Unsere Kirche wird viele und vieles l

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Konzentration durch Loslassen - ein Versuch über die Zukunft der Gemeindearbeit
1. Wenn man darauf verzichtet, Vertröstungen zu formulieren, gilt es festzuhalten: Unsere
Kirche wird vieles loslassen müssen, - Kirchen, Gemeindezentren und Pfarrhäuser, vor allem
aber Selbstbilder und Identitäten, Ideale und Ansprüche, Zusagen und Erwartungen. Wir
werden mit einem annähernd halbierten Haushalt in der NEK vieles nicht mehr können, wir
werden viele übergemeindliche Dienste nicht mehr anbieten, wir werden viele engagierte
Menschen enttäuschen und vielleicht sogar wie in Holland und England leere, verfallende
Kirchen wie hohle Zähne in den Städten anstarren müssen. Wir werden viel loslassen
müssen, und das ist - wie jede/r Seelsorger/in weiß - sehr schmerzhaft. Vielleicht ist es
deswegen
eine
der
wichtigsten
Aufgaben der
Reformkommission,
dass sie
die
Entscheidungsträger/innen in diesem Prozess immer auch daran erinnert, dass wer loslässt,
auch
reicher
werden
kann.
Denn
wer
sein
bisheriges
Leben,
seine
bisherige
Selbsteinschätzung, sein bisheriges Selbstbild verliert, der wird gewinnen. Niemand soll
daher mit dem Loslassen von vertrauten Formen und Gestalten das Ende der Kirche
gekommen sehen; Loslassen ist ein Umwandlungsprozess, kein Endbahnhof. Nur ein
Beispiel: Mit der jüngst avisierten Schließung der evangelischen Akademiearbeit ist nicht das
Ende dieser bildungsbürgerlich-gesellschaftskritisch orientierten Arbeit beschlossen, sondern
der Zwang entstanden, neue Formen und Foren dafür zu finden; und warum sollten die City-,
Haupt- oder Zentralkirchen in allen (!) größeren Städten der NEK nicht wieder mehr Anteil an
dieser inhaltlichen Arbeit übernehmen? Und dass gewichtige Initiativen wie die Trauerarbeit
an „verwaisten Menschen“ neu in der Kirche beheimatet werden kann, liegt ja auf der Hand.
2. Damit aber dieses Loslassen zu einem wirklichen Umwandlungs-, nicht zu einem
Restaurationsprozess wird, müssen wohl zwei Gefahrenpunkte im Blick behalten werden:
a) Zuerst gilt es etwas in den Blick nehmen, was zwar alle irgendwie kennen, aber nur
schwer in gerechter Weise zu formulieren ist. Vielen unserer kirchlichen Angebote,
Einlassungen, Verlautbarungen und Stellungnahmen - egal auf welcher Ebene von Kirche
und Gemeinde - spürt man eine gewisse inhaltliche Verunsicherung ab. Es ist als fehlte uns
die Kraft oder der Mut, missionarische, also gewinnende und einladende Kirche zu sein.
Jedenfalls wird man nüchtern eingestehen müssen: Unsere evangelische Volkskirche
schrumpft nicht nur die finanzielle, sondern auch die gemeindliche Basis weg. Wir berühren
die Menschen zu wenig in ihren Seelen und unser Reden von Gott geht zu oft an den
Lebens- und Gottesfragen der anderen vorbei. Das heißt aber auch: Die objektiv bedingte
Finanzkrise (Alterspyramide; Wirtschaftskrise, Steuergesetzgebung usw.) signalisiert eine
Krise der Verkündigung und der Theologie, vielleicht weil wir inhaltlich und konzeptionell ähnlich wie die Parteien, die Gewerkschaften und andere Großinstitutionen - vor einem
Modernisierungsumbruch bzw. Individualisierungsschub stehen, für den wir noch keine
tragfähige Antwort gefunden haben. Entsprechend fehlt uns eine Art gemeindliche Zielvision,
ein Bild für das, was wir selbst im allerschlimmsten Fall als Kirche unbedingt sind und sein
wollen.
b) Zum anderen hört man nicht selten die Auffassung, dass die finanziellen Aderlässe
schlimmstenfalls zu einem Finanzvolumen führen, das in etwa dem der 70iger oder gar
60iger Jahre entspräche. Mit der anstehenden Kürzungsphase würde man also lediglich die
Fehler einer überstürzten Wachstumsphase der 68iger Generation zurücknehmen und die
funktionalen bzw. übergemeindlichen Arbeitszweige könnten wieder dahin zurückkehren, wo
sie hingehören: in die Gemeinden. Das Problem dieser Ziellinie liegt darin, dass damit die
Krise der Gemeindearbeit nicht wirklich erfasst ist. Es stimmt eben nicht, dass in den
Ortsgemeinden alles so weit o.k. sei und dass nur diese teuren „Überbauten“ wie Akademie,
KDA, Frauenwerke, Diakonieausbildungen usw. der Kirche das Rückrat brächen. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Die Dienste und Werke waren schon Ausdruck und Lösungsversuch
einer Krise der klassischen Gemeindearbeit und insofern brauchen wir heute für den
Umwandlungsprozess
ein
Drittes,
ein
Neues,
eine
Synthese
aus
Orts-
und
Funktionsgemeinden, eine Neudefinition dessen, was Grundgeschäft und Grundform einer
evangelischen Gemeindearbeit in Zukunft ausmacht.
3. Will man in diesem Kontext der Reformkommission der NEK mit Anregungen zur Seite
stehen, dann sind vielleicht ekklesiologische Prioritätenüberlegungen hilfreich, die so
pointiert sind, dass man an ihnen die eigene Meinung konturieren kann. Ausgangspunkt soll
dabei die wohl unumstrittene Einsicht sein, dass das Kerngeschäft unserer Kirche darin
besteht, das „Evangelium rein zu verkünden und die Sakramente recht zu verwalten“ (CA
VII). Wenn es hart auf hart kommt, steht das verkündigende Wort Gottes im Zentrum und
sind die Kirchen mit ihren Gottesdiensten das letzte, was wir loslassen dürfen. Es ist nur eine
Anwendung dieses Grundsatzes, dass die innerlichen und äußerlichen Räume, die um
dieses Wort Gottes herum erbaut worden sind, Priorität besitzen. Positiv formuliert: In
Krisenzeiten müssen und sollen wir uns in und um unsere Kirchen herum sammeln. Dies ist
kein Rückzugsplädoyer, sondern der Beginn eines Konzentrationsprozess. Denn diese
Kirchen, auf die wir uns dann konzentrieren, sehen völlig anders aus als unsere heutigen
Gemeindekirchen. In den Städten Europas kann man schon eine entsprechende Tendenz
erkennen: Die Kirchen sind da alles in einem und zugleich: Gottesdienstraum und
Gemeindebüro, Konfirmandenunterrichtsraum und Seelsorgeinsel, Stadtteiltreffpunkt und
Gruppenraum. Je kleiner die Gemeinden werden, desto mehr konzentriert sich alles auf
diese spezifischen Räume, die Kirchen sind nicht mehr nur die „gute Stuben“ der
Gemeinden, sondern ihr Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer, auch Keller und Terrasse.
Natürlich muss diese Tendenz zur Konzentration auf die Kirchenräume mit den konkreten
Gegebenheiten vor Ort abgeglichen werden, aber bedacht bleiben sollte dies: Wir haben
wunderschöne geistliche Orte ererbt und anvertraut bekommen, auf dem Lande nicht anders
als in den großen Städten, in den Kleinstädten nicht anders als in den Vororten, es sind
Perlen
der
Frömmigkeit
und
gleichsam
„durchgebetete
Räume“,
die
wir
als
„Markenkernräume“ und Zentren unseres kirchlichen Lebens stabilisieren sollten.
4. Aber der um das Wort Gottes herumgebaute Raum ist nicht nur äußerlich, sondern auch
innerlich zu verstehen: Gottesdienste als unsere Kernveranstaltungen haben oberste
Priorität. Dies auch gegen den Trend; natürlich sind unsere Gottesdienste schlecht besucht
und finden die diakonischen Aktivitäten mehr allgemeine Zustimmung. Aber dies ändert
nichts an unserer Kernaufgabe, bei der es allerdings wieder um einen Umwandlungsprozess
geht. Denn diese Priorität meint nicht nur den klassischen Sonntagsgottesdienst um 10 Uhr,
sondern die ganze Vielfalt „gottesdienstlicher Handlungen“ zu verschiedenen Zeiten und
verschiedenen Themen, es meint ebenso die vielen Amtshandlungen und die zunehmende
Zahl von Gottesdiensten anlässlich des noch ungeschriebenen weltlichen Fest- und
Gedenkkalenders, der von Krisen- und Trauerbewältigung bis zu allgemeinen Gedenkfeiern
im Stile einer `civil religion` reicht (z.B. Unternehmen Gomorrha in Hamburg). Menschen vor
und zu Gott zu rufen, mit ihnen gemeinsam Sprache zu suchen für den Gott der Bibel, das ist
unser zentrales „Wächteramt“, denn gemäß Jesaja bezieht sich das Wächteramt nicht auf
die Gesellschaft, sondern auf Gott und die Ermahnung, er möge doch seine Verheißungen
nicht vergessen (Jes 62, 6f.). Gott als Geheimnis der Welt aufzuspüren und unser modernes
Leben vor ihm und mit ihm zu verstehen, das ist das Beste und Solidarischste, was wir für
die Welt und die Menschen tun können. Denn nüchtern muss man doch sagen: Das
diakonische Tun nach dem Prinzip der Subsidiarität in unserer Gesellschaft, das können im
Zweifelsfall auch die anderen, wenn es denn bezahlt wird; aber vor Gott treten und beten,
dass können nur wir für die anderen tun. Und diesen stellvertretenden Dienst für die säkular
gewordenen Menschen, dass wir auch mit allerkleinster Zahl für die vielen glauben und
beten solange, bis diese wieder nach Gott fragen, dies halte ich persönlich für eines der
würdigsten Selbst- bzw. Gemeindebilder, die wir als Kirche entwickeln können.
5. Eine weitere Priorität scheint mir aus diesen Überlegungen ableitbar: Wenn wir uns
konzentrieren müssen auf die Räume um das Wort Gottes herum und tatsächlich so immens
viel loslassen und abbauen müssen, dann werden wir wohl auch das Selbstbild einer
flächendeckenden Versorgungskirche umwandeln müssen. Was aber kommt dann? M.E.
gibt eine Kirche Mut zur Hoffnung, die sich auch in der Fläche mit vielleicht unregelmäßig
verteilten „Inseln funktionierenden Kirchlichkeit“ präsentiert. Denn es sollte die Regel gelten:
Lieber einige glaubwürdige Kirchenzentren mit geistlicher Ausstrahlung und überzeugenden
Angeboten als viele unzureichend ausgestattete und inhaltlich erschöpfte Gemeindekirchen.
Für solche Inseln überzeugender Kirchlichkeit kann ich mir dabei zwei Grundformen
vorstellen, die zusammengehören, obwohl sie komplett verschieden aussehen:
a) Zuerst die sog. „kleine Form“, gleichsam der „Tante-Emma-Laden“ um die Ecke, in dem
sich in und um eine Kirche Menschen sammeln, die diese Kirche und ihre Auftrag wichtig
finden. Diese kleine Form funktionierender Kirchlichkeit zentriert sich auf den Erhalt der
Kirche als eine Art „kulturelles Gedächtnis des Glaubens“, weil diese Räume mit all den
Gebeten und Gesängen der Generationen ausgefüllt sind und diese weitergegeben werden
wollen an die nächste Generation. Wie zu anderen Krisenzeiten auch sammeln sich die
Glaubenden gleichsam in ihren „Wehr-Kirchen“, wobei sie sich jetzt nicht gegen Barbaren,
sondern gegen die Bedeutungslosigkeit zur Wehr setzen. Sie versuchen, die Schätze des
Gotteswissen in Kirche und Bibel, in Liturgie und Gebet zu hüten. Wenn man in SchleswigHolstein über Land fährt und all die spirituell starken, wunderschön gestalteten Dorfkirchen
aufsucht, spürt man etwas von der Verpflichtung, diese Orte des Gebetes zu verteidigen und
zu erhalten. Aber auch hier gibt natürlich es ein Loslassen: Denn für diese vielen kleinen
Kirchen wird es wenig Unterstützung aus der Gesamtkirche geben können, weder große
Geldströme für die Bauten noch für die personale Ausstattung; vieles wird einfach und
ehrenamtlich sein müssen. Und vielleicht wird es wieder so etwas wie eine/n
„Visitationspastor/in“ für eine ganze Regionen geben, die wie in alten Zeiten der Klöster nur
gelegentlich die kleinen Kirchen aufsuchen können, nicht nur um Amtshandlungen
vorzunehmen, sondern auch um die Anerkennung der ganzen Kirche auszudrücken, die
Gemeinschaft zu stärken und die Gemeinde zu beraten. Ich glaube wohl, diese „kleinen
Kirchen“ können sehr viel geistliche Ausstrahlung entwickeln, sie sind gerade in ihrer
Schlichtheit überzeugende „Inseln gelungener Kirchlichkeit“, weil sie sich auf das
Kerngeschäft konzentrieren und sich nicht überfordern lassen mit der Erwartung, auch für
Sozialstationen oder Altenheime zuständig sein zu müssen.
b) Daneben aber sollte es auch eine Konzentration auf einige wenige sichtbare „Inseln
funktionierender Kirchlichkeit“ geben. Von den mittelalterlichen Zeiten bis weit hinein ins 19.
Jahrhundert hat es ja eine kirchliche Konzentration auf einige wenige Kirchen in der Mitte der
(Klein-) Städte gegeben; in ihnen haben viele Pastoren Dienst getan, es gab viel `rituelles
Leben` in ihnen (Amtshandlungen) und in zarten Anfängen auch so etwas wie thematische
Angebote. Heute müsste man diese Profilarbeit natürlich sehr viel deutlicher herausstellen,
aber im Prinzip war die Kirche mit diesem Zentralkirchenkonzept auch in den Kleinstädten
oder Stadtteilen nicht überdehnt oder überfordert, sondern konzentrierte sich auf die Zahl
von Kirchen, die sie auch wirklich ordentlich ausstatten und geistlich ausfüllen konnte. Und
heute ist es wohl wieder für die missionarische Kraft und geistliche Ausstrahlung unser
Kirche ein beachtlicher Unterschied, ob man in einer Stadt oder einer städtischen Region
vier, fünf oder gar mehr Kirchen hat, die alle nur schwach ausgestattet sind und halbe, viertel
und geteilte Mitarbeiter/innen aufzuweisen haben oder ob es nur eine oder zwei
Zentralkirchen gibt, in denen ein verlässliches, attraktives und musikalisch-geistlich
intensives Angebot bestehen kann, weil die verbleibenden Kräfte konzentriert sind. Diese
Zentralkirchen übernehmen faktisch eine Art Kathedral- oder Citykirchenrolle in ihrer
jeweiligen Region, dh. keine dieser Kirche kann nur eine reine Gemeinde- und
Versorgungskirche sein. So entsteht ein Art flächendeckendes Zentralkirchenkonzept, dass
die Stärken der Citykirchenarbeit verknüpft mit der Basisnähe der Gemeindekirchen. Woher
aber sollten die neuen Impulse für diese Citykirchenkonzeption kommen? M.E. können durch
eine Erweiterung des klassischen gemeindlichen Versorgungsangebotes um eines der in
den Diensten und Werken herausgebildeten Profile jene Zentralkirchen thematische Kraft
nach innen und missionarisches Profil nach außen gewinnen. Die vielen in den letzten
Jahrzehnten erworbenen Kompetenzen in den Diensten und Werken können einfließen in
die Kirchenarbeit vor Ort, so dass sich sowohl die übergemeindlichen Dienste als auch die
Parochiearbeit verändern und entwickeln können; die einen erhalten größere Basisnähe, die
andere mehr missionarisches Profil. Und kann man sich nicht die Marktkirche in Eutin mit
einem spezifischen bildungspolitischen Profil vorstellen? Oder die Zentralkirche in Husum mit
einem umweltpolitischen Zusatzschwerpunkt? Die Zukunft der Kirche liegt in einer
integrierten Lösung, in der die Profile der übergemeindlichen Dienste und Werke mit der
Realität basisnaher Gemeindearbeit verschmolzen werden und so mit angemessener
Ausstattung eine theologisch profilierte Arbeit entwickeln können.
6. Damit ist das positive Ziel des anstehenden Umsteuerungsprozesses nur erst angedeutet;
er wird sich natürlich aus unendlich vielen kleinen, schweren Entscheidungsschritten
aufbauen müssen. Was aber passiert mit all den anderen unscheinbaren Kirchen auf dem
Lande, in den Städten und Vororten, die das „Pech“ haben, weder jene erhaltungswürdige
Dorfkirche noch solche Inseln funktionierender Zentralkirchlichkeit zu sein? Hier bekommt
das Loslassen seine harte Seite: Viele der jüngeren Stadtkirchen, die nach dem Kriege
erbaut wurden in einem prosperierenden Wiederaufbauland Deutschland mit einer auch aus
schlechtem Gewissen gespeisten Sehnsucht nach nichtnationalistischen Werten sind wohl
nicht zu halten. Und manche kleine Kapelle und unscheinbare Dorfkirche, die kein
Engagement freisetzen kann bei ihren Nachbarn, Gemeinden und Kommunen, werden es
auch schwer haben. Denn nüchtern muss man einsehen: Wir können kaum noch eine Kirche
gegen anhaltendes Desinteresse vor Ort am Leben erhalten! Kirchen oder Gemeinden, die
keine oder nur eine sehr schmale Basis in ihrem Umfeld haben, können nur mit einem
enormen Kraftakt gehalten werden, ein Kraftakt, den wir uns nicht sehr oft leisten können
und der natürlich eine besondere gesamtkirchliche bzw. gesamtregionale Willensbildung
erfordert, - ein nicht eben einfaches Verfahren. Letztlich aber kann bei jenem
Konzentrationsprozess auf die zwei Grundformen der Inseln funktionierender Kirchlichkeit zu
einer Kirche führen, in der beide je auf ihre Weise genau das tun, was unser Auftrag ist:
Gemeinde sammeln um Gottes Wort.
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