als Dokument - Ruhr-Universität Bochum

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Süddeutsche Zeitung Freitag 7.3.2002 (Feuilleton)
Unser aller Teil
Die chinesische Philosophie, der Westen und die Bioethik
Nach der Diskussion um die allgemeine Gültigkeit von Menschenrechten wissen wir: Den
Menschen in China darf die universale Schutzgarantie des Menschenrechts nicht entzogen
werden – auch nicht unter Hinweis auf eine „ganz andere Kultur“ der Chinesen. Weniger klar
geworden ist, welche positive Antwort China bietet, wenn es um die Frage des philosophischen
Rahmens einer guten und zeitgemäßen politischen Ordnung geht.
Die Brisanz dieses Mankos wird angesichts bioethischer Probleme immer deutlicher. Chinas
bioethische Politikberatung steht vor enormen Schwierigkeiten, die Schutzwürdigkeit
menschlichen Lebens so akkurat zu definieren und zu formulieren, wie es die einschlägigen
Regelwerke zum Schutz von Patienten, zum Klonen und zur Stammzellforschung fordern –
namentlich vor dem Hintergrund ihrer globalen Wechselwirkungen. Hier genügt es nicht, sich
durch Deklaration von Prinzipien der eigenen Gutwilligkeit zu versichern. So geschieht es jedoch
derzeit in Schlüsseldokumenten zur Regelung der Embryonenforschung, wenn diese die Medizin
als „Kunst der Menschlichkeit“ in die Pflicht nehmen wollen oder dem ungeborenen Menschen
„einen gewissen Wert“ zubilligen. Ohne einen Grundsatz wie Gerechtigkeit vergeht aber das
Prinzip der Humanität – und ohne das Primat der Achtung des anderen entschwindet die Freiheit
aus der politisch geregelten Geltung in die Sphären ohnmächtiger Allgemeingültigkeit.
Das Boot der Menschheit
Tatsächlich stehen in neueren chinesischen Regularien Ansätze für vermittelnde Grundsätze. So
wird der Patientenschutz mit Hilfe des Instituts der „informierten Einwilligung“ verankert und
die Freiheit der „relevanten“ Forschung durch ausdrückliche staatliche Förderung gewährleistet.
Status und Schutz des Ungeborenen jedoch verbleiben im Zwielicht. Der Beijinger ChefBioethiker Qiu Renzong beruft sich auf das auch in China umstrittene „konfuzianische“ Postulat
der im Prozess einer Sozialisation und somit erst nach der Geburt erworbenen Personalität.
Öffnet sich hier eine Tür zur Anerkennung der Normativität des Faktischen, nämlich der
verbreiteten Tötung Ungeborener? Verdichtet sich damit die Evidenz für eine kulturell
begründete chinesische Praxis der unbefangenen Vernutzung embryonalen Materials für den
medizinischen Bedarf? Falls dem so wäre, könnte sich damit die geostrategische Lage der
deutschen Biopolitik grundlegend verschieben. Unser verfassungsmäßiges Konzept der
unqualifizierten Würde wäre dann nur noch ein provinzielles Binnenproblem des deutschen oder
kontinentalen moralischen Selbstverständnisses.
Der Hongkonger Philosoph und Bioethiker Yu Kam Por hat nun in Bochum zum Start der von
der DFG finanzierten Forschergruppe „Kulturübergreifende Bioethik. Voraussetzungen,
Chancen, Probleme“ über das Konzept von „Fen“ als „Teil“ im ethisch-politischen Sinne
referiert. „Fen“ ist als ethischer Begriff bislang nur einigen Experten konfuzianischer Philosophie
geläufig und wird traditionell im Sinne der sozialen „Rolle“ verstanden. Dies erklärt auch sein
Schattendasein. Yu stellte seinen originären Vorschlag, „Fen“ ethisch zu deuten, erstmals einem
internationalen Publikum vor, indem er ihn auf die Bioethik bezog.
Den Ansatz bietet die weit verbreitete Verwendung von „Fen“ in der heutigen chinesischen
Alltagssprache. Hier drückt „Fen“ als Konzept konkreter Gerechtigkeit die Vorstellung von einer
jedem Menschen gegebenen angemessenen Teilhabe aus. Im chinesischen Alltagsgebrauch meint
„ben fen“ das, was einem Menschen ursprünglich eignet. Es dient der Abgrenzung der Individuen
von einander und der Abwehr von Übergriffen, welche als Überschreiten des eigenen Teils („guo
fen“) bezeichnet sind. Andererseits hat ein jeder für „seinen Teil“ einzustehen („shou fen“). Seine
Pflicht tut man, indem man „jin ben fen“, „seinen ursprünglichen Teil beiträgt“, und man versteht
diese Pflicht als den zu leistenden „gebührenden Teil“ („ying fen“). An der Schnittstelle von
Gerechtigkeit und Achtung markiert „Fen“ einen ethisch inspirierten politischen
Ordnungsbegriff, der eine gewisse Nähe zur „Fairness“ aufweist. Das „Teil“ transportiert
Anwendungshilfen eines genuin ethischen Konzeptrahmens in der Praxis. Es repräsentiert die
konfuzianische Vorstellung von dem „Einen, welches jegliche moralische Praxis durchzieht“.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei, „Fen“ als „Einteilung“ gerade nicht im Sinne der
Zuteilung durch andere zu verstehen. Mit der Anerkennung des „Teils“ des Einzelnen wird die
Bedingung der Möglichkeit moralischer, ethischer, sozialer und kultureller Diversität eingeführt.
„Fen“ gewährt Räume, die sich dem Zugriff durch positive Definitionen entziehen. Damit führt
Yu ein Korrektiv der verbreiteten Auffassung ein, der Konfuzianismus beruhe auf der
Anerkennung von in der sozialen Beziehungshierarchie erworbenen Meriten. Im Gegenteil:
Moralische Handlungen werden als solche überhaupt erst vorstellbar, wenn dem Individuum eine
vorgängige Würde eignet. Mit dieser Wendung erscheint eine konfuzianisch begründete Ethik
systematisch gut vorbereitet, um mit einer aufklärerischen Ethik europäischer Prägung ins
Gespräch zu kommen.
Die Anerkennung der Tatsache, dass jedem Menschen aufgrund seines bloßen Menschseins das
Seinige eignet, verbindet Yu Kam Por mit der Feststellung, dass „jedem das Seine“ inhaltlich
stets Verschiedenes bezeichne. Demzufolge ist kein Experte oder Funktionsträger zu
annektierenden Übergriffen befugt, da diese den Generalvorbehalt der Verschiedenheit
ignorieren. Dies hat Konsequenzen für die Frage, wer die Autorität hat, eine Schwangerschaft
anzuerkennen: die werdende Mutter, der Arzt oder der Reproduktionsmediziner. Die Annahme,
jedes menschliche Wesen habe spezifisch seinen Anteil, zwingt in Fällen, in denen ein solches
Wesen nicht in der Lage ist, „für seinen Teil einzustehen“, die Verantwortlichen, diese Funktion
treuhänderisch auszuüben. „Sobald wir jemanden in unser gemeinsames Boot gelassen haben,
müssen wir mit für ihn einstehen, auch wenn wir dadurch womöglich alle in Gefahr geraten“, so
Yu in Anspielung auf eine chinesische Parabel. Neu ist nur, dass wir als Menschen immer schon
im selben Boot sitzen.
Bei der konkreten Organisation einer guten Gesellschaft besteht erheblicher Spielraum. Die
programmatische Unklarheit der Grenzziehungen der „Teile“ hat in der Tat System. Sie verankert
ein Element gegen die institutionelle Allmacht des Staates, im Idealfall sorgt sie für eine
permanente kulturelle Evolution. Der Gedanke mag Angehörigen demokratischer Gesellschaften
selbstverständlich erscheinen. China wird seine bloße Möglichkeit häufig aus prinzipiellen
Gründen der chinesischen Tradition abgesprochen, nicht zuletzt von konservativen chinesischen
Politikern.
Neben dem Potential für kulturelle Verständigung ist „Fen“ in seinem ethischen Rahmen aktuell.
Yu besteht darauf, dass es zu seiner Einsicht keiner „reinen“ Vernunft bedarf. Die allgemeine
Vernunft des Common sense genügt. Ist das „Teil“ aber nicht zu unscharf, um uns in der Debatte
um ethische Probleme, z.B. der Embryonenforschung oder dem Hirntodkriterium, leiten zu
können? „Fen“ legt nahe, dass diese Frage von irrigen, um nicht zu sagen: unethischen
Erwartungen ausgeht. Die vorbehaltlose grundsätzliche Anerkennung des anderen impliziert ja
gerade, dass allenfalls der jeweilige Inhaber von „Fen“ eine inhaltliche Bestimmung treffen darf.
Es gibt damit fundamentale Bereiche der Moral, die keine Ethik bestimmen darf.
Die Hybris der Gentechnik
Diese Zurückhaltung ist allerdings nicht als fortschrittsfeindlich zu verstehen. Entwicklung
bleibt möglich und ist erwünscht. Der entsprechende Fortschritt wird in der Perspektive von
„Fen“ so definiert, dass er ein genuines Interesse am Mitmenschen nimmt, dem sich jede
Moralrhetorik versagt. Yu lässt einstweilen offen, wie seine Lesart von „Fen“ die Verständigung
in Extrem-, Ausnahme- und Grenzfällen im Sinne der von ihm postulierten „moderierten Moral“
erlaubt.
Yu weist mit der Rückbindung des ethischen Diskurses an Gerechtigkeit, Anerkennung und
kritische Aufklärung auf eine weltumspannende Kultur der Humanität hin. Dieser chinesische
Ansatz korrespondiert dem philosophischen Geist, der es Europa ermöglichte, im Laufe von
Jahrhunderten „jedem das Seine“ auch politisch zuzubilligen und damit die geistigen
Bedingungen für Humanismus, Aufklärung und Demokratie zu legen. Die Anerkennung des
„ursprünglichen Teils“ beginnt für die Medizinethik, so darf man den Gedanken weiterführen,
mit der säkularen Abwehr biotechnischer Hybris.
OLE DÖRING
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