Deutsch-Ukrainisches Projekt Regierungsberatung zu Fragen der Reform der Regionalpolitik in der Ukraine (Projektmanager GTZ: Dr. Benedikt Thanner – Projektdirektor: Dr. Wilfried Neumann) BEITRÄGE ZUR POLITIKBERATUNG Nr. 1 Horst Zimmermann ÖKONOMISCHE ASPEKTE EINER TERRITORIALREFORM IN DER UKRAINE Kyjiw, Januar 2004 Autor: Prof. Dr. Dr. h. c. Horst Zimmermann Universität Marburg Abteilung für Finanzwissenschaft Am Plan 2 D-35037 Marburg / Deutschland E-Mail: [email protected] Prof. Zimmermann ist Senior Adviser im Deutsch-Ukrainischen Projekt „Regierungsberatung zu Fragen der Reform der Regionalpolitik in der Ukraine“, in dessen Auftrag dieser „Beitrag zur Politikberatung“ erstellt wurde. Projektbüro: wul. Panassa Myrnoho 26 01011 Kyjiw Ukraine Office-Managerin: Tatjana Moltschanowa Tel./Fax +38 044 254 56 71 E-Mail: [email protected] Horst Zimmermann Gliederung A. Territorialreform und die Reform von Regionalpolitik und interbudgetären Beziehungen B. Territorialreform auf der Mittelebene I. Vorbemerkungen II. Die Orientierung an den Präferenzen III. Argumente zugunsten größerer Einheiten IV. Argumente zugunsten kleiner Einheiten V. Das Erfordernis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit VI. Der Zuschnitt der einzelnen Gebietskörperschaft C. Territorialreform auf der lokalen Ebene I. Vorbemerkungen II. Kriterien für eine kommunale Gebietsreform III. Die Arbeitsteilung zwischen Rayon und Gemeinde IV. Eine spezielle Aufgabe: das flächendeckende Gemeindesystem 3 Horst Zimmermann A. Territorialreform und die Reform von Regionalpolitik und interbudgetären Beziehungen Die Ukraine ist das nach der Fläche und Bevölkerungszahl größte Transformationsland, wenn man von Rußland einmal absieht. In einem so großen Land stellt sich in besonderem Maße die Frage, ob auf der lokalen Ebene und der Mittelebene (Oblast etc.) die richtige Zahl an Gebietskörperschaften vorliegt und ob jede einzelne von ihnen richtig zugeschnitten ist. Die richtige Territorialstruktur ist unter mehreren Zielen wichtig: 1) Vielleicht am wichtigsten ist der Bezug zu den Zielen, die hinter einer Reform der interbudgetären Beziehungen stehen. Wenn diese neu geordnet werden sollen (Welche Aufgaben soll ein Oblast oder eine Gemeinde erfüllen, und welche Einnahmequellen sollen dafür zur Verfügung stehen?), so ist vorweg die gewünschte Territorialstruktur zu schaffen. Dann erst kann man sagen, welche Aufgaben dort erfüllt werden können und sollen. 2) Im öffentlichen Sektor sind private Haushalte und Unternehmen in einem so großen Gebiet wie dem der Ukraine mit öffentlichen Leistungen zu versorgen. Zur Erreichung dieses Ziels dürfen die territorialen Einheiten nicht zu groß sein, sonst sind die Erreichbarkeit und die Bürgernähe gefährdet. Aber zu klein dürfen sie auch nicht sein, weil sonst manche Infrastruktureinrichtungen nicht ausgenützt werden können und weil auf der lokalen Ebene möglicherweise die administrative Kapazität für die Erfüllung einer Aufgabe nicht ausreicht. 3) Mit Blick auf den internationalen Wettbewerb mit anderen Standorten, auch in anderen Staaten, müssen genügend große territoriale Einheiten vorhanden sein, um konkurrieren zu können. Insofern gibt es auch eine enge Verbindung dieser Fragestellung zu den Zielen, die hinter dem Projekt einer Reform der Regionalpolitik stehen. In der Ukraine werden Fragen der Territorialreform im Augenblick intensiv diskutiert. Hier sei verwiesen auf: insbesondere den Gesetzesentwurf "Über die territoriale Verwaltungsordnung der Ukraine", 4 Horst Zimmermann die Neugestaltung der Gebiete für die Finanzverwaltung mit deutlicher Reduzierung der Anzahl (bisher ungefähr ein Amt je Oblast, jetzt weniger als 20; Auskunft Frau Lunina), aber auch akademische Erörterungen (etwa Nudelman 2003). Ob im Jahre 2004, in dem ja Präsidentenwahlen stattfinden, Entscheidungen über die Territorialreform fallen werden, ist fraglich. Folglich ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um die Kriterien und Möglichkeiten für eine Territorialreform, auch im Lichte internationaler Erfahrungen, zunächst einmal grundsätzlich zu reflektieren. Dazu soll dieses Papier beitragen. Es ist stark von ökonomischer Sichtweise geprägt, und deutsche Erfahrungen gehen in besonderem Maße in die Erörterung ein. Letzteres ist derzeit besonders lehrreich, weil in Deutschland eine Neuordnung der interbudgetären Beziehungen ansteht und in diesem Zusammenhang die Neuordnung der Mittelebene, der Bundesländer, erneut diskutiert wird. Gerade am 17.11.2003 hat Finanzminister Hans Eichel gefordert, die Zahl der Bundesländer zu verkleinern, ehe ein neuer Zuschnitt der Aufgabenverteilung in Angriff genommen wird (Eichel 2003; Rau 2003; Burger/Geinitz 2003). Im Folgenden wird getrennt nach der Territorialreform auf der Mittelebene und der Gemeindeebene argumentiert. Zwar kann man einige Kriterien grundsätzlich auf beide Ebenen anwenden, aber bei genauerem Hinsehen unterscheiden sie sich doch. Und die Größenverhältnisse, Einzugsbereiche, möglichen zu erfüllenden Aufgaben unterscheiden sich ohnehin. B. Territorialreform auf der Mittelebene I. Vorbemerkungen Deutschland hat eine lange Tradition der Reformüberlegungen zur Neustrukturierung der Ebene der Bundesländer. In den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland, also unmittelbar nach 1949, gab es zwar etwas Bewegung (es entstand 1952 das Land Baden-Württemberg). Aber der letzte tatsächliche Versuch, die Vereinigung des Landes Brandenburg mit dem Stadtstaat Berlin nach der Wiedervereinigung, scheiterte in der Volksbefragung, und seither gibt es dort lediglich eine gemeinsame Landesplanung der beiden Bundesländer. In den vierzig Jahren dazwischen und in den letzten Jahren gab es nur Gutachten. 5 Horst Zimmermann Immerhin kann man aus dieser langen deutschen Diskussion (zum Überblick s. Ernst 1995) eine Fülle von Aussagen herausfiltern über die Vor- und Nachteile des Nebeneinanders von großen und kleinen Ländern, von Flächenstaaten neben Stadtstaaten (Berlin, Hamburg, Bremen) und von armen und reichen Staaten. Aus diesen Erfahrungen und Aussagen lassen sich einige Kriterien ableiten, die dann auch für andere Länder hilfreich sein können. Sie werden hier in der Weise behandelt, dass neben deutschen und weiteren ausländischen Erfahrungen auch einige Aspekte der Ukraine zur Sprache kommen. Das genauere Eingehen auf die ukrainischen Reformüberlegungen erfolgt aber in einem späteren Papier. Ehe auf die Kriterien eingegangen wird, soll noch eine grundsätzliche Entscheidung angesprochen werden, die in jedem grösseren Land und folglich auch in der Ukraine zu treffen ist. Sie betrifft die Wahl zwischen einem (eher) unitarischen und einem (eher) föderativen Staatsaufbau: 1) Wenn ein weitgehend unitarisches Staatswesen angestrebt wird, handelt die Mittelebene mehr oder weniger nur als ausführendes Organ der Zentralebene. Die Leitung wird man von der Zentralregierung besetzen, und eigene Steuern wird man nicht zuordnen. Eine eigenständige regionale Entwicklungspolitik aus dem Interesse der einzelnen Region wird man folglich nicht erwarten können. In diesem Fall ist der Zuschnitt der Regionsebene (Gesamtzahl, Zuschnitt der einzelnen Regionen) nicht allzu bedeutsam. Man wird vor allem auf optimale Grösse der Verwaltung und auf genügende Erreichbarkeit achten. 2) Wenn hingegen auf Dauer die Mittelebene eines föderativen Staates ins Auge gefasst wird, ist sehr viel grössere Sorgfalt geboten. Dann wird man über die richtigen Aufgaben und die passenden eigenen Steuern dieser Mittelebene nachdenken müssen. Hier wird man auch eine regionale Entwicklungspolitik mit Blick auf die Bedürfnisse der einzelnen Region erwarten können; denn hier tritt die Region als Akteur auf, der von der Bevölkerung bestimmt ist und gewichtige Kompetenzen für eigene Aufgaben und Steuern besitzt. – Wenn eine solche Mittelebene gewollt ist, muss deren Zuschnitt zusätzliche Kriterien erfüllen. Die folgenden Ausführungen zur Mittelebene richten sich auf den zweiten Fall und orientieren sich deshalb zum Teil an den föderativ aufgebauten Staaten, die in der Tabelle 1 aufgeführt sind. Wenn die Ukraine auch in Zukunft unitarisch aufgebaut sein will, so sind nicht alle der im Folgenden erörterten Kriterien gleich bedeutsam. 6 Horst Zimmermann Eingangs wurde von mehreren Zielen gesprochen, unter denen eine Territorialreform angezeigt sein kann. Aus ihnen kann man vier Gruppen von Argumenten ableiten, unter denen dann einzelne Kriterien erscheinen: Zunächst ist zu prüfen, ob die Präferenzen der Bevölkerung sich regional deutlich unterscheiden (Ethnien, Sprachgrenzen usw.; vgl. zum Grundsätzlichen Zimmermann 2003, 2. Kapitel). Es gibt Argumente, die für Mindestgrößen sprechen. Sie beziehen sich vor allem auf Größenvorteile, betreffen aber auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ebenso gibt es Argumente, die für möglichst kleine Einheiten sprechen. Von einer etwas anderen Art sind die Argumente, die dann beim Zuschnitt der einzelnen Gebietskörperschaft Anwendung finden. II. Die Orientierung an den Präferenzen Es gibt zahlreiche Staaten, in denen sehr unterschiedliche Bevölkerungsteile nebeneinander leben. Am bekanntesten ist die Schweiz, wo sich die ethnischen Unterschiede schon darin ausdrücken, dass vier Sprachen (deutsch, französisch, italienisch und rätoromanisch) offiziell zugelassen sind und von denen die ersten drei auch in Wort und Schrift intensiv benutzt werden. Aber auch Großbritannien (mit Schottland und Wales), Belgien (mit flämisch und französisch sprechenden Regionen) oder Spanien (mit Baskenland und Katalonien) sind Beispiele, wo sich die Abgrenzung der staatlichen Untereinheiten zwangsläufig aus den historisch gewachsenen Grenzen zwischen den Ethnien ergibt. Andernfalls könnte ein solches Land auseinanderbrechen. Diese Argumente haben möglicherweise in der Ukraine, wenn man sie mit den genannten Staaten vergleicht, ein vergleichsweise geringeres Gewicht. Sicherlich versteht sich der russisch sprechende Teil der Ukraine als besonderer Ausschnitt des Landes. Das lässt sich vermutlich leicht berücksichtigen, weil es sich zumeist um geschlossene Gebiete handelt, die zudem um wirtschaftliche Zentren gruppiert sind, so dass sich die Regionen zugleich auch unter dem unten zu erörternden wichtigen Entwicklungsziel gut gestalten lassen. Möglicherweise gibt es auch im Westen des Landes Gebiete mit einer starken ethnischen Zusammengehörigkeit. Dann wäre entsprechend auch dort zu verfahren. Insgesamt ist es für eine Territorialreform ein großer Vorteil, wenn wie in der Ukraine die Grenzziehung zwischen den Gebietskörperschaften der Mittelebene nur begrenzt ethnische, 7 Horst Zimmermann sprachliche usw. Grenzen berücksichtigen muss, denn dann kann sie verstärkt ökonomischrationalen Kriterien folgen. Auf der lokalen Ebene sind die ethnischen Unterschiede ohnehin nur beim Zuschnitt der einzelnen Gemeinde zu berücksichtigen, weil die größerräumigen Unterschiede zuvor schon beim Zuschnitt der Mittelebene Eingang gefunden haben. III. Argumente zugunsten größerer Einheiten Jede Infrastruktureinrichtung (Schule, Krankenhaus, Polizeiposten usw.) mit modernem Zuschnitt kann eine bestimmte Zahl von Nutzern versorgen. Deshalb fanden sich immer schon bestimmte Einrichtungen, wie etwa eine Oper oder ein Zoo, nur in größeren Städten. Deshalb teilt man Orte auch nach ihrer Zentralitätsfunktion ein (Blotevogel 2000). Die deutsche Diskussion hierzu war immer sehr präzise, wenn es um die Gemeinde- und Kreisebene ging (s. unten). Für die Bundesländer hingegen stand nicht von vornherein fest, welche Infrastruktureinrichtungen für sie spezifisch sind. In Deutschland steht fest, dass alle Universitäten (mit Ausnahme von zwei Bundeswehrhochschulen) Landeseinrichtungen sind. Das gleiche gilt für die Polizei. Für die Schulen liegen Lehrerbesoldung und Curriculum bei den Ländern, die Bauten bei den Gemeinden. Und die Länderhaushalte enthalten zahlreiche weitere Aufgaben aus verschiedenen Branchen. Aus den entsprechenden Infrastruktureinrichtungen lässt sich also offenbar nicht eindeutig ableiten, wie groß ein Bundesland mindestens sein sollte. Das zweite Argument bezieht sich auf die Größe der Administration. Auf der Gemeindeebene kann man zeigen, dass es hier zweifellos Mindestgrößen gibt. Auf der Mittelebene gilt dies hingegen weniger. Immerhin lassen sich für einige Aufgabenbereiche gewisse Vorteile für größere Länder zeigen (Geppert 1999, S. 226 ff.) 8 Horst Zimmermann IV. Argumente zugunsten kleiner Einheiten Die Argumente im vorangehenden Abschnitt zielten alle in die Richtung, aus technischen Gründen keine zu kleinen Einheiten entstehen zu lassen. Diese auf Infrastruktureinrichtungen bezogenen Überlegungen haben den Vorteil für sich, dass sie sich oft gut in quantitativen Größen ausdrücken lassen. Dadurch erhalten sie in der politischen Entscheidung ein besonders hohes Gewicht: „Was quantifiziert werden kann, wird gemacht“. Daher ist ihnen nunmehr mit Nachdruck ein Satz von Argumenten entgegen zu halten, die in die Gegenrichtung zeigen, also dazu tendieren, möglichst kleine Einheiten zu schaffen. Kleine Einheiten sind für den Bürger überschaubar. Das gilt für die Mittelebene ebenso wie für Gemeinden. Folglich wird durch kleinere Einheiten größere Bürgernähe geschaffen und dafür gesorgt, dass sich der Bürger dem Staatswesen besser verbunden fühlt, sich um die richtige Erfüllung der öffentlichen Aufgaben kümmert, darauf sieht, dass sein Steuergeld sparsam verwendet wird usw. Unter dem Aspekt der Größenvorteile von Infrastruktureinrichtungen hatten sich weiter oben gewisse Vorteile größerer Gebietskörperschaften der Mittelebene gezeigt. Diese Aussage ist unter dem Aspekt der Subsidiarität noch zu relativieren. Dieser Begriff wird in Deutschland und der EU intensiv diskutiert, und man kann ihn so interpretieren: Im Zweifelsfall soll eine Aufgabe unten erfüllt werden. Wenn es zugunsten größerer Einheiten nur diese technischen Vorteile gäbe und man unter anderen Zielen möglichst aber kleine Einheiten schaffen möchte, so lassen sich die technischen Vorteile dennoch nutzen, und zwar durch Kooperation mehrerer Gebietskörperschaften. So können sich in Deutschland mehrere Länder durch Vertrag ein Gericht der höheren Gerichtsbarkeit teilen, und zahlreiche weitere horizontale Kooperationen sind denkbar (Scharpf/Benz 1991; Benz 1993; Bund der Steuerzahler 2003). In diesen Zusammenhang gehört auch das Argument der vertikalen Machtaufspaltung. Es besagt, dass es für einen demokratisch verfassten Staat wichtig ist, dass der immer vorhandenen Macht der Zentralregierung eine Gegenmacht in Form einer starken Mittelebene gegenüberstehen sollte. Man kann argumentieren, dass ein Land von der Größe der Ukraine und erst recht Rußlands keine moderne starke Wirtschaftsmacht werden kann, wenn es keine starke Mittelebene hat (Zimmermann 2003, Schlussteil). Wenn alle Macht von der Zentrale ausgeht, schauen auch unten Alle auf die Hauptstadt und erhoffen von dort Befehle und vor 9 Horst Zimmermann allem Geld. Es ist aber in einem wirtschaftlich modernen Staat wichtig, dass die einzelnen Regionen sich auf ihre eigenen Stärken besinnen und eigenverantwortlich ihre Region entwickeln. Der Zentralstaat sollte nur die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sichern, also die Rechtssicherheit garantieren, die großräumigen Verkehrsverbindungen schaffen usw. Dies führt auf ein weiteres Argument: V. Das Erfordernis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Um das zuvor angesprochene Ziel zu erreichen, dass nämlich die einzelnen Regionen ihre eigene Entwicklung in die Hand nehmen, sollte die einzelne Region groß genug sein, damit sie eine genügende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Gesamtraum hat, um im interregionalen Wettbewerb bestehen zu können (vgl. die Ziele im Gesetzentwurf „Über die Förderung der Regionalentwicklung“). Dazu kommt, dass man wirtschaftlich schwache Räume, wenn sie an wirtschaftsstarke angrenzen, nicht gern zu eigenständigen Gebietskörperschaften machen möchte, wenn sie sich nicht eigenständig entwickeln können. Sie wären dann zumindest mittelfristig auf Transfers angewiesen. Hingegen sinkt bei einer Zusammenlegung armer Regionen mit reichen Regionen das Volumen des horizontalen Finanzausgleichs, und das entlastet politisch auf lange Sicht. Allerdings sollte man dieses Argument, ob eine Region finanziell selbsterhaltend ist, nicht sehr stark gewichten. Wenn man dies als Selbstzweck ansieht, kann es zu sehr seltsamen Regionskonstruktionen kommen, die den anderen Kriterien nicht entsprechen. Ohnehin kann man schwache Regionen, die fernab von wirtschaftsstarken liegen, nicht in dieser Weise anbinden, so dass es in jedem Fall in einem Staat Gebiete gibt, die dauerhaft durch Zuweisungen unterstützt werden müssen. Wenn sie äußerst dünn besiedelt sind und in klimatisch sehr ungünstigen Landesteilen liegen, wie dies für etliche Räume im Norden Rußlands gilt, wird man sogar an eine Unterstützung der Abwanderung und ein planvolles „Absiedeln“ denken. Diese Fälle scheinen aber glücklicherweise in der Ukraine nicht zu bestehen. Die Bestimmung einer Mindestgröße unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Entwicklungsfähigkeit ist allerdings nicht einfach. Am besten ist es, sich die vorhandenen 10 Horst Zimmermann wirtschaftlichen Zentren anzusehen und zu prüfen, ob sich auf dieser Basis eine flächendeckende Aufteilung des Staates herstellen lässt. In der Ukraine gibt es eine gewisse Zahl regionaler wirtschaftlicher Zentren, die man als Ausgangspunkt der Überlegungen wählen könnte. Dazu gehört vorweg der Ballungsraum um Kiew, der Raum um Donezk usw. Genauere Festlegungen können nur in spezieller Kenntnis der regionalen Besonderheiten erfolgen und werden in einem späteren Diskussionspapier erörtert werden. Abschließend sei darauf verwiesen, dass ein Land durchaus eine große wirtschaftliche Zukunft haben kann, wenn die Regionen der Mittelebene sehr klein sind, wie in der Schweiz, oder wenn sehr große und sehr kleine Gebietskörperschaften nebeneinander bestehen, wie in den USA, wo es neben dem riesigen Kalifornien das winzige Rhode Island und andere sehr kleine States gibt (vgl. Tabelle 1). Und wenn in Deutschland eine Zusammenlegung von Bundesländern gefordert wird, so kann man dem – außer den Beispielen der vorgenannten Staaten – auch entgegenhalten, dass Deutschland ebenfalls ein sehr hohes Pro-KopfEinkommen erzielt hat, obwohl die Bundesländer sehr große Unterschiede aufweisen. Wenn man aber wie in der Ukraine eine Territorialreform sozusagen auf dem Reißbrett entwerfen und politisch durchsetzen könnte, so würde man die Zahl nicht zu groß werden lassen wollen. Mit 27 Einheiten liegt die Zahl sicherlich recht hoch (vgl. Tabelle 1). Dies gilt jedenfalls bezogen auf die Bevölkerung, während bezogen auf die Fläche die Größe der ukrainischen Regionen der durchschnittlichen Größe der Länder Deutschlands entspricht. Und in Deutschland spricht niemand von einer wünschenswerten größeren Zahl, sondern nur von einer Verkleinerung. Von dieser vorweg zu entscheidenden Gesamtzahl hängt es dann naturgemäß ab, welchen Zuschnitt die einzelne Gebietskörperschaft erhält. 11 Horst Zimmermann VI. Der Zuschnitt der einzelnen Gebietskörperschaft Wie die einzelne Region (Bundesland, Oblast) aussehen soll, kann man nur begrenzt in abstrakter Weise diskutieren. Nach dem vorher Gesagten ist klar, dass sie das Umland der jeweiligen wirtschaftlich stärksten Stadt umfassen soll. Und das gleiche gilt für die kleineren Zentren innerhalb der Region. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung die wirtschaftlichen Aktivitäten nach außen drängen. Daher sollte man den möglichen späteren Ballungsrand bereits heute in die Region integrieren. Eine gesonderte Diskussion erfordern sog. Stadtstaaten wie Kiev oder Sewastopol in der Ukraine, ebenso wie Berlin, Hamburg und Bremen in Deutschland. Sie zerschneiden in der Regel das entsprechende Ballungsgebiet, auch wenn es früher vielleicht einmal eingeschlossen gewesen sein mag. Außerdem sind dies in der Regel kleine regionale Einheiten, die eine dementsprechend große Verwaltung, pro Kopf gerechnet, erfordern. Eine Ausnahme könnte die Hauptstadt darstellen, falls sich die Staatsregierung an ihrem Regierungssitz nicht dem politischen Willen einer Regionsregierung unterwerfen will. Deshalb ist beispielsweise Washington, D.C., kein normaler "State" mit eigenen Rechten (home rule), sondern wird in manchen Funktionen von einem Kongressausschuss bestimmt. C. Territorialreform auf der lokalen Ebene I. Vorbemerkungen Wie zuvor schon angedeutet, lassen sich viele der zuvor angestellten Überlegungen mit etwas Modifikation auch auf die lokale Ebene übertragen. Das gilt insbesondere für die anzulegenden Kriterien. Auch zur gemeindlichen Gebietsreform hat Deutschland eine lange Tradition mit viel grundsätzlichen Argumentationen (zum Überblick s. Münzer 1995). So wurde in den 1970er Jahren die Zahl der Gemeinden von 24 000 auf 8500 reduziert, und nach der Wiedervereinigung 1990 wurde in den neuen Bundesländern ähnlich verfahren. II. Kriterien für eine kommunale Gebietsreform 12 Horst Zimmermann Wie schon erwähnt, ist die Berücksichtigung der Präferenzen, etwa ethnischer Art, hier nicht so wichtig, weil diese sich meist nicht so kleinräumig unterscheiden. Dafür haben andere Kriterien ein umso größeres Gewicht. Dies gilt insbesondere für die Frage der Größenvorteile (economies of scale). Viele Infrastruktureinrichtungen in den typischen gemeindlichen Aufgabenbereichen sind, wenn sie modern ausgelegt sind, größer als man sich die einzelne Gemeinde, insbesondere im ländlichen Bereich, unter den anderen Kriterien wünscht. Dies gilt beispielsweise für die Abwasser- und Abfallbehandlung, aber auch für Schulen mit Abitur oder für die Feuerwehr. Statt mit Blick auf diese Einrichtungen sehr große Gemeinden zu bilden, sollte hier das bewährte Instrument der Zweckverbände gewählt werden. Gegen sehr große Gemeinden sprechen nämlich mindestens zwei Gründe. Der eine ist die Erreichbarkeit. Auf sie ist insbesondere in dünn besiedelten Räumen zu achten. Der andere Grund liegt darin, dass in einer Gemeinde der Bürger am ehesten lernen kann, mit den öffentlichen Finanzen verantwortlich umzugehen, weil er sieht, für welche Zwecke "sein" Geld verwendet wird. Die Bürgernähe und damit auch die Demokratie wird am ehesten "unten" gelernt, und dafür dürfen diese Einheiten nicht zu groß gewählt werden, sondern sollen überschaubar bleiben. Beim Zuschnitt der einzelnen Gemeinde bilden die Ballungsregionen weltweit eine besondere Schwierigkeit. Eigentlich möchte man eine Kernstadt und ihr Umland (gemessen an den Entfernungen für die täglich pendelnden Beschäftigten) in einer Gemeinde vereinigen. Beim üblichen zentralen Ort eines Landkreises ist das auch möglich. Das hat den Vorteil, dass im Gesamtraum dieser Gemeinde über die Flächenfreihaltung, eine Bündelung der Gewerbeansiedlung in einem attraktiven Gewerbegebiet usw. gesamthaft entschieden werden kann. In Ballungsgebieten ist das nicht möglich. Daher wird man dort u. U. zusätzlich zu den Ebenen der Kreise und Gemeinden ein Regions-Regime besonderer Art einführen, für das es mehrere Modelle gibt. Im übrigen ist bei dem Zuschnitt der Gemeinden der Zuschnitt der Kreise (rayons) gleichzeitig zu entscheiden, weil dann eine Aufgabenverteilung zwischen beiden Ebenen möglich ist. III. Die Arbeitsteilung zwischen Rayon und Gemeinde 13 Horst Zimmermann Großflächige Staaten weisen zusätzlich zu ihren Gemeinden eine Ebene der Landkreise (rayons) auf. Diese waren in Deutschland nach 1949 oft mit einem Parlament versehen, das aus von den Gemeinden delegierten Abgeordneten bestand. Seit langem werden die Abgeordneten aber direkt gewählt, und zunehmend gilt dies auch für die Landräte als die Spitze des Landkreises. In der Ukraine haben die Rayons noch keine demokratisch legitimierte Verwaltung (Exekutive). Wegen der Größe des Landes ist dies aber sicherlich sinnvoll, denn die Zentralregierung kann nicht effizient die Bedürfnisse in jedem einzelnen Rayon abschätzen. Es ergäbe sich dann nach einer Reform insgesamt ein System (siehe Abbildung 1), in dem große Städte zugleich Gemeinde und Rayon sind, während in den übrigen Räumen "kreisangehörige" Gemeinden mit ihrem jeweiligen Rayon die Bürger versorgen. Sollten Stadtstaaten vorgesehen sein (s. oben), so würden sie gleichzeitig die Aufgaben von drei Ebenen (Bundesland, Kreis, Gemeinde) erfüllen, die entsprechenden Einnahmen erhalten usw. Die Voraussetzungen in der Ukraine sind besser als beispielsweise in Rußland. Dort wird ein flächendeckendes System von Gemeinden unterhalb des Rayons derzeit überhaupt erst eingeführt. In der Ukraine müssten die Rayons selbst lediglich mit eigenen Haushaltsbefugnissen versehen werden. Unterhalb des Rayons erscheinen die Verhältnisse allerdings noch als äußerst unbefriedigend. IV. Eine spezielle Aufgabe: das flächendeckende Gemeindesystem Wenn in der Ukraine eine Territorialreform auf der kommunalen Ebene ansteht, ist es sinnvoll, die bestehende Struktur mit der einiger anderer Länder zu vergleichen. Tabelle 2 zeigt, dass die Ukraine, wenn man die ländlichen Siedlungspunkte, in denen nicht gewählt wird, herauslässt, bereits jetzt eine normale Ausstattung mit kommunalen Einheiten aufweist. Allerdings gibt es in der Ukraine eine Besonderheit, die in entwickelten Ländern vielleicht einmalig ist: Über 90% der Landesfläche liegen außerhalb der verfassten Gemeinden (Svindland 2003, S. 3). Das wäre nicht schwierig, wenn es sich um kaum bewohnte Gebiete wie im Norden Rußlands oder in den Bergregionen der USA handelte. Aber offenbar finden sich in der Ukraine dort große Teile der wirtschaftlichen Aktivitäten. Deren Steuerbasis fehlt 14 Horst Zimmermann dann in den verfassten Gemeinden. Die Leistungen dieser Gemeinden werden aber dennoch von den "außerhalb" Arbeitenden in Anspruch genommen werden. Wahrscheinlich ist eine gute Territorialreform auf der lokalen Ebene in der Ukraine nicht möglich, wenn dieses Sonderproblem nicht vorher gelöst worden ist. Abschließend zu diesem Papier wird nochmals darauf hingewiesen, dass hier nur ökonomisch-grundsätzlich argumentiert wurde. Konkrete Aussagen zu ukrainischen Vorhaben sind einem späteren Papier vorbehalten. 15 Horst Zimmermann Tabelle 1: Gebietskörperschaften der Mittelebene in verschiedenen Staaten Land USA, States Deutschland, Länder Rußland, Subjekte d. Föd. Ukraine, Oblasts etc. Anzahl Bevölkerung in 1000 50 Insgesamt 255 100 Durchschnitt 5 102 größte 30 867 (Calif.) kleinste 466 (Wyom.) 16 Insgesamt 82 160 Durchschnitt 5 135 größte 17 984 (Nordrh.-W.) kleinste 666 (Bremen) 89 Insgesamt 143 300 Durchschnitt 1 610 größte 10 358 (Stadt Moskau) kleinste 183 (Magadan) 27 Insgesamt 50 106 Durchschnitt 1 856 größte 5 008 (Donezk) kleinste 392 (Sewastopol) Fläche in 1000 qkm Insgesamt 9 800 Durchschnitt 196 größte 1 700 (Alaska) kleinste 4 (Rhode I.) Insgesamt 352 Durchschnitt 22 größte 71 (Bayern) kleinste 0.4 (Bremen) Insgesamt 17 075 Durchschnitt 192 Insgesamt 604 Durchschnitt 22 größte 33 (Kiew) kleinste 0.8 (Odessa) Quellen: USA: Statistical Abstract of the United States 1993, S. 28, 217. Deutschland: Statistisches Jahrbuch 2001 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 46. Rußland: Eigene Berechnungen aus GTZ-Projekt. Ukraine: Brockhaus in fünf Bänden, 9. Aufl., Leipzig-Mannheim 2000, S. 4774. Tabelle 2: Lokale Gebietskörperschaften (gewählt) in verschiedenen Staaten USA Deutschland Rußland Ukraine 1 Lokale Gebietskörperschaften , absolute Zahl per 1 Million Einwohner per 1000 qkm Einwohner je Gebietskörperschaft qkm je Gebietskörperschaft 35 962 140 4 8 230 273 14 930 182 42 5 500 24 31 000 216 1.8 4 623 551 12 000 239 20 4 175 50 Quellen: USA: Statistical Abstract of the United States 1993, S. 8, 309. Deutschland: Statistisches Jahrbuch 2001 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 198, 201. Rußland: Eigene Berechnungen aus GTZ-Projekt. Ukraine: s. Tabelle 1; Statistisches Jahrbuch der Ukraine 2002, Kiew 2003, S. 30, 392 (Es wird angenommen, dass außer in den „Ländlichen Siedlungspunkten“ überall gewählte Räte bestehen). 1 Alle Einheiten unterhalb der Mittelebene, d. h. kreisfreie Städte, Landkreise und kreisangehörige Gemeinden. 16 Horst Zimmermann Januar 2004 Abbildung 1: Schema der territorialen Gliederung in der Ukraine und in Deutschland Регіони (“Bundesländer”) Крим, області Krim, Oblaste („Flächenländer“) Районы Киев, Севастополь Kiew, Sewastopol („Stadtstaaten“) Міста обласного значення Rayons („Landkreise“) Адміністративні одиниці Міста районного значення Verwaltungseinheiten Städte mit Rayonbedeutung міські сільські städtisch ländlich Städte mit Oblastbedeutung, z. B. Oblastzentren („kreisfreie Städte“) „kreisangehörige Gemeinden“ (einschließlich kreisangehörige Städte) 17 Районы Rayons („Stadtbezirke“) Horst Zimmermann Literatur Benz, A., 1993, Neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, in: Materialien zur Fortentwicklung des Föderalismus in Deutschland, Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Arbeitsmaterial, Bd. 200, Hannover, S. 116-144. Blotevogel, H., Hrsg., 2002, Fortentwicklung des Zentrale-Orte-Systems, Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 217, Hannover. Bund der Steuerzahler Rheinland-Pfalz, 2003, Gutachten zu Länderkooperationen, Mainz. Burger, R., und Geinitz, C., 2003, Mitten in Deutschland: Länderfusion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2003, S. 3. Ernst, W., 1995, Länderneugliederung, in: Handwörterbuch der Raumordnung, Hannover, S. 570-576. Eichel, H., 2003, Zeitungsinterview, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 11., S. 11. Geppert, K., 1999, Länderneugliederung als Beitrag des öffentlichen Sektors zur Effizienzsteigerung, in: Fiskalische Krise: Räumliche Ausprägungen, Wirkungen und Reaktionen, Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 209, Hannover, S. 220-240. Gesetz der Ukraine "Über die territoriale Verwaltungsordnung der Ukraine", Projekt, Manuskript, ohne Ort und Jahr. Münzer, E., 1995, Gebietsreform, in: Handwörterbuch der Raumordnung, Hannover, S. 365370. Nudelman, W., 2003, Verbesserung der administrativ-territorialen Gliederung der Ukraine, Manuskript, Oktober 2003. Rau, J., 2003, Rau: Vierzehn Wahlen ein Unglück für die Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2003, S. 2. Scharpf, F. W., und Benz, A., 1991, Kooperation als Alternative zur Neugliederung, BadenBaden. Svindland, E., 2003, Ansätze einer lokalen Verwaltungsreform in der Ukraine mit Bezug zum Oblast Ternopil, Manuskript. Zimmermann, H., 2003, Munizipalnye Finansy, Moskau 2003 (deutsch: Kommunalfinanzen, Baden-Baden, 1999). 18