmitten des Jaunfelds gezogen. Dann läßt sich Gregor hören: »Jetzt ist sie ganztot, unsere Wirtschaft. Endgültig entmachtet bin ich — sind wir. Machtlos. Und gerade so geht mir auf, was für eine Macht ich doch hatte, an der Hand unseres Obstgartens dort. Unsere letzte Macht. Aber was für eine. Was für ein Verlust, der Verlust dieser Macht. Machtlos, hilflos. Die Deutschen, im Krieg, haben unsere Häuser und Scheunen abgebrannt, aber wenigstens unsere Obstbäume haben sie uns gelassen. Und jetzt die Befreier aus West, die Fizzies und die Fuzzies, die Frankies und die Prizzis, sie geben uns den Rest. Und das aus einem Land, wo mit die schönsten Früchte herkommen, die edelsten, die schmackhaftesten. Hilf uns, Mister oder Sir Cox, der du uns mit dem Apfel Cox Orange beschert hast. Obstgärtner, sadjar, William, dem wir die Wilhiamsbirne verdanken, die mit dem zarten gelbweißen Fleisch, steh uns bei. Anderer Gärtner, Thomas, der >Fern von der tobenden Meute<, der du der Hardy-Birne 69 deinen Namen gegeben hast, steh uns bei. Züchter, dort drüben jenseits des Ärmelkanals, des >Zitronengelben Vetters<, lahtnik, mit dem Duft nach Wein, bitte für uns. Vater der >Londoner Adamsrippe<, bitte für uns. Aber ihr Jetzigen jenseits des Kanals, die ihr euch hier bei uns ärger aufführt als je in euren Kolonien, Bonbon-und-Schoko-Werfer bei Tage, Flammenwerfer in der Nacht: Daß euch Folge-Reißteufeln die Zähne ausfallen. Daß eure Wolverhampton Wanderers in die hinterletzte Spielklasse abwandern, mit der Roten Laterne bis zum Nimmerleinstag. Daß die Tottenham Hotspurs kalt abgeschossen werden und spurlos verschwinden. Daß Manchester United auseinander- fällt in Staubpartikel. Daß eure Westbromwich Albions Spiel um Spiel vergeigen. — Die alten Namen sind zurückgekehrt. Ja! Aber sie sagen nichts mehr. Sie heißen nichts mehr . . . « Währenddessen haben wir beide weiter unsere Kreise gezogen, jeder den seinen. Und jetzt nähere ich mich von neuem meinem Paten als Bote, mit schlecht gespielter Radiosprecherstimme, mich mehr und mehr versprechend — verhaspelnd — verstotternd: »Und wieder weiß ich, was du nicht weißt. Und wieder muß ich der Unglücksbote sein, für ein Unglück, und dann wieder eines. Aber womöglich handelt es sich ja gar nicht um ein Unglück, vielmehr um den Lauf der Begebenheiten, den Gang der Geschichte? Das erste: der Bannstrahl im Jahre neunzehnhundertachtundvierzig, von Moskau ausgehend gegen das Neue Jugoslawien. Und ihr hier, die Waldsoldaten von früher, wie werdet ihr das zu spüren bekommen haben, in dem Land, das ihr samt dem, was bisher geschah, weiter als euer Land seht?« — Gregor: »Die einzigen, die im Neuen Österreich als unsere Bundesgenossen auftraten, wenn auch nur halbherzig, waren sie doch schon im Krieg dem Kampf an unserer Seite ausgewichen, die Moskau-Hörer, die werden uns im Hand-um-drehen mit dem gebannten Neuen Jugoslawien mit in Bann legen. Im Handumdrehen sind wir ein Volk ohne Volksvertreter — wir, die Sieger. Die uns vordem schlecht und recht, aber immerhin, in der fernen Hauptstadt vertreten haben, werden sich nicht bloß von uns abwenden, sondern sie werden uns bekämpfen, bis zum Existenzentzug. Sind wir damit in unserm Geburts- und Kindheitsland endgültig allein? Wohin sich noch wenden?« — Ich habe inzwischen weiter meinen Kreis gezogen und nähere mich erneut, als Bote, der sich verspricht, verhaspelt ...: »Wieder ein Jahr ist vergangen, und in Paris, draußen dort, haben die Außenminister der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs in geheimen Verhandlungen entschieden, daß das Gebiet eures Volkes Teil des Staates Österreich zu bleiben hat —« Gregor: 70 »— welcher es als ein den Namen >Volk< nicht verdienendes behandelt. Und das ist der Lohn dafür, daß wir die einzigen waren, die zu mehreren, dann vielen, zuletzt vielen, vielen, gekämpft haben um die Befreiung des Landes, wie es die Bedingung der Deklaration von neunzehnhundertdreiundvierzig — wieder Moskau — gewesen ist dafür, daß das Land Österreich nach dem Krieg sich neu selbständig nennen darf. Ein Land, das uns nicht will, und das gerade dank uns neu als Staat dastehen darf, in dem Erdteil ganz inmitten. Gang der Geschichte? Nicht eher Lindwurm, der sich selber in den Schwanz beißt? Und damit ganz und gar nicht sich selber wehtut?« — Ich habe indessen meinen Kreis gezogen und nähere mich zum wiederholten Mal in der Rolle eines Boten oder dilettantischen Radiosprechers: »Und inzwischen sind wieder Jahre vergangen, und das Land ist frei. Die fremden Truppen werden abziehen. Das rot-weiß-rote Buch, in dem Österreich als Beweis für seinen Freiheitskampf im Zweiten Weltkrieg zuallererst den Kampf der slowenischen Kärntner anführt: es hat seine Schuldigkeit getan.« — Gregor: »Wir haben demnach zu gehen, endgültig. Oder zu verstummen, von Volkszählung zu Volkszählung, von Busfahrt zu Bus- fahrt, von Wirtshausbesuch zu Wirtshausbesuch. Ein Trost das, wir die Helden in dem rot-weiß-roten Buch? Wenn ihr mich fragt ... Aber niemand wird mich hier je fragen. Wie habe ich mich seit jeher gesträubt gegen alles Tragische. Tragödien, meinetwegen, im alten Griechenland oder bei den Indianern — aber nicht bei uns hier! Schon das Wort ein Fremdwort in unserer Sprache, und nicht bloß im Haus meines Vaters. Von Hof zu Hof, von Feld zu Feld, von Bildstock zu Bildstock, von Bergkuppe zu Bergkuppe keinerlei Rede davon. Aber das jetzt ... Es schreit, krächzt, wimmert, bibbert, nach einer Tragödie — wider meinen Willen, wider unsere Natur, wider mein Innerstes. Erbarme dich unser! Aber das hätte ich am Anfang der Messe sagen sollen. Und die ist jetzt wohl zuende, nur der Segen fehlt noch ... Ah, Segen Höchstens ein Wunder kann uns ins Recht setzen. Aber in der Geschichte gibt es keine Wunder, nicht wahr? Manchmal wünsche ich die Tyrannei von früher zurück. Die Teufel seinerzeit wußten wenigstens, daß sie Teufel waren. Die heutigen Teufel dagegen spielen Engel, und teufeln und teufeln, und teufeln am Morgen, teufeln am Abend, teufeln in der Nacht ... Und das ist die ganze Geschichte . . . « Er hat sich zuletzt auf die Bank gesetzt, die zusehends — oder kommt es mir bloß so vor? — in die Jaunfelderde versunken ist. Lange haben wir miteinander geschwiegen. Gregor dann, zu mir gewendet: »Halb so tragisch<, wirst du sagen. >Hauptsache, man lebt.< Aber wer ist man? Und was heißt Leben? Die Geschichte, sie hat mein und unser Leben aufgefressen, das Lebensgefühl. Und was ist ein Leben ohne Lebensgefühl? Doch, es ist eine Tragödie, eine zum Lachen.« (Er »lacht«.) »Und außerdem ist es eine Tragödie, an der wir Kämpfer in den 71 Wäldern mitschuld sind. Unser Triumph, war er nicht gewesen, im richtigen Zeitpunkt den Gang der Geschichte erfaßt zu haben? Und wie ging die weiter — zum Lachen.« (Er »lacht«.) »Jahrhundertelang die Sklaven der Geschichte, haben wir uns eingebildet, endlich ihre Herren geworden zu sein, und haben gerade so sich zu ihren Opfern gemacht. Heißt es nicht, daß zur Tragödie die Vermessenheit desjenigen gehört, den sie trifft? Haben wir Wälderkrieger sich demnach vermessen, als wir selber unser Recht sich angeeignet haben? Vermessen wie? In bezug auf wen oder was? In bezug auf Gott und die Götter? In bezug auf den Sternenhimmel? In bezug auf die Selbstbescheidung unserer Vorfahren: >Alles, nur keine Politik! Politik als Zwang — statt vernünftig im Hause zu wirtschaften!<? Was mich betrifft, den Swinetz Gregor — nicht einmal die alte Schreibung ist erneuert worden im Land! Nie, auch nicht mit der Waffe auf den Bergen, ist es mir in den Sinn gekommen, Geschichte zu machen. Man kann mich damit am Mond besuchen. Nicht einmal an- gemalt möchte ich mich sehen als Geschichtemacher. Ohnehin wollte ich von klein auf daß immer alles beim alten bleibt — daß nichts sich verändert, Sommer und Winter, Haus und Hof, Sonne und Schnee, Wind und Windstille. Wenn ich überhaupt noch einen Wunsch habe: in der Gegenwart meiner Äpfel und meiner Birnen zu sein. Nur ist es längst Sense mit denen, es zahlt sich außerdem nicht aus. Zwar heißt er immer noch Cox Orange, aber sein zweiter Name auf den Märkten ist >Allergikerapfel<, und die Anjoubirne kommt aus den USA, und der Zar Aleksandar aus Italien. Und ein zweiter Wunsch: mit dem Vater und den Brüdern noch einmal kegeln zu gehen, und der letzte der Kegel bleibt stehen und stehen, und wir alle schreien und schreien >Fall um, Luder!< Bescheidener Wunsch, nicht wahr? Ja, was den Swinetz Gregor betrifft, so weiß er sich an der Geschichte nicht mitschuld. Nicht wenige aber seiner Mitkämpfer aus den Wäldern fühlen Schuld. Würden sie sonst schweigen von dem, was wir unternommen haben, bis zum heutigen Tag? Nicht einmal vor ihren Kindern und Enkeln tun sie den Mund auf. Und lassen‘s geschehen, wenn die Brut der Brut der tausend Jahre, wie einst die Brut, sie >Banditen< heißt. Ah, unsterbliche Brut ihr, scheint‘s das einzige Unsterbliche in dieser Gotteswelt. Ah, so könnte ich den Apfel Jonatan in die Luft werfen, so wie ich ihn gestern, wie ich ihn als Kind geworfen habe. Ah, endlich aus der Alptraum Geschichte, und nichts als die ewige Kinderzeit. Wehe dem Volk, nicht wahr, welches Geschichtsvolk wird: vom Opfervolk zum handelnden und siegreichen geworden, zwingt es ein anderes Volk in die Rolle des Opfervolks, nicht wahr. Wehe den Unbesiegten!? Hätten wir also weiter die Dulder sein sollen? Uns weiter die Seelensprache nehmen lassen sollen? Haben wir uns denn im Kampf nicht die Heimat verdient? Und was ist jetzt? Ach, Geschichte. Ah, Leben. Aus der Geschichte lernen? Ja, die Hoffnungslosigkeit. Was willst du von uns, Nachfahr? Warum wir? 72 Wir haben doch verloren. Sind kein Thema. Und auch kein Stoff zum Träumen. Such dir einen anderen Stoff einen aktuellen. Zum Beispiel die Seilbahnkatastrophe von Mariazell, den Fußballkrieg auf dem Heldenpiatz, die unehelichen Kinder des Papstes.« Ich werde mich dann zu ihm auf die halbversunkene Bank inmitten des Jaunfelds gehockt haben, mit der Frage: »Aber kann die Geschichte nicht auch eine Form sein, und Form heißt Frieden?« — Gregor: »Fehlt nur, daß du mit der Weltseele kommst. Weltseele: aus Vollgummi. Und die Einzelseelen: verlaust.« — Es hat sich dann zwischen mir und meinem Paten eine Art Rede-Antwort-Wettbewerb entwickelt, wie er mir aus unserer Stammgegend erinnerlich ist. Ich: »Falsch, die Welt jetzt? Kennst du nicht die Methode der Balkanmusiker? Wenn ihnen ein falscher Ton passiert, spielen sie mit dem weiter, für eine neue Melodie? — Schau, die Vögel über dem Jaunfeld. Jeder fliegt anders, anders hoch, anders schnell, und jeder fliegt jetzt, und jetzt.« — Gregor: »Die Vögel, wo? Und mit dem Jetzt —« — ahmt er da nicht einen seiner toten Brüder nach? —: »— kommen Sie gestern!« Darauf ich: »Und hör: das Glockenläuten durch ganz Kärnten, von Villach über Ferlach bis hinauf nach Gurk —« — Darauf Gregor: »Welche Glocken? Ich höre nichts —« (es ist wirklich nichts zu hören) — »und außerdem: Wenn >i< nicht wär‘, wär‘ Villach flach, wenn >er< nicht wär‘, wär‘ Ferlach flach, wenn >u< nicht wär‘, wär‘ Gurk Grk.« (Hat er da nicht mit der Stimme seines Vaters gesprochen?) — Darauf ich: »Aber den Wind, der die Völker im Land verbindet, den entgrenzenden — den hörst du doch?« — Gregor lauscht in die Himmelsrichtungen, wo wieder nichts zu hören sein wird: »Du und deine andere Zeit. Es ist aus mit der — wann wirst du das wahrhaben wollen?« — Darauf ich: »Aber hat deine Mutter nicht immer gesagt: >Gott ‘liebt es, zurückzukehren<?« — Und er: »Du und dein Friedenswahn.« — Darauf ich: »Aber der Raum — steht der nicht weiter offen?« — Er zurück: »Auch den hat der Krieg mir ausgetrieben. Er hat gefruchtet nur, solang ich ein Kind der Liebe war.« — Darauf ich: »Hier auf der Bank zu liegen, Vorfahr, mit einer Frau, unter dem Sternenhimmel: ist das denn nichts!?« — Dagegen er: »Mit mir hat keine je gelegen. Ein Einäugiger und eine Frau, das gibt kein Paar, auch nicht unter dem Sternenhimmel. Dann schon eher eine Frau und ein Blinder.« — Darauf ich: »Hier, meiner Liebe Kind bist du. Meiner Liebe Kind seid ihr Vorfahren alle. Nicht bloß, daß ich vor eurem Bild das Licht brennen lassen möchte Tag und Nacht: ich möchte darüber hinaus eure Totenköpfe streicheln — sie zwischen die Hände nehmen, so! Nein, keine Totenköpfe seid ihr mir, sondern Antlitze! Ich verehre euch. Warum? Weil ihr Hasenherzen wart, aber tapfere. Als gehörten Hasenherzen und Tapferkeit zusammen. Und nie auch wart ihr die Angreifer. Allein in der Verteidigung seid ihr zu Männern geworden, und zu Frauen, und zu was für welchen. Ein 73 anderes ewiges Licht soll euch leuchten! So gedenke ich euer, und denke umgekehrt von euch mich gedacht. Eure Hände möchte ich nachzeichnen, eure Augen, eure Fußstellung. Eure Stimmen hören, mitten im Herzen, mitten im Traum und über den Traum hinaus. Seltsam, daß der Umriß der Verblichenen so viel stärker und dauerhafter ist als der der Heutigen. Solche wie euch wird es nie wieder geben. Kein Tag ohne euch. Und ohne euch kein Morgen. Mit euch komme ich zur Besinnung. Ihr seid meine Besinnung, meine Bestimmung. Dank euch werde ich das Jaunfeld hier und mit ihm das Land zwischen den Karawanken und der Svinjska planina immer hochhalten — dank euch, durch euch, in euch und mit euch! Ich bin einverstanden mit meinem Sterben. Aber nicht mit dem euren, Vorfahren, nicht und nicht, ewig nicht. Und ewig möchte ich mich bei euch entschuldigen, daß ich lebe. Auferstehen sollt ihr. Ich rufe euch aus den Gräbern zur Auferstehung. Gott ehre eure Gesichter.« — Darauf er, nach einem längeren Schweigen: »Ein Kind der Liebe, das bist du selber, Nachfahr. Nur ein Kind der Liebe malt solche Einfaltspinselbilder. Zimmert aus seinem Daher- und Dahingeträumten Weltenräume. Träumt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind. Tot sind wir, Nachfahr, tot. Nacht um Nacht und ohne Jüngsten Tag tot. Nichts unbegreiflicher als ein Kind der Liebe.« — Darauf ich: »Der Himmel gibt sich zufrieden mit einem Baum in Einzelblüte.« — Darauf er: »Früher oder später wird jeder ein Gespenst.« — Darauf ich: »Dort wirbelt eine Kinderschaukel.« — Darauf er: »Und das zweite Seil ist gerissen, und der Sitz hängt kopfunter.« — Darauf ich (allmählich geraten wir ins Singen): »Endlich ein Wetterleuchten.« — Er: »Der Singer singt so lange, bis er verstummt.« — Ich: »Der Schwanz der Eidechse am Wegrand zeigt auf den Horizont.« — Er: »Fliegen da Schwalben oder Mücken?« — Ich: »Auf dem Packsattel herrscht Sturm, und im Morgenbus Graz—Klagenfurt sind die Kinder gegen die Scheiben geworfen worden und die sind zersplittert.« — Er: »Das Schuldgeständnis des Mörders ruft das Opfer im Grab zur Auferstehung. Das ganze Leben bin ich im Aschenregen gegangen, mit durchlöchertem Gewand, von Insel zu Insel. Der Todkranke ist der Spion aus der anderen Welt. — Was weißt denn du, ein Vaterloser?« — Ich: »Der Vaterlose weiß was anderes. Ich kann die Vaterlosigkeit nur empfehlen. Der Ritter der Ritter war zum Beispiel vaterlos: Parzival.« — Er: »Und das liebe Jesuslein ... Ach, all die Geschichten zu unserem Lebens- und Überlebenskampf, von unserem Sprachkampf von unserem Kampf um unsere Slovenina, um die Worte unserer Sprache, za besede naega jezika, um die Worte unserer Seele, za besede nae due, all die Geschichten, die jeden angehen — von wem gelesen? Ach, die Bücher alle von uns Gemsen auf der Lawine, von uns Kleinen Leuten auf Großem Weg. Ach, Karel 74 Prunik, ach, Lipej Kolenik, ach, Tone Jelen, ach, Anton Haderlap, ach, Helena KucharJelka ... Und dazu du Vaterloser und dein vaterloser Parzival. Ach! ach! und abermals ach!« Darauf gebe ich mich geschlagen. Der Vorfahr ist von der Bank aufgestanden und hat mich allein da hocken lassen. Und er scheint noch nicht fertig mit mir oder wem. Denn auf einmal wird er der leibhaftige Zorn, zugleich ein Zorn so sanft und hilflos, wie ich ihn noch keinmal erlebt habe: »Ein Menschenfeind bin ich geworden. Nie hätte ich mir das träumen lassen, ich, der einmal, damals, vor dem Krieg, ein gutes Wort für einen jeden wußte, und den einmal alle andern, auch die Mörder, erbarmt haben. Und wie bin ich dagegen, ein Menschenfeind, ein Menschheitsfeind geworden zu sein! Wirkung. Der Teufel steckt in mir, tausend Teufel stecken in mir. Wieder so ein Machthaber im Fernsehen, wie er dahinstolziert —« Er macht einen nach, mit schwingenden, vom Körper weggehaltenen Armen — »ich werde die alle nicht los, sie sind Teil von mir. Der Ekel, der >Eckel<, unsres toten Benjamin, über die Milchhaut auf dem Kaffee, über die Maden im Käse, über alle die Gummibänder in Form einer liegenden Acht, über die Nudeln in Form eines S ist scheint‘s in mich gefahren als Ekel, als Eckel, vor den Jetztmenschen jetzt. Es gab eine Zeit, da habe ich mir den Ekel vor dem Jetzt weggesungen, nein, keine Kirchenlieder — im Singen unserer Land-Lieder hier. Ja, aus den Liedern klang deine, die andere Zeit.« Das hat er tatsächlich gesungen, und bricht gleich wieder ab: »Geht nicht. Das Singen macht inzwischen den Ekel noch einmal so stark. Höchstens unsere sippeneigenen Laute, wie sie mir entfahren im Erschrecken —« Er macht den Laut — »im Schmerz —« Er macht den Laut — »und eben im Überdruß« — Er macht den Laut — »einzig die helfen mir aus dem Ekel heraus, momentlang — vor allem unser jaunfeldeigenes Seufzen, gegen all das Grenzlandsingen . . . « (Er seufzt es mir vor, ich seufze ihm nach, wir seufzen im Chor, ünd im Umkreis, aus dem Unsichtbaren, schwillt der Seufzerchor an und bricht jäh ab.) »Es gab eine Zeit, da habe ich mit dem Ekel gekämpft. Aber jetzt ist da nichts mehr zu kämpfen. Der Ekel hat gesiegt. Ich, der Menschenfeind? Schlimmer: der Menschenverächter. All diese regelmäßigen Scheitel, schon bei den Kleinkindern — wo sind die schön unregelmäßigen geblieben? Ich weiß, von den Leuten gibt es solche, und solche. Aber warum begegnen mir inzwischen nur noch solche? Vornehme Menschen! Ah, wie bin ich derer bedürftig. Wie ich mich nach denen — sehne. Aber ich erlebe nur noch vornehm Tuende. Und gütige Menschen, wie würden die erst gebraucht. Statt dessen höchstens dann und wann vielleicht eine gute Haut. Ein gütiger Mensch ist was anderes! Oder wenigstens ein Böser, dem ich neu Widerstand leisten könnte.« — Ich: »Die Menschen verschwinden, und die T-Shirts bleichen aus.« — Er: »Statt dessen: bloß noch die Unguten. Die Unguten sind immer und überall, und nicht zu bekämpfen.« — Ich: »Am 75 schönsten sind die wilden Zwetschkenbäume, die vor dem Scheunentor stehen und es zuhalten.« — Er: »Ah, ihr Heutigen habt so viel mehr Zeit als wir Damaligen und macht so viel mehr Unsinn.« — Ich: »Die Schlange dort am Feldrand spielt Vision.« — Er: »Es gab eine Zeit, da habe ich immerzu heiße Hände gehabt, und jetzt nur noch kalte.« — Ich: »Die Hemden reißen im Eiswasser.« — Er: »Ich kann mich selber am Schopf packen noch und noch — es geht nirgendswohin.« — Ich: »Die Amsel und der Rotkropf singt.« — Er: »Auch vor den Vögeln ekelt‘s mich, vor dem gelben Amselschnabel, vor dem Rotkehlchenbrustlatz.« Er gibt der Bank einen Tritt: »Es ist noch kein Gebet erhört worden, jedenfalls keins der meinen.« — Ich: »Lang genug sind wir im Schnee gesessen.« — Er: »Eine meiner Waffen habe ich den Engländern nicht abgeliefert.« — Ich: »Was ist das: Liegt unter der Bank, und wenn man es anfaßt, schreit‘s?« Er stockt: »Sag‘s mir, Nachfahr.« — Ich: »Eine Kette.« — Er: »Woher hast du das?« — Ich: »Ein altes Rätsel, aus dem Jaunfeld.« — Er: »Aus dem Jaunfeld. Eine Kette. Zum Anschirren der Pferde. Unter der Bank. Wenn man sie anfaßt, schreit sie.« Ich zaubere einen Apfel hervor. Er reißt ihn mir aus der Hand und schmeißt ihn weg. Wir bleiben, wo wir sind. Wir seufzen den Sippenseufzer, zu zweit. Dann Gregor: »Indem wir zwei die Letzten sind, gehen wir der restlichen Welt als leuchtendes Beispiel voraus, nicht wahr? Und was tut der Rest der Welt? Er wird mehr und mehr. — Und nun bin ich dran mit dem Rätsel: Was schreit auf den Bänken, und faßt mich an gegen meinen Willen, und rumpelt und kracht, und tobt und brüllt, und tost und lärmt, daß es schon lang nicht mehr schön ist?« — Ich: »?« — Gregor: »Die Menschheit.« Und unversehens ist es jetzt Gregor, der etwas hervorzaubert, es mir zeigt, es in den Kreis zeigt: einen festtagsdunklen Rock. Ich: »Was ist das?« — Gregor: »Ein Teil vom Feiertagsanzug, dem einzigen, meines jüngsten Bruders, Benjamin. Der Rock hat zuhause im Gewandkasten auf dich gewartet, bis die Zeit reif wäre. Steh auf, Nachfahr.« Ich bin stracks von der halb im Jaunfeld versunkenen Bank aufgestanden. Gregor: »Die Hände aus den Taschen, Patenkind. Die Arme breit. Und hoch das Herz!« Er legt mir den Rock an. Aber so wie ich links und rechts hineinschlüpfe, zerschleißt der augenblicks, zerfällt zu Staub, hängt mir in Fetzen vom Leib. Und während ich so mit ausgebreiteten Armen stehenbleibe, höre ich von meinem Vorfahren: »Jaunfeld: Motten und Blutegel. Blei und Glimmer. Wasserläufer und Kuhmist. Meßkelch und Hühnerleiter . . . « Und dann falle ich mit ein: »Maiandachten und Totenglocken. Waldbunker und Fliegenpilze. Blaue Arbeitshosen und rote Auferstehungsmäntel. Fastentücher und Hakenkreuze. Holzschuhe und Mausefallen. Hasen 76 und Himbeeren. Zajci in maline. Buchweizen und Kalender. Ajda in koledar. Rüben und Regenbogen. Repice in mavrice. Sonne und Schnee. Sonce in sneg . . . « Und, wieder unversehens, bin dann ich es, der mit den ausgebreiteten Armen, ohne mich umzuwenden, in den Jaunfeldhintergrund das Zeichen gibt zum Auftreten, zum Sich-uns-zweien-Anschließen, in der Rolle einer Vorhut, oder gar eines Anführers. Und im Blick über die Schulter ins Leere tritt nun sage und schreibe die vollzählige Sippe auf ein jeder, wie er leibt und wie er lebt, auch so gewandet, und ein jeder einzeln. Zugleich Gregor: »Nein! So nicht. Du hast kein Recht zum Märchen. Und jetzt gibst du auch noch den Spielleiter. Einmal die Heimat verloren — für immer die Heimat verloren. Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Geschichte: der Teufel in uns, in mir, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip. Und Summe des Unrechts wird Summe des Rechts. Ja, wir haben das Unrecht begangen — das Unrecht, hier, gerade hier, geboren zu sein.« — Ich: »Ja, ich bin der Spielleiter. Ich bin es, der euch das Recht in seine Hand nimmt, das Alte Recht. Schluß mit mir dem Träumer, derwelcher machtlos zuschaut, was und wie ihm träumt. Ich bin erwacht. Ich bin die Macht. Jaz sem oblast. Jaz sem avtoriteta. Ich bin‘s, der bestimmt . . . « — Gregor: »Wem hauchst du so ein Leben ein? Einer Eintagsfliege!« — Ich: »Vielleicht. Ja, einer Eintagsfliege! Wie schön sie sind, die Eintagsfliegen, wie leicht, wie luftig.« Und da legt sich mir von hinten eine Hand auf die Schulter, eine so unbekannte, daß ich herumfahre. Vor mir steht ein junger Mann, der bis dahin wohl hinter meiner Mutter verborgen gewesen war. Ich: »Wer ist denn der da? Was will denn der hier?« — Meine Mutter: »Du bist es. Du selber. Ist es denn nicht im Älterwerden dein Wunsch, dein großer, dir von früher gegenüberzustehen?« — Ich: »Ja. Aber mir gegenüber ich als Kind! Das Kind, das spielt. Das lesen lernt. Das groß schaut. Das dem Wind zuhört. In ihn einhört. Das sich vom Regen besprühen läßt. Das an der Hand des Großvaters im ersten Tageslicht dahinhoppelt auf einem Feldweg. Und nicht ich als Pubertätsschwengel, als knieweicher Brillenträger, als Pickelgesicht.« — Die Mutter: »Du kannst nicht alles bestimmen, Herr Sohn.« Und so trete ich nun einen Schritt zurück, zur Seite, vor, gehe um mich herum, umkurve mich, mustere mich, beschaue mich, betrachte mich, schüttle den Kopf über mich, runzle und hebe die Brauen über mich, wundere mich, in Maßen, über mich, boxe mich in den Bauch, trete mir in die Kniekehlen, packe mich am Nacken, und rangle dann mit mir — wer ist stärker, ich oder ich? — und werde zuguterletzt von mir am Schopf gepackt und herumgewirbelt. Und so auch hat dann einer von uns zu singen angefangen, mir scheint, es war Gregor: 77 »Man hat mir ein Grab gegraben, ein tiefes, ein breites, aber zu groß war ich dafür, und das Grab war zu klein. Und so hat man unser ganzes Land als Grab mir gegraben —« Und ein anderer von uns, mir scheint, Valentin, hat ihn unterbrochen, indem er angestimmt hat sein »We shall gather at the river —« Und er wiederum wird unterbrochen von Benjamin, oder wem auch, der einfällt mit seinem »No milk today —«‚ worauf der wiederum unterbrochen wird von seiner Schwester Snezena mit dem Ansatz eines Partisanenkampflieds, das wiederum gleich übertönt worden ist von meiner Mutter mit ihrem Gottweißwas-Tremolo, bei dem ich mir als Kind immer die Ohren zuhalten wollte Aber auch diese Sängerin wird gestoppt von dem Lied, mir scheint, meines Großvaters jetzt: »Ich hab kein Vatern mehr, ich hab kein Mutter mehr, hab auch kein Bruder, keine Schwester, keinen Freund. Bin ein verlassnes Kind, gleich wie der Almenwind Da das Einfallen der Großmutter, ihn verbessernd oder variierend: gleich wie ein Strauch im Wind Und dann das paarweise Weitersingen: »— Ich bin der Weltverdruß! So harns mich gnennt - - -« Und zuletzt ist auch noch dieses Sängerpaar unterbrochen worden, von uns allen anderen im Durcheinander: »Ach, der >Weltverdrußwalzer<, schon wieder, immer und ewig der >Weltverdruß< « — »Und ewig hier nur als Walzer gespielt . «— »Und als Walzer, ewig trauriger, gesungen . — »Und im Dreivierteltakt, dem ewig tristen, getanzt . . « — »He: Warum den >Weltverdruß< nicht einmal als Polka probieren?!« — »Ja: unsern >Weltverdruß< einmal als Polka musizieren!« ... — »Unsern Weltverdrußwalzer einmal, nur einmal, als eine Polka variieren! . . . « — »Ja! Weg mit der Walzervergangenheit!« — »Weltverdruß-POLKA!« ... — »Zwar auch nicht gerade Zukunftsmusik, aber naja Und schon hat uns die unsichtbare Harmonika eingestimmt, und wir singen unsern jahrhundertalten Weltverdrußwalzer umgewandelt in eine Polka, zunehmend lauthals und aus Leibeskräften, und zwischendurch auch extra falsch, auch ich, sogar ich. Nachzutragen ist, daß irgendwann bei unserem letzten gemeinsamen Auftritt — das Gedächtnis sagt: etwa vor dem Einsetzen meines Großvaters mit dem »Weltverdruß« — ich mich noch einmal eingemischt habe. Durch ein Heben der Arme habe ich den Vorfahren Stile geboten, und dann gesagt (unklar, ob insgeheim zu mir, oder laut): »Vor nicht langer Zeit war 78 ich in einem ehemaligen Goldgräberdorf in Alaska. Jetzt ist das ein Touristenort, dichtbevölkert taglang von den Besuchern aus der ganzen Welt. In dem Massengeschiebe ein paar Ureinwohner, oder Angestammte, in dem Fall Indianer, vom Stamm der Athabasken. Die sind auch daran zu erkennen, daß sie sich nicht bewegen, sondern sitzen, hokken, kauern, und zwar auf dem bloßen Erdboden, und zwar ein jeder der paar Übriggebliebenen für sich, weit weg vom jeweils andern, und nur von Zeit zu Zeit stehen die paar, wie auf ein gemeinsames Zeichen, auf und winken einander von ferne, über die Touristenköpfe hinweg, kurz zu: He, ich bin noch da! — Und ich auch! — Und ich auch!, und dann hocken sie sich wieder hin.« Und nachzutragen ist auch, daß so im Erzählen (ob bloß gedacht oder laut geworden), auf mein In-die-Hände-Klatschen und Fingerschnipsen hin, von allen Seiten jene vielen daherkamen, die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drängen sie nach vorn und würfeln uns mir nichts, dir nichts, als gäbe es uns gar nicht, auseinander, so daß unsrerseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken. 79