MuenchKommVVGPara6

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§ 6 Beratung des Versicherungsnehmers
(1) Der Versicherer hat den Versicherungsnehmer, soweit nach der
Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu beurteilen, oder der Person
des Versicherungsnehmers und dessen Situation hierfür Anlass besteht,
nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu befragen und, auch unter
Berücksichtigung
eines
angemessenen
Verhältnisses
zwischen
Beratungsaufwand und der vom Versicherungsnehmer zu zahlenden
Prämien, zu beraten sowie die Gründe für jeden zu einer bestimmten
Versicherung erteilten Rat anzugeben. Er hat dies unter Berücksichtigung
der
Komplexität
des
angebotenen
Versicherungsvertrags
zu
dokumentieren.
(2) Der Versicherer hat dem Versicherungsnehmer den erteilten Rat und
die Gründe hierfür klar und verständlich vor dem Abschluss des Vertrags
in Textform zu übermitteln. Die Angaben dürfen mündlich übermittelt
werden, wenn der Versicherungsnehmer dies wünscht oder wenn und
soweit der Versicherer vorläufige Deckung gewährt. In diesen Fällen sind
die
Angaben
unverzüglich
nach
Vertragsschluss
dem
Versicherungsnehmer in Textform zu übermitteln; dies gilt nicht, wenn
ein Vertrag nicht zustande kommt und für Verträge über vorläufige
Deckung bei Pflichtversicherungen.
(3) Der Versicherungsnehmer kann auf die Beratung und Dokumentation
nach den Absätzen 1 und 2 durch eine gesonderte schriftliche Erklärung
verzichten, in der er vom Versicherer ausdrücklich darauf hingewiesen
wird, dass sich ein Verzicht nachteilig auf seine Möglichkeit auswirken
kann, gegen den Versicherer einen Schadensersatzanspruch nach Absatz 5
geltend zu machen.
(4) Die Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 besteht auch nach
Vertragsschluss während der Dauer des Versicherungsverhältnisses,
soweit für den Versicherer ein Anlass für eine Nachfrage und Beratung
des Versicherungsnehmers erkennbar ist. Der Versicherungsnehmer kann
im Einzellfall auf eine Beratung durch schriftliche Erklärung verzichten.
(5) Verletzt der Versicherer eine Verpflichtung nach Absatz 1, 2 oder 4, ist
er dem Versicherungsnehmer zum Ersatz des hierdurch entstehenden
Schadens verpflichtet. Dies gilt nicht, wenn der Versicherer die
Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(6) Die Absätze 1 bis 5 sind auf Versicherungsverträge über ein
Großrisiko im Sinn des Artikels 10 Abs. 1 Satz 2 des Einführungsgesetzes
zum Versicherungsvertragsgesetz nicht anzuwenden, ferner dann nicht,
wenn der Vertrag mit dem Versicherungsnehmer von einem
Versicherungsmakler vermittelt wird oder wenn es sich um einen Vertrag
im Fernabsatz im Sinn des § 312b Abs. 1 und 2 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs handelt.
2
Schrifttum: Armbrüster, Aktuelle Rechtsfragen der Beratungspflichten von
Versicherern und Vermittlern (§§ 6, 61 VVG), 2009; ders., Beratungspflichten
des Versicherers nach § 6 VVG n.F.: Grundlagen, Reichweite, Rechtsfolgen,
ZVersWiss 2008, 425; Blankenburg, Verzicht auf Beratung und
Informationsrecht nach dem neuen VVG, VersR 2008, 1446;
Dörner/Staudinger, Kritische Bemerkungen zum Referentenentwurf eines
Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, WM 2006, 1710; Franz,
Das Versicherungsrecht im neuen Gewand – die Neuregelungen und
ausgewählte Probleme, VersR 2008, 298; Leverenz, Anforderungen an eine
„gesonderte Mitteilung“ nach dem VVG 2008 VersR 2008, 709; E. Lorenz, Die
„gewohnheitsrechtliche Erfüllungshaftung“ des Versicherers im bisherigen und
im zukünftigen Versicherungsvertragsrecht, in FS Canaris, 2007, S. 757;
Miettinen, Information und Beratung – oder doch lieber Aufklärung, VersR
2005, 1629; Niederleithinger, Auf dem Weg zu einer VVG-Reform – Zum
Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts,
VersR 2006, S. 437; Pohlmann, Viel Lärm um nichts – Beratungspflichten
nach § 6 VVG und das Verhältnis zwischen Beratungsaufwand und Prämie,
VersR 2009, 327; Reiff, Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, 2006;
Römer, Zu ausgewählten Problemen der VVG-Reform nach dem
Referentenentwurf vom 13. März 2006 (Teil I), VersR 2006, 740; Stöbener,
Informations- und Beratungspflichten des Versicherers nach der VVG-Reform,
ZVersWiss 2007, 465; Wandt, in: Halm/Engelbrecht/Krahe, Handbuch des
Fachanwalts, Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 265 ff; Werber, Information und
Beratung des VN vor und nach Abschluss des Versicherungsvertrags, VersR
2007, 1153; ders., § 6 VVG 2008 und die Haftung des Versicherers für
Fehlberatung durch Vermittler, VersR 2008, 285.
Zur Rechtslage vor Inkrafttreten von § 6: Armbrüster, Informations- und Beratungspflichten
des Versicherers bei bestehendem Versicherungsverhältnis, in: FS Schirmer, 2005, S. 1; ders.,
Zur Verantwortung für die Festlegung des bedarfsgerechten Versicherungswertes in der
Gebäudeversicherung,
VersR
1997,
931;
Dörner,
Versicherungsrechtliche
Aufklärungspflichten, in: E. Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2000: Aufklärungspflichten, S.
39; ders., Rechtsfolgen einer Verletzung vorvertraglicher Aufklärungs- und
Informationspflichten durch den Versicherer – Neue Aspekte, in FS E. Lorenz zum 70.
Geburtstag, 2004, 195; Fausten, Ansprüche des VN aus positiver Vertragsverletzung, 2003;
ders., Auskunfts- und Beratungspflichten des Versicherers im Leistungsfall bzw. Bei der
Schadensregulierung, VP 2007, 126; ders., Informationspflichten des Versicherers gegenüber
dem VN bei Änderung oder Neueinführung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen, VuR
2003, 366; Heiss, Grund und Grenzen der Aufklärungspflicht des Versicherers, ZVersWiss
2003, 339; Hoffmann, St., Verbraucherschutz im deutschen Privatversicherungsrecht nach dem
Wegfall der Vorabkontrolle Allgemeiner Versicherungsbedingungen, 1998; Ihle, Der
Informationsschutz des VN, 2006, Kieninger, Aufklärungspflichten bei fremdfinanzierter
Lebensversicherung als Kapitalanlage, NversZ 1999, 118; dies., Informations-, Aufklärungsund Beratungspflichten beim Abschluss von Versicherungsverträgen, AcP 199 (1999), 190;
Klimke, Die Hinweispflicht des Versicherers bei Einführung neuer AVB, NVersZ 1999, 449;
Mauntel,
Bedarfsund
produktbezogene
Beratung
beim
Abschluss
von
Lebensversicherungsverträgen, 2001; Römer, Die Informationspflichten der Versicherer, 1998;
ders., Zu den Informationspflichten der Versicherer und ihrer Vermittler, VersR 1998, 1313;
ders., Informationspflichten in der Rechtsprechung des BGH, in: Basedow u.a. (Hrsg.):
Anleger- und objektgerechte Beratung – Private Krankenversicherung – Ein Ombudsmann für
Versicherungen, VersWissStud Band 11, 1999, S. 23; Schirmer, Beratungspflichten und
Beratungsverschulden der Versicherer und ihrer Agenten, Teil I, RuS 1999, 133; Schwintowski,
Anleger- und objektgerechte Beratung in der Lebensversicherung, VuR 1997, 83.
3
Übersicht
I.
Normzweck .............................................................................................................. 1
II.
Überblick ................................................................................................................. 8
III.
Anwendungsbereich ............................................................................................... 16
1. Persönlicher Anwendungsbereich .................................................................... 16
2. Sachlicher Anwendungsbereich........................................................................ 19
3. Zeitlicher Anwendungsbereich ......................................................................... 20
IV.
Vorvertragliche Beratungspflichten (Abs. 1) ......................................................... 22
1. Pflichtentrias..................................................................................................... 22
a) Beratungspflicht ........................................................................................... 23
b) Begründungspflicht ...................................................................................... 24
c) Dokumentationspflicht ................................................................................. 25
2. Beratungsanlass ................................................................................................ 26
a) Anlassrechtsprechung ................................................................................... 27
b) Fallgruppem ................................................................................................. 33
3. Erkennbarkeit des Anlasses .............................................................................. 87
4. Die Pflichten im Einzelnen ............................................................................... 91
a) Fragepflicht .................................................................................................. 91
b) Beratungspflicht ........................................................................................... 98
c) Begründungspflicht .................................................................................... 117
d) Dokumentationspflicht ( Abs. 1 Satz 2, Abs. 2) ......................................... 119
5. Grenzen der Beratungspflicht ......................................................................... 142
a) Überblick.................................................................................................... 142
b) Verhältnis von Beratungspflicht und Prämien............................................ 143
c) Weitere Zumutbarkeitsaspekte ................................................................... 152
d) Sachkunde des VN ..................................................................................... 160
6. Verzicht auf Beratung und Dokumentation (Abs. 3) ...................................... 162
a) Normzweck ................................................................................................ 162
b) Europarechtskonformität ............................................................................ 165
c) Wirksamkeit des Verzichts ......................................................................... 167
d) Verzichtserklärung ..................................................................................... 174
e) Schriftformerfordernis ................................................................................ 177
f) Gesonderte Erklärung ................................................................................. 178
g) Hinweis auf Nachteile ................................................................................ 179
7 Fallgruppen .................................................................................................... 182
a) Überblick.................................................................................................... 182
b) Produktbezogene Beratungspflichten ......................................................... 183
c) Beratung über die Rechtslage ..................................................................... 198
4
d) Beratung zur Ermittlung des Deckungsbedarfs .......................................... 203
V.
Beratungspflichten während der Vertragslaufzeit (Abs. 4) .................................. 219
1. Normzweck .................................................................................................... 219
2. Erkennbarer Anlass ........................................................................................ 221
a) Überblick.................................................................................................... 221
b) Schwierigkeit, die Versicherung zu beurteilen ........................................... 223
c) Person des VN und dessen Situation .......................................................... 232
d) Veränderung erheblicher Umstände ........................................................... 233
3. Umfang der Beratungspflicht ......................................................................... 240
a) Überblick.................................................................................................... 240
b) Grenzen ...................................................................................................... 243
4. Art und Weise der Beratung ........................................................................... 247
5. Fallgruppen .................................................................................................... 248
a) Tatsächliche Änderung des Deckungsbedarfs ............................................ 248
b) Änderung oder Neueinführung von AVB .................................................. 255
c) Änderung der Rechtslage ........................................................................... 263
d) Rechte und Obliegenheiten des VN ........................................................... 270
6. Verzicht (Abs. 4 Satz 2) ................................................................................. 295
VI.
Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung ................................................................... 298
1. Schadensersatz (Abs. 5) ................................................................................. 298
a) Normzweck ................................................................................................ 298
b) Haftungsbegründung .................................................................................. 299
c) Haftungsausfüllung..................................................................................... 310
2. Gewohnheitsrechtliche Erfüllungshaftung ...................................................... 332
3. Weitere Rechtsfolgen ..................................................................................... 335
4. Verjährung...................................................................................................... 343
VII.
Bereichsausnahmen (Abs. 6) ................................................................................ 345
1 Großrisiken (Fall 1) ........................................................................................ 345
a) Normzweck ................................................................................................ 345
b) Großrisiko .................................................................................................. 346
2. Vermittlung durch Makler (Fall 2) ................................................................. 347
a) Normzweck ................................................................................................ 347
b) Makler ........................................................................................................ 348
c) Vermittlung ................................................................................................ 350
d) Reichweite der Bereichsausnahme ............................................................. 352
3. Fernabsatzverträge (Fall 3) ............................................................................. 353
a) Normzweck ................................................................................................ 353
b) Fernabsatzvertrag ....................................................................................... 355
c) Reichweite der Bereichsausnahme ............................................................. 359
5
VIII.
Darlegungs- und Beweislast ................................................................................. 363
1. Überblick ........................................................................................................ 363
2. Einzelheiten .................................................................................................... 364
IX.
Verhältnis zu anderen Normen ............................................................................. 368
1. Informationspflicht nach § 7........................................................................... 368
2. Beratungspflicht von Vermittlern (§§ 60 ff.) .................................................. 369
3. Beratungspflicht aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) ................................... 370
a) Grundsatz ................................................................................................... 370
b) Bereichsausnahmen .................................................................................... 371
c) Beendeter Vertrag ...................................................................................... 372
4. Allgemein-zivilrechtliche Schadensersatzhaftung (§ 280 Abs. 1 BGB) ........ 374
*
I.
Normzweck
#1#
Die Beratungspflichten des § 6 VVG sollen dem individuellen Beratungsbedarf des VN im
Einzelfall Rechnung tragen. Es geht damit um einen Bedarf, der von den generellen
Mindestinformationen des § 7 i.V.m. der VVG-InfoV nicht ausreichend gedeckt werden kann
(zum Zweck von Informations- und Beratungspflichten allgemein s. Vor §§ 6, 7 Rdn. * 1 ff.).
#2#
Der Gesetzgeber begründet die Kodifizierung der Beratungspflicht damit, ein funktionsfähiger
Wettbewerb zwischen Versicherern setze voraus, „dass die VN ihre Entscheidung auf der
Grundlage einer rationalen Auswahl aus den unterschiedlichen Versicherungsangeboten treffen
können.“1 Diese rationale Entscheidungsgrundlage soll durch Informationen über das jeweils
angebotene Versicherungsprodukt und durch eine angemessene Beratung geschaffen werden.
Der VN soll durch Information und Beratung in die Lage versetzt werden, seinen
Versicherungsbedarf selbst zu beurteilen und unter den verschiedenen Angeboten die seinen
Bedürfnissen entsprechende Versicherung auszuwählen.
#3#
Die Kodifizierung einer den Versicherer treffenden Beratungspflicht steht im Zusammenhang
mit der kurz vor der VGG-Reform erfolgten Umsetzung der europäischen Vermittlerrichtlinie.2
Die zunächst in § 42c a.F. und nunmehr in § 61 enthaltene Beratungspflicht des Vermittlers
wird durch § 6 weitgehend wortgleich, jedoch auch mit wichtigen Unterschieden, auf den
Versicherer erstreckt. Die Vermittlerrichtlinie regelt allein die Vermittlerpflichten. Sie führte
u.a. eigene Pflichten des Versicherungsvertreters gegenüber dem VN ein, obwohl der Vertreter
1
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 47. Ähnlich 23. Erwägungsgrund der
Richtlinie 92/96 (Dritte Richtlinie Lebensversicherung).
2 Vgl. Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 48.
6
nicht Vertragspartei des Versicherungsvertrags ist.3 Der deutsche Gesetzgeber hat diese
Pflichten über die Richtlinienvorgaben hinausgehend auf eine Beratung des VN erstreckt (s. zu
dieser überschießenden Umsetzung Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Um nun dem Vermittler keine
umfangreicheren Pflichten aufzuerlegen als dem Versicherer, zugleich aber eine konsistente
Gesamtregelung zu erreichen und sachlich nicht begründbare Unterschiede zu vermeiden, hat
der Gesetzgeber die Vermittlerpflichten in § 6 auf den Versicherer erstreckt.4
#4#
Da die Ausgestaltung der Pflichten des Versicherers nicht durch die Vermittlerrichtlinie
vorgezeichnet ist, sind Abweichungen von den für Vermittler in jener Richtlinie enthaltenen
Vorgaben – wie etwa beim Verzicht des VN auf eine Beratung durch den Versicherer nach § 6
Abs. 1 Satz 2 (s. Rdn. *) – ohne weiteres zulässig.5 Auch ansonsten bestehen derzeit keine
Richtlinienvorgaben, an denen § 6 zu messen wäre. Freilich kann das Interesse an einer
einheitlichen Auslegung von § 6 und § 61 dazu führen, dass Vorgaben der Vermittlerrichtlinie
sich mittelbar auch auf die Anwendung von § 6 auswirken.
#5#
Bereits bei der Schaffung von § 42c a.F. ging es dem Gesetzgeber neben der Umsetzung der
Vermittlerrichtlinie und der Ausweitung der Pflichten auf den Versicherer um die
Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung.6 Schon zuvor wurden nämlich anlassbezogene
Aufklärungspflichten aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) hergeleitet (s.
Vor §§ 6, 7 Rdn. *).
#6#
Der Gesetzgeber hat in § 6 auf die Begründung einer darüber hinausgehenden spontanen
Aufklärungs- oder Beratungspflicht, z.B. über alle für die Entscheidung des VN wichtigen
Einzelheiten des angebotenen Vertrags über die speziellen Pflichten aus § 7 Abs. 1, 2 hinaus,
verzichtet.7 Vielmehr stellt er in Abs. 1 wie bereits zuvor die Judikatur auf einen die
Beratungspflicht auslösenden Anlass ab (näher Rdn. *ff.). Dies verdient Zustimmung, da eine
anlassunabhängige Beratungspflicht über das Ziel, dem VN eine eigenverantwortliche
Entscheidung zu ermöglichen, hinausginge und eine Überregulierung darstellte.8 Der
Gesetzgeber hat damit jenen Stimmen in der Literatur eine Absage erteilt, die sich vor der
Reform für umfassende Beratungspflichten oder zumindest über die sog.
Anlassrechtsrechtsprechung (zu ihr s. Rdn. *) hinausgehende Pflichten ausgesprochen haben,
3
Zur sehr begrenzten Haftung von Versicherungsvertretern nach altem Recht
vgl. Kieninger VersR 1998, 5, 11; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 42-46.
4 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 48; Abschlussbericht S. 14; Römer
VersR 2006, 740, 742; Schwintowski ZRP 2006, 139, 141; Werber VersR
2008, 285. Dies ergab sich im RefE aus der Vorbem. zur § 6, wonach dessen
Wortlaut an jenen der Vermittlerpflichten anzupassen war. Vgl. auch schon
Matusche-Beckmann NVersZ 2002, 385, 388.
5 Abschlussbericht, S. 14 f.
6 Begründung zu § 42c a.F.; BMWi* v. 3.5.2006, S. 47.
7 Abschlussbericht, S. 12; Langheid NJW 2006, 3317, 3318.
8 Armbrüster ZVersWiss 2008, 427; Langheid NJW 2006, 3317, 3318; Reiff,
Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 79; ders. VersR 2007, 717, 725,
Wandt in Hdb. Fachanwalt Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 272.
7
teils generell,9 teils zumindest für Lebensversicherungsverträge.10 Jene Stimmen hatten sich
bisweilen auf ein Verständnis des Versicherungsvertrags als Geschäftsbesorgungsvertrag
gestützt.11 Teilweise wurden sie unter Hinweis auf Treu und Glauben und einen zumindest
geschäftsbesorgungsähnlichen Typus des Versicherungsvertrags hergeleitet;12 auch wurde eine
Analogie zum Kapitalanlagerecht gebildet.13 Alle jene Ansätze sind durch die gesetzgeberische
Entscheidung in § 6 jedenfalls sub specie der Beratungspflicht des Versicherers nunmehr
überholt.
#7#
Neben den erweiterten allgemeinen (§ 7) und besonderen (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *)
Informationspflichten besteht Bedarf nach einzelfallbezogener Beratung. Sie soll dazu
beitragen festzustellen, inwiefern wesentliche Informationslücken verblieben sind, die durch
individuelle Beratung geschlossen werden müssen, um dem VN eine sachgerechte
Entscheidung zu ermöglichen14. Allein die Überlassung der AVB und der sonstigen
Vertragsinformationen birgt das Risiko, dass der VN sie in ihrer Tragweite nicht versteht oder
sie gar nicht zur Kenntnis nimmt. Zur Verschaffung einer angemessenen
Entscheidungsgrundlage genügen diese Informationspflichten daher nicht.15 Der Wert einer
Versicherung ergibt sich außerdem besonders aus der optimalen Anpassung an den
persönlichen Deckungsbedarf, so dass gerade die individuelle, einzelfallbezogene Beratung
über die Standardinformation hinaus für den VN oft von großer Bedeutung ist.
II.
Überblick
#8#
In Abs. 1 Satz 1 ist eine vorvertragliche Fragepflicht hinsichtlich der Wünsche und
Bedürfnisse niedergelegt, „soweit nach der Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu
beurteilen, oder der Person des VN und dessen Situation hierfür Anlass besteht“. Aufgrund
dieser Beratungsgrundlage hat der Versicherer den VN, „auch unter Berücksichtigung eines
angemessenen Verhältnisses zwischen Beratungsaufwand und der vom VN zu zahlenden
Prämien, zu beraten sowie die Gründe für jeden zu einer bestimmten Versicherung erteilten
Rat anzugeben“.
#9#
Der Gesetzgeber hat damit die bisher aus Treu und Glauben hergeleiteten Pflichten neu und
bezogen auf die wesentlichen auslösenden Kriterien im Bereich des Versicherungsrechts
9
Adams NVersZ 2000, 49, 61; Heiss ZVersWiss 2003, 339 ff.; Kieninger AcP
199 (1999), 190 ff.; ders. VersR 1998, 5; differenzierend Miettinen Pflichten,
S. 258 ff.
10 Schwintowski VuR 1997, 83, 87.
11 H. D. Meyer ZRP 1990, 424, 428; Schünemann JZ 1995, 430, 432;
zumindest für Kapitallebensversicherungen Schwintowski JZ 1996, 702, 706.
12 Heiss ZVersWiss 2003, 339, 353; letztlich auch Kieninger AcP 198 (1998),
190, 224.
13 Schwintowski VuR 1997, 83, 87; differenzierend Heiss ZVersWiss 2003,
339, 357 ff., 361; vgl. Kieninger AcP 198 (1998), 190, 224.
14 Römer VersR 1998, 1313, 1314.
15 So bereits Hoffmann Verbraucherschutz im Privatversicherungsrecht, S. 224
f.
8
formuliert und zugleich präzisiert. Gleichwohl handelt es sich bei Abs. 1 um eine
Generalklausel ohne Aufzählung von Regelbeispielen. Damit räumt der Gesetzgeber auch
künftig der Rechtsprechung eine maßgebliche Rolle ein. Dies bietet die Chance zur
Weiterentwicklung
ihrer
Kasuistik16
bei
gleichzeitiger
Flexibilität
in
der
17
Einzelfallbetrachtung; freilich besteht auch die Gefahr einer uneinheitlichen handhabung auf
der Ebene der Instanzgerichte.18 Umso wichtiger ist es, die Einzelfälle anhand der beiden
genannten Kriterien zu systematisieren (s. Rdn. * ff. und Rdn. * ff.).
#10#
Der Gesetzgeber geht mit dem Begriff der Beratung dem Wortlaut nach über die in der
bisherigen Rechtsprechung geltenden „Aufklärungs-“ und „Hinweispflichten“ hinaus; er hat mit
der Pflicht zur Frage, zur Beratung (einschließlich Begründung) und zur Dokumentation des
Rats (s. dazu sogleich) einen dreifachen Pflichtenkanon geschaffen (s. Rdn. * ff.).
Gleichzeitig übernimmt er aber das auch von der Rechtsprechung zum früheren Recht
herangezogene Kriterium des Anlasses; damit lehnt er die von Teilen der Literatur geforderte
anlassunabhängige umfassende Beratungspflicht ab (s. Rdn. *). Mit dem
Verhältnismäßigkeitsgebot
hinsichtlich
Beratungsaufwand
und
Prämie
(Proportionalitätsregel) wird ein weiteres Kriterium eingeführt (s. Rdn. * bei Fn. 218).
#11#
Zeitlich wird die Frage- und Beratungspflicht in Abs. 4 auch auf die Zeit nach Vertragsschluss
erstreckt, „soweit für den Versicherer ein Anlass für eine Nachfrage und Beratung des VN
erkennbar ist“. Damit werden erstmals Beratungspflichten während der Vertragslaufzeit
kodifiziert (zu den Unterschieden zur vorvertraglichen Beratungspflicht s. Rdn. *).
#12#
Hinsichtlich der vorvertraglichen
Dokumentationspflicht.
Beratung
besteht
nach
Abs.
1
Satz
2
eine
#13#
Der erteilte Rat und die Begründung sind dem VN grundsätzlich in Textform zu übermitteln;
auf Wunsch des VN oder bei Gewährung vorläufiger Deckung genügt die mündliche Form
(Abs. 2; s. dazu Rdn. * ff.).
#14#
Der VN kann gem. Abs. 3 auf vorvertragliche Beratung und gem. Abs. 4 S. 2 auf Beratung
während der Vertragslaufzeit verzichten (näher Rdn. *).
#15#
16
Schirmer r + s 1999, 133, 137; vgl. auch Dohmen Informations- und
Beratungspflichten, S. 288.
17 Römer VersR 2007, 618; vgl. auch S. Lorenz Der Schutz vor dem
unerwünschten Vertrag, S. 321, 416.
18 Miettinen Pflichten, S. 259; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 468.
9
Bei einer von ihm zu vertretenden Verletzung der Verpflichtungen nach Abs. 1, 2, 4 ist der
Versicherer gem. Abs. 5 schadensersatzpflichtig (näher Rdn. *).
III. Anwendungsbereich
#16#
1. Persönlicher Anwendungsbereich. Die Pflichten aus § 6 treffen den
Versicherer. Für Versicherungsvermittler bestehen eigene, inhaltlich
weitgehend entsprechende Pflichten aus § 61 und ggf. weitere Pflichten etwa
aus einem Maklervertrag (s. § 61 Rdn. *).
#17#
Zu beraten ist der VN. Ein Versicherter muss hingegen grundsätzlich nicht beraten werden.
Dies folgt zwar noch nicht zwangsläufig aus dem Wortlaut von § 6, da der Gesetzgeber des
VVG bisweilen vom VN spricht und damit den Versicherten meint (z.B. bei § 86 Abs. 1). Es
entspricht jedoch nicht dem aufgezeigten Sinn und Zweck der Beratungspflicht, die Grundlage
für eine eigenverantwortliche bedarfsgerechte Entscheidung zu schaffen (s. Rdn. *), wenn der
Adressat gar nicht Vertragspartner des Versicherers werden soll oder ist. Demgegenüber wird
teils eine Ausnahme für den Fall vorgeschlagen, dass die versicherte Person als der „eigentliche
Vertragspartner“ des Versicherers anzusehen und dies dem Versicherer erkennbar ist. 19
Indessen ist ein Bedürfnis für eine solche Ausnahme nicht ersichtlich. Dies gilt auch
hinsichtlich der Beratung nach Vertragsschluss, da diese stets jedenfalls dem VN geschuldet ist.
#18#
Ausnahmsweise treffen den Versicherer freilich außerhalb von § 6 bestimmte
Informationspflichten gegenüber dem Versicherten bei Lebensversicherungen und
Pensionskassen im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung (§ 10a Abs. 2 VAG).
Aufklärungspflichten nach bisherigem Recht wurden auch gegenüber dem versicherten
Arbeitnehmer im Rahmen von (echten) Gruppenversicherungsverträgen der betrieblichen
Altersvorsorge bejaht.20 Für eine Erstreckung der Beratungspflichten i. S. von § 6 bieten diese
Regeln jedoch keinen Anlass.
#19#
2. Sachlicher Anwendungsbereich. § 6 bezieht sich auf alle Versicherungsverträge i. S. von
§ 1. Erfasst wird mithin jeder Vertrag, in dem sich eine Seite – der Versicherer – gegen
Zahlung einer Prämie verpflichtet, ein bestimmtes Risiko der anderen Seite – des VN oder
eines Dritten – durch eine Leistung abzusichern, die er bei Eintritt des vereinbarten
Versicherungsfalles zu erbringen hat. Die Beratungspflichten bestehen sowohl vor
Vertragsschluss (Abs. 1) als auch während der Laufzeit des Versicherungsvertrags (Abs. 4).
Kommt es während der Laufzeit des Vertrags zu Verhandlungen über eine Änderung des
bestehenden Vertrags, die sich um die Notwendigkeit oder Nützlichkeit eines Neuabschlusses
drehen, so leben die umfangreicheren Beratungspflichten nach Abs. 1 wieder auf.
19
Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, S. 23 f.
OLG Celle VersR 2008, 60, 62 f.; Schirmer VersR 2008, 1473, 1474; vgl.
auch Fenyves in FS Canaris S. 1367, 1370; Mauersberg VersR 2008, 169, 174;
enger Franz VersR 2008, 1565, 1577.
20
10
Nachvertragliche Pflichten regelt § 6 nicht; sie können sich freillich im Einzelfall aus § 242
BGB ergeben (s. Rdn. *). In den Fällen des Abs. 6 sind die Pflichten ausgeschlossen, d.h. für
Großrisiken sowie für von Maklern und im Fernabsatz vermittelte Verträge (näher Rdn. * ff.).
#20#
3. Zeitlicher Anwendungsbereich. § 6 ist gem. Art. 1 Abs. 1 EGVVG auf alle Verträge
anwendbar, die seit dem 1.1.2008 geschlossen werden (Neuverträge). Maßgeblich ist der
Zugang der zweiten Vertragserklärung, regelmäßig der Annahmeerklärung durch den
Versicherer unter Zusendung der Police.
#21#
Für Altverträge war bis zum 31.12.2008 das VVG a.F. anzuwenden. Nach altem Recht waren
noch keine Beratungspflichten kodifiziert; vielmehr galt die sog. Anlassrechtsprechung (s. Rdn.
*). Seit dem 1.1.2009 findet das neue Recht auch auf Altverträge uneingeschränkt Anwendung.
Problematisch ist dies hinsichtlich abgeschlossener Sachverhalte. Eine echte Rückwirkung
auch auf diese Fälle hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Auf Altverträge kommt daher das
neue Recht hinsichtlich des Vertragsschlusses nicht zur Anwendung. So sind bei Altverträgen
für die Beurteilung der Frage, ob eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung vorliegt, die §§
16 Abs. 1, 17 Abs. 1 a.F. weiterhin maßgeblich. Tritt der Versicherungsfall erst nach dem
31.12.2008 ein, sollen sich aber die Rechtsfolgen nach dem neuen VVG bestimmen.21
Vorvertragliche Aufklärungspflichtverletzungen im Rahmen von Altverträgen bestimmen sich
somit sowohl hinsichtlich der Feststellung einer Pflichtverletzung als auch hinsichtlich der
Rechtsfolgen nach altem Recht, auch wenn die Pflichtverletzung erst nach dem 1.1.2009
gerichtlich festgestellt wird. Die Beratungspflichtverletzungen während der Vertragslaufzeit
nach Abs. 4 gelten dagegen ab 1.1.2009 auch für Altverträge.
IV. Vorvertragliche Beratungspflichten (Abs. 1)
#22#
1. Pflichtentrias. Abs. 1 statuiert drei vorvertragliche Pflichten: eine Fragepflicht, eine
Beratungspflicht einschließlich Begründungspflicht hinsichtlich des erteilten Rates und eine
Dokumentationspflicht. Nur ein Teil dieser Pflichtentrias ergibt sich für Vermittler aus der
Vermittlerrichtlinie, die der Parallelvorschrift des § 61 zugrunde liegt und die damit auch die
Auslegung des § 6 beeinflussen kann. Die Richtlinie geht nämlich allein von einer
Dokumentationspflicht aus; eine Frage- oder Beratungspflicht lässt sich ihr nicht entnehmen
(str.; s. Rdn. *).22 Der deutsche Gesetzgeber geht daher sowohl hinsichtlich der Vermittler als
auch mit der Erstreckung der Pflichten auf die Versicherer über die europarechtlichen
Vorgaben hinaus.23
#23#
a) Beratungspflicht. Die bedeutsamste dieser Pflichten ist die Beratungspflicht. Ihre Erfüllung
soll die Entscheidungsgrundlage des VN verbreitern und ihm eine sachgerechte Entscheidung
21
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 118; vgl. auch Funck VersR 2008, 163,
168.
22 Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 75.
23 Zu diesem Schluss kommt auch Reiff VersR 2004, 142, 149.
11
ermöglichen. Die anderen Pflichten sollen die Erreichung dieses Ziels unterstützen; sie sind
quasi „Hilfspflichten“. Dies gilt nicht nur für die Begründungs- und die Dokumentationspflicht
(zu ihnen s. Rdn. *), sondern auch für die Fragepflicht. Sie dient dazu, zunächst einmal den
Beratungsbedarf und im Ergebnis auch den Versicherungsbedarf zu ermitteln. Dies ist in jenen
Fällen wichtig, in denen der VN keine hinreichenden Angaben macht, die auf seinen Beratungsoder Deckungsbedarf schließen lassen. Häufig ist das Versicherungsprodukt an sich für den
uninformierten VN derart komplex und schwer verständlich, dass er nicht in der Lage ist, die
richtigen Fragen zu stellen oder die wichtigen Punkte von sich aus anzusprechen. Damit sich
der Versicherer in solchen Fällen nicht auf die unzureichenden Angaben des VN zurückzieht
und den Umfang der Beratung entsprechend begrenzt,24 hat der Gesetzgeber eine aktive
Fragepflicht eingeführt. Der Versicherer muss sich mithin – soweit hierzu ein Anlass besteht (s.
Rdn. * bei Fn. 53) – selbst um die Schaffung einer hinreichenden Beratungsgrundlage bemühen
(näher Rdn. * ff. bei Fn. 147).
#24#
b) Begründungspflicht. Gleichfalls der Effektivierung der Beratungspflicht, aber auch der
Erleichterung eigenverantwortlicher, sachgerechter Entscheidungen des VN dient die
Begründungspflicht (näher Rdn. *). Sie soll eine selbstständige Bewertung des erteilten Rates
ermöglichen. Ohne die Gründe für den erteilten Rat zu kennen, könnte der VN den Rat des
Versicherers nämlich nicht einordnen, sondern er müsste gleichsam blind auf die Auskunft des
Versicherers vertrauen. Dies widerspräche der Absicht des Gesetzgebers, die
Informationsgrundlage des VN für eine eigenverantwortliche Entscheidung zu verbessern (s.
Rdn. *).
#25#
c) Dokumentationspflicht. Auch die Dokumentationspflicht (Abs. 1 Satz 2) dient der
Effektivität der Beratung: Sie soll den Informations- und Beratungsstand, der während und nach
der Beratung vorlag, auch in der Zeit danach aufrechterhalten, in der die Entscheidung
möglicherweise erst endgültig gefasst, angesichts des Widerrufsrechts jedenfalls aber geprüft
und ggf. revidiert werden kann und sollte.25 Je nach Komplexität des Versicherungsprodukts
kann die Informationsmenge sehr hoch sein. Die Informationen und den erteilten Rat kann sich
der VN kaum merken und sie in seine Entscheidung einbeziehen. Die Dokumentation kann der
VN hingegen noch einmal durchlesen und zur Prüfung des Produkts und seiner Eignung für den
eigenen Bedarf verwenden. Auch während der Vertragslaufzeit bietet es sich an, etwa bei
Veränderungen der tatsächlichen Umstände die Grundlage der ursprünglichen Entscheidung
vor Augen zu haben, um zu überprüfen, ob Anlass für eine Anpassung besteht. Zudem
erleichtert die Dokumentationspflicht beiden Vertragspartnern auch die Beweisführung (näher
Rdn. *). Darüber hinaus hat die Dokumentationspflicht eine Disziplinierungsfunktion für die
Versicherer: Wer seinen Rat dokumentieren muss, wird diesen gewissenhafter vorbereiten und
weniger leicht auf sachfremde Erwägungen stützen, als dies etwa im bloßen mündlichen
Gespräch möglich ist (s. Rdn. *).
#26#
2. Beratungsanlass. Die Pflichtentrias besteht, sofern aufgrund der Schwierigkeit, die
angebotene Versicherung zu beurteilen, oder aufgrund von Umständen in der Person des VN
und dessen Situation hierfür Anlass besteht. In diesen Fällen liegt aus Sicht des Gesetzgebers
24
Vgl. auch Fausten Ansprüche, S. 172; Kieninger AcP 199 (1999), 190, 207;
Werber ZVersWiss 1994, 321, 345.
25 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475.
12
auf Seiten des VN ein Beratungsbedarf vor. Die Aufzählung ist nicht abschließend. Auch
andere Fälle, in denen ein Beratungsbedarf vorliegt, können unter Abs. 1 fallen
#27#
a) Anlassrechtsprechung. Mit dem Begriff „Anlass“ greift der Gesetzgeber die bisherige sog.
Anlassrechtsprechung auf. Zwar enthielt das VVG bis zur Reform keine Vorschriften über die
Beratung des VN vor Vertragsschluss oder während der Laufzeit des Vertrags.
Aufklärungspflichten des Versicherers wurden jedoch (neben und unabhängig von der
Maklerhaftung) im Einzelfall aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB
hergeleitet. Auf diese Rechtsprechung kann in gewissem Umfang auch bei Auslegung des Abs.
1 zurückgegriffen werden, da es dem Gesetzgeber bei § 6 erklärtermaßen um die Kodifizierung
der bisherigen Rechtsprechung ging.26 Freilich gewinnt die Beratungspflicht durch ihre
Kodifikation und durch die Einführung einer Fragepflicht an Bedeutung.27
#28#
Das Versicherungsrecht ist nach zutr. Rechtsprechung aufgrund der überlegenen Sachkunde des
Versicherers (oder Vermittlers) gegenüber dem VN, aufgrund des Dauerschuldcharakters und
des im Vergleich zu anderen Austauschverträgen geringeren Interessensgegensatzes in
besonderem Maße durch den Grundsatz von Treu und Glauben geprägt. Er verpflichtet zur
Rücksichtnahme auf die Belange des VN dort, wo die Gefahr besteht, dass dieser aufgrund
seiner mangelnden Vertrautheit mit der Materie den Versicherungsschutz verliert oder andere
Nachteile erleidet.28 Die Verletzung einer Aufklärungspflicht konnte deshalb bisher zu einer
gewohnheitsrechtlichen Erfüllungshaftung und zur Schadensersatzhaftung (culpa in
contrahendo, s. zum allgemeinen Zivilrecht Rdn. *) führen.
#29#
Nach dieser ständigen Rechtsprechung29 und überwiegender Ansicht in der Literatur30 besteht
allerdings
auch
im Versicherungsvertragsrecht
grundsätzlich
keine
spontane
26
Vgl. Begründung zu § 42c a.F., BMWi* v. 3.5.2006, S. 47; vgl. auch
Dörner/Staudinger WM 2006, 1710, 1711; Reiff Versicherungsvermittlerrecht
im Umbruch, S. 79 f.
27 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer, Rdn. 4; Franz VersR 2008, 298;
Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 24 f.; Nugel Anm. OLG Celle – 8
U 189/07, jurisPR-VersR 5/2008 Anm. 3; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
2; Römer VersR 2006, 740, 742; Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 104.
28 BGHZ 48, 7 = NJW 1967, 1756, 1757 = VersR 1967, 593, 594; BGH VersR
1981, 621, 623; VersR 1985, 943, 944; VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58,
59; Fausten Ansprüche, S. 161, 177; Heiss ZVersWiss 2003, 339, 342.
Strenger den Unterschied zur Maklerberatung betonend OLG Düsseldorf VersR
1998, 845, 846.
29 BGH VersR 1967, 25; BGHZ 47, 101 = NJW 1967, 1226, 1229 = VersR
1967, 441; BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59; OLG Düsseldorf
VersR 1998, 845, 846; OLG Köln VersR 1996, 1265; Römer VersR 1998,
1313, 1320 f.; Schirmer r + s 1999, 133, 135.
30 Fausten Ansprüche, S. 113, 177; Fenyves in FS Canaris, S. 1367, 1377;
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33, 36; Larenz in FS Ballerstedt, 1975, S. 397,
13
Aufklärungspflicht hinsichtlich aller Einzelheiten des Vertrags: Der Versicherer muss den VN
nicht von sich aus auf alle Einzelheiten des Deckungsumfangs oder auf alle
Ausschlussbestimmungen aufmerksam machen.31 Vielmehr ist es Sache des VN, sich um den
von ihm benötigten Versicherungsschutz in eigener Verantwortung zu kümmern und sich die
dazu erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen,32 insbesondere die Versicherungsbedingungen
zu lesen („Leseobliegenheit“) und Nachfragen an den Versicherer zu stellen.33 Auch zu
umfangreichen Befragungen ist der Versicherer grundsätzlich nicht verpflichtet.34
Grundsätzlich obliegt es umgekehrt dem VN, bei Unklarheiten oder Zweifeln beim Versicherer
oder Vermittler rückzufragen.
#30#
Von diesem Grundsatz sind jedoch nach der Anlassrechtsprechung sowohl vorvertraglich als
auch während der Vertragslaufzeit Ausnahmen zu machen.35 So ist der Versicherer nur zur
Aufklärung über solche Umstände verpflichtet, die von wesentlicher Bedeutung sind und den
Vertragszweck vereiteln können.36 Darüber hinaus bestehen Aufklärungspflichten nur, soweit
das Verhalten des VN Anlass zur Aufklärung ergibt,37 insbesondere „wenn der
Versicherungsagent erkennt oder erkennen muss, dass sich der VN über den Umfang der
Versicherung irrige Vorstellungen macht. In diesem Fall muss der Versicherungsagent, auch
wenn die Versicherungsbedingungen klar und eindeutig gefasst sind, den VN über den Umfang
der Versicherung aufklären.“38 Auch wenn der Versicherer auf Grund der ihm bekannten
Umstände erkennen muss, dass das Deckungsbedürfnis des VN und damit auch der
413; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11 f.; Römer VersR 1998, 1313, 1317
ff; Werber ZVersWiss 1994, 321, 328.
31 OLG Frankfurt/Main VersR 1987, 579; OLG Köln VersR 1996, 1265; OLG
Hamm NJW-RR 2001, 239, 240; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33;
Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11. S. auch Fenyves in FS Canaris S. 1367,
1377.
32 OLG Köln r + s 1985, 275; OLG Hamm VersR 1996, 93, 94 = NJW-RR
1995, 1178, 1179; OLG Köln VersR 1996, 1265; OLG Hamm NJW-RR 2001,
239 = r + s 2001, 334, 336 f.
33 BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978 = VersR 1963, 768, 769; OLG
Frankfurt/Main VersR 1987, 579; OLG Köln VersR 1996, 1265; vgl. auch
Heiss ZVersWiss 2003, 339, 342-347; Miettinen Pflichten, S. 41.
34 Römer VersR 1998, 1313, 1317.
35 Übersicht bei Fausten Ansprüche, S. 113, 170; Fenyves in FS Canaris S.
1367, 1377; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33, 36; Römer VersR 1998, 1313,
1318 ff.; ähnlich Kieninger VersR 1998, 5, 8 f.
36 BGH VersR 1979, 709, 710 f.; VersR 1981, 621, 623; OLG Saarbrücken r +
s 1997, 208, 209; OLG Frankfurt VersR 1999, 1397 = r + s 2000, 84, 85; OLG
Stuttgart r + s 2009, 28, 29.
37 BGH VersR 1967, 25, 26; OLG Hamm NJW-RR 2001, 239 = r + s 2001,
334, 336 f.
38OLG Frankfurt/Main VersR 1987, 579; vgl. auch BGHZ 40, 22 = NJW 1963,
1978, 1979 = VersR 1963, 768, 769; BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR
1987, 473, 474; OLG Köln VersR 1996, 1265 (im Einzelfall ablehnend);
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 36.
14
Vertragszweck verfehlt wird, besteht ein Anlass zur Aufklärung.39 Ein Anlass wird im
Einzelfall auch dann angenommen, wenn ein durchschnittlicher VN aufgrund schwieriger
Sachverhalte und komplizierter Bedingungswerke erkennbar überfordert wäre, sich ohne
fachkundige Beratung in den betreffenden Versicherungsfragen zurechtzufinden (z.B. beim
„Versicherungswert 1914“ in der Gebäudeversicherung),40 oder in anderen Fällen einer für den
versicherungsrechtlichen Laien komplexen und schwer durchschaubaren Rechtslage.41 Ist ein
bestimmter Versicherungsschutz für bestimmte Gewerbetreibende oder Berufstätige zwingend
vorgeschrieben oder typischerweise notwendig, so löst schon die erkennbare Zugehörigkeit zu
jener Gruppe eine entsprechende Aufklärungspflicht aus.42
#31#
Weitergehende Beratungspflichten setzen nach der Rechtsprechung zum alten Recht voraus,
dass der VN den Wunsch nach Beratung deutlich zum Ausdruck bringt und dabei auch
klarstellt, gegen welche Gefahren er im einzelnen versichert und über welche anderen Punkte er
noch besonders beraten werden will,43 oder den (ausdrücklich oder konkludent)
kundgegebenen Wunsch nach umfassendem oder lückenlosem Versicherungsschutz.44 Dabei
hat der Versicherer die Umstände, die im Zusammenhang mit dem zu versichernden Risiko
stehen, und die persönlichen Verhältnisse des VN zu berücksichtigen.45 Aufklärung ist nur
insoweit geschuldet, als der VN sie benötigt,46 also nicht bei eigener Sachkunde des VN47 oder
ihm leicht zugänglichen Informationsquellen wie AVB. Eine Grenze wird dort gezogen, wo der
VN nach Treu und Glauben keine Aufklärung und Beratung mehr erwarten darf.48
#32#
Der Anlass besteht in dem konkreten Informations- und Beratungsbedürfnis, das sich nach
Abs. 1 insbesondere aus der Komplexität des Versicherungsprodukts und aus Umständen in der
Person des VN ergeben kann,49 aber auch aus anderen Gründen,50 etwa aus der Veränderung
tatsächlicher, rechtlicher oder versicherungstechnischer Gegebenheiten mit Einfluss auf den
Versicherungsvertrag. Der Gesetzgeber nimmt damit Bezug auf die bisher von der
39
OLG Karlsruhe VersR 1994, 1169 (Ls.); OLG Köln VersR 1993, 1385,
1386; OLG Hamm VersR 1994, 718 = NJW-RR 1994, 484; AG Mannheim
VersR 1985, 985. Vgl. auch BGH VersR 1986, 537, 538 = NJW-RR 1986, 900,
901.
40 BGH VersR 89, 472; OLG Köln VersR 1996, 1265; Armbrüster VersR 1997,
931 ff.
41 OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 904, 905; Fausten Ansprüche, S. 113, 170;
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33, 36.
42 Fausten Ansprüche, S. 113, 170; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33, 36;
ähnlich Kieninger VersR 1998, 5, 8 f.
43 OLG Köln VersR 1996, 1265.
44 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 48; Fausten Ansprüche, S. 113, 170;
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33, 36.
45 Römer VersR 1998, 1313, 1316.
46 BGH VersR 1992, 217, 218; Römer VersR 1998, 1313, 1316.
47 OLG Köln VersR 1996, 1265; OLG Düsseldorf VersR 1998, 845, 846.
48 Römer VersR 1998, 1313, 1316.
49 So auch die bisherige Rspr.; OLG Köln VersR 1996, 1265.
50 Begründung zu § 6 IV VVG, RegE v. 11.10.2006, S. 148.
15
Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen,51 schließt aber nicht aus, dass es weitere Fälle
geben kann. Der Begriff „Anlass“ begrenzt damit einerseits die Reichweite der
Beratungspflicht, lässt aber andererseits eine gewisse Flexibilität.52
#33#
b) Fallgruppen. Ein die Beratungspflichten auslösender Anlass kann sich nach
Abs. 1 aus der Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu beurteilen, oder
aus der Person des VN und dessen Situation ergeben. Diese Aufzählung ist
nicht abschließend.53 Ihr lässt sich allerdings eine Unterscheidung zwischen
produktund
personenbezogenem
Beratungsanlass
entnehmen:
Hinsichtlich des produktbezogenen Beratungsbedarfs ist grundsätzlich auf den
durchschnittlichen VN abzustellen. Daneben kann sich zusätzlicher personenoder situationsbedingter Beratungsbedarf aus den individuell-konkreten
Gesichtspunkten des Einzelfalls ergeben. Im umgekehrten Fall, dass der VN
aufgrund überdurchschnittlicher Sachkunde keiner Beratung bedarf, bleibt ihm
die Verzichtsmöglichkeit nach Abs. 3.
#34#
aa) Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu beurteilen. Hierbei geht es um
Beratungsbedarf, der sich für den durchschnittlichen54 VN aus dem Versicherungsprodukt
selbst ergibt. Die Schwierigkeit kann sich aus der Komplexität des Produkts als Ganzes oder
aus einzelnen vertraglichen Regelungen ergeben, aus der konkreten Vertragsgestaltung
(Kombination verschiedener Produkte) aber auch aus der Unübersichtlichkeit der Materie und
der Vielzahl von Angeboten auf dem Versicherungsmarkt, deren Unterschiede, Vor- und
Nachteile der VN nicht selbstständig zu beurteilen vermag.
#35#
Maßgeblich ist stets das konkret nachgefragte oder angebotene Produkt; die Beratung muss
sich nicht auf Produkte beziehen, die einen nicht nachgefragten Versicherungsschutz bieten.55
#36#
(1) Komplexität der Versicherung als Ganzes. Als Rechtsprodukt ist die Versicherung im
Vergleich zu anderen Vertragstypen generell wenig anschaulich (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Allein
hieraus kann jedoch noch kein Beratungsanlass folgen, da dieses vom Gesetzgeber bewusst
gewählte Kriterium sonst leerliefe. Demgemäß musste der Versicherer schon nach der
bisherigen Rechtsprechung zur Aufklärungspflicht nicht sämtliche vertraglichen Regelungen
(insbesondere AVB) erläutern, sondern er konnte sich auch bei komplexen Produkten auf die
für den Vertragsschluss wesentlichen Punkte beschränken,56 nämlich auf jene Punkte, die für
51
Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 47, hat bereits vor Einführung von
§ 6 produkt- und bedarfsbezogene Aufklärung unterschieden.
52 Römer VersR 2006, 740, 743; Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 103.
53 Begründung zu § 42 c VVG, BMWi* v. 3.5.2006, S. 47.
54 OLG Frankfurt VersR 1999, 1397 = r + s 2000, 84, 85; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 14.
55 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 4 f.
56 Gruber in BK § 43 Rdn. 27; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33.
16
den Abschluss des konkreten Versicherungsvertrags typischerweise von erheblicher Bedeutung
für die Vertragsparteien, vor allem für den VN, sind.57
#37#
Da die generellen Informationspflichten nach § 7 umfassend ausgestaltet und die Vorgaben
der Fernabsatzrichtlinie auf alle Versicherungsverträge ausgeweitet wurden, stellt sich die
Frage, in welchem Verhältnis diese Informationen zur durch die Komplexität der Versicherung
als Ganzes veranlassten Beratung nach Abs. 1 stehen. Insbesondere mit dem
Produktinformationsblatt gem. § 4 VVG-InfoV soll dem VN ein Überblick über den
Vertragsgegenstand und die wesentlichen vertraglichen Rechte und Pflichten verschafft werden
(s. § 7 Rdn. *). Die Pflicht zum Hinweis auf wesentliche Risikoausschlüsse findet sich nun auch
in dem Katalog des § 4 VVG-InfoV. Allerdings geht die nach § 6 geschuldete Beratung über
die bloße (Standard-) Information hinaus, indem sie auf die Umstände des konkreten
Einzelfalls abstellt und überdies eine Handlungsempfehlung beinhaltet (s. Rdn. *). Der
Versicherer kann sich daher zwar der Information nach § 7 i.V.m. VVG-InfoV, insbesondere
des Produktinformationsblatts als Unterstützung in der Beratung bedienen, dies allein genügt
zur Erfüllung der Beratungspflicht aus § 6 jedoch nicht. Die Schwierigkeit der Beurteilung des
Beratungsbedarfs lässt sich nicht allein durch Erläuterung und erst recht nicht durch bloße
Übergabe der Information beseitigen.58
#38#
(2) Komplexität einzelner Abreden. Ein Beratungsanlass kann auch in einzelnen
komplizierten vertraglichen Abreden bestehen. Auch wenn sich der Versicherer im Hinblick auf
das Transparenzgebot (s. dazu Vor §§ 6, 7 Rdn. *) regelmäßig um verständliche Formulierung
der AVB bemüht, sind der Verständlichkeit für den durchschnittlichen VN auch aufgrund ihrer
rechtsgestaltenden Wirkung Grenzen gesetzt (vgl. Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Daher lösen etwa
Regelungen, die zwar der Transparenzkontrolle Stand gehalten haben, die dem VN aber ohne
Erläuterung und Einordnung in den jeweiligen Sachverhalt nicht in ihrer vollen Tragweite
bewusst werden, einen Beratungsanlass aus.
#39#
Namentlich in einigen Sparten wie der Kapitallebensversicherung oder im Bereich von
speziellen Altersvorsorgeprodukten besteht aufgrund der höheren wirtschaftlichen Bedeutung
(Prämienhöhe, langfristige Bindung, Absicherungszweck), vor allem aber wegen der
komplexen Vertragsgestaltung höherer Beratungsbedarf dahingehend, welche wesentliche
Bedeutung bestimmten vertraglichen Bestimmungen zukommt.59
#40#
Ein weiteres Beispiele für einen Beratungsanlass bieten Verweisungsklauseln in der
Berufsunfähigkeitsversicherung. Auch die Bedeutung einer Erwerbsunfähigkeitsklausel, d.h.
der Unterschied zwischen der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit und jene gegen
57
Vgl. BGH VersR 1975, 77; Gruber in BK § 43 Rdn. 27; vgl. auch OLG
Frankfurt VersR 1999, 1397 = r + s 2000, 84, 85; OLG Saarbrücken r + s 1997,
208, 210; Prölss/Martin § 43 Rdn. 33.
58 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 6; Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski
Rdn. 13.
59 LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.; Kollhosser in P/M Vor §§ 6, 7 §§ 159 ff.
Rdn. 47; Miettinen Pflichten, S. 94; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 470.
17
Erwerbsunfähigkeit,
ist
zu
erläutern.60
Auch
wenn
bei
einer
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung nur die Aussetzung der Beitragspflicht zur
Hauptversicherung und keine Rentenzahlung oder wenn eine EU-Klausel vereinbart wird, ist
hierauf hinzuweisen.61 Damit sind die Pflichten der Versicherer umfangreicher als bei einfach
strukturierten Standard-Versicherungsverträgen.
#41#
Auch bei Standardverträgen oder solchen mit kurzer Laufzeit und geringer Prämienhöhe kann
eine komplexe Klausel im Einzelfall eine Beratung veranlassen.
#42#
Zudem können Beratungspflichten bei unübersichtlicher Tarifgestaltung bestehen.62 Hier ist
erforderlich, dass der Versicherer die verschiedenen Kriterien, die er seiner Tarifgestaltung
zugrunde legt (etwa in der Kfz-Versicherung: Alter, Garage etc.), beim VN genau erfragt, um
dann die geeigneten Tarife im Einzelnen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen
vorzustellen.63 Um eine Überforderung beider Vertragspartner zu vermeiden, ist aber auch hier
die Beratung auf die für den durchschnittlichen VN entscheidungserheblichen
Gesichtspunkte zu beschränken.
#43#
Die Komplexität des Versicherungsprodukts bietet auch Anlass für eine Beratung, wo der VN
die für den Vertragsschluss erforderlichen Angaben nicht machen kann, weil er die
entsprechenden Fragen in ihrer Bedeutung nicht richtig erfasst. Standardfall ist die Ermittlung
des Versicherungswerts (vgl. auch Rdn. * bei Fn. 370). Der Versicherer ist zunächst
verpflichtet, den VN über Bedeutung und Unterschiede der verschiedenen Definitionen des
Versicherungswerts aufzuklären (Neuwert, Zeitwert, gemeiner Wert), damit dieser auf
Grundlage jener Informationen den Versicherungswert bestimmen und korrekt angeben kann.64
#44#
Die Ermittlung des Versicherungswerts ist dann zwar grundsätzlich Aufgabe des VN, da dieser
seine persönlichen Umstände und damit auch die Werthaltigkeit der versicherten Gegenstände
besser kennt als der Versicherer (s. bereits Rdn. *). Auch hier bestehen allerdings Ausnahmen,
wenn – wie beim Versicherungswert 1914 –65 besondere versicherungstechnische
Schwierigkeiten bestehen. Dasselbe gilt, wenn der Versicherer aufgrund der Vielzahl an
Versicherungsverträgen über Erfahrungen verfügt, die dem VN fehlen und die den Versicherer
besser dazu befähigen, den Versicherungswert zu ermitteln. Der VN darf dann darauf
vertrauen, dass der Versicherer ihn an diesen Kenntnissen teilhaben lässt, um die Risiken
optimal abzusichern.66 Lehnt der Versicherer eine solche Unterstützung ab, so muss zumindest
60
Enger zum alten Recht OLG Saarbrücken VersR 2007, 235 f.
Neuhaus r + s 2008, 449, 456
62 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 53; Römer VersR 1998, 1313,
1319.
63 Neuhaus r + s 2008, 449, 456; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 470.
64 OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94 = VersR 1997, 1226; Dörner in Karlsruher
Forum 2000, S. 39, 53; Schirmer r + s 1999, 133, 136.
65 BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59.
66 Römer VersR 1998, 1313, 1320.
61
18
darauf hingewiesen werden, dass der Versicherungswert nur von sachverständiger Seite
berechnet werden kann.67
#45#
Ein Beratungsanlass besteht darüber hinaus auch hinsichtlich anderer komplizierter
Rechtsbegriffe in den AVB, die der VN nicht selbst verstehen kann, so dass er z.B. Probleme
hat, den dort geregelten Verhaltenspflichten nachzukommen.
#46#
Beim Wechsel in die private Krankenversicherung muss der Versicherer etwa über die
wesentlichen Strukturunterschiede beraten und auf die Tatsache hinweisen, dass die private
Versicherung in einigen Fällen weniger Leistungen umfasst als die gesetzliche (vgl. Rdn. * bei
Fn. 345); es besteht aber kein Anlass, jede einzelne, für den überwiegenden Teil der VN
unwichtige Leistungsbeschränkung (z.B. für künstliche Befruchtung bei Unfruchtbarkeit des
Ehepartners) im Einzelnen zu nennen,68 sofern der VN nicht konkret danach fragt (zu letzterem
Fall s. Rdn. *).
#47#
(3) Komplexität der Vertragsgestaltung. Ein Beratunganlass kann sich auch aus der
Komplexität der Vertragsgestaltung insgesamt ergeben, d.h. aus der Schwierigkeit, die
Zusammenhänge zwischen verschiedenen Vertragsteilen oder Versicherungsprodukten zu
verstehen sowie Vor- und Nachteile zu erfassen, insbesondere Deckungslücken zu erkennen.
#48#
Vor allem bei der Deckung komplexer gewerblicher Risiken wie der IndustrieFeuerversicherung oder der Produkthaftpflichtversicherung spielt dies eine Rolle, wenn erst die
Kombination verschiedener Versicherungsprodukte einen lückenlosen Schutz ergibt,69 und
möglicherweise dennoch Restrisiken bleiben, die von keinem der Verträge erfasst werden.70
Dann muss sich der Versicherer zunächst mit dem Bedarf des VN vertraut machen und diesem
einen den abzudeckenden Risiken entsprechenden Vertrag anbieten. Ist dies nicht möglich,
weil entsprechender Schutz bei ihm nicht erhältlich ist, so hat der Versicherer auf die
verbleibenden Lücken hinzuweisen (zur – fehlenden – Pflicht, auf Konkurrenangebote
hinzuweisen, s. Rdn. *).
#49#
67
BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59; Schirmer r + s 1999, 133,
136.
68 OLG Stuttgart VersR 1999, 1268; a.A. Dörner in Karlsruher Forum 2000, S.
39, 51.
69 BGH VersR 1986, 537, 538 = NJW-RR 1986, 900, 901; OLG Köln VersR
1994, 342; vgl. auch Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 14. Anders für
Versicherung von Mietwagen OLG Köln VersR 1996, 1265, 1266.
70 OLG Köln VersR 1993, 304, 305 (Verwendung eines Rasenmähertraktors im
Betrieb); OLG Saarbrücken r + s 1997, 208, 209; Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 40; a.A. OLG Köln VersR 2000, 352, 354 (Gabelstapler eines
Großhandels).
19
Komplexe Vertragsgestaltungen treten allerdings keineswegs nur bei gewerblichen Risiken auf,
sondern auch im Massengeschäft. So kann ein Anlass zur Beratung bestehen, wenn im
Hauptvertrag ausgeschlossene Risiken über Zusatzversicherungen gedeckt werden können (s.
aber zur Proportionalitätsregel Rdn. *).71 Auf die vom Versicherer angebotene Möglichkeit, für
den VN vorteilhafte Zusatzklauseln zu vereinbaren, etwa zum Verzicht auf den Einwand einer
grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls, muss hingewiesen werden.72
#50#
Auch unübersichtliche Tarifgestaltungen, deren Vor- oder Nachteilhaftigkeit der VN nicht
ohne weiteres selbst erkennen kann, begründen einen Beratungsanlass.73 Kommt dem VN etwa
im Rahmen der Kfz-Versicherung bereits ein hoher Schadenfreiheitsrabatt zugute, so kann sich
auch ein günstiger „Basistarif“ im Schadenfall als erheblich nachteilig erweisen. Gibt es sog.
„Basis-“ und „Komforttarife“, die zu unterschiedlichen Prämien dasselbe Risiko in
unterschiedlichem Umfang oder unterschiedlichen Bedingungen abdecken, so genügt es nicht,
das Angebot abstrakt zu erläutern. Vielmehr muss der Versicherer auch über die konkreten
Nachteile der preisgünstigeren Variante im Vergleich zu anderen Tarifen beraten.74 Ähnliches
gilt für verschiedene Tarife etwa in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Kann der VN keine
Berufsunfähigkeitsversicherung erhalten, so hat der Versicherer auf hauseigene
Alternativprodukte zu verweisen wie etwa die Erwerbsunfähigkeitsversicherung,
Unfallversicherung oder Dread Disease-Versicherung.75
#51#
Ein Beratungsanlass besteht auch dann, wenn Versicherungsverträge mit anderen Verträgen
kombiniert werden und dadurch die Situation für den VN unübersichtlich wird. Praxisbeispiele
bieten Finanzierungsgeschäfte wie der Abschluss einer Kapitallebensversicherung zur
Tilgung eines Kredits oder die Aufnahme eines Kredits zur Bedienung einer angeblich
rentableren Lebensversicherung. Hier hat der Versicherer auch über die wirtschaftlichen
Nachteile der Kombinationen und über entsprechende Risiken aufzuklären.76
#52#
Auch neuartige Versicherungsprodukte wie Riesterprodukte oder Beitragsdepots bieten
Anlass zur Beratung.77 Zur Frage, wie umfangreich der Versicherer in diesen Fällen aufklären
muss, s. Rdn. * bei Fn.
71
BGH VersR 1975, 77 (Dachdeckerfall); Terbille Anwaltshandbuch § 2 Rdn.
194.
72 Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 46.
73 Römer VersR 1998, 1313, 1319; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 15;
Terbille Anwaltshandbuch § 2 Rdn. 194. Vgl. auch Neuhaus r + s 2008, 449,
456.
74 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 15, 17.
75 Neuhaus r + s 2008, 449, 456.
76 BGH NJW 1989, 1667, 1668 = ZIP 1989, 558, 559; BGHZ 111, 117 = NJW
1990, 1844, 1846 = VersR 1990, 744; BGH, VersR 1998, 1093 f.; Römer
VersR 1998, 1313, 1320; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 471.
77 Terbille Anwaltshandbuch § 2 Rdn. 196.
20
#53#
Auch ist davon auszugehen, dass der Versicherer kombinierte Versicherungen einheitlich
behandelt, wenn er nicht auf Gegenteiliges hinweist; dies gilt auch im Stadium der vorläufigen
Deckung. So ist z.B. beim gleichzeitigen Angebot von vorläufiger Deckung in der KfzHaftpflichtversicherung und der Fahrzeugversicherung darauf hinzuweisen, wenn hinsichtlich
der Haftpflichtversicherung Deckungsschutz auch in der Türkei gewährt wird, hinsichtlich der
Fahrzeugversicherung aber nicht.78
#54#
(4) Schwierigkeit, die gesetzlichen Produktregelungen zu erfassen. Die Versicherung wird
als Rechtsprodukt nicht nur durch vertragliche Regelungen, sondern auch durch zwingendes
Gesetzesrecht gestaltet. Daher stellt sich die Frage, inwieweit auch die Schwierigkeit für den
VN, die für das jeweilige Produkt maßgeblichen gesetzlichen Regelungen in die Beurteilung
der Versicherung einzubeziehen, als Beratungsanlass i. S. von Abs. 1 anzusehen ist. Nach dem
Wortlaut von Abs. 1 ist dies nicht ausgeschlossen: freilich hat die Rechtsprechung
Informationspflichten über gesetzliche Regelungen bislang grundsätzlich restriktiv
gehandhabt. Auch das Transparenzgebot verpflichtet nicht zur Information über gesetzliche
Regelungen (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Hat die Rechtsprechung dennoch eine Belehrung verlangt,
wie im Rahmen der Relevanzrechtsprechung (vgl. Rdn. *) oder hinsichtlich der Rechtsfolgen
einer verspäteten Zahlung der Erstprämie vgl. Rdn. *), so betraf dies Vorschriften, die
bürgerlich-rechtliche Regeln zulasten des VN abändern, oder Gestaltungsrechte, von denen der
durchschnittliche VN ohne Belehrung nichts wüsste; ein Unterbleiben des Hinweises hatte zur
Folge, dass der Versicherer sich nicht auf seine Rechte berufen konnte (vgl. Rdn. *).
Beratungspflichten über gesetzliche Regelungen mit dem Ziel, dem VN die Beurteilung der
Tragweite des Versicherungsprodukts zu erleichtern, wurden dagegen nur selten angenommen,
und dann meist in Verbindung mit besonderen persönlichen Umständen, die den
Beratungsbedarf aufgezeigt haben (vgl. Rdn. * bei Fn. 340). Teilweise hat der Gesetzgeber
nunmehr spezielle Informationspflichten begründet, wie etwa die allgemeinen Angaben zur für
die betreffende Versicherungsart geltende Steuerregelung (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 VVG-InfoV). Im
Übrigen sollte es auch unter Geltung von § 6 bei der restriktiven Handhabung durch die
bisherige Rechtsprechung verbleiben.
#55#
bb) Person des VN und dessen Situation. Anlass zur Beratung kann sich aus den
individuellen persönlichen Umständen des VN ergeben. Damit stellt der Gesetzgeber nicht auf
„rollenspezifische“ Ursachen für informationelle Unterlegenheit ab, wie dies insbesondere bei
einer Anknüpfung an die Verbrauchereigenschaft der Fall wäre (s. dazu Rdn. *), sondern auf
einzelfallbedingten Beratungsbedarf. Zu den Umständen des Einzelfalls gehört freilich auch der
allgemeine Kenntnisstand des VN: Je höher sein versicherungsbezogenes Fachwissen ist,
desto weniger muss der Versicherer annehmen, dass Anlass zur Beratung besteht.79 Bei
unzureichenden Sprachkenntnissen dagegen kann größerer Beratungsbedarf bestehen.80
78
BGH NJW 1999, 3560, 3561 = NVersZ 2000, 233, 234; OLG Frankfurt
NVersZ 2001, 130, 131; OLG Oldenburg NVersZ 2000, 388; OLG
Saarbrücken r + s 2006, 274 = NJW-RR 2006, 1104 f.; OLG Karlsruhe r + s
2006, 414.
79 OLG Düsseldorf VersR 1998, 845, 846; Römer VersR 1998, 1313, 1316.
80 OLG Karlsruhe VersR 1988, 486 = NJW-RR 1987, 922; Schwintowski in
B/M Rdn. 11; a.A. OLG Köln VersR 1990, 1381.
21
#56#
Einen Anlass zur Beratung bietende persönliche Umstände können persönliche Merkmale
und Eigenschaften des VN sein, wie etwa sein Lebensalter oder sein Gesundheitszustand.
Hinzu kommen Verhaltensweisen und Angewohnheiten, wie etwa eine bestimmte gewerbliche
Tätigkeit81, risikoträchtige Hobbies (z.B. Teilnahme an Moto-Cross-Rennen) oder Rauchen.82
#57#
Ein aus der Situation des VN herrührender Anlass kann sich aus seinen wirtschaftlichen,
finanziellen, beruflichen oder familiären Verhältnissen ergeben. Welche und wieviele dieser
Gesichtspunkte im konkreten Fall bedeutsam werden - und damit nach Abs. 1 Satz 1 zu
erfragen sind (s. Rdn. *) -, hängt auch von der Art der Versicherung ab.
#58#
So sind generell beim Abschluss von Sachversicherungen typischerweise bestimmte Fragen
zum Deckungsbedarf, zum zu versichernden Interesse sowie zu den Vermögens- und
Risikoverhältnissen veranlasst.83
#59#
Bei Personenversicherungen wie insbesondere bei Lebens-, Berufsunfähigkeits- und
Krankenversicherungsverträgen sind Fragen zur Einkommens- und Versorgungssituation
erforderlich.84 Stellt sich etwa die empfohlene Rentenversicherung für den VN insbesondere
unter Berücksichtigung seines Alters als wirtschaftlich nachteilig dar, weil er unter
Zugrundelegung der Sterbetafeln den investierten Betrag bei der insoweit angenommenen
statistischen Lebenserwartung nicht zurückerhalten würde, so bietet das Alter Anlass dazu, ihm
von dieser Gestaltung abzuraten.85 Auch die unterschiedlichen Tarife sowie deren Vor- und
Nachteile sind darzulegen.86
#60#
Bei alledem kommt es nicht allein auf den Beratungsbedarf des durchschnittlichen VN an.87
Vielmehr richtet sich der Anlass gerade nach dem im konkreten Einzelfall bestehenden
Beratungsbedarf (zu dessen Erkennbarkeit für den Versicherer s. Rdn. *).
81
OLG Köln r + s 1986, 273 (betr. Rohrreinigungsdienst).
OLG Düsseldorf r + s 1997, 486, 487 = VersR 1998, 224; Armbrüster
Rechtsfragen, S. 1, 7; Schirmer r + s 1999, 133, 135.
83 Vgl. Franz DStR 2008, 303, 304.
84 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
24; Franz DStR 2008, 303, 304; Reiff VersR 2007, 717, 725; vgl. schon
Römer NVersZ 2002, 532, 536. A.A. (zum alten Recht) OLG Köln VersR
2007, 1683, 1684; OLG Frankfurt NVersZ 2002, 400, 401; Kollhosser in P/M
Vor § 159 Rdn. 45 ff.; ähnlich LG Bochum r + s 2000, 85 f.
85 OLG Hamm VersR 2008, 523 = r + s 2008, 161 f.; OLG Stuttgart VersR
2004, 1161, 1162; s. aber auch OLG Stuttgart r + s 2009, 28, 29.
86 OLG Stuttgart r + s 2009, 28, 29 (betr. Rentenversicherung).
87 A.A. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 15.
82
22
#61#
cc) Irrtum des VN. Zu den personenbezogenen Beratungsanlässen zählen auch erkennbare
Irrtümer und Fehlvorstellungen des VN über den Umfang des Versicherungsschutzes. Schon
nach bisheriger Rechtsprechung wurden erkennbare Fehlvorstellungen zur Grundlage von
Aufklärungspflichten gemacht. Solche Irrtümer sind vom Versicherer auszuräumen.88 Das gilt
auch für den Fall, dass die Versicherungsbedingungen eindeutig gefasst sind.
#62#
Für die Erkennbarkeit genügt es, wenn der Versicherer lediglich mit einem Irrtum rechnen
muss, dieser also nahe liegt.89 Letzteres ist anzunehmen, wenn ein VN umfassenden
Versicherungsschutz wünscht und sich dann in keiner Weise auf Risikoausschlüsse bezieht.
Dann hat er sie wahrscheinlich nicht erkannt. Auch ein verfehlter Versicherungsantrag90 oder
vom VN geäußerte Zweifel können auf einen Irrtum schließen lassen.91
#63#
Weitere Beispiele: Der VN fragt, ob nur eigene oder auch fremde Sachen versichert sind.92 Er
teilt eine neue Adresse mit und bedenkt nicht, dass mit Betriebsverlegung kein
Versicherungsschutz mehr besteht. Dann besteht für den Versicherer Anlass darüber
aufzuklären, dass zur Erhaltung des Schutzes eine vorläufige Deckungszusage erforderlich
wird, die erst noch erteilt werden muss.93 Der VN gibt bei Antrag auf Neuwertversicherung
nur den Anschaffungspreis seiner Maschinen oder Gebäude an.94 Der den Versicherer oder
zumindest den Vertrag wechselnde VN hatte in seinem bisherigen Vertrag für den fraglichen
Bereich Deckung, er hat dem (neuen) Versicherer die Unterlagen zum alten Vertrag vorgelegt
und erwartet gleichen Deckungsumfang, wenn er nicht über Abweichungen aufgeklärt wird.95
Fehlvorstellungen können sich auch aus mangelnden Sprachkenntnissen96 oder anderen
88
BGHZ 2, 87, 90; BGH VersR 1956, 789, 791; BGHZ 40, 22 = NJW 1963,
1978, 1979 = VersR 1963, 768, 769; OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410 =
VersR 1987, 579; OLG Köln VersR 1996, 1265; OLG Düsseldorf r + s 1997,
486, 487; OLG Celle VersR 2008, 60, 62 f.; Dörner in Karlsruher Forum 2000,
S. 39, 50, 53; Franz DStR 2008, 303, 304 (zum neuen Recht); Prölss/Martin
Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 11 (zum neuen
Recht); Römer VersR 1998, 1313, 1321.
89 BGH NJW 1963, 1978, 1980; OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410 = VersR
1987, 579.
90 BGH NJW 1964, 244, 245 f.
91 Römer VersR 1998, 1313, 1321.
92 Schirmer r + s 1999, 133, 135.
93 BGH VersR 1987, 147 = NJW-RR 1987, 473, 474.
94 OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94 = VersR 1997, 1226; Schirmer r + s 1999,
133, 135; bei Maschinenversicherung mit Listenpreisklausel OLG Hamm ZfS
1995, 467; AG Kassel r + s 1997, 44; Schirmer r + s 1999, 133, 136.
95 Zum finnischen Recht Miettinen Pflichten, S. 103 f.
96 LG Freiburg VersR 1987, 897 (Ls.); Fausten Ansprüche, S. 115; a.A. OLG
Köln VersR 1990, 1381, 1382 (zumindest erhebliches Eigenverschulden).
23
bemerkbaren Gründen (z.B. altersbedingte Unsicherheit) ergeben oder andeuten, die für eine
mangelnde Fähigkeit des VN sprechen, die erhaltene Information zu verstehen.97
#64#
Eine allgemein unübersichtliche Rechtslage, von der auch der Versicherer wissen muss, dass
der VN sie nicht durchschaut, kann auf zu erwartende Fehlvorstellungen hindeuten. Ein
Beispiel bietet die Kündigung einer Gebäudeversicherung, die eine Unterversicherung im
Rahmen der aufrecht erhaltenen Inventarversicherung verursacht.98
#65#
dd) Vom VN verfolgter Zweck. Ein personen- oder situationsbezogener Beratungsanlass kann
sich auch aus dem vom VN mit dem Abschluss der Versicherung verfolgten Zweck ergeben.
Das Versicherungsprodukt erhält seinen Wert durch seine Abstimmung auf die individuellen
Risiken des VN. Häufig wird der VN einen bestimmten Zweck vor Augen haben, ohne dass er
selbst einschätzen könnte, wie er dieses Ziel erreichen kann. Er ist dann auf Hilfe beim
Auffinden des richtigen Versicherungsprodukts angewiesen. Schon nach bisheriger
Rechtsprechung soll der VN darauf vertrauen können, dass der Vertrag „entsprechend seinen
geäußerten Wünschen formuliert wird und ihm im rechtlich zulässigen und möglichen Rahmen
- den verlangten Versicherungsschutz gewährt“.99 Jedenfalls wenn der VN mit seiner
Entscheidung den Zweck des Versicherungsvertrags verfehlt, hat der Versicherer hierauf nach §
6 hinzuweisen.100
#66#
Beispiele: Soll der Versicherungsschutz sofort beginnen, so hat der Versicherer auf die
Möglichkeit und Notwendigkeit des Abschlusses eines Vertrags über vorläufige Deckung
hinzuweisen.101 Dasselbe gilt, wenn zeitlich lückenloser Versicherungsschutz gewünscht wird,
etwa ab Zulassung des Kfz102 oder bei Ablauf des Vorvertrags und bei Umstellung von
Versicherungsverträgen.103 Der Vertragszweck kann sich daraus ergeben, dass
Versicherungsschutz für eine bestimmte Verwendungsart der versicherten Sache gewünscht
wird (z.B. Moto-Cross-Rennen104). Deckt die Reisekrankenversicherung die Heimatreisen von
in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen nicht, so wird der Schutz für diese
VN häufig entwertet, weshalb der Versicherer auf einen solchen Risikoausschluss hinzuweisen
hat.105 Besichtigt der Versicherungsvertreter die Örtlichkeiten, um sich selbst einen Überblick
über das zu versichernde Objekt zu verschaffen, und mussten ihm bei ordnungsgemäßer
97
Miettinen Pflichten, S. 115.
OLG Köln VersR 1994, 342, 343; Miettinen Pflichten, S. 44; Römer VersR
1998, 1313, 1320.
99 OLG Hamm VersR 1984, 853, 854; OLG Köln VersR 1994, 342; OLG
Koblenz r + s 1997, 93, 94 = VersR 1997, 1226.
100 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 54.
101 BGH VersR 1978, 457.
102 Vgl. OLG Köln VersR 1998, 180, 181.
103 BGH VersR 1979, 709, 711; Schwintowski in BK § 5 a Rdn. 70; vgl. auch
Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 51.
104 OLG Düsseldorf r + s 1997, 486, 487 = VersR 1998, 224; Schirmer, r + s
1999, 133, 135.
105 Zum AGB-rechtlichen Transparenzgebot Römer NVersZ 2002, 532, 535.
98
24
Sorgfalt ungedeckte Risiken auffallen (z.B. ein Heizöltank, der eine GewässerschadenHaftpflichtversicherung erforderlich macht), so wird der vom VN verfolgte Zweck
umfassenden Versicherungsschutzes nicht erreicht; es besteht daher Anlass zu seiner
Aufklärung und zur Beratung über den Abschluss einer Zusatzversicherung.106 Soll ein
Unternehmensträger versichert werden, so ist auf Deckungslücken hinzuweisen, die sich daraus
ergeben, dass von einer bestimmten Anlage herrührende Schäden nicht von der
Unternehmensversicherung gedeckt sind.107 Sollen die Versicherungsprämien die Steuern
mindern, so hat der Versicherer entweder auf die entgegenstehenden gesetzlichen Regelungen
und Voraussetzungen hinzuweisen oder die Konsultation eines Steuerberaters anzuraten. 108 Bei
höherem Alter und geplanter Kündigung einer Krankenversicherung ist darauf hinzuweisen,
dass die Wiedererlangung von Versicherungsschutz aufgrund dann höheren Einstiegsalters und
ggf. bestehender oder hinzukommender Krankheiten ohne Anwartschaftsversicherung
unwahrscheinlich ist, und diese anzuraten.109
#67#
Kein Anlass besteht für den Versicherer hingegen dazu, über die Schadenswahrscheinlichkeit
und damit die Notwendigkeit einer Versicherung für den VN zu beraten. Ob der VN ein
bestimmtes Risiko abdecken möchte, muss er vielmehr selbst beurteilen und entscheiden.110
Anderes kann sich nur aus der Übernahme einer diesbezüglichen Beratungspflicht ergeben, wie
sie nicht selten von Versicherungsmaklern übernommen wird.
#68#
(5) Überlegene Risikokenntnis des Versicherers. Beratungspflichten können sich auch aus
überlegener Risikokenntnis des Versicherers ergeben: Hat er durch seine laufende
Geschäftspraxis oder aufgrund von Nachforschungen im konkreten Fall über tatsächliche,
rechtliche oder versicherungstechnische Umstände Informationen, die der VN benötigt, um eine
sachgerechte Entscheidung zu treffen, so hat der Versicherer sie weiterzugeben und über
eventuelle Deckungslücken aufzuklären.111
#69#
Eine überlegene Risikokenntnis besteht insbesondere dann, wenn der VN Eigenschaften
aufweist, die ihn in eine bestimmte Risikogruppe einordnen, deren typischen Bedarf an
Versicherungsschutz der Versicherer kennt und besser abzusichern weiß als der VN.112 So sind
bei Versicherern, die gezielt bestimmte Betriebe versichern, Kenntnisse hinsichtlich der
Besonderheiten und Gepflogenheiten der jeweiligen Betriebsart zu erwarten. Dies gilt etwa für
den Umstand, dass Dachdecker oft auch im Gerüstverleih tätig sind und dass diesbezügliche
Risikoausschlüsse in ihren Haftpflichtversicherungen erhebliche Deckungslücken
106
OLG Köln VersR 1993, 1385; Römer VersR 1998, 1313, 1321; Schirmer r
+ s 1999, 133, 135.
107 BGH NJW 1964, 244; OLG Köln VersR 1993, 1385; Rixecker in VersRHdb. § 18a Rdn. 11.
108 OLG Hamm VersR 1988, 623; Römer VersR 1998, 1313, 1321.
109 LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.
110 Miettinen Pflichten, S. 99.
111 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 53; Miettinen Pflichten, S. 42;
Römer VersR 1998, 1313, 1319.
112 LG Bochum r + s 2000, 85 f.; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 54
f.; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 473.
25
verursachen.113 Bei Verfehlung eines solchen, für eine Gruppe von VN typischen
Deckungsschutzbedarfs bietet damit schon die Kenntnis des Versicherers davon, dass der VN
dieser Gruppe angehört, einen Beratungsanlass.114
#70#
Typische Verhaltensweisen, die zu Declungslücken führen können, gibt es auch im
Massengeschäft: So kann bei türkischen VN, denen Kfz-Versicherungen und
Haftpflichtverträge mit Begrenzung auf Europa angeboten werden, Anlass zur Aufklärung
hinsichtlich dieser geographischen Risikoausschlüsse bestehen (vgl. Rdn. * bei Fn. 312).
Hierfür genügt es, dass der konkrete VN der Gruppe von VN türkischer Herkunft angehört und
damit typischerweise eher in asiatische Regionen fährt als deutsche VN. Umgekehrt besteht bei
einem Deutschen, der eine Lehrstelle in der Türkei anzunehmen beabsichtigt, kein
Beratungsanlass, sofern der VN keine entsprechenden Angaben macht und der Bedarf dem
Versicherer daher nicht erkennbar ist (s. zur Erkennbarkeit noch Rdn. *).115 Anders ist die
Lage, sofern sich der deutsche VN erkennbar über den Umfang des Vertrags geirrt oder diesen
gerade zur Absicherung der Türkeireisen abgeschlossen hat.
#71#
Gleichfalls aufgrund überlegener Risikokenntnis des Versicherers ist der VN über den
Ausschluss für Fahrräder in der Hausratversicherung zu beraten, wenn der VN im
fahrradfähigen Alter ist. Auch ein wenn der VN Jäger ist, können eine Information über den
Ausschluss von Jagdrisiken in der allgemeinen Privathaftpflichtversicherung und eine
Beratung hinsichtlich möglicher Zusatzdeckungen veranlasst sein. Auch bei einem Hausbesuch
besteht allerdings keine Pflicht zur Überprüfung der Örtlichkeiten auf atypische Risiken:116
Anlass zur Beratung besteht zwar, wenn sich aus der Situation naheliegende Deckungslücken
ergeben, nicht aber, wenn der VN dem Versicherer neutral gegenübertritt. Hält der VN ein
wertvolles Dressurpferd, so so hat der Versicherer nachzufragen, ob dieses auch von Dritten
geritten wird, sofern deren Verhalten nicht von der Tierhalterhaftpflichtversicherung gedeckt
ist.117
#72#
Auch bei komplexen Versicherungsprodukten (s. bereits Rdn. *) zur Deckung vielgestaltiger
gewerblicher Risiken wie bei Betriebs- und Industrieversicherungen überblickt der
Versicherer die typischen Risiken und insbesondere die sich aus der Vertragsgestaltung
ergebenden Gefahren aufgrund von Deckungslücken regelmäßig besser als der VN, so dass
Anlass zur Beratung besteht.118 Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass der VN sich in solchen
Fällen in der Praxis häufig unabhängigen Sachverstands (Makler) bedient.
#73#
113
BGH VersR 1975, 77; Römer VersR 1998, 1313, 1319. ähnlich BGH NJW
1964, 244, 245 f. = VersR 1964, 36.
114 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11 a.E.
115 Vgl. Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 473.*
116 OLG Oldenburg r + s 1996, 31, 32.
117 Terbille in Anwaltshandbuch Versicherungsrecht § 2 Rdn. 25.
118 BGH NJW 1964, 244, 245 f.; Miettinen Pflichten, S. 44.
26
(6) Weitere Umstände. Die Aufzählung der Beratungsanlässe in Abs. 1 ist nicht
abschließend. Auch darüber hinaus kann es Anlässe zur Beratung geben, die teils schon in der
Rechtsprechung zum alten Recht – zumindest als Anlass für Information – anerkannt sind.
#74#
Wunsch nach umfassendem Versicherungsschutz. Macht der VN ausdrücklich oder
konkludent deutlich, dass er einen umfassenden Versicherungsschutz erzielen möchte, so bietet
dies Anlass zur Beratung. Dieser Anlass kann sich auf einen bestimmten Vertragsgegenstand
(z.B. „versicherte Sache“) oder auf bestimmte Risiken (z.B. Haftpflicht) beschränken. Der
Versicherer hat dann eine vollständige Beratung zu bieten. Dies schließt es ein, auch Risiken
selbst zu ermitteln sowie zu prüfen und darzulegen, ob und wie diese Risiken zu welcher
Prämie versichert werden können.119 Stets muss der Versicherer solche Gefahren ansprechen,
die naheliegend sind und deren Eintritt für das versicherte Objekt nicht unwahrscheinlich
erscheint.120
Auch
unversicherbare
Risiken
sind
dann
aufzuzeigen,
z.B.
121
Vandalismusschäden.
Auf ggf. später nicht mehr erhältlichen Versicherungsschutz muss
hingewiesen werden.122
#75#
Auch der Wunsch nach umfassendem Versicherungsschutz bietet freilich keinen Anlass,
sämtliche möglichen Deckungslücken zu bedenken, sondern nur solche, die sich im
naheliegenden Gefahrenbereich befinden.123 Hinsichtlich solcher Risiken, die über den
Gesprächsgegenstand hinausgehen, muss der Versicherer nicht ohne weitere Nachfragen des
VN oder anderweitige Anhaltspunkte für einen konkreten Beratungsbedarf beraten.124
#76#
Einzelfälle. Wünscht der VN eine umfassende Absicherung seines Gebäudegrundstücks, so
ist
der
Versicherer
nicht
verpflichtet,
diesem
eine
Risikolebensoder
Berufsunfähigkeitsversicherung anzuraten, weil er als Familienvater für diese Risiken
Versicherungsschutz benötigt.125 Wünscht der VN hingegen eine umfassende Absicherung
seiner Krankheitsrisiken, so ist der Hinweis auf eine mögliche Zusatzversicherung für
Zahnersatz veranlasst. Entsprechend bietet der Wunsch nach umfassender Altersvorsorge
119
OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410; OLG Hamm NVersZ 2001, 88 =
NJW-RR 2001, 239, 240; LG Bochum r + s 2000, 85 f.; Dörner in Karlsruher
Forum 2000, S. 39, 52; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11; Römer VersR
1998, 1313, 1320; im Ergebnis auch Schwintowski in BK § 5 a Rn 70; vgl.
auch Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 11.
120 OLG Hamm NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239, 240.
121 OLG Karlsruhe VersR 1994, 1169 (Ls.) = r + s 1994, 264; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 11.
122 LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.; betr. Anwartschaftsvertrag in der
Krankenversicherung.
123 OLG Hamm NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239, 240; Miettinen
Pflichten, S. 45; Niederleithinger VersR 2006, S. 437, 439; Reiff in VersRHdb. § 5 Rdn. 162; Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht
1.Kap. Rdn. 272.
124 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 471.
125 Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 162.
27
Anlass,
neben
Lebensversicherungen
auf
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung hinzuweisen.126
die
Nützlichkeit
einer
#77#
Kein Anlass für Beratung besteht, wenn der VN erkennen lässt, dass er nur eine ganz
bestimmte Versicherung abschließen möchte.127 Hier darf der Versicherer davon ausgehen,
dass der VN weiß, was er möchte; er muss ihm keine Beratung aufnötigen (zur davon zu
unterscheidenden Verzichtsmöglichkeit bei bestehendem Beratungsanlass s. Rdn. *). Allerdings
kann sich dessen ungeachtet aus anderen Umständen ein Beratungsanlass ergeben: Tritt aus den
Angaben oder den weiteren Umständen für den Versicherer ein Fehlverständnis oder eine
Deckungslücke zutage, so bietet dies zumindest Anlass, den VN darauf hinzuweisen (s. Rdn.
*). Keine Aufklärung kann der VN freilich bei außergewöhnlichen Risiken erwarten, wenn er
diese nicht nennt, sondern lediglich umfassenden Schutz wünscht.128
#78#
Ein Anlass zur Beratung kann auch dann bestehen, wenn der VN dem Versicherer etwa ein
Angebot eines Wettbewerbers vorlegt und fragt, ob er ihm Versicherungsschutz zu gleichen
Bedingungen, aber günstigerer Prämie gewährt. Enthalten die AVB des Versicherers gegenüber
denjenigen des Wettbewerbers nachteilige Regelungen, z.B. keinen Verzicht auf den Einwand
der Unterversicherung, so hat der Versicherer hierauf hinzuweisen.129
#79#
Im Einzelfall kann dann, wenn der VN den Wunsch nach umfassendem Versicherungsschutz
äußert, auch ein konkludenter Beratungsvertrag anzunehmen sein. Dies ist auch nach der
Schaffung von Abs. 1 praktisch bedeutsam. Bei der Risikoabsicherung komplexer
Lebenssachverhalte, etwa der Sicherung der Alterversorgung oder der umfassenden
Absicherung einer gewerblichen Tätigkeit, kann es nämlich intensiver Beratung sowie einer
allgemeinen Risikoanalyse bedürfen, wozu der Versicherer nach Abs. 1 nicht schrankenlos
verpflichtet ist.130 In solchen Fällen ist eine (die Pflicht aus Abs. 1 ergänzende) selbstständige
Beratungspflicht aus einem gesonderten Vertrag herzuleiten.
#80#
Nachfrage des VN. Auch mit einer an den Versicherer gerichteten Nachfrage legt der VN
seinen individuellen Beratungsbedarf offen, was einen Anlass zur Beratung bietet. Zu letzterer
gehört dann in erster Linie die Antwort auf die konkrete Frage des VN. Sie muss zutreffend
und vollständig sein.131 Im Einzelfall problematisch und umstritten ist jedoch, ob der
Versicherer auf jegliche Nachfrage des VN antworten muss oder ob er die Beantwortung einer
Frage oder eine aus seiner Sicht zu umfangreiche Beratung ablehnen kann. Auch wie
126
Schwintowski in VersR-Hdb., 1. Aufl. 2004, § 18 Rdn. 63.
Miettinen Pflichten, S. 100 (zum finnischen Recht).
128 OLG Köln VersR 1996, 1265, 1266.
129 BGH VersR 2001, 1498, 1499.
130 Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 9; vgl. zum Vermittlerrecht
Begr. zu § 42c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24.
131 LG Düsseldorf VersR 1981, 827, 828; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S.
39, 50; Römer VersR 1998, 1313, 1320; Schirmer r + s 1999, 133, 135; 177,
184.
127
28
weitgehend aufgrund einer Nachfrage hin beraten werden muss, wenn sich aus der Frage
erheblicher Beratungsbedarf ergibt, ist fraglich. Dabei handelt es sich jedoch um eine Frage des
Umfangs der Beratungspflicht (s. dazu Rdn. *) und nicht des Anlasses.
#81#
Veränderte Umstände. Beratungsbedarf auslösen können veränderte tatsächliche, rechtliche
oder versicherungstechnische Umstände. Die Veränderung vertragsrelevanter Umstände wird
regelmäßig während der Vertragslaufzeit eintreten, z.B. in Gestalt einer Gefahrerhöhung (s.
Rdn. * ff.). Allerdings können veränderte Umstände auch im Rahmen der Beratungspflicht nach
Abs. 1, also im Stadium der Vertragsanbahnung, einen Beratungsanlass bieten. Zwar sind
ohnehin die im Zeitpunkt der Beratung maßgeblichen Umstände zugrunde zu legen. Ein
Beratungsanlass kann sich unter dem Gesichtspunkt veränderter Umstände aber in zwei
Fallgruppen ergeben: Zum einen, wenn der VN eine Anschlussdeckung zu einem früheren
Versicherungsschutz sucht, und zum anderen, wenn sich im Laufe der Vertragsverhandlungen
Umstände ändern oder eine solche Änderung zumindest absehbar wird.
#82#
Ein Beispiel für die erste Fallgruppe (Anschlussdeckung) bietet die sog. Kofferraumklausel
in der Reisegepäckversicherung. Nach ihr besteht nur dann Versicherungsschutz für den
Verlust von Gepäckstücken, wenn sie sich in einem abgeschlossenen Kofferraum befinden. Hat
der VN mittlerweile ein Kombi-Kfz ohne getrennten Kofferraum, so entsteht aufgrund der
tatsächlichen technischen Veränderung eine Deckungslücke, auf die hingewiesen werden
muss.132
#83#
Ein Beispiel für die zweite Fallgruppe (Änderungen während der Vertragsanbahnung) bieten
zu erwartende Änderungen in den Berechnungsgrundlagen (versicherungstechnische
Veränderungen). Hier besteht Anlass für einen Hinweis, sofern sich die Änderungen in
erheblicher Weise auf den Vertrag auswirken. Freilich kann in der Angabe überholter
Berechnungsgrundlagen auch eine Verletzung der Wahrheitspflicht liegen (s. dazu Rdn. *).
#84#
Ebenso ist auf erfolgte oder ausstehende Gesetzesänderungen (rechtliche Veränderungen)
hinzuweisen, wenn sie die Ausgestaltung des Versicherungsschutzes betreffen. Dies gilt etwa
für die Herabsetzung des Höchstgarantiezinses in der Lebensversicherung oder neue
Haftungsausweitungen, die in der angebotenen Haftpflichtversicherung noch nicht
berücksichtigt wurden und daher Deckungslücken verursachen. Diese Änderungen stellen
zugleich typische Fälle der Zweckverfehlung dar (s. dazu Rdn. * bei Fn. 99).
#85#
Vorangegangenes Verhalten des Versicherers. Auch ein vorangegangenes Verhalten des
Versicherers kann Anlass zur Beratung bieten. Beispiele: Der Versicherer löst einen Irrtum
132
BGH VersR 1979, 343, 345 = NJW 1979, 981; Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 26.
29
des VN aus.133 Der Versicherer wirbt den VN von einem anderen Versicherer ab und regt ihn
zur Kündigung an (sog. Umdeckung). In diesem Fall hat er Deckungslücken aufgrund
zeitlicher Differenzen zu vermeiden und entsprechende Hinweise zu erteilen. Zwar ist der
Beratungsbedarf grundsätzlich gleich, egal ob der VN aus eigenem Antrieb gekündigt hat oder
auf Anraten des Versicherers. Im letzteren Fall vertraut der VN aber stärker darauf, dass ihm
der neue Vertrag Verbesserungen bringt, jedenfalls aber nicht zu Deckungslücken führt; der
VN verzichtet daher ggf. auf eigene Nachforschungen oder auf die Hinzuziehung externer
Sachverständiger oder seines bisherigen Versicherers. Daher löst das vorangegangene
Verhalten des Versicherers erhöhte Sorgfaltspflichten aus. Er muss etwa auf die Gefahren der
Kündigung hinweisen und ggf. auch für eine Beschleunigung der Abwicklung sorgen, um
Deckungslücken zu vermeiden.134
#86#
Als weiteres Beispiel für einen Beratungsanlass aufgrund vorangegangenen Verhaltens des
Versicherers wird im Schrifttum der Vorschlag eines bestimmten Produkts durch den
Versicherer angeführt, das in Wahrheit das gewünschte Risiko nicht hinreichend deckt; dann
soll eine Aufklärungspflicht hierüber bestehen.135 Indessen handelt es sich hierbei um eine
fehlerhafte Beratung, die auch ohne Vorliegen einer Aufklärungspflicht eine
Schadensersatzhaftung nach sich zieht. An der Grenze liegt der Fall, dass eine
Zweitwagenversicherung für den Wagen der Ehefrau im Namen des Ehemannes empfohlen
wird, mit der Folge einer Deckungslücke bei gegenseitiger Schädigung.136 Diese Empfehlung
kann als Falschberatung angesehen werden. Führt die empfohlene Vertragskonstellation
dagegen zu einer deutlichen Prämienersparnis und stellt sie sich damit trotz der Deckungslücke
per Saldo als vorteilhaft dar, so handelt es sich zwar nicht um eine Falschberatung, aber es
bedarf eines Hinweises auf die Nachteile dieser Vertragsgestaltung, damit der VN entscheiden
kann, ob er um der Prämienersparnis willen das Risiko in Kauf nimmt.
#87#
3. Erkennbarkeit des Anlasses. Nach der Rechtsprechung137 zum früheren Recht musste der
pflichtenbegründende Anlass dem Versicherer erkennbar sein. Vergleicht man nun den
Wortlaut von Abs. 1 Satz 1 mit dem des Abs. 4 Satz 1, so ergibt sich, dass der Gesetzgeber nur
hinsichtlich der Beratungspflichten während der Vertragslaufzeit die Erkennbarkeit des
Anlasses erwähnt. Im Schrifttum wird daraus teils gefolgert, dass die vorvertragliche
Beratungspflicht unabhängig davon besteht, ob der Beratungsanlass dem Versicherer erkennbar
ist. Fehlt es an einer Erkennbarkeit, so handelt der Versicherer demnach objektiv
133
ÖOGH VersR 1998, 482; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 50. Vgl.
auch BGH NJW 1964, 244, 245 f.; OLG Oldenburg VersR 1998, 220-220; S.
Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 431 ff.
134 BGH VersR 1979, 709, 710 f.; Römer VersR 1998, 1313, 1322; vgl. auch
OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39,
50, 120.
135 H. Baumann VersR 1996, 1, 4, 7; Miettinen Pflichten, S. 49; Römer VersR
1998, 1313, 1322.
136 OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 904, 905; a.A. Rixecker in VersR-Hdb. § 18a
Rdn. 35, da das Risiko in diesem Fall zu fernliegend und damit die
Beratungspflicht uferlos sei.
137 BGH VersR 1981, 621, 623; OLG Köln VersR 1996, 1265; so auch
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 37; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 11;
Miettinen Pflichten, S. 200; Werber ZVersWiss 1994, 321, 329.
30
pflichtwidrig, er hat diese Beratungspflichtverletzung jedoch nicht zu vertreten und kann sich
daher gem. Abs. 5 Satz 2 exculpieren.138
#88#
Dem ist nicht zu folgen. Vielmehr gehört die Erkennbarkeit des Anlasses für den Versicherer
auch bei Abs. 1 zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Beratungspflicht. Das
entspricht dem allgemeinen Grundgedanken, dass es kein pflichtwidriges Verhalten ohne
Erkennbarkeit des pflichtenbegründenden Anlasses geben kann. Besonders deutlich erweist
sich diese Regel am Beispiel des Irrtums als Beratungsanlass: Macht sich der VN irrige und
zugleich ungewöhnliche Vorstellungen über die Reichweite des Versicherungsschutzes, so träfe
nach der Gegenansicht den Versicherer auch dann eine Beratungspflicht, wenn der Irrtum – mit
dem der Versicherer wegen seiner Ungewöhnlichkeit nicht rechnen muss (s. dazu Rdn. *) – in
keiner Weise nach außen erkennbar wird. Hier fehlt es bereits an einem Anlass für die
Beratung, so dass der Versicherer schon nicht objektiv pflichtwidrig handelt.139
#89#
Dieses Verständnis ist auch mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar. Der Hintergrund der
abweichenden Formulierung in Abs. 4 Satz 2 ist nämlich ein ganz anderer: Der wesentliche
Unterschied hinsichtlich der vorvertraglichen Beratungspflicht und derjenigen während der
Vertragslaufzeit besteht darin, dass den Versicherer hinsichtlich der vorvertraglichen Pflichten
die Initiativlast trifft. Aufgrund seiner Fragepflicht muss er in einen Dialog mit dem VN treten,
in dessen Verlauf ihm häufig ein Beratungsanlass erkennbar werden kann. Fragepflicht und
Erkennbarkeit des Anlasses stehen in einer Wechselwirkung: Die auf die Fragen gegebenen
Antworten können Anlass für weitere, vertiefende Fragen begründen. Hinsichtlich der Beratung
während der Vertragslaufzeit ist dies anders: Hier trifft den Versicherer keine Initiativlast;
vielmehr muss er erst bei entsprechendem Anlass tätig werden.140
#90#
Auch der Gesetzgeber ging bei Verabschiedung des § 42c VVG a.F. im Rahmen der
Vermittlerpflichten davon aus, dass eine Pflicht nur bestehen soll, wenn ein „erkennbarer
Anlass“ dazu besteht. Außerdem sollte „keine eingehende Ermittlungs- und
Nachforschungstätigkeit“, sondern lediglich eine „angabenorientierte Beratung“ sichergestellt
werden.141 Somit ist die Erkennbarkeit des Beratungsanlasses auch bei vorvertraglichen
Pflichten notwendiges Merkmal einer objektiven Pflichtverletzung.142
#91#
138
Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 80; ders. VersR 2007,
717, 725; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 468 f.; so offenbar auch Münkel in
Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 45.
139 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 9; Franz VersR 2008, 298, 299.
140 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 9 f.
141 Begründung zu § 42 c VVG des Gesetzes zur Neuregelung des
Versicherungsvermittlerrechts, BT-Dr. 16/1935, S. 24.
142 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 9 f.; Franz VersR 2008, 298, 299; ders.,
DStR 2008, 303; Neuhaus r + s 2008, 449, 456; zu § 61 Reiff in VersR-Hdb. §
5 Rdn. 162; Schneider in VersR-Hdb. § 1a Rdn. 17
31
4. Die Pflichten im Einzelnen. a) Fragepflicht. Die Fragepflicht soll der Schaffung einer
hinreichenden Beratungsgrundlage dienen. Der Versicherer hat den eventuell vorhandenen
Beratungsbedarf durch Fragen aufzudecken, da eine sachgerechte und bedarfsorientierte
Beratung allein aufgrund der vom VN von sich aus gemachten Angaben kaum möglich ist
(Informationsbeschaffungspflicht;143 zur Zielsetzung s. Rdn. *). Die Fragepflicht bezieht
sich auf die Wünsche und Bedürfnisse des VN. Es geht demnach einerseits um den objektiven
Bedarf an Versicherungsschutz. Andererseits hat der Versicherer die (subjektiven) Wünsche zu
erfragen, also (ggf. auch vom objektiven Bedarf abweichende „Sonder“-) Vorstellungen
darüber zu erforschen, wie der Versicherungsschutz ausgestaltet sein soll.
#92#
Während unter die Erforschung des objektiven Bedarfs etwa Fragen nach dem Wert der zu
versichernden Gegenstände, nach bereits bestehenden Versicherungen oder der Höhe
gesetzlicher Rentenansprüche fallen, können subjektive Wünsche die Mitversicherung eines
Kindes sein, möglichst kostengünstiger Versicherungsschutz oder das Ziel einer
Steuerersparnis.
#93#
Oft sind die Wünsche des Kunden wenig präzisiert („im Alter gut versorgt sein“, „die Kinder
absichern“, „günstige“ Versicherung). In diesen Fällen hat der Versicherer zunächst durch
Nachfragen den eigentlichen objektiven Bedarf festzustellen und sodann ein passendes Produkt
oder verschiedene passende Produkte zu ermitteln. Hierzu gehört, die abzudeckenden Risiken
zu ermitteln. So kann der Wunsch nach Absicherung der Kinder bedeuten, dass die Kinder im
Fall von Unfall oder Krankheit versichert, beim Tod eines Elternteils durch eine
Risikolebensversicherung abgesichert oder dass ihre künftige Ausbildung finanziell
sichergestellt sein sollen). Zudem kann der VN danach zu befragen sein, ob er im Interesse
einer günstigen Prämie auch mit Risikoausschlüssen oder mit einem Selbstbehalt einverstanden
ist.144
#94#
Der Umfang der Fragepflichten hängt mithin von der Art und Komplexität des in Rede
stehenden Versicherungsvertrags ab; er unterscheidet sich daher wesentlich danach, ob sie eine
einfach strukturierte Sachversicherung (etwa die Versicherung eines PCs), einen Bereich mit
unübersichtlichen Tarifstrukturen wie etwa die Kfz-Versicherung oder existentielle Bereiche
wie die Krankenversicherung oder Altersvorsorge betrifft (vgl. Rdn. *).145 Insbesondere für die
überschussberechtigte Lebensversicherung bestehen intensive Fragepflichten, etwa hinsichtlich
der
möglichen
Zweckrichtungen
Risikovorsorge,
Altersversorgung,
Hinterbliebenenversorgung, Kapitalanlage oder Kreditabsicherung, dem Ziel der Rentabilität
oder Kapitalerhaltung, dem primären Ziel der Steuerersparnis, dem Bedürfnis nach
Liquidität.146
143
Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 8 Marlow/Spuhl Das Neue
VVG kompakt, S. 24 f. Allgemein zu diesem Konzept S. Lorenz Der Schutz
vor dem unerwünschten Vertrag, S. 439.
144 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
24.
145 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475.
146 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 20; Mauntel Beratung, S. 200;
Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 272.
32
#95#
Für die Praxis handhabbar wird die Erfüllung der Fragepflicht durch standardisierte
Fragenkataloge. Derartige Kataloge sind insbesondere von der Vermittlerbranche bereits
entwickelt worden.147 Die Fragen sind dabei meist nach bestimmten Kategorien unterschieden.
Dazu gehören persönliche Angaben, die für die Wahl des Versicherungsprodukts relevant
sind, wie Alter, Personenstand und verfügbares Einkommen des VN,148 sowie insbesondere die
Beschreibung des Risikobereichs, der abgesichert werden soll. Die Fragen orientieren sich an
den Besonderheiten des jeweiligen Bereichs und sind – um den VN nicht zu überfordern oder
belästigen und zugleich den Aufwand des Versicherers zu reduzieren – auf das konkrete Risiko
bezogen.
#96#
Für die meisten Versicherungsinteressenten wird mit der Beantwortung des Fragenkatalogs der
Versicherungsbedarf hinreichend festgestellt sein, so dass eine ausreichende
Beratungsgrundlage vorliegt. Bestehen freilich Unklarheiten, Ungenauigkeiten und
Unsicherheiten in den Angaben des VN, so hat der Versicherer diesbezüglich weiter
nachzufragen. Der Versicherer kann auch vorab durch (dokumentierte) Nachfrage klären, in
welchem Umfang der VN eine Beratung wünscht. Dabei gilt es zu klären, ob den VN etwa nur
das Preis-Leistungsverhältnis eines ihm ansonsten gut bekannten Versicherungsprodukts
interessiert, er vielleicht selbst schon verschiedene Produkte verglichen hat und nur noch das
avisierte Produkt abschließen will, oder ob es um eine umfassendere Vorsorgeberatung geht.
Bei klar artikulierten, begrenzten Wünschen des VN können Befragung und Beratung auf ein
Minimum reduziert sein (zum Beratungsverzicht s Rdn. *).149 Allein aus einer präzisen
Nachfrage des VN hinsichtlich einzelner Gesichtspunkte kann jedoch nicht geschlossen
werden, dass hinsichtlich anderer Punkte kein Beratungsbedarf besteht. Insbesondere bei
komplexen Versicherungsprodukten wie einer Lebensversicherung ist der Hintergrund des
Versicherungswunsches (Altervorsorge, Hinterbliebenenabsicherung) zu erfragen.150
#97#
Eine generelle Pflicht zur Erstellung einer allgemeinen Risikoanalyse begründet Abs. 1
hingegen nicht.151 Der Versicherer hat daher nicht die Schadenswahrscheinlichkeit und damit
die Notwendigkeit einer Versicherung für den VN zu erfragen und zu ermitteln. Ob er ein
bestimmtes Risiko abdecken möchte, muss der VN selbst beurteilen und entscheiden.152 Daher
können sich auch Nachfrage und Beratung auf den durch die konkrete Anfrage des VN
beschriebenen Bedarf beschränken und müssen nicht auf dessen gesamte Risiko- und
Versicherungssituation bezogen sein.153 Um seinen Pflichten zu genügen, reicht es aus, dass
147
Vgl. http://vermittlerprotokoll.de/ (Stand: 21.11.2007). Zum Anlagegeschäft
Huckele,
Die
vorvertraglichen
Aufklärungs-,
Beratungsund
Informationspflichten, S. 60.
148 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 20.
149 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; Reiff VersR 2007, 717,
725. Vgl. auch LG Oldenburg VersR 1982, 890 (wenn die Bedingungen des
Vorversicherung übernommen werden sollen).
150 Insoweit missverständlich Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 19.
151 Begründung zu § 42 c, BT-Dr. 16/1935, S. 47.
152 Miettinen Pflichten, S. 99 (zum finnischen Recht).
153 Franz VersR 2008, 298, 299.
33
der Versicherer auf den ungedeckten Bereich und auf Möglichkeiten seiner Absicherung
hinweist. Die Einschätzung, wie wahrscheinlich ein Schaden ist, und die wirtschaftliche
Abwägung zwischen den Kosten für die Versicherung und der Höhe des Risikos verbleibt
grundsätzlich beim VN; sie kann und soll ihm vom Versicherer nicht abgenommen werden.
Anderes kann sich aus einem Beratungsvertrag ergeben (s. dazu Rdn. *).
#98#
b) Beratungspflicht. aa) Grundregeln. Der Versicherer hat den VN zu beraten. Die
Beratungspflicht erstreckt sich auf alle für den jeweiligen Interessenten bedeutsamen
Umstände, soweit sie einen hinreichenden Bezug zur konkret angefragten Versicherung haben,
ein Anlass zur Beratung besteht und dem Versicherer eine Beratung zumutbar ist.154 Damit ist
er nicht nur zu Information oder Aufklärung, sondern auch zum Aufzeigen verschiedener
Lösungsmöglichkeiten und zur Erteilung eines für den Versicherer günstigen Rates, also
regelmäßig einer Handlungsempfehlung, verpflichtet. Während Information die objektive
Wiedergabe von Tatsachen oder rechtlichen Gegebenheiten beinhaltet, die der VN in seine
Entscheidungsfindung einbeziehen kann, stellt die Beratung eine die verschiedenen
Handlungsalternativen wertende Empfehlung dar und gibt der Entscheidungsfindung eine
bestimmte Richtung.155 Eine solche Pflicht wurde vor Inkrafttreten von Abs. 1 – im Gegensatz
zu den Aufklärungspflichten – nur bei einem separaten, ggf. konkludenten Beratungsvertrag
bejaht (s. Rdn. *).156 Nach Abs. 1 ist sie nunmehr eine schadensersatzbewehrte
Nebenleistungspflicht des Versicherers.
#99#
Der Unterschied zwischen Aufklärung und Beratung relativiert sich freilich dadurch, dass der
VN aus einer sachgerechten Aufklärung bereits selbst eine bestimmte Handlungsempfehlung
wird ablesen können. Weist der Versicherer etwa auf die Nachteile einer Kündigung der
Lebensversicherung hin, so wird sich hieraus regelmäßig der Rat zum Unterlassen der
Kündigung ergeben.157
#100#
bb) Inhalt. Zum Inhalt der Beratung macht Abs. 1 keine Vorgaben. Um das Ziel zu erreichen,
den VN zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung in die Lage zu versetzen, hat sie sich am
Beratungsanlass zu orientieren. Sie kann sich daher auf das angebotene Produkt beziehen,
aber auch auf den individuellen Deckungsbedarf des VN (zu den Fallgruppen des Anlasses s.
Rdn. * ff.).
#101#
Produktbezogen hat der Versicherer den VN so über den Inhalt der angebotenen Versicherung
zu informieren und aufzuklären, dass dieser das Versicherungsprodukt mit seinem eigenen
Bedarf vergleichen kann, um selbst beurteilen zu können, ob es das passende Produkt ist. 158
Dazu
hat
der
Versicherer
überblicksmäßig
–
insbesondere
anhand
des
Produktinformationsblatts – die wesentlichen Eigenschaften des Produkts zu erläutern (s.
154
Vgl. auch Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 24 f.
Fausten Ansprüche, S. 101; Ihle Informationsschutz, S. 15; Miettinen
Pflichten, S. 201; abweichend Schwintowski VuR 2001, 288, 289.
156 Ablehnend z.B. BGH VersR 1981, 621, 623.
157 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 3.
158 Miettinen Pflichten, S. 235.
155
34
Rdn. *). Auf wichtige, d.h. entscheidungserhebliche Risikoausschlüsse muss der Versicherer
hinweisen (s. Rdn. *); komplizierte vertragliche Regelungen muss er erklären (s. Rdn. *).
Dabei ist er nicht verpflichtet, sämtliche AVB zu erläutern oder auf atypische Konstellationen
ohne weitere Veranlassung hinzuweisen (s. Rdn. *).
#102#
Der Versicherer darf sich nicht auf ein Versicherungsprodukt beschränken, wenn er mehrere
Produkte im Angebot hat, die für den Bedarf des VN als passend in Betracht kommen.159
Beim Vergleich mehrerer Produkte hat er insbesondere die verschiedenen Vertrags- und
Tarifgestaltungen sowie Möglichkeiten einer Zusatzdeckung zu erläutern (s. Rdn. *) und – vor
allem, wenn sich dem VN die Vor- oder Nachteilhaftigkeit gewisser Produkte aufgrund der
Komplexität nicht erschließen oder wenn er keinen Überblick über die Angebotspalette und die
jeweilige Eignung der Produkte hat160 – das passende Produkt zu empfehlen (s. Rdn. *). Auch
auf (hauseigene) prämiengünstigere Alternativprodukte oder Gestaltungen161 muss der
Versicherer hinweisen. Dies gilt namentlich dann, wenn sie eigens für eine bestimmte Gruppe
von VN entwickelt wurden, zu der der Vertragsinteressent gehört.162 Die Beratungspflicht
erstreckt sich dagegen nicht auf Produkte konkurrierender Versicherer (s. Rdn. *).
#103#
Daneben hat der Versicherer bedarfsbezogen zu beraten. Dazu gehört es, nach der
Erforschung der individuellen Wünsche und Bedürfnisse den passenden Versicherungsschutz
aus der eigenen Produktpalette anzubieten sowie über verbleibende Deckungslücken
aufzuklären. Damit bezieht sich die Beratung in erster Linie auf das in Rede stehende Risiko.
Der Versicherer hat aber auch hinsichtlich eigener Alternativprodukte zu beraten und gerade
bei der oft komplizierten Abgrenzung zwischen verschiedenen Versicherungsprodukten (etwa
Gebäudeund
Hausratversicherung)
Möglichkeiten
für
einen
lückenlosen
Versicherungsschutz aufzuzeigen. Der Versicherer darf nicht vorrangig zu für ihn lukrativeren
Produkten raten, wenn elementarerer Versicherungsschutz noch fehlt (etwa auf Abschluss einer
Kapitallebensversicherung drängen, solange eine Risikolebensversicherung des Versorgers
aussteht).163
#104#
Nachfragen des VN hat der Versicherer zu beantworten, wenn dieser ein berechtigtes Interesse
an der Antwort hat und soweit dem Versicherer die entsprechende Mitteilung zumutbar ist.
Möchte der VN z.B. wissen, ob eine Behandlung in einer bestimmten Privatklinik unter den
privaten Krankenversicherungsschutz fällt, so hat der Versicherer dies (rechtzeitig) zu
beantworten, ggf. auch unter vorheriger Rückfrage beim eigenen Verband. 164
159
Miettinen Pflichten, S. 236.
Anders noch BGH VersR 1981, 621, 623.
161 AG Mannheim VersR 1985, 985 (betr. erhöhte Versicherungssumme bei
zwei separaten Reisegepäckversicherungen).
162 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 12.
163 Vgl. zum Vermittlerrecht Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 56;
Miettinen Pflichten, S. 100 f. (zum finnischen Recht); Reiff
Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 81.
164 LG Düsseldorf VersR 1981, 827, 828.
160
35
#105#
Äußert der VN den Wunsch nach umfassendem Versicherungsschutz, so hat der Versicherer
nach Feststellung des Risikos die geeigneten Produkte mit möglichst umfassendem Schutz
hinsichtlich dieses Risikos oder Zusatzpolicen anzubieten und eine Empfehlung auszusprechen.
Über fortbestehende Deckungslücken hat der Versicherer aufzuklären, auch wenn dadurch für
ihn die Gefahr besteht, dass der VN sich daraufhin mit seinem Deckungswunsch an andere
Versicherer wendet. Allerdings muss der Versicherer nicht mitteilen, dass es entsprechenden
Versicherungsschutz bei anderen Versicherern gibt und wie der VN ihn erhalten kann.
#106#
Irrt sich der VN, so hat der Versicherer den Irrtum aufzuklären und auf eventuell übersehene
Deckungslücken hinzuweisen sowie – soweit vorhanden – passenden Versicherungsschutz
anzubieten.
#107#
Gibt der VN einen spezifischen Zweck des Vertrags zu erkennen oder ergibt sich dieser
typischerweise aus einer bestimmten Situation oder Eigenschaft des VN, so hat der Versicherer
solche Produkte zu empfehlen, die dem Zweck am besten gerecht werden.
#108#
cc)
Umfang. Der Versicherer hat hinsichtlich der wesentlichen Eigenschaften des
Versicherungsprodukts und der Anpassung an die Bedürfnisse des VN zu beraten. Anders
als bei einem Makler bezieht sich die Beratung nicht auf eine vergleichende Betrachtung und
Auswahl konkurrierender Angebote verschiedener Versicherer, sondern allein darauf, ob und
in welcher Ausgestaltung ein eigenes Produkt des Versicherers dem Bedarf des VN entspricht
oder welches von verschiedenen eigenen Produkten dem Bedarf am besten gerecht wird.165
Eine weitergehende Beratungspflicht wäre dem Versicherer nicht zumutbar; insofern muss der
VN sich an Makler oder sonstige Dritte wenden.
#109#
Der Umfang der geschuldeten Beratung hängt insbesondere von der Komplexität des
Beratungsgegenstands ab. Die Regierungsbegründung zu § 42c a.F. nennt als Beispiele die
Hundehalter-Haftpflichtversicherung und die Lebensversicherung: Für letztere soll stets eine
Beratungspflicht hinsichtlich der wesentlichen Produkteigenschaften bestehen. Einfache
„Standardprodukte“ wie die Hundehalterhaftpflichtversicherung sollen hingegen keine
umfangreiche Beratung erfordern.166
#110#
165
Begründung zu § 42c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; Schwintowski in B/M
Rdn. 24; zum alten Recht OLG Hamm VersR 1995, 1345; OLG Saarbrücken
VersR 1999, 1367.
166 Begründung zu § 42c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; vgl. auch Ebers, in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 14; Reiff VersR 2007, 717, 725;
Schwintowski VuR 1997, 83.
36
Ein Mindestmaß an Klärungsbedarf wird freilich auch bei Standardverträgen bestehen.167
Auch weit verbreitete, günstige Produkte sind zudem bisweilen kompliziert ausgestaltet. So
können Kfz-Haftpflichtversicherungen Bestandteile verschiedener Versicherungen, etwa auch
der Unfallversicherung beinhalten und einen bestimmten Service im Schadensfall vorsehen. 168
Auch Haftpflichtversicherungen enthalten häufig Risikoausschlüsse und damit
Deckungslücken, die teils durch Zusatzvereinbarungen geschlossen werden können, was
erhöhten Beratungsbedarf auslösen kann.169
#111#
Der Versicherer ist nicht zu einem unabhängigen „best advice“ verpflichtet.170 Anders als der
Vertragspartner eines Makler-, Geschäftsbesorgungs- oder Beratungsvertrags steht der
Versicherer bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Versicherungsvertrags nicht auf
der Seite des VN. Vielmehr darf er grundsätzlich – unter Beachtung bestimmter Informationsund Beratungspflichten – privatautonom seine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen.
Daher muss er auch nicht über Konkurrenzprodukte beraten (s. Rdn. *). Doch auch innerhalb
der eigenen Produktpalette ist nicht die Erteilung des bestmöglichen Rats geschuldet, denn
dies würde voraussetzen, dass der Versicherer eine vollständige Risikoanalyse vornimmt. Dazu
ist er jedoch nicht verpflichtet (s. Rdn. *). Daher hat er nur ein Produkt zu empfehlen, das dem
aus der (ordnungsgemäßen, insbesondere hinreichenden) Befragung gewonnenen Angaben zum
Deckungsbedarf entspricht. Insbesondere braucht er grundsätzlich auch nicht von bestimmten
Versicherungsverträgen abzuraten (zur wichtigen Ausnahme bei Bedarfsverfehlung s. aber Rdn.
*).
#112#
Abs. 1 differenziert mit der weiten Formulierung „beraten“ anders als die bisherige
Rechtsprechung nicht zwischen Aufklärung und Raterteilung. Dies schließt allerdings nicht
aus, dass auch oder nur (objektive) Aufklärung gefordert sein kann. 171 Einerseits ist über die
Empfehlung hinaus über entscheidungserhebliche Tatsachen und Gegebenheiten aufzuklären.
Zumindest aufgrund der Begründungspflicht (zu ihr s. Rdn. *) sind auch die der Empfehlung
zugrunde liegenden Informationen mitzuteilen, damit der VN die Empfehlung nachvollziehen
und prüfen kann, ob er ihr folgen möchte oder nicht. Andererseits kann die Pflicht des
Versicherers auch auf objektive Aufklärung beschränkt sein: Sofern der VN eine Beratung
nicht benötigt172 oder sie dem Versicherer aufgrund ihres Aufwands nicht zumutbar ist (s. zur
Proportionalitätsregel Rdn. *), kann zumindest eine Pflicht zu objektiver Aufklärung bestehen
(s. Rdn. *).
#113#
Da es sich bei der Pflicht aus Abs. 1 um eine spezielle, den VN schützende Ausprägung von
Treu und Glauben handelt (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. * ff.), ist der Beratungsbedarf des VN gegen
andere Interessen abzuwägen. Der Umfang der Beratungspflicht ist insbesondere durch die
Zumutbarkeit für den Versicherer beschränkt (näher Rdn. *). Eine Ausgestaltung dieses
167
Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690.
Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 25.
169 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 40.
170 Vgl. auch Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690.
171 Vgl. Römer VersR 2006, 740, 742
172 BGH VersR 1992, 217, 218 = NJW 1992, 828, 829; OLG Oldenburg r + s
1999, 166 = VersR 1998, 220, 222; Römer VersR 1998, 1313, 1316.
168
37
Angemessenheitskriteriums findet sich in der Proportionalitätsregel (zu ihr s. Rdn. *).173
Zudem können die eigene Sachkunde des VN sowie dessen sachkundige Beratung durch Dritte
die Beratungspflicht begrenzen. Dasselbe gilt, wenn der VN den Beratungsgegenstand
eingrenzt, etwa indem er eine bereits getroffene Entscheidung für ein bestimmtes Produkt nur
umgesetzt haben möchte (s. Rdn. *). Andererseits kann besonderes Vertrauen, das der
Versicherer geweckt hat, etwa im Rahmen einer Abwerbung, die Beratungspflicht ausweiten (s.
Rdn. *).
#114#
dd) Zeitpunkt. Während in Abs. 2 geregelt ist, wann die übermittelt werden muss, fehlt eine
ausdrückliche Regelung zum Zeitpunkt der Beratung. Dieser Zeitpunkt ergibt sich aber implizit
daraus, dass nach Abs. 2 Satz 1 die textliche Dokumentation der Beratung „vor dem Abschluss
des Vertrags“ zu erfolgen hat. Auch die vorangehende Beratung muss also stets vor
Vertragsschluss erfolgen.
#115#
Die Formulierung „vor dem Abschluss des Vertrags“ weicht von jener des § 7 Abs. 1 Satz 1
ab, wonach der Versicherer die Vertragsbestimmungen dem VN „vor Abgabe von dessen
Vertragserklärung“ mitzuteilen hat (vgl. bereits Rdn. *). Römer schließt hieraus, dass die
Beratung auch nach der Abgabe der Vertragserklärung durch den VN erfolgen kann.174
Dagegen spricht jedoch die Zielsetzung der Beratung. Diese erschöpft sich nicht darin, durch
die Dokumentation die spätere Beweisführung zu erleichtern; vielmehr dient sie insbesondere
dazu, schon dem VN bereits die Entscheidung über den Vertragsschluss zu erleichtern.175
Deshalb muss die Beratung so rechtzeitig erfolgen, dass der VN die in ihrem Rahmen erteilten
Empfehlungen wie auch die objektiven Informationen in seine Entscheidung und die ihr
zugrunde liegende Abwägung einfließen lassen kann.176 Die Pflichten aus Abs. 1 sind daher
vor Abgabe der Vertragserklärung des VN zu erfüllen.
#116#
Eine Beratung hat unabhängig davon zu erfolgen, ob es später zum Vertragsschluss kommt
oder nicht.177 Abs. 2 Satz 3 schließt für den Fall des ausgebliebenen Vertragsschlusses
lediglich eine Pflicht zur Nachreichung der Dokumentation aus.
173
Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 476.
Römer
VersR
2006,
740,
743;
so
auch
Ebers
in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 31.
175 Vgl. Kritik von Reiff VersR 2007, 717, 727 mit Verweis auf die
österreichische Regelung; Abram r + s 2007, 137, 141; Marlow/Spuhl, Das
Neue VVG kompakt, S. 26 f.; Meixner/Steinbeck Das neue
Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 32; Niederleithinger Das neue VVG, S.
54.
176 Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 274;
vgl. auch Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 7, der bei späterer Beratung den
Versicherer für verpflichtet hält, dem VN die „Möglichkeit [zu] eröffnen, sich
von einem diesen bereits bindenden Antrag wieder zu lösen“. A.A. wohl
Niederleithinger Das Neue VVG, Rdn. 54.
177 Franz VersR 2008, 298.
174
38
#117#
c) Begründungspflicht. Der Versicherer hat den erteilten Rat zu begründen. Dabei muss er alle
Gesichtspunkte, die für die Erstellung und die Erteilung des Rats eine maßgebliche Rolle
gespielt haben, offenlegen. Hintergrund ist, dass der mündige VN die Möglichkeit haben soll,
den erteilten Rat daraufhin zu prüfen, ob er ihm folgen will oder nicht,178 damit er nicht
„blind“ auf die Empfehlung des Versicherers vertrauen muss. Die Begründungspflicht tritt
funktional teils an die Stelle der nach der Rechtsprechung zum früheren Recht bejahten
Aufklärungspflicht.179 Auch dient die Begründungspflicht einer Selbstkontrolle des
Versicherers,180 indem dieser sich der Hintergründe seiner Empfehlung bewusst werden und
ihr den Bedarf des VN zugrunde legen soll.
#118#
Auch wenn sich der Rat meist nur auf den konkret angebotenen Versicherungsvertrag bezieht
und dementsprechend typischerweise die Gründe für die Empfehlung dieses Produkts den
Schwerpunkt bilden, ist auch jeder weitere Rat zu begründen, den der Versicherer zu einer
bestimmten Versicherung erteilt.181 Dazu gehören auch die Anpassung an die individuellen
Bedürfnisse des VN und ggf. die Gründe, die gegen ein in Erwägung gezogenes
Alternativprodukt sprechen. Der Umfang und der Inhalt der erforderlichen Begründung hängen
ebenso wie derjenige der Beratung (s. Rdn. *) vom Schwierigkeitsgrad, also der
Vielschichtigkeit und Verständlichkeit des angebotenen Produktes ab. Dabei genügt ein
genereller Verweis auf die vorangegangenen Verhandlungen, Befragungen und daraufhin
gemachten Angaben nicht. Vielmehr hat der Versicherer die maßgeblichen Gesichtspunkte,
warum er das von ihm genannte Produkt empfiehlt, gesondert, präzise und verständlich
darzulegen. Der VN muss die Überlegungen nachvollziehen und auf diese Weise prüfen
können, ob sie mit seiner eigenen Einschätzung vom persönlichen Bedarf übereinstimmen. 182
Anders als selbstständige Versicherungsvermittler nach § 61 braucht der Versicherer freillich
nicht zu begründen, warum er einen Versicherungsvertrag aus dem eigenen Haus vorschlägt,
auch wenn ansonsten die Entscheidung für einen bestimmten Versicherer für den Kunden vor
allem im Hinblick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis oft ein wesentlicher Punkt ist.183
#119#
d) Dokumentationspflicht (Abs. 1 Satz 2, Abs. 2). aa) Normzweck. Der Versicherer hat nach
Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 die Befragung, die Beratung und die Gründe für jeden erteilten Rat unter
Berücksichtigung der Komplexität des angebotenen Versicherungsvertrags zu dokumentieren.
Die Dokumentation soll den während der Beratung erreichten Informationsstand des VN
dauerhaft niederlegen. Die Dokumentation soll die wesentlichen Informationen aus dem
Beratungsgespräch für den VN sammeln, damit dieser anschließend überlegen kann, ob er die
Versicherung abschließen möchte. Darüber hinaus soll sie die spätere Überprüfung der
getroffenen Entscheidungen ermöglichen, einerseits für den Fall eines Widerrufs durch den VN,
aber andererseits auch für die spätere regelmäßige Prüfung des bestehenden
Versicherungsschutzes auf Über- oder Unterversicherung und als Reaktion auf Veränderungen.
178
Vgl. Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 27.
Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475.
180 Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 104.
181 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24.
182 Vgl. auch Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 81, ders.,
VersR 2007, 717, 726.
183 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24: vgl. auch Reiff
Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 81, ders., VersR 2007, 717, 726.
179
39
Auch nach Eintritt des Versicherungsfalls kann die dokumentierte frühere Beratung
Bedeutung erlangen.184
#120#
Die Dokumentation dient zudem insbesondere der Beweiserleichterung. Nach der
Regierungsbegründung zu § 42c a.F. kann ein Verstoß gegen die Dokumentationspflicht
Beweiserleichterungen zugunsten des VN rechtfertigen.185 Diese sollen die Beweisnot lindern,
in der sich der VN befindet, wenn er fehlerhafte oder unterlassene Aufklärung und Beratung
geltend macht (näher Rdn. *)
#121#
Umgekehrt ermöglicht die Dokumentation es dem Versicherer, eine sorgfältige Beratung
nachzuweisen und damit der Gefahr ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu entgehen, die
eventuell durch unzutreffende, aber mit anderen Mitteln schwer widerlegbare Zeugenaussagen
gestützt wird.186 Darüber hinaus vereinfacht die Dokumentation die Kundenbetreuung, indem
sie die Risiko- und Bedarfsanalyse dauerhaft festhält und bei regelmäßiger Aktualisierung der
Unterlagen als Grundlage der weiteren Betreuung dienen kann.187 Schließlich besteht ähnich
wie bei der Begründungspflicht eine gewisse Disziplinierungswirkung, wenn die wesentlichen
Ergebnisse der Beratung dokumentiert werden müssten.188
#122#
bb) Beratungsprotokoll. Um die Dokumentation zu vereinfachen und auf diese Weise
kostengünstig auszugestalten, liegt eine Standardisierung der Dokumentation durch ein
Beratungsprotokoll nahe. Durch Verwendung eines entsprechenden Vordrucks, anhand dessen
die Beratung erfolgt und in dem die Informationen übersichtlich gegliedert und zu den
typischerweise bedeutsamen Gesichtspunkten vollständig aufgenommen werden können.189
Gerade bei Verträgen des Massengeschäfts wie der Kfz-, Hausrat- oder
Privathaftpflichtversicherung bieten sich solche Vereinfachungen durch standardisierte
Protokolle an.190 Dabei gilt es freilich zum einen sicherzustellen, dass nur Gesichtspunkte
184
Vgl. kurz Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 27.
Begründung zu § 42e a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 26; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 27.
186
Huckele Die vorvertraglichen Aufklärungs-, Beratungs- und
Informationspflichten, S. 169; Miettinen Pflichten, S. 123; Reiff VersR 2004,
142, 149.
187
Huckele Die vorvertraglichen Aufklärungs-, Beratungs- und
Informationspflichten, S. 171.
188 Römer VuR 2005, 131, 133.
189 So auch die Erwartung der Reformkommission (Abschlussbericht S. 63).
Vgl. auch Reiff, Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 83. Beispiele:
http://vermittlerprotokoll.de/ (Stand: 21.11.2007); F. Baumann/Beenken, Das
neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S. 27-28. Kritisch
Meixner/Steinbeck, Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 28. Zur
praktischen Handhabung s. auch Honsel VW 2007, 359.
190 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
76.
185
40
aufgenommen werden, die tatsächlich Gegenstand der Beratung waren. Zum anderen wird es
bei individueller Beratung immer auch zu Fragen kommen, die im konkreten Fall ausführlicher
besprochen und damit auch umfangreicher dokumentiert werden müssen. Dem muss ein
Vordruck Rechnung tragen.191 Der Zweck der Dokumentationspflicht (s. Rdn. *) gebietet eine
übersichtliche Darstellung. So muss die Dokumentation wichtiger Beratungsgegenstände an
der systematisch richtigen Stelle im Protokoll zu finden sein.
#123#
cc) Aufbau der Dokumentation. Zur besseren Übersichtlichkeit bietet es sich an, die
Dokumentation auch unabhängig von der Verwendung eines Beratungsprotokolls (s. dazu Rdn.
*), in verschiedene Abschnitte mit klaren Überschriften zu untergliedern.192 Hierzu empfiehlt
sich der im Folgenden dargelegte Aufbau in fünf Abschnitten,193 der vom Gesetzgeber freilich
nicht vorgegeben ist. Dabei geht es nicht um ein wortgetreues Protokoll, sondern um eine
Zusammenfassung der ermittelten Wünsche und Bedürfnisse des VN und des erteilten Rates,
um dem VN einen brauchbaren Überblick der wesentlichen Gesichtspunkte zu geben. 194
#124#
In einem ersten Abschnitt werden kurz die persönlichen Angaben des VN, die erforderlichen
Angaben zu Versicherer und dessen Erfüllungsgehilfen sowie Datum, Ort, Art und Umstände
der Beratung (Beratungsgespräch in der Filiale, beim Vertreter, beim VN oder telefonische
Beratung usw.) vermerkt. Dabei sollten auch die anwesenden Personen vollzählig namentlich
aufgeführt werden, weil dies etwa für eine eventuelle spätere Beweisaufnahme bedeutsam
werden kann.
#125#
In einem zweiten Abschnitt wird das Risiko benannt, um dessen Deckung es geht (z.B.
Absicherung des Hausgrundstücks, des Gewerbebetriebs oder des Alters). Auch der Wunsch
des VN, wie umfangreich er beraten werden möchte, sollte bereits an dieser Stelle schriftlich
niedergelegt werden. Dazu gehört ggf. auch sein Wille, überhaupt nicht hinsichtlich des
persönlichen Bedarfs beraten zu werden, sondern den von ihm gewünschten Vertrag ohne
weiteres abzuschließen, womit der Beratungsumfang eingeschränkt wird (zum formellen
Verzicht s. Rdn. *).
#126#
Ein dritter Abschnitt dokumentiert ausführlicher die Wünsche und Bedürfnisse des VN,
insbesondere seine Angaben zum persönlichen Risiko (vgl. auch Art. 12 Abs. 3
Vermittlerrichtlinie) und die weiteren Ergebnisse der Befragung. Sie betreffen in erster Linie
die Risikobeschreibung, aber auch spezifische Vorstellungen des VN darüber, in welcher
Weise, in welcher Höhe usw. er das Risiko absichern möchte. Dabei ist es Aufgabe des
191
Das Muster von Michaelis in Schwintowski/Brömmelmeyer § 61 Rdn. 36
erscheint daher als unzureichend.
192 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475. Eine standardisierte Darstellungsweise
fordert Kind, Die Grenzen des Verbraucherschutz durch Information, S. 486.
193 S. demnächst Stöbener Informations- und Beratungspflichten des
Versicherers.
194 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 28.
41
Versicherers, die versicherungstechnisch relevanten Gesichtspunkte herauszugreifen, um die
Dokumentation auf die entscheidungserheblichen Punkte zu beschränken.
#127#
Auch die Befragung des VN durch den Versicherer ist in die Dokumentation
einzubeziehen.195 Sie ergibt sich nämlich nicht erst aus Abs. 2 Satz 1, sondern bereits aus Abs.
1 Satz 2, der sich auf sämtliche Pflichten in Abs. 1 Satz 1 einschließlich der Befragung bezieht.
Auch wenn die Befragung als solche für die Information des VN unerheblich ist, ist ihre
Dokumentation notwendig, um festzuhalten und ggf. nachzuweisen, ob der Versicherer die
richtigen Fragen gestellt hat.196
#128#
Wurden während des Gesprächs verschiedene Produkte angeboten oder erörtert, so sind in
einem vierten Abschnitt die angebotenen Versicherungsprodukte aufzuführen. Hierzu
gehören auch die jeweils angesprochenen Eigenschaften, soweit ein Verweis auf die
Produktinformationen nach § 7 nicht ausreicht. Letzteres kann etwa dann der Fall sein, wenn
besondere Eigenschaften eines Produkts eingehender diskutiert wurden, als sie in den zitierten
Informationen beschrieben sind. Es darf nicht allgemein auf alle Informationen verwiesen
werden, sondern nur auf die konkret besprochenen. Insbesondere die Verweisung auf das
Produktinformationsblatt als erste Informationsquelle bietet sich an, wenn dieses in der
Beratung verwendet wurde, um die wesentlichen Merkmale des Versicherungsvertrags
darzustellen.
#129#
In einem fünften Abschnitt wird der Rat ausgesprochen, etwa eine Empfehlung für ein
bestimmtes Versicherungsprodukt, und es werden die Gründe für diese Empfehlung genannt.
Dazu gehören nicht nur die positiven Aspekte des Produkts, sondern auch dessen Abstimmung
auf die individuellen Bedürfnisse des VN und eventuell auch Gründe, die gegen ein
angesprochenes Alternativprodukt sprechen. Dabei kann hinsichtlich des zu deckenden Bedarfs
auf die zuvor protokollierten Angaben und die Befragung des VN verwiesen werden. Ein
pauschaler Verweis auf die Befragungsergebnisse ist allerdings als Begründung unzureichend,
insbesondere wenn verschiedene Produkte im Gespräch waren, von denen anhand einer
Abwägung verschiedener Gesichtspunkte ein bestimmtes gewählt wurde.
#130#
dd) Umfang. Die Dokumentation hat unter Berücksichtigung der Komplexität des
angebotenen Versicherungsvertrags zu erfolgen Daher erfordert z.B. die Dokumentation einer
Beratung über eine Haftpflichtversicherung geringeren Aufwand als jene über ein umfassendes
Altersvorsorgekonzept unter Berücksichtigung der sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche
und anderweitiger privater Vorsorge etwa bereits abgeschlossener Bank- und
Bausparverträge.197
#131#
195
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 28.
Vgl. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 29.
197 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475.
196
42
Der Umfang der Dokumentation richtet sich auch nach der Bedeutung des Vertrags für den
VN:
Bei
(kurzfristigen)
Alltagsverträgen
wie
einer
Reisegepäckoder
Auslandskrankenversicherung sind die Dokumentation wie auch die Standardinformation nach
§ 7 aufgrund der geringeren Bedeutung und damit dem geringen Aufwand, den der VN auf die
Informationsverarbeitung aufwenden will, kürzer zu fassen. Größere Bedeutung kommt für den
VN etwa einer Kfz-Haftpflichtversicherung zu. Eine ausführliche Dokumentation ist geboten
bei besonders bedeutsamen Verträgen wie einer Lebens- oder Krankenversicherung. Die
Bedeutung des Risikos und die Produktkomplexität (s. Rdn. *) werden im Übrigen meist
korrelieren.198
#132#
ee) Klarheit und Verständlichkeit. Das Gebot der Klarheit und Verständlichkeit der
Dokumentation in Abs. 2 Satz 1 ist Ausdruck des allgemeinen Transparenzgedankens. Damit
die Dokumentation ihren Zweck erfüllen kann, muss sie verständlich sein.199
#133#
Klarheit gebietet in erster Linie eine schon optisch eindeutige, präzise und übersichtliche
Gestaltung und Formulierung der dokumentierten Beratung. Des Weiteren dürfen keine
Mehrdeutigkeiten, Missverständnisse oder Zweifel entstehen. Verständlichkeit bezieht sich
stärker auf den Inhalt der Dokumentation. Dabei geht es darum, dass sich der Sinngehalt ohne
weitere Fachkenntnisse und große Mühe für den aufmerksamen, durchschnittlichen VN
erschließt.200 Beides wird durch Übersichtlichkeit mittels Gliederung, Überschriften und innere
Struktur (vgl. hierzu schon oben Rdn. *), durch Kürze und Prägnanz, durch Einfachheit in der
Sprache unter Verwendung möglichst weniger Fremd- und Fachwörter erreicht. Auch wenn
Rechtsbegriffe nicht gänzlich vermieden werden können (zur Versicherung als Rechtsprodukt s.
Vor §§ 6, 7 Rdn. *), sind sie möglichst in einen Zusammenhang zu stellen, aus dem sie sich
selbst erklären oder – soweit es sich um einen wesentlichen Punkt handelt – zu erläutern.
Optische Variationen (Hell-Dunkel-Kontraste) können die Verständlichkeit fördern.201
#134#
Die Regierungsbegründung zu § 42c a.F. sieht beispielhaft vor, dass die Dokumentation in
deutscher oder einer anderen von den Parteien vereinbarten Sprache zu erfolgen hat.202
#135#
ff) Form. Die Dokumentation ist (zumindest) in Textform, also gem. § 126b BGB in einer
Urkunde oder auf andere zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeignete Weise zu
übermitteln, die die Person des Erklärenden nennt und die rechtliche Verbindlichkeit durch
Nachbildung der Namensunterschrift oder auf andere Weise erkennbar macht. Diese Vorgaben
erfüllen neben Urkunden, (Computer-) Faxen und Kopien auch am Bildschirm lesbare Texte,
die auf elektronischen Speichermedien wie Festplatten, CD-Roms, DVDs, Disketten und
Speichersticks gespeichert sind, so etwa auch E-Mails. Eine Internetseite genügt nicht, wenn
198
Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 475.
Vgl. allg. für Informationspflichten Armbrüster ZVersWiss 2003, 745, 766.
200 Vgl. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer § 7 Rdn. 38.
201 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer § 7 Rdn. 38; Kind Die Grenzen des
Verbraucherschutz durch Information, S. 484-486.
202 Begründung zu § 42 d a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 25.
199
43
sie nur im Arbeitsspeicher oder im Cache des Browsers, also nicht dauerhaft vom VN
heruntergeladen wird.203 Die Textform kann durch qualifizierte Formen wie Schriftform oder
elektronische Form ersetzt werden.
#136#
gg) Zeitpunkt. Die Dokumentation ist nach Abs. 2 Satz 1 grundsätzlich vor dem Abschluss
des Vertrags zu übermitteln. Dies entspricht der bisherigen Regelung zum Zeitpunkt der
Erteilung der Verbraucherinformation gem. § 10a VAG i.V.m. Anlage D I und weicht von der
Neuregelung in § 7 mit der Informationserteilung rechtzeitig vor Abgabe der Vertragserklärung
durch den VN ab.204 Der Versicherungsvertrag kommt regelmäßig dem Zugang der
Annahmeerklärung zustande. Die Widerruflichkeit nach § 8 hindert das Zustandekommen des
Vertrags nicht. Damit ist die Dokumentation vor Zugang der Annahmeerklärung zu
übermitteln.
#137#
Am einfachsten ist die Übermittlung sofort nach dem Beratungsgespräch. Zulässig ist aber auch
die Erstellung eines Gedächtnisprotokolls nach Beendigung des Vermittlungsgesprächs. 205
Kommt der Vertrag abweichend von der Vorstellung des Reformgesetzgebers durch die
Annahmeerklärung des Versicherers zustande, so genügt es nicht, wenn letzterer die
Dokumentation gleichzeitig übermittelt, etwa indem er sie dem Versicherungsschein beifügt.206
Beim Vertragsschluss nach dem sog. Invitatio-Modell mit Antrag des Versicherers durch
Zusendung der Vertragsunterlagen und Annahme durch den VN (s. dazu § * Rdn. *) kann die
Dokumentation zusammen mit dem Antrag des Versicherers versendet werden.
#138#
Hat der VN die mündliche Übermittlung gewünscht oder handelt es sich um einen Vertrag über
vorläufige Deckung, ist die Dokumentation nach Abs. 2 Satz 2, 3 unverzüglich, also ohne
schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach Vertragsschluss nachzuholen. Für den
Lauf der Widerrufsfrist nach § 8 Abs. 2 kommt es auf die Übermittlung der Dokumentation
nicht an. Um ihren Zweck der Unterstützung der Entscheidungsfindung über die Ausübung des
Widerrufsrechts zu erfüllen, sollte sie dennoch deutlich vor Ablauf der Widerrufsfrist unter
Einschluss einer hinreichenden Zeit für Prüfung und Einbeziehung in die Entscheidungsfindung
übermittelt werden.207
203
Junker in jurisPK-BGB, § 126 b Rdn. 25 unter Verweis auf
Erwägungsgrund 20 der Fernabsatz-Richtlinie (ABl. EG Nr. L 144 S. 19); a.A.
Einsele in Münch/Komm, § 126b Rdn. 9, soweit eine Speicherung der Website
durch den Nutzer und damit die dauerhafte Wiedergabe möglich ist.
204 Bedenken wegen eventueller Wertungswidersprüche hat Schwintowski ZRP
2006, 139, 140.
205 Wandt in Handbuch des Fachanwalts, Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 276.
206 Vgl. Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 29. Anders die Begründung zu §
42 d Abs. 1 a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 25, die allerdings verfehlt ist, weil es nicht
um die Bereithaltung zahlreicher Informationen geht, sondern das Protokoll der
Beratung, das ohne weiteres vor Ort erstellt werden kann. Offen lassend Wandt
in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 277.
207 Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 104.
44
#139#
hh) Ausnahmen (Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2). Keine Dokumentationspflicht (wohl aber eine
Beratungspflicht)208 besteht nach Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2, wenn ein Vertrag nicht zustande
kommt sowie für Verträge über vorläufige Deckung bei Pflichtversicherungen. Die
Regierungsbegründung rechtfertigt dies im ersten Fall damit, dass beim
Nichtzustandekommen eines Vertrages jede Form von Gegenleistung in Form von
Prämienzahlung fehlt, die ein schützwürdiges Interesse auch an der Dokumentation der
Beratungsleistung stützen könnte.209 Freilich kann auch in diesen Fällen eine Falschberatung
einen Schadensersatzanspruch nach Abs. 5 auslösen. Der VN muss dann den Beweis ggf. ohne
die Unterstützung durch eine Dokumentation in Textform führen.210
#140#
Im Fall einer vorläufigen Deckung bei Pflichtversicherungen – in erster Linie in der KfzHaftpflichtversicherung – geht es um die schnelle Abdeckung von Risiken, die ohnehin zu
versichern sind und bei denen dem VN noch im Rahmen des Hauptvertrags ausreichend
Gelegenheit bleibt, die Eignung des Versicherungsvertrags für seinen Bedarf zu prüfen. 211
#141#
ii) Nachweis der Übermittlung. Um die rechtzeitige Übermittlung der Dokumentation zu
beweisen, kann der Versicherer sich die Vollständigkeit und Richtigkeit der Dokumentation
durch Unterschrift bestätigen lassen.212 Anderenfalls stellt sich die Frage der Verteilung der
Darlegungs- und Beweislast. Eine dem § 8 Abs. 2 Satz 3 vergleichbare Regelung enthält Abs. 2
nicht. Daher gilt der allgemeine Grundsatz, dass jede Partei diejenigen Tatsachen darzulegen
und zu beweisen hat, auf die sie sich beruft. Steht die Übermittlung der Dokumentation im
Streit, so obliegt es dem anspruchstellenden VN, die Pflichtverletzung durch unterlassene
Übermittlung der Dokumentation darzulegen. Freilich ist zu seinen Gunsten von einer
Beweiserleichterung auszugehen: Legt er substantiiert dar, die Dokumentation nicht erhalten zu
haben, so muss der Versicherer dartun, dass er ausreichende Vorkehrungen für den Zugang der
Dokumentation bei regelmäßigem Geschehensablauf getroffen hat.213 Auch die Beweislast
hinsichtlich der Übermittlung der Dokumentation trägt dann der Versicherer.214 Allerdings
kommt ihm, sofern eine fehlende Übermittlung der Dokumentation nach dem von ihm
dargelegten Ablauf praktisch ausgeschlossen erscheint, eine Zugangsvermutung zugute. Auch
wenn der VN widersprüchliche Angaben macht oder den Erhalt von Unterlagen wiederholt in
Abrede stellt, ist dies bei der Beweiswürdigung zugunsten des Versicherers zu verwerten. 215
208
Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1. Kap. Rdn. 278.
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 58.
210 Vgl. auch Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690; Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 20.
211 Krit. zur Beschränkung auf Pflichtversicherungen Maier r + s 2006, 485,
487.
212 So auch die Erwartung der Reformkommission (Abschlussbericht S. 63);
Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 165 (zu § 61); Schimikowski/Höra Das neue
VVG, S. 109. Zu § 8 vgl. Regierungsbegr., BT-Drucks. 16/3945, S. 62.
213 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 47.
214 Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 29 f.
215 Vgl. Armbrüster r + s 2008, 493, 499 (im Kontext von § 8 Abs. 2 Satz 3).
209
45
#142#
5. Grenzen der Beratungspflicht. a) Überblick. Die Zumutbarkeit für den Versicherer setzt
der Pflichtentrias aus Abs. 1 Grenzen. Dies kommt in der auf den Beratungsaufwand bezogenen
Proportionalitätsregel zum Ausdruck (s. Rdn. *). Darüber hinaus bestehen aber auch
ungeschriebene Zumutbarkeitsgrenzen. Die Zumutbarkeit der Beratungspflicht für den
Versicherer ist nämlich ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, das aus dem Grundsatz von
Treu und Glauben folgt, so dass die Proportionalitätsregel lediglich eine Konrektisierung
darstellt.216 Allein aufgrund der Nennung des Beratungsaufwands dürfen jedenfalls andere für
die Zumutbarkeit relevante Kriterien nicht außer Acht gelassen werden.217
#143#
b) Verhältnis von Beratungsaufwand und Prämien. Bei der Annahme einer Beratungspflicht
ist nach Abs. 1 ein angemessenes Verhältnis zwischen Beratungsaufwand und der vom VN zu
zahlenden Prämien zu berücksichtigen. Bei dieser Proportionalitätsregel handelt es sich um
ein Regelbeispiel, im Rahmen dessen geprüft werden muss, ob die Beratungspflicht zumutbar
ist.218
#144#
Der Gesetzgeber drückt damit einen Wertungsmaßstab aus, der im Rahmen der Prüfung
besonders zu berücksichtigen ist.219 Dies ist schon deshalb sinnvoll, weil es sich regelmäßig
bei einer geringen Prämienhöhe um ein wenig komplexes Standardprodukt handeln wird. Die
Bedeutung der Beratung für den Kunden ist typischerweise umso größer, je höher die in Rede
stehenden Prämien sind. Umgekehrt kann der VN nicht erwarten, dass der Versicherer
erheblichen Beratungsaufwand im Hinblick auf einen Vertrag mit geringem
Prämienaufkommen leistet. So wird z.B. die Vermittlung eines einfachen Standardproduktes
mit einer jährlichen Prämie im zweistelligen Euro-Bereich meist keine intensive Beratung
erfordern.220
#145#
Allerdings kann auch bei Versicherungen mit einer relativ niedrigen Prämie wie etwa bei
einer Privat- oder Kfz-Haftpflichtversicherung ein erhöhter Beratungsaufwand aufgrund der
übrigen Kriterien des Abs. 1 entstehen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Umstände in der
Person oder Situation des VN, aber ggf. auch bei einzelnen versteckten Risiken des
Versicherungsvertrags selbst.221 Der Versicherer darf sich nicht darauf verlassen, bei einem
216
Vgl. schon Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 14.
Niederleithinger VersR 2006, 437, 438. Krit. auch Römer VersR 2006, 740,
743 („untauglich und überflüssig“); Schwintowski ZRP 2006, 139, 141.
218 Ähnlich Franz VersR 2008, 298, 299; abw. offenbar Römer VersR 2006,
740, 743, der in diesem Fall den Anlass zur Beratung ggf. verneinen würde.
219 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 14; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 476.
220 Armbrüster ZVersWiss 2008, 429; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 16;
Römer VersR 2006, 740, 743.
221 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; vgl. auch Armbrüster
ZVersWiss 2008, 429; Dörner/Staudinger WM 2006, 1710, 1711; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 22; Marlow/Spuhl Das Neue VVG
kompakt, S. 26; Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 81; ders.
217
46
Produkt mit niedriger Prämie oder Provision keine oder keine nennenswerte Beratung
durchführen zu müssen.222
#146#
So können etwa bei der Privathaftpflichtversicherung gewichtige Risikoausschlüsse und
damit Deckungslücken auftreten. Die Kfz-Haftpflichtversicherung ist zwar weit als Produkt
verbreitet und gut bekannt, insbesondere die Tarifvielfalt kann aber Beratungsbedarf auslösen.
Die Restschuldlebensversicherung stellt trotz niedriger Prämien eine komplexe und damit
beratungsintensivere Versicherung dar.223 Auch eine Reisekrankenversicherung kann etwa
hinsichtlich der sog. Nachleistungsklausel über 28 Tage Beratung veranlassen.224
#147#
Würde dann allein Beratungsaufwand und Prämienzahlung des einzelnen VN gegenüber
gestellt, würde seinem Beratungsbedarf bei Versicherungszweigen mit niedrigen
Schadenshöhen und dementsprechend geringen Prämien kaum je Rechnung getragen werden.
Auch in Bereichen mit allgemein geringen Beratungsbedarf ist daher ein schutzwürdiges
Interesse des VN daran anzuerkennen, dass der aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse
bestehende Beratungsbedarf in gewissem Umfang befriedigt wird.
#148#
Fraglich ist freilich, in welchem Umfang dem genannten Schutzinteresse des VN durch eine
Beratungspflicht Rechnung zu tragen ist. Zu kurz greift es, allein auf den Beratungsbedarf
abzustellen mit dem Argument, der Versicherer könne den zusätzlichen Aufwand auf die
Risikogemeinschaft umlegen, so dass er nicht unzumutbar belastet werde.225 Dies ist mit der
Proportionalitätsregel unvereinbar; zudem bleibt dabei offen, wieso die übrigen VN entgegen
allgemeiner Grundsätze den erhöhten Bedarf eines einzelnen VN mitfinanzieren sollen.
#149#
In der Praxis lässt sich der Beratungsaufwand im Einzelfall folgendermaßen quantifizieren:226
Der Kunde kann in dem Umfang vom Versicherer eine Beratung in dem Umfang verlangen, in
dem ein durchschnittlicher VN bereit wäre, die anfallenden (und in der Prämie kalkulatorisch
enthaltenen) Kosten auch dann zu tragen, wenn der Versicherer die Prämie reduzieren und die
Beratung als gesondert berechnete Zusatzleistung separat vom Versicherungsvertrag anböte.
Bei diesem hypothetischen Fall würden die Beratungskosten also eine separate und
vermeidbare Kostenposition innerhalb der gleich bleibenden Gesamtleistung des VN bilden.
Dabei ist von den Nettokosten der Beratung auszugehen, also ohne den bei einem
selbstständigen Beratungsvertrag mit einem Dritten hinzukommenden Gewinnanteil. Die
Beratungskosten enthalten demnach die auf die erforderliche Beratungszeit entfallenden
VersR 2007, 717, 725; Römer VersR 2006, 740, 743; Stellungnahme des
VZBV vom 7.1.2005 zum RefE, S. 37 f.
222 Zu § 61 s. Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 163.
223 Franz DStR 2008, 303,304.
224 Reiff VersR 2007, 717, 725 f.; Stellungsnahme des VZBV vom 7.1.2005
zum RefE, S. 37.
225 Niederleithinger VersR 2006, 437, 438.
226 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 13 ff.; krit. Pohlmann, VersR 2009, 327,
derzufolge die Proportionalitätsregel keine Bedeutung hat; s. auch
Schwintowski in B/M Rdn. 28 (deklaratorisch).
47
Arbeitskosten sowie Auslagen (Fahrtkosten etc.) von Mitarbeitern des Versicherers. Der
Versicherer ist damit nur zu derjenigen Beratung verpflichtet, die durch die besondere
Sachkunde des Versicherers (als cheapest cost avoider) und das Schutzbedürfnis des Kunden
geboten ist und die zugleich nicht günstiger dadurch erreicht werden kann, dass der VN sich
selbstständig informiert. Der VN kann mit einer Beratung nur in dem Umfang rechnen, in dem
dies auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Da der Versicherer die Beratungskosten in die
Kalkulation der Prämienhöhe einbeziehen muss, wirken sich kostensteigernde
Beratungsleistungen, für die ein durchschnittlicher VN nicht zu bezahlen bereit wäre, letztlich
nachteilig für die Gesamtheit der VN aus. Damit wird auch berücksichtigt, dass sich der VN an
einen Direktversicherer wenden könnte, den keine Beratungspflichten nach Abs. 1 treffen (s.
Rdn. *), und der den – auch durch geringe Beratungsleistungen erzielten – Kostenvorteil
zumindest teilweise an den Kunden weiterleiten wird.
#150#
Optimal i.S.d. Kostentransparenz wäre im Übrigen die separate Vergütung von
Beratungsleistungen, z.B. durch eine separate Beratungsgebühr, wie sie im Reisebüro
eingeführt worden ist, im Bereich der Versicherungen bisher aber nur bei Maklern
vorgenommen wurde.227
#151#
Bei dem hypothetischen Vergleich ist im Interesse einer möglichst einheitlichen Handhabung
auf die „Kunstfigur“ des durchschnittlichen VN zurückzugreifen, wenngleich Abs. 1 auf den
konkreten Einzelfall abstellt. So ist bei der Restschuldlebensversicherung trotz der günstigen
Prämien aufgrund der Komplexität regelmäßig eine Beratungspflicht anzunehmen. Hinsichtlich
spezieller Risikoausschlüsse in der Privathaftpflichtversicherung, die für den durchschnittlichen
VN ohne Belang sind, ist die Pflicht hingegen eher zu verneinen. Ist ein Kunde im Einzelfall
bereit, mehr als ein durchschnittlicher VN in derselben Situation in die Beratung zu investieren,
oder wünscht er über die Versichererpflichten hinaus Beratung hinsichtlich steuerlicher oder
gesellschaftsrechtlicher Anpassungen oder in Bezug auf Konkurrenzprodukte, so kann er einen
separaten (entgeltpflichtigen) Beratungsvertrag etwa mit einem unabhängigen
Versicherungsmakler oder -berater schließen.228
#152#
c) Weitere Zumutbarkeitsaspekte. aa) Überblick. Neben der Propoprtionalitätsregel kann
die Zumutbarkeit einer Beratung für den Versicherer auch aus anderen Gründen entfallen (s.
Rdn. *). Insoweit kann teils auf die Rechtsprechung zur früheren Rechtslage zurückgegriffen
werden (vgl. zu deren Bedeutung für Abs. 1 Rdn. *). Zu nennen sind insbesondere das den
Interessen des VN entgegengesetzte, wirtschaftliche Eigeninteresse (Gewinninteresse), das
Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich bestimmter Informationen, die der VN gleichwohl
nachfragen könnte, sowie das Interesse an einem möglichst geringen Beratungsaufwand.229
#153#
bb) Wirtschaftliche Interessen des Versicherers. Während der VN an möglichst umfassender
Beratung hinsichtlich Bedarf, Produkteigenschaften und Preis interessiert ist, um den für ihn
vorteilhaftesten Versicherungsvertrag abzuschließen, hat der Versicherer das berechtigte
Interesse, durch möglichst positive Darstellung seine eigenen Versicherungsprodukte zu
227
Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 16.
Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 17.
229 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 476.
228
48
vermarkten.230 Dennoch kann der Versicherer im Einzelfall auch dazu verpflichtet sein, von
seinem Versicherungsprodukt abzuraten, auch wenn anderweitiger, passender
Versicherungsschutz nicht angeboten werden kann und ein Vertrag daher scheitern muss.231
Die Kritik hieran, die Beratungspflichten sollen in erster Linie Deckungslücken verhindern,232
greift nicht, weil eine entsprechende einschränkende Auslegung dem Regelungsziel des Abs. 1
widerspräche, dem VN eine informierte und rationale Entscheidung zu ermöglichen und so für
bedarfsgerechten Versicherungsschutz zu sorgen.233 Beispiele bieten etwa Doppel- und
Überversicherungen.234 Dasselbe gilt. wenn der VN offenkundig aufgrund seiner kritischen
finanziellen Lage die Prämien für mehrere Lebensversicherungsverträge nicht zahlen kann und
die Verträge in keiner Weise seiner Lebenssituation entsprechen.235 Sind für bestimmte
Versicherungsprodukte die finanziellen Voraussetzungen nicht gegeben, so hat der Versicherer
Wege aufzuzeigen, wie der VN mit den begrenzten Mitteln dem von ihm angestrebten Ziel am
nächsten kommen kann.
#154#
Unzumutbar ist freilich der Hinweis auf Konkurrenzprodukte, die besser auf den
Versicherungsbedarf passen oder im Gegensatz zu eigenen Produkten ein bestimmtes Risiko
überhaupt absichern.236 Der Versicherer hat anders als ein Versicherungsmakler nur
hinsichtlich der eigenen Produktpalette zu beraten, auch wenn das angebotene Produkt geeignet
sein muss, das zu versichernde Risiko abzudecken,237 und der Versicherer darauf hinweisen
muss, wenn das betreffende Risiko bei ihm nicht hinreichend versichert werden kann.
#155#
Kann der VN aufgrund versicherungstechnischer Unerfahrenheit nicht erkennen, dass er ein
bestimmtes Produkt nicht benötigt, hat der Versicherer hierauf hinzuweisen.238 Zumutbar ist
dann auch die Pflicht zur Aufklärung über die Möglichkeiten der Prämienersparnis, sei es durch
die Empfehlung einer anderen Versicherung, die das Risiko des VN gleichermaßen aber
230
Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 45.
Neuhaus r + s 2008, 449, 456.
232 Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690.
233 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 8.
234 Armbrüster ZVersWiss 2008, 431 f.; s. auch Rdn. * und zu
Beratungspflichten während der Vertragslaufzeit Rdn. *.
235 Römer VersR 1998, 1313, 1314, 1317; ähnlich LG Stuttgart r + s 2008, 132;
Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 56; Neuhaus r + s 2008, 449, 456;
Schirmer r + s 1999, 133,177, 185; offenbar großzügiger Rixecker in VersRHdb. § 18a Rdn. 10: Prüfungspflicht, ob sich der VN die Prämien nachhaltig
leisten kann.
236 OLG Hamm VersR 1995, 1345 = NJW-RR 1995, 988, 989; OLG Hamm
VersR 2008, 523; OLG Köln NVersZ 2002, 519, 121; OLG Saarbrücken
VersR 1999, 1367 = NJW-RR 1999, 1404, 1406; Dörner in Karlsruher Forum
2000, S. 39, 49; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 25;
Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690.Miettinen Pflichten, S. 102; Neuhaus r +
s 2008, 449, 456; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 17; Schirmer r + s 1999,
133, 136.
237 Terbille Anwaltshandbuch, § 2 Rdn. 195.
238 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 13.
231
49
günstiger abdeckt (Lagerversicherung statt einer Feuerversicherung für den laufenden
Betrieb),239 oder durch den Hinweis auf günstigere Tarife, etwa für bestimmte Berufsgruppen,
selbst wenn diese erst in absehbarer Zukunft eingeführt werden.240
#156#
Eine Pflicht des Versicherers, den VN auf (Schadensersatz-)Ansprüche gegen ihn selbst
hinzuweisen, besteht grundsätzlich nicht (zum Hinweis auf höhere Rückkaufswerte s. Rdn. *
Fn. 700).
#157#
cc) Verträge anderer Versicherer. Die Beratungspflicht erstreckt sich nicht auf bereits bei
anderen Versicherern bestehende Verträge, soweit sie nicht zu dem abzuschließenden Vertrag
in einem konkreten Zusammenhang stehen. So hat der Versicherer nicht den in die Osttürkei
Reisenden über die notwendige Deckungserweiterung in der Kfz-Versicherung bei einem
anderen Versicherer zu beraten, wenn mit ihm nur eine Hausratsversicherung abgeschlossen
werden soll.241 Würde dagegen aufgrund bereits bestehender Verträge eine
Doppelversicherung auftreten, so hat der Versicherer darauf hinzuweisen und darf keinen
Neuabschluss anraten (s. Rdn. *).
#158#
dd)
Geheimhaltungsinteresse.
Hat
der
Versicherer
ein
schützenswertes
242
Geheimhaltungsinteresse, so schuldet er keine Auskunft.
So besteht etwa keine
Offenlegungspflicht hinsichtlich der Höhe der Provision.243
#159#
ee) Absoluter Umfang des Beratungsaufwands. Im Einzelfall kann auch jenseits der
Proportionalitätsregel ein absolut übermäßiger Beratungsaufwand die Beratungspflicht
begrenzen. Dies gilt insbesondere für die Pflicht, Nachfragen des VN zu beantworten (zu ihr s.
Rdn. *): Sind zur Beantwortung einer sochen Nachfrage umfangreichere und damit
aufwändigere Nachforschungen zu betreiben, so kann der Versicherer die Beantwortung
ablehnen; er muss dies aber deutlich machen.244
#160#
239
BGH VersR 1981, 621; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 13; abw.
Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 7, demzufolge der BGH eine
Aufklärungspflicht abgelehnt habe, was aber nur für die vorvertragliche Pflicht
zutrifft.
240 ÖOGH VersR 1995, 119.
241 Schirmer r + s 1999, 133, 136.
242 Hartmann Informationspflichten, Rdn. 104 ff.
243 A.A. Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 50; Taupitz VersR 1995,
1125, 1128; zweifelnd Römer VersR 1998, 1313, 132. Zur Pflicht,
Innenprovisionen bei Immobilienkaufverträgen offenzulegen, s. BGH NJW
2003, 1811, 1813.
244 Vgl. Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 50.
50
d) Sachkunde des VN. Nach der Rechtsprechung zum früheren Recht konnte eigene
Sachkunde des VN oder dessen Unterstützung durch sachverständige Dritte die
Beratungspflicht begrenzen oder sogar völlig ausschließen.245 Auf eigene Sachkunde sollte
insbesondere aus einer beruflichen oder gewerbsmäßigen Tätigkeit des VN, mit denen der
Versicherungsvertrag in Zusammenhang steht, geschlossen werden können. Eigene Sachkunde
des VN vermochte demnach das Informationsgefälle hinsichtlich versicherungsrechtlicher oder
-technischer Fragen (zumindest teilweise) auszugleichen. Der Versicherer durfte dann davon
ausgehen, dass eine weitere Aufklärung nur bei Nachfragen erforderlich sei.246 Auch
sachkundige Beratung durch Dritte konnte Aufklärungspflichten eingrenzen, und zwar nicht
nur im Fall der Maklerberatung,247 für den nun schon Abs. 6 Fall 2 eine Beratungspflicht des
Versicherers ausschließt (s. dazu Rn *). Vielmehr genügte etwa die Beratung durch einen
Steuerberater hinsichtlich der steuerlichen Vor- oder Nachteilhaftigkeit einer
Lebensversicherung,248 durch einen Finanzberater, der ein fertiges Finanzierungskonzept
erarbeitet hat, mit dem der VN an den Versicherer herantritt, oder durch einen Architekten, der
bei der Bestimmung der Versicherungssumme beriet.249 In solchen Fällen konnte der
Versicherer erwarten, dass der VN hinreichend informiert ist.250
#161#
Eine entsprechende Beschränkung der Beratungspflicht sieht Abs. 1 nicht vor. Die
Beratungspflicht ist zudem im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit von
Kleingewerbetreibenden bewusst nicht auf Verbraucher beschränkt worden.251 Daher ist auf
den durchschnittlichen VN abzustellen (vgl. Rdn. *). Liegen Kenntnisse und intellektuelle
Fähigkeiten des konkreten Versicherungsinteressenten darüber, so bleibt ihm nur die
Verzichtsmöglichkeit (s. Rdn. *). Liegen sie darunter, so kann darin ein personenbezogener
Beratungsanlass liegen (s. Rdn. *).252
#162#
6. Verzicht auf Beratung und Dokumentation (Abs. 3). a) Normzweck. Nach Abs. 3 kann
der VN auf die Beratung und Dokumentation durch eine gesonderte schriftliche Erklärung
245
Vgl. BGHZ 47, 101 = NJW 1967, 1226, 1229 = VersR 1967, 441; OLG
Köln VersR 1996, 1265, 1266; OLG Saarbrücken r + s 2006, 197 = VersR
2006, 923, 924; OLG Köln VersR 2007, 1683, 1684; Armbrüster VersR 1997,
931, 936; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 26.
246 Engler VersR 1993, 1226, 1227; Martin Sachversicherungsrecht, K I Rdn.
17; Miettinen Pflichten, S. 116; Schirmer r + s 1999, 133, 137; Terbille
Anwaltshandbuch, § 2 Rdn. 19. Sehr streng hinsichtlich der Einhaltung von
Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalls etwa OLG Hamm VersR
1985, 461, 462.
247 Martin Sachversicherungsrecht, W V Rdn. 38; Schirmer r + s 1999, 133,
137.
248 OLG Köln VersR 2007, 1683, 1684.
249 OLG Saarbrücken r + s 2006, 197 = VersR 2006, 923, 924; vgl. auch OLG
Saarbrücken ZfS 2006, 36, 38.
250 OLG Koblenz VersR 2000, 1268, 1269; Mauntel Beratung, S. 93. Vgl. zur
Bankenhaftung BGH NJW 1996, 1744 f.
251 Regierungsbegr. zu § 7, BT-Dr. 16/3945, S. 60, die aber von
Schutzgedanken her auch auf § 6 passt. Vgl. auch Huber in Karlsruher Forum
2000, S. 107, 110; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 9.
252 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 7.
51
verzichten. Die setzt freilich voraus, dass ihn der Versicherer ausdrücklich darauf hinweist,
dass sich ein Verzicht nachteilig auf seine Möglichkeiten auswirken kann, gegen den
Versicherer einen Schadensersatzanspruch geltend zu machen. Der Verzicht soll sicherstellen,
dass dem mündigen VN die Beratung nicht aufgezwungen wird.253 Zwar spart der einzelne
VN durch einen Verzicht kein Geld, da die Beratung für nicht mit separat berechneten Kosten
verbunden ist. Jedoch reduziert sich der Gesamtaufwand für alle Versicherungsverträge, was
sich insgesamt günstig auf die Prämie auswirkt; und der einzelne VN spart durch den Verzicht
immerhin Zeit.254
#163#
Die Verzichtsmöglichkeit ist letztlich Ausdruck der Privatautonomie des VN.255 Ist er z.B.
über das Produkt Haftpflichtversicherung hinreichend informiert und erfragt er nur den Preis,
um beim günstigsten Anbieter abzuschließen, so soll ihm keine umfangreiche Befragung und
ausführliche Beratung aufgedrängt werden müssen.256 Eine faktische Verzichtsmöglichkeit
jenseits von Abs. 3 bietet zudem der Abschluss eines Fernabsatzvertrages, da der Versicherer
dann von vornherein keine Beratung schuldet (s. Rdn. *).257 Dies gebietet es, auch die
Anforderungen an einen Verzicht nach Abs. 3 nicht übermäßig auszudehnen, da es anderenfalls
zu einem Wertungswiderspruch kommt.
#164#
Beim Verzicht allein auf die Dokumentation hat die Beratung vollständig zu erfolgen und ist
nur nicht zu dokumentieren. Anders als beim Verzicht auf vorvertragliche Übermittlung der
Dokumentation nach Abs. 2 S. 2 Fall 1 muss die Dokumentation beim vollständigen Verzicht
nicht nachgeholt werden.
#165#
b) Europarechtskonformität. Für die Beratungspflicht des Versicherers bestehen keine
europarechtlichen Vorgaben, so dass sich auch ein Verzicht nicht an solchen messen lassen
muss (s. Rdn. *). Allerdings wird die Parallelnorm des § 61 Abs. 2 zum Beratungsverzicht
gegenüber dem Vermittler teils wegen Verstoßes gegen die Vorgaben der Vermittlerrichtlinie
als europarechtswidrig angesehen;258 dies könnte wegen des vom Gesetzgeber beabsichtigten
Gleichlaufs der Beratungspflicht von Vermittler und Versicherer (s. Rdn. *) auch mittelbare
Auswirkungen für die Anwendung von Abs. 3 haben. Indessen begründet die
253
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 60; s. auch Begründung zu § 42c a.F.,
BT-Dr. 16/1935, S. 24f.; ähnlich Reiff Versicherungsvermittlerrecht im
Umbruch, S. 85.
254 Armbrüster ZVersWiss 2008, 432.
255 Brink ZRP 2007, 100; vgl. auch Huber in Karlsruher Forum 2000, S. 5, 31;
Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 28; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a
Rdn. 18.
256 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 476.
257 Armbrüster ZVersWiss 2008, 432.
258 Dörner/Staudinger WM 2006, 1710, 1711; Franz VersR 2008, 298, 299;
Michaelis in Schwintowski/Brömmelmeyer § 61 Rdn. 31; so ausdrücklich auch
für Abs. 3 Schwintowski in B/M Rdn. 35; dagegen Armbrüster Rechtsfragen, S.
1, 21; Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 30.
52
Vermittlerrichtlinie keine Beratungspflichten, sondern verpflichtet lediglich zu ihrer
transparenten Ausgestaltung und zur Dokumentation (Vor §§ 6, 7 Rdn. *).259
#166#
Problematisch ist der Verzicht daher allenfalls hinsichtlich der Dokumentationspflicht. Die in
Textform zu machenden Angaben sind die Wünsche und Bedürfnisse des VN und die Gründe
für einen erteilten Rat. Verzichtet nun der VN wirksam auf den Rat und damit auch auf dessen
Begründung, sind nur noch die selbstständig gemachten Angaben des VN zu dokumentieren.
Insofern enthalten die zwingenden Angaben einer Verzichtserklärung alle europarechtlich
vorgegebenen Gesichtspunkte.260 Die besonderen formalen Anforderungen (Schriftform und
Belehrung) ermöglichen eine wirksame Aufklärung und Warnung des VN. Dem Ziel der
transparenten Ausgestaltung der Versicherungsvermittlung wird – bei verständlicher Gestaltung
der Verzichtserklärung als solcher – gleichfalls Rechnung getragen.
#167#
c) Wirksamkeit des Verzichts. Der Gesetzgeber verfolgt mit Abs. 1 das Regelungsanliegen,
die bedarfsgerechte Beratung des VN zu gewährleisten. Dieses Ziel wird in Frage gestellt, wenn
der Versicherer dem VN den Verzicht standardmäßig nahe legt. Darin liegt jedenfalls ein
Missstand i.S. von § 81 VAG, so dass aufsichtsrechtliche Konsequenzen drohen,261 ggf. auch
Unterlassungsklagen und wettbewerbsrechtliche Sanktionen (s. dazu § 7 Rdn. *). Der
Versicherer darf den VN mithin zwar über die Verzichtsmöglichkeit aufklären, aber er darf ihm
den Verzicht nicht systematisch nahe legen oder gar aufdrängen. Allein eine hohe
Verzichtsquote kann allerdings noch nicht als Missstand angesehen werden.
#168#
Teils wird über die geschilderten Saktionen hinausgehend vertreten, dass die vom Versicherer
vorformulierte, standardisierte Verzichtserklärung einer Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff.
BGB nicht stand halte.262 Es fragt sich freilich bereits, ob die Verzichtserklärung überhaupt
eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung ist, die der Verwender
der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt (vgl. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Zwar fallen nach dem Schutzzweck der §§ 305 ff. BGB hierunter auch einseitige Erklärungen
außerhalb des eigentlichen Vertrags,263 insbesondere einem Dritten gestellte
259
Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 30; Reiff VersR 2007, 717,
726.
260 Vgl. hierzu Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 85; ders.,
VersR 2007, 717, 726, der eine „Zwangsdokumentation“ von der Richtlinie
nicht gefordert sieht.
261 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 21; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 34; gegen einen massenhaften Verzicht auch Reiff VersR 2007, 717, 726;
ders. in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 167 (hinsichtlich § 61 VVG); Schimikowski/Höra
Das neue VVG, S. 106; a.A. Maier r + s 2006, 485, 487.
262 Franz VersR 2008, 298, 300; Schimikowski r + s 2007, 133, 136.
263 BGH NJW 1986, 2428, 2429; Basedow in MünchKomm-BGB § 305 Rdn.
9; Becker in Bamberger/Roth § 305 Rdn. 12; Ulmer in
Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, § 305 BGB Rdn. 16 f. Ausführlich und
krit. Blankenburg VersR 2008, 1446, 1447.
53
Verzichtserklärungen.264 Stellt der Verwender jedoch den Verzicht ernsthaft zur Disposition
und räumt er der Gegenseite somit Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen ein,
werden die Bedingungen nicht „gestellt“.265 Umstritten ist etwa, ob es sich um eine AGBrechtlich nicht kontrollierbare Individualvereinbarung handelt, wenn der Versicherer
verschiedene Ankreuzfelder vorsieht, bei denen der VN die freie Wahl hat, welche er
ankreuzt.266 Damit der Kunde tatsächlich die Möglichkeit erhält, auf den Inhalt der Klauseln
Einfluss zu nehmen, muss er – jedenfalls bei umfangreichen und nicht ganz leicht
verständlichen Klauseln – über den Inhalt und die Tragweite der Klauseln im Einzelnen belehrt
werden.267
#169#
Lässt der Versicherer dem VN letztlich nur die Wahl, den Verzicht zu unterschreiben oder auf
den Vertragsschluss zu verzichten, so handelt es sich um eine AGB i.S. von § 305 Abs. 1 Satz
1 BGB.268 Letzteres ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Versicherer die
Verzichtserklärung im Formular ankreuzt, ohne den Kunden überhaupt zu fragen. 269
#170#
Eine inhaltliche Unwirksamkeit kann sich insbesondere aus einem Verstoß gegen den
Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ergeben (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Auch wenn
Abs. 3 ausdrücklich eine Verzichtsmöglichkeit vorsieht, so widerspräche ein regelmäßiger
Verzicht der Zielsetzung des Gesetzgebers, regelmäßig eine Beratung zu gewährleisten.270
Dennoch kann dem Gesetz – anders als ein Verzicht nach Abs. 4 Satz 2 (vgl. Rdn. * bei Fn.
552) – nicht der Grundgedanke entnommen werden, dass Verzichtserklärungen stets
individualvertraglich gestaltet sein müssen.271 Im Verzicht liegt nämlich kein Verstoß gegen
ein gesetzliches Leitbild i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB: Zwar möchte der Gesetzgeber
Beratung erreichen, nicht aber, wenn der VN unter Einhaltung der strengen Voraussetzungen
von Abs. 3 seinen gegenteiligen Willen bekundet. Insoweit besteht ein grundlegender
264
OLG Karlsruhe NJW 1991, 112; Blankenburg VersR 2008, 1446, 1448.
BGH NJW 2005, 2543, 2544; Blankenburg VersR 2008, 1446, 1448.
266 Zur Diskussion Blankenburg VersR 2008, 1446, 1448 f.; Ulmer in
Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, § 305 BGB Rdn. 53a. Problematischer
sind Streichungsmöglichkeiten, weil hier dem VN sein Gestaltungsspielraum
unerkannt bleiben könnte; vgl. BGH NJW 1987, 2011; Becker in
Bamberger/Roth, BGB § 305 Rdn. 35; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen,
AGB-Recht, § 305 BGB Rdn. 53.
267 BGH NJW 2005, 2543, 2544; Basedow in MünchKomm-BGB § 305 Rdn.
38.
268 BGH NJW 2005, 2543, 2544; Blankenburg VersR 2008, 1446, 1448. S.
auch BGH NJW 1977, 624, 625.
269 Vgl. Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 21 f.
270 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
34; Neuhaus/Kloth Praxis des neuen VVG, S. 43 f.; Schimikowski/Höra Das
neue VVG, S. 105 f. Kritisch hinsichtlich der Parallelregelung in § 7 Abs. 1
Satz 3 Terbille in Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, § 2 Rdn. 69.
271
Blankenburg
VersR
2008,
1446,
1449;
Münkel
in
Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 32.
265
54
Unterschied zu jener Entscheidung des BGH zum alten Recht,272 in der ein Makler einen
vollständigen Ausschluss seiner Pflichten vorsah, obwohl er als Interessenvertreter des VN zu
dessen umfassenden Betreuung und Beratung verpflichtet ist.273 Würde man einen Verstoß
gegen § 307 BGB annehmen, könnte der Versicherer zudem praktisch gar keine
Verzichtserklärungen mehr entgegennehmen.274
#171#
Teilweise wird die Beratungspflicht auch als wesentliche Pflicht angesehen, so dass die
Freizeichnung durch Verzicht eine Vertragszweckgefährdung i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB
darstellen würde.275 Dies überzeugt auf der Grundlage des neuen Rechts bereits deshalb nicht,
weil Abs. 1 die Beratung nunmehr zu einem gesetzlichen Leitbild macht (das freilich die
Verzichtsmöglichkeit nach Abs. 3 einschließt; s. Rdn. *), während der Versicherungsvertrag
nicht auf Beratung als Hauptzweck abzielt.
#172#
Unter besonderen Umständen kommt eine Unwirksamkeit des Verzichts wegen
Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB in Betracht. Dies gilt namentlich dann, wenn der
Versicherer trotz offensichtlichen Beratungsbedarfs des VN den Verzicht aufgrund seines
überlegenen Wissens nutzt, um einen Vertragsabschluss zu erzielen.276
#173#
Zu unterscheiden von der in Rdn. * erörterten Inhaltskontrolle des Verzichts als solchem ist
eine Kontrolle der Formulierung eines vom Versicherer vorformulierten Verzichtstexts. Ein
solcher Text ist einer Inhaltskontrolle zugänglich, insbesondere im Hinblick auf seine
Transparenz (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB).
#174#
d) Verzichtserklärung. Der Verzicht kann sich auf die Beratung, die Dokumentation oder auf
beides beziehen. Ein Verzicht auf die Beratung setzt voraus, dass der VN zum Ausdruck
bringt, keinerlei Beratung zu wünschen. Schadensersatzansprüche wegen unterlassener
Beratung sind dann von vornherein ausgeschlossen.277
#175#
Kein Verzicht auf Beratung, sondern nur eine Begrenzung des Beratungsgegenstands liegt vor,
wenn der VN seinen Beratungsbedarf hinsichtlich eines bestimmten Versicherungsprodukts auf
272
BGHZ 162, 67, 77 = VersR 2005, 406, 408.
Vgl. schon Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 23.
274 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 23.; bezogen auf die Parallelvorschrift in § 7
Abs. 1 Satz 3 auch Leverenz, Vertragsschluss nach der VVG-Reform, Rdn.
3/77.
275 Vgl. Dörner/Staudinger WM 2006, 1710, 1711; Schirmer r + s 1999, 133,
177, 182. Ähnlich Franz VersR 2008, 298, 300. Vgl. auch BGH NJW 1985,
1165 zu den Informationspflichten des Reiseveranstalters.
276 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 19.
277 Vgl. Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 40.
273
55
bestimmte Punkte beschränkt. Davon zu unterscheiden ist der Teilverzicht in bezug auf
selbstständige Vertragsteile, etwa im Hinblick auf mögliche Deckungserweiterungen zu der in
Rede stehenden Versicherung.278 Er ist als „minus“ zum Verzicht ohne weiteres möglich.
#176#
In der bloßen Nichterteilung von erbetenen Auskünften liegt keine Verzichtserklärung (der
zudem die Schriftform fehlen würde; s. Rdn. *); vielmehr beschränkt sich in diesem Fall die
Beratungspflicht auf das vom VN ausdrücklich gewünschte Versicherungsprodukt, da kein
Anlass zu weitergehender Beratung besteht.279 Die erfolgte (eingeschränkte) Beratung ist zu
dokumentieren,280 während beim Verzicht nur dieser schriftlich dokumentiert werden muss.
#177#
e) Schriftformerfordernis. Der Verzicht hat durch gesonderte schriftliche Erklärung zu
erfolgen. Mit dem Kriterium der Schriftlichkeit nimmt der Gesetzgeber auf § 126 Abs. 1 BGB
Bezug. Die Urkunde muss daher vom Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift
unterzeichnet sein. Der Verzicht per Telefon, E-Mail oder Fax genügt – im Gegensatz zum
Verzicht auf vorvertragliche Dokumentation Nach Abs. 2 Satz 2 Fall 1 – nicht. Nutzt der VN
diese Kommunikationswege, so wird freilich häufig ohnehin ein Fall des Fernabsatzes
vorliegen, so dass die Beratungspflichten des Abs. 1 gem. Abs. 6 entfallen. Schließt aber z.B.
ein VN telefonisch eine Kfz-Versicherung, so besteht ungeachtet des konkreten
Beratungsbedarfs die Pflicht aus Abs. 1, und ein Beratungsverzicht ist aufgrund des
Schriftformerfordernisses ausgeschlossen.281
#178#
f) Gesonderte Erklärung. Die „gesonderte“ Erklärung erfordert, dass die Verzichtserklärung
von den anderen vertraglichen Bestimmungen klar abgegrenzt ist.282 Streit besteht darüber, ob
für diese Abgrenzung eine körperliche Trennung in Form eines eigenen Dokuments
erforderlich ist. Aus dem Wortlaut von Abs. 3 ergibt sich ein derartiges Erfordernis nicht. 283
Freilich erläutert die Regierungsbegründung zu § 7 Abs. 1 Satz 3, der dieselbe Wendung
enthält, es handele sich um eine „ausdrückliche Erklärung in einem gesonderten vom VN
unterschriebenen Schriftstück“.284 Demgemäß wird überwiegend angenommen, dass der
278
Armbrüster ZVersWiss 2008, 432.
Begründung zu § 42 c II a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 49; Niederleithinger
VersR 2006, S. 437, 439; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 166 (zu § 61) Wandt in
Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 280.
280 Schwintowski ZRP 2006, 139, 141.
281 Maier r + s 2006, 485, 487.
282 Leverenz VersR 2008, 709, 710 f.; zum allg. Zivilrecht BGHZ 104, 232,
237; BGH NJW 2001, 3186; Dieses in verschiedenen Gesetzen vorkommende
Kriterium will der BGH einheitlich auslegen; BGHZ 119, 283, 297; BGH NJW
2001, 3186. Vgl. zur einer Widerrufsbelehrung BGH NJW 1987, 125, 126.
283 BGH NJW 2001, 3186; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 18.
284 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 60.
279
56
Verzicht auf einem separaten Dokument erfolgen muss.285 Ein ins Antragsformular integrierter
Beratungsverzicht erfüllt diese Voraussetzung regelmäßig nicht.286 Indessen werden die
Anforderungen an den Verzicht überspannt, wenn man ein separates Schriftstück verlangt. Der
BGH287 hat zutreffend im Kontext von § 309 Nr. 11a BGB die Hervorhebung innerhalb des
Vertragstextes genügen lassen; hierdurch wird der VN hinreichend gewarnt. Erforderlich, aber
auch ausreichend ist es demnach, wenn die Verzichtserklärung deutlich vom übrigen Text
abgesetzt wird, ggf. verstärkt durch drucktechnische Elemente wie Fettdruck, Striche,
Schattierungen oder Einrahmungen, so dass sie unübersehbar eine separate Erklärung
darstellt.288 Auch die standardmäßige Vorformulierung einer Verzichtsklausel durch den
Versicherer für alle seine Vertragsangebote erfüllt im Übrigen die Anforderung der
„gesonderten Erklärung“.289
#179#
g) Hinweis auf Nachteile. Um dem VN die Folgen des Verzichts vor Augen zu führen, muss
der Versicherer ihn ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich ein Verzicht nachteilig auf seine
Möglichkeit auswirken kann, gegen den Versicherer einen Schadensersatzanspruch nach Abs. 5
geltend zu machen.290 Diese Regelung wirft mehrere Fragen auf. So wirkt sich der Verzicht
nicht nur nachteilig auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aus; vielmehr
schließt er eine Beratungspflicht und damit die Existenz von auf eine diesbezügliche
Pflichtverletzung gestützten Schadensersatzansprüchen von vornherein aus. Hieraus wird
teilweise geschlossen, dass ein Hinweis, der sich am Wortlaut von Abs. 5 oriententiert, als
verschleiernd und irreführend unwirksam ist. Da ein solcher Hinweis des Weiteren belegen
würde, dass eine Beratung überhaupt nicht stattgefunden hat, mit den Folgen einer
Beratungspflichtverletzung nach Abs. 1 und einer entsprechenden Schadensersatzpflicht nach
Abs. 5, verstärkt er demnach die Risiken des Versicherers, statt sie zu minimieren.291
Andererseits kann ein Hinweis darauf, dass Schadensersatzansprüche „ausgeschlossen“ sind,
den VN irritieren und von der Geltendmachung solcher Ansprüchen abhalten, die von dem
Verzicht unberührt bleiben.
#180#
Zudem stellt sich die Frage, ob sich der nach Abs. 3 erforderliche Hinweis auch auf eine
Beratung nach den Grundsätzen der bisherigen Anlassrechtsprechung (s. Rdn. *) beziehen
muss. Einerseits würde sich der Hinweis ohne Einbezug des Ausschlusses auch dieser Haftung
als unvollständig und damit irreführend darstellen. Andererseits ist die Haftung für fehlerhafte
freiwillige Beratung gerade nicht ausgeschlossen, so dass ein umfassender Hinweis wiederum
unrichtig wäre und den VN von der Geltendmachung seiner Rechte abhalten könnte. Ein genau
differenzierender Hinweis würde freilich den durchschnittlichen VN hinsichtlich seiner
285
Funck VersR 2008, 163, 166; Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S.
28; Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 31; krit. Gaul VersR 2007,
21, 23; a.A. Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 18.
286 Franz DStR 2008, 303, 304.
287 St. Rspr.; BGH NJW 1988, 2465; NJW 2001, 3186.
288 BGH NJW 2001, 3186; Leverenz VersR 2008, 709, 712.
289 Blankenburg VersR 2008, 1446, 1449; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
19. A.A. zu § 7 Langheid NJW 2006, 3317, 3318, der formularmäßige
Verzichtserklärungen damit für ausgeschlossen hält.
290 Krit. hinsichtlich der verbraucherschützenden Wirkung Niederleithinger
VersR 2006, S. 437, 439.
291 Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 40.
57
Entscheidung überfordern, ob er den Verzicht erklären möchte oder nicht. Sachgerecht
erscheint nach alledem der Hinweis, „dass sich ein Verzicht nachteilig auf die Möglichkeit
auswirken kann, gegen den Versicherer einen Schadensersatzanspruch aufgrund unterlassener
oder fehlerhafter Beratung geltend zu machen, oder diesen vollständig ausschließen kann“. 292
#181#
Nach dem Wortlaut von Abs. 3 muss die Belehrung in der Erklärung des VN enthalten sein.
Dies bedeutet nur, dass sich aus der Erklärung ergeben muss, dass der VN zuvor vom
Versicherer ausdrücklich auf diese nachteilige Rechtsfolge hingewiesen wurde.293 Durch den
Begriff „ausdrücklich“ soll verdeutlicht werden, dass ein konkludenter Verzicht ausgeschlossen
ist.
#182#
7. Fallgruppen. a) Überblick. In der bisherigen Rechtsprechung haben sich Fallgruppen zur
Aufklärungspflicht des Versicherers und zu deren jeweiliger Reichweite herausgebildet. Sie
können in weiten Teilen auf die Regelung der Beratungspflichten in Abs. 1 übertragen
werden.294 Teils ist aufgrund der Kodifikation und der mit ihr verbundenen Ziele freilich eine
weitere Auslegung der Beratungspflichten zugunsten des VN geboten.
#183#
b) Produktbezogene Beratungspflichten. aa) Überblick. Der Versicherer hat die
Bedingungen des Vertrags zu erläutern, denen nach der Verkehrsanschauung für den Abschluss
des Vertrags wesentliche Bedeutung beigemessen wird, also diejenigen, die typischerweise für
einen durchschnittlichen VN bei einem derartigen Versicherungsvertrag von Belang sind.295
Darüber hinaus unterliegt der Versicherer nur insoweit Informations- und Beratungspflichten,
als die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa der Wunsch nach Beratung, erkennbare
Fehlvorstellungen oder außergewöhnlich komplizierte Regelungen dies gebieten (vgl. Rdn. *
ff.).296 Teilweise ist eine spontane Aufklärungspflicht befürwortet worden, weil sich die
Bedeutung vieler vertraglicher Regelungen nur schwer allein durch bloßes Selbststudium für
den VN ergab.297 Dem hat sich der Reformgesetzgeber nicht angeschlossen, indem er an der
Anlassbezogenheit festhält (s. Rdn. *). Im Gegenzug hat er die Informationspflichten nach § 7
ausführlich und mit besonderem Augenmerk auf Übersichtlichkeit ausgestaltet: Im
Produktinformationsblatt hat der Versicherer gem. § 4 VVG-InfoV auf im Vertrag enthaltene
Leistungs- und Risikoausschlüsse hinzuweisen. Damit beschränkt sich die Pflicht des
Versicherers aber auf einen Hinweis, es besteht darüber hinaus keine weitergehende
Beratungspflicht nach Abs. 1, es sei denn es ergibt sich aus der Schwierigkeit der Beurteilung
292
S. dazu demnächst Stöbener Informations- und Beratungspflichten des
Versicherers.
293 Vgl. auch Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 84; ders.
VersR 2007, 717, 726.
294 Vgl. auch Begründung zu § 42c I a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24
295 BGH VersR 1956, 789, 791; BGH VersR 1981, 621, 623; Gruber in BK
§ 43 Rdn. 27; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33; Römer VersR 1313, 1317;
Schirmer r + s 1999, 133, 136 f.
296 Römer VersR 1313, 1317 ff.; Schirmer r + s 1999, 133, 137.
297 Heiss ZVersWiss 2003, 339, 344; gegen eine „Leseobliegenheit“ des VN
auch Ihle Informationsschutz, S. 37 f.; a.A. Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn.
11.
58
des Versicherungsvertrags, den Umständen in der Person oder Situation des VN oder aus
anderen Gesichtspunkten ein individueller oder typischer Beratungsbedarf, der durch mehr als
einen bloßen Hinweis gedeckt werden muss (vgl. schon Rdn. *).
#184#
Bereits wegen der Komplexität des Produkts besteht Anlass zur Beratung etwa bei
unübersichtlichen Tarifgestaltungen, deren Vor- bzw. Nachteilhaftigkeit der VN nicht ohne
weitere Beratung erkennen kann.298 Auf günstigere (hauseigene) Produkte, vor allem solche,
die eigens für eine bestimmte Gruppe von VN entwickelt wurde, zu der der VN gehört, hat
der Versicherer hinzuweisen.299 Dasselbe gilt hinsichtlich für den VN günstigerer oder in
seinem Interesse liegender tariflich möglicher Vertragsmodifikationen, z.B. eine kürzere
(einjährige statt mehrjährige) Vertragsdauer bei gleicher Prämienhöhe. 300 Auch die
Kombination von verschiedenen Produkten, etwa einer Kapitallebensversicherung zur
Finanzierung der Abzahlung eines Realkredits, kann zur Komplexität und damit zur
Beratungspflicht des Versicherers führen.301 In solchen Fällen hat der Versicherer von sich aus
darüber aufzuklären, in welchen wesentlichen Punkten sich der mit einer
Kapitallebensversicherung verbundene Kredit vom üblichen Ratenkredit unterscheidet, welche
spezifischen Vor- und Nachteile sich aus einer derartigen Vertragskombination für den VN
ergeben können und was ihn der Kredit unter Berücksichtigung aller Vor- und Nachteile der
Lebensversicherung voraussichtlich kosten wird.302
#185#
Auch ein Hinweis auf nachteilige Abweichungen in den AVB eines neuen Vertrags im
Vergleich zu den für frühere Verträge verwendeten kann geboten sein. Zwar darf der VN bei
einem Neuabschluss anders als bei einer Vertragsverlängerung nicht auf die Übernahme der
bisherigen Bedingungen vertrauen. Wünscht er aber fortlaufenden Versicherungsschutz zu in
bestimmten Punkten veränderten Bedingungen, so kann sein Vertrauen, auf weitere wesentliche
Änderungen in den AVB hingewiesen zu werden, schutzwürdig sein303 (vgl. auch Rdn. *).
#186#
Ergibt sich aus den Wahlmöglichkeiten im Antragsformular, dass der letztlich beantragte
Versicherungsschutz erheblich eingeschränkt ist, so bedurfte es nach bisheriger Rechtsprechung
keines weiteren Hinweises durch den Versicherer.304 Unter Geltung von Abs. 1 ist dies
298
Römer VersR 1998, 1313, 1319.
Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 12, vgl. auch AG Mannheim VersR 1985,
985.
300 Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 37.
301 BGH NJW 1989, 1667, 1668; NJW 1990, 1844, 1846; NJW 1998, 2898 =
VersR 1998, 1093 = VuR 1998, 415 m. Anm. Schwintowski; Kieninger
NVersZ 1999, 118, 120 interpretiert dies als Übertragung der „BondRechtsprechung“ (Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Näher Mauntel Beratung, S. 91.
302 BGH NJW 1989, 1667, 1668.
303 OLG Koblenz VersR 2007, 482, 483, allerdings mit der Begründung, es
handele sich um eine fehlerhafte Auskunft des Vertreters; Rixecker in VersRHdb. § 18a Rdn. 35.
304 OLG Hamm VersR 1998, 356; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 12
299
59
zumindest dann anders zu sehen, wenn die Wahlmöglichkeiten aufgrund ihrer Komplexität oder
Unübersichtlichkeit vom VN nur erschwert zu beurteilen sind.
#187#
Im Schrifttum wurde für das frühere Recht teils eine Aufklärungspflicht darüber angenommen,
wie das angebotene Versicherungsprodukt von „üblichen“ Produkten, insbesondere den
Musterbedingungen der Verbände, oder gesetzlichen Leitbildern abweicht, da diese das Bild
des VN über den Versicherungsschutz einer bestimmten Sparte prägten.305 Dem ist weder für
das alte noch für das neue Recht zu folgen. Abgesehen von den Problemen bei der Feststellung,
welcher Versicherungsschutz angesichts weitreichender Produktgestaltungsfreiheit der
Versicherer „üblich“ ist, ist auch zu bezweifeln, dass der VN sich über die
Standardversicherungsprodukte Gedanken macht. Durch Aufklärung über die Abweichungen
vom „Üblichen“ allein wird er sich noch kein Bild vom angebotenen Vertrag machen können.
#188#
bb) Deckungsumfang und Risikoausschlüsse. Über den Leistungsumfang und die
wesentlichen Risikoausschlüsse ist bereits nach § 7 und nach § 4 VVG-InfoV im Rahmen der
Standardinformationen sowie im Produktinformationsblatt zu informieren. Die bisherige
Rechtsprechung, wonach der Agent regelmäßig nicht verpflichtet ist, den VN über
Risikoausschlüsse aufzuklären, weil mit ihnen gerechnet werden müsse,306 ist insoweit
überholt.
#189#
Hinsichtlich sonstiger Risikoausschlüsse, die typischerweise nur eine untergeordnete
Bedeutung haben, im Einzelfall aber bedeutsam sein können, stellt sich weiterhin die Frage,
wann eine individuelle Beratungspflicht – nun nach Abs. 1 – anzunehmen ist. Grundsätzlich
muss der Versicherer nur dann über die Risikoausschlüsse beraten, wenn sie kompliziert und
für den VN in ihrer Tragweite nicht verständlich sind. Darüber hinaus muss sich der VN über
den Inhalt und Umfang der Risikoausschlüsse durch Einsichtnahme in die AVB vergewissern
und bei Ungewissheit beim Versicherer nachfragen.307
#190#
Beispiele: Der Versicherer braucht grundsätzlich nicht darauf hinzuweisen, dass
Betriebsschäden nicht von der Kfz-Versicherung gedeckt sind.308 Auch auf das verbleibende
Unterschlagungsrisiko eines zu vermietenden Kfz in der Kfz-Versicherung muss grundsätzlich
305
Hoffmann Verbraucherschutz im Privatversicherungsrecht, S. 239 f.; s. auch
F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S. 23;
Schneider in VersR-Hdb. § 1a Rdn. 17.
306 BGH VersR 1956, 789, 791; BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978, 1980 =
VersR 1963, 768, 769; OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410; OLG
Frankfurt/M. VersR 1987, 579; LG Köln r + s 1993, 428, 429.
307 BGHZ 40, 22, 27 = NJW 1963, 1978, 1980; OLG Frankfurt NJW-RR 1986,
1410; OLG Karlsruhe VersR 1986, 1180 = NJW-RR 1987, 212, 213; Miettinen
Pflichten, S. 104.
308 OLG Hamm VersR 1995, 1345 = NJW-RR 1995, 988; Rixecker in VersRHdb. § 18a Rdn. 34.
60
nicht hingewiesen werden.309 Keine Pflicht besteht auch zum Hinweis darauf, dass Deckung für
den in einem Mehrfamilienhaus wohnenden VN nur besteht, wenn in seine eigene Wohn- oder
Geschäftseinheit eingebrochen wird,310 es sei denn, es wird erkennbar, dass die räumliche
Verbindung des versicherten mit einem nicht versicherten, aber einbruchsgefährdeten Bereich
für den VN ein besonderes Risiko begründet.311
#191#
Hinzuweisen ist auf einen Risikoausschluss dann, wenn die Angaben des VN auf ein erhöhtes
Gefahrenpotential hindeuten. Im Fall der Rückfrage des VN oder erkennbarer Irrtümer oder
Deckungslücken muss der Versicherer auch dann beraten, wenn die AVB klar und eindeutig
gefasst sind. So muss z.B. auf die Europaklausel in der Kfz-Versicherung hingewiesen werden,
wenn im Vermittlungsgespräch die Türkei als Reiseziel erwähnt wird, da dies für sich allein
schon das Interesse des VN hinreichend zum Ausdruck bringt, das Fahrzeug im gesamten
Gebiet der Türkei mit Versicherungsschutz führen zu können.312 Nach Ansicht einiger Gerichte
ist Beratung auch veranlasst, wenn sich etwa aus der erkennbaren (z.B. türkischen) Herkunft ein
typischer Bedarf für Versicherungsschutz auch auf Heimatreisen außerhalb Europas ergibt,313
nicht dagegen, wenn der Versicherer nicht wissen kann, dass ein Deutscher zu
Ausbildungszwecken in die Türkei reisen will (s. bereits Rdn. *).314 Erweitert der Versicherer
die Deckung in der Kfz-Haftpflichtversicherung auch für das außereuropäische Ausland, will
er dies aber nicht für die ebenfalls bestehende Kaskoversicherung tun, so hat er auf die
verbliebene Deckungslücke in der Sachversicherung hinzuweisen.315 Hat der Versicherer den
Versicherungsschutz auf den asiatischen Teil der Türkei erweitert, soll diese Erweiterung des
Versicherungsschutzes aber auf eine geringere Versicherungssumme begrenzt sein, so hat er
hierauf hinzuweisen; geschieht dies nicht, so hat er entsprechend seiner uneingeschränkten
Erklärung den vollen Deckungsschutz für den erweiterten Geltungsbereich zu gewähren.316
Besteht eine Deckungslücke für Schäden durch Kollisionen zwischen Erst- und Zweitwagen in
309
OLG Köln VersR 1996, 1265, 1266; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 35.
OLG Karlsruhe VersR 2004, 373, 374.
311 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 37.
312 BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978, 1980 = VersR 1963, 768; BGH NJW
2005, 2011, 2012 = r + s 2005, 455; OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410 =
VersR 1987, 579; OLG Karlsruhe VersR 1988, 486 = NJW-RR 1987, 922;
OLG Saarbrücken r + s 2005, 14, 15 = VersR 2005, 971; LG Freiburg VersR
1987, 897 (Ls.); vgl. BGHZ 108, 200 = NJW 1989, 3095, 3096 (zu NordZypern). Eine Schadensersatzpflicht wegen ausreichenden Hinweises durch
Vorlage eines in deutscher und türkischer Sprache abgefassten Vordrucks
ablehnend OLG Hamm VersR 1984, 131, 132. Aufgrund von Kenntnis des VN
ablehnend OLG Stuttgart VersR 1993, 347, 348. Aufklärungspflichten
bejahend: Langheid in R/L, § 43 Rdn. 50; Römer VersR 1998, 1313, 1319;
ders. in Karlsruher Forum 2000, S. 121, 122 f.; a.A. wohl OLG Koblenz ZfS
1998, 261; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34.
313 BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978, 1980; OLG Frankfurt VersR 1998, 1103,
1104; OLG Hamm VersR 1981, 191, 192; 1991, 1238 (Ls.); OLG Oldenburg
NVersZ 2000, 388; Schirmer r + s 1999, 133, 137; a.A. wohl OLG Köln r + s
1990, 400; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34.
314 OLG Koblenz ZfS 1998, 261.
315 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34.
316 BGHZ 120, 87 = NJW 1993, 1007, 1009.
310
61
der Kfz-Versicherung, so ist hierauf dann hinzuweisen, wenn ein erhöhtes Gefahrenpotential
besteht, etwa weil mehrere Fahrzeuge auf einem Betriebsgelände bewegt werden oder weil
Eheleute mit verschiedenen Kfz auf demselben Parkplatz parken, nicht hingegen, wenn das
Auto des an anderem Ort wohnenden Bruders zur Prämienersparnis als Zweitwagen versichert
wird.317 Auch über nicht versicherte und nur bedingt versicherbare Risiken wie
Vandalismusschäden ist aufzuklären.318
#192#
Als Rechtsfolge einer Verletzung dieser Beratungspflicht kommt nicht nur eine
Schadensersatzpflicht nach Abs. 5 in Betracht, sondern u. U. auch eine enge Auslegung der
Risikoausschlussregeln (näher Rdn. *). Der durchschnittliche VN braucht nämlich nicht damit
zu rechnen, dass er Lücken im Versicherungsschutz hat, ohne dass ihm diese hinreichend
verdeutlicht werden (Vor §§ 6, 7 Rdn. *).319 Verbunden mit dem Hinweis auf
Risikoausschlüsse hat der Versicherer auch hinsichtlich der Möglichkeiten einer Zusatzdeckung
oder des Verzichts auf die Risikoausschlüsse zu beraten, um diese Lücke zu schließen.320
#193#
cc) Obliegenheiten des VN. Nach § 4 Nr. 5-8 VVG-InfoV hat der Versicherer im
Produktinformationsblatt auch auf die Obliegenheiten bei Vertragsschluss, während der
Laufzeit des Vertrages und bei Eintritt des Versicherungsfalles auf die Rechtsfolgen der
Nichtbeachtung von Obliegenheiten hinzuweisen. Beschränkt sich der Gesetzgeber auf eine
Hinweispflicht, so ist davon auszugehen, dass die Existenz einer Obliegenheit allein keinen
hinreichenden Anlass zur Beratung nach Abs. 1 begründet. Eine Pflicht zum Hinweis auf
vertragliche Obliegenheiten würde aufgrund der Mannigfaltigkeit der denkbaren Fälle den
Versicherer überfordern und wäre der Übersichtlichkeit und Klarheit abträglich.321 Stattdessen
ist auch hier die Beratungspflicht davon abhängig zu machen, dass Schwierigkeiten bei der
Beurteilung des Vertrags auftauchen oder dass sich aus besonderen Umständen in der Person
oder Situation des VN ein Beratungsbedarf ergibt.322
#194#
So ist auf die Bedeutung einzelner Obliegenheiten hinzuweisen, die typischerweise von VN
falsch verstanden werden. Dies gilt z.B. die Folgen der sog. Kofferraumklausel, wonach
Reisegepäck nur dann versichert ist, wenn es im verschlossenen Kofferraum aufbewahrt oder
317
Vgl. OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 904, 905; AG Trier NVersZ 2002, 231
f.
318
OLG Karlsruhe VersR 1994, 1169 (Ls.); problematisch ist aber der
Nachweis des kausalen Schadens.
319 BGH VersR 1999, 748, 749; VersR 2003, 454, 455, OLG Karlsruhe NJWRR 2006, 534, 535; Armbrüster EWiR 2003, S. 609 f.
320 OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1410; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 12;
Schirmer r + s 1999, 133, 138; a.A Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 33 a.E. (nur
wenn Zusatzdeckung naheliegend und üblich).
321 Vgl. OLG Hamm r + s 2001, 303, 304; OLG Karlsruhe VersR 1986, 1180 =
NJW-RR 1987, 212, 213 f.; OLG Koblenz VersR 1981, 645, 646; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34
322 Allgemein gegen Aufklärungspflichten über vertragliche Obliegenheiten
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 36.
62
das Kfz unter Aufsicht geparkt wird, für Kombifahrzeuge (s. bereits Rdn. *).323 Eine
Obliegenheit, deren Folge ist, dass für ein landwirtschaftliches Fahrzeug während der Nutzung
für Fastnachtsumzüge kein Versicherungsschutz besteht, ist nur zu erläutern, wenn der VN
konkret danach fragt oder wenn ein solches Risiko sich aufgrund entsprechender regionaler
Praxis als naheliegend aufdrängen muss.324 Auf die Rechtsfolge der Leistungsfreiheit bei
ungenehmigter Mehrfachversicherung muss nicht ohne konkreten Anlass hingewiesen
werden.325 Auf die Entschädigungsgrenze für Wertsachen in der Hausratversicherung bzw.
die Notwendigkeit der Aufbewahrung im Stahlschrank ist nur im Einzelfall hinzuweisen,
nämlich wenn der hohe Wert des Schmucks dem Versicherer bekannt ist.326
#195#
dd) Einzelfälle. In der Kfz-Versicherung ergeben sich Schwierigkeiten bei der Beurteilung
insbesondere aus der Vielzahl und Unübersichtlichkeit an Tarifen, deren Vor- und Nachteile
der Versicherer erläutern muss.327 Sind in der Sachversicherung in einem Bedingungswerk
verschiedene Wertansätze enthalten, so muss der VN über die Unterschiede aufgeklärt
werden328 sowie darüber, welchen Wert er anzugeben hat (vgl. zur Ermittlung des
Deckungsbedarfs Rdn. *).329 In der Haftpflichtversicherung gibt es zahlreiche
Risikoausschlüsse, die allerdings teilweise durch Zusatzvereinbarung wieder abdingbar sind,
so dass Unklarheiten hinsichtlich des Deckungsschutzes bestehen können. Der Versicherer
muss dann auf typische Deckungslücken hinweisen, etwa hinsichtlich des Gerüstverleihs in der
Berufshaftpflichtversicherung für Dachdecker (s. Rdn. *).330
#196#
In der Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung bestehen bereits umfangreiche
produktbezogene Informationspflichten nach § 7 i.V.m. § 2 VVG-InfoV, so dass konkretindividuelle produktbezogene Beratungspflichten hinsichtlich einzelner vertraglicher
Regelungen und Klauseln grundsätzlich nicht bestehen. Allerdings ist über wesentliche
Gesichtspunkte wie die langfristige Bindung und die Ungewissheiten in der
Leistungsentwicklung hinzuweisen.331 Auch aufgrund schwer verständlicher Klauseln kann im
Einzelfall eine Beratung veranlasst sein. So ist in der Berufsunfähigkeitversicherung über den
Unterschied zwischen einer konkreten und einer abstrakten Verweisung zu beraten. Auch ist
darauf hinzuweisen, wenn Versicherungsleistungen bei Beginn anderer Versorgungsleistungen,
323
BGH VersR 1979, 343, 345, = NJW 1979, 981.
Vgl. OLG Karlsruhe VersR 1986, 1180 = NJW-RR 1987, 212, 213 f.;
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34.
325 OLG Koblenz VersR 1981, 645, 646; a.A. OLG Hamm VersR 1979, 78, 79.
326 OLG Köln r + s 1996, 149, 150.
327 Vgl. Neuhaus r + s 2008, 449, 456; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 34.
328 Schirmer r + s 1999, 133, 177, 184; a.A. OLG Frankfurt NVersZ 2002, 90;
OLG Frankfurt NVersZ 2002, 272, 274 (nur bei Irrtümern über die
Wertermittlung).
329 OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94 = VersR 1997, 1226; vgl. auch Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 470 f.
330 BGH VersR 1975, 77; Römer VersR 1998, 1313, 1319. ähnlich BGH NJW
1964, 244, 245 f. = VersR 1964, 36; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 40.
331 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
23.
324
63
etwa mit Erreichung des Renteneintrittsalters, enden.332 Insbesondere in der fondsgebundenen
Lebensversicherung ist eine Beratung angezeigt. Dabei lässt sich im Hinblick auf den
Anlagezweck eine Parallele zu den bankenrechtlichen Grundsätzen der anleger- und
objektgerechten Beratung ziehen. Demnach ist über alle für den Entschluss wesentlichen
Umstände zu beraten und darauf hinzuweisen, dass der VN das Kursrisiko trägt.333 Des
Weiteren muss darüber aufgeklärt werden, dass nur ein Teil der Prämien in den Fonds fließt.334
Im Fall der zur Finanzierung eines Kreditvertrags abgeschlossenen Lebensversicherung muss
der VN über die langfristige Bindung des VN, die Nachteile der vorzeitigen Auflösung eines
oder beider Verträge sowie die Risiken der Finanzierbarkeit der Prämien bei steigenden
Kreditzinsen aufklärt werden.335 Bei der Krankenversicherung bezieht sich eine Beratung oft
auch auf die Rechtslage (s. dazu Rdn. *).
#197#
Über diese produktbezogenen Beratungspflichten hinaus können insbesondere bei
Lebensversicherungsverträgen intensive Beratungspflichten bestehen, die durch in der
Person oder Situation des VN liegende Gründe veranlasst werden und auf die Anpassung an die
individuellen Bedürfnisse gerichtet sind.336
#198#
c) Beratung über die Rechtslage. Eine Beratung hinsichtlich der Rechtslage ist als
Rechtsberatung grundsätzlich nicht Aufgabe des Versicherers.337 Die Beratung beschränkt sich
vielmehr auf den erforderlichen Versicherungsschutz, das Produkt und die unmittelbar mit
ihm verbundenen Rechte und Pflichten.338 Allerdings können rechtliche Gesichtspunkte die
Eigenschaften des Produkts betreffen oder verändern und somit eine produktbezogene Beratung
veranlassen.339 Der Versicherer hat daher etwa vor dem Abschluss einer abweichenden
Individualvereinbarung auf die Unwirksamkeit einer Klausel hinzuweisen.340
#199#
Im Bereich der Lebensversicherung sind nach § 2 VVG-InfoV über die für diese
Versicherungsart geltende steuerrechtliche Regelung allgemeine Angaben zu machen.
332
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 43; vgl. auch Terbille in
Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, § 2 Rdn. 28.
333 OLG Düsseldorf VersR 2005, 62, 63; Franz, DStR 2008, 303; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 44; vgl. auch Heiss ZVersWiss 2003, 339, 359.
334 A.A. hinsichtlich einer ähnlichen Fragestellung im Rahmen einer
Anfechtung OLG Hamm VersR 2006, 777, 778 = NJW-RR 2006, 818.
335 BGH VersR 1998, 1093 f. = NJW 1998, 2898; Kieninger NVersZ 1999,
118, 119; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 45.
336 Reiff VersR 2007, 717, 725. Vgl. auch schon Römer NVersZ 2002, 532,
536.
337 Franz VersR 2008, 298; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 471.
338 Franz DStR 2008, 303, 304.
339 Vgl. Fenyves in FS Canaris S. 1367, 1383.
340 OLG Frankfurt r + s 1987, 106; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II, Rdn. 13.
64
Darüber hinaus ist hingegen grundsätzlich nicht über die steuerliche Rechtslage zu beraten.341
Ausnahmsweise können Hinweispflichten hinsichtlich der steuerlichen Absetzbarkeit von
Beiträgen bestehen, wenn es dem VN hierauf bei Abschluss des Vertrags entscheidend
ankommt. Dabei genügt jedoch die Empfehlung, einen Steuerberaters hinzuzuziehen.342 Der
allgemeine Hinweis darauf, dass Kapitalertragsteuer anfallen kann, genügt; eine Pflicht zur
steuerlichen Optimierung besteht nicht.343 Steuervorteile, deren Anerkennung etwa wegen
einer geänderten Verwaltungspraxis oder Rechtsprechung unsicher oder zweifelhaft ist, dürfen
freilich nur unter Hinweis auf diese Unsicherheit dargestellt werden.344
#200#
Gelegentlich wurde im Schrifttum für die substitutive Krankenversicherung
Hinweispflichten hinsichtlich solcher Gesichtspunkte befürwortet, in denen sich die private
wesentlich von der gesetzlichen Krankenversicherung unterscheidet. Genannt werden z.B. die
Regel, dass Angehörige in der privaten Krankenversicherung nicht automatisch mitversichert
sind, der bloße Kostenersatz oder eine Warnung vor verfrühter Kündigung der gesetzlichen
Krankenversicherung vor erfolgter Annahme durch den privaten Versicherer.345 Die
Rechtsprechung war dem nicht gefolgt.346 Da bereits gem. § 10a Abs. 4 VAG a.F.* ein
amtliches Informationsblatt der Bundesanstalt zu übermitteln ist, welches über die
verschiedenen Prinzipien der gesetzlichen sowie der privaten Krankenversicherung aufklärt,
und nachdem in § 3 VVG-InfoV zahlreiche generelle Informationspflichten vorgesehen
werden, ist mit der Herleitung weiter reichender Pflichten aus Abs. 1 Zurückhaltung geboten.
Beratungsbedarf kann sich allerdings wieerum aus in der Person oder Situation des VN
liegenden Gründen oder aus Aussagen des Versicherers ergeben. So ist zwar grundsätzlich
keine Beratung hinsichtlich der generellen Vor- und Nachteile von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung veranlasst. Insbesondere kann vom Versicherer soweit es um die
gesetzliche Krankenversicherung geht, eine genaue Kenntnis der dafür geltenden
Bestimmungen nicht erwartet werden.347 Die Abwägung der Vor- und Nachteile obliegt
vielmehr dem VN, der sich die erforderlichen Informationen von den gesetzlichen
341
Hoffmann Verbraucherschutz im Privatversicherungsrecht, S. 174; Neuhaus
r + s 2008, 449, 457; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 45; Terbille
Anwaltshandbuch, § 2 Rdn. 199; Werber ZVersWiss 1994, 321, 335 f..
342 OLG Hamm VersR 1988, 623; Römer, VersR 1998, 1313, 1321; Schirmer r
+ s 1999, 133,177, 185; Terbille Anwaltshandbuch, § 2 Rdn. 199. Vgl. auch
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 14.
343 Armbrüster ZVersWiss 2008, 431; im Erg. zutr. OLG Köln VersR 2007,
1683, 1684;.
344 Im Fall eines Grundstückserwerbs als Steuersparmodell BGHZ 140, 111;
Czub ZfIR 2007, 41, 48.
345 Römer Informationspflichten, S. 42; vgl. auch Dörner in Karlsruher Forum
2000, S. 39, 51; 120, 121; Römer in Karlsruher Forum 2000, S. 121.
346 OLG Stuttgart VersR 1999, 1268, 1269 (Erstattungsfähigkeit von Kosten
der Fortpflanzungsmedizin); grds. ablehnend auch Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 42, da der Kunde wisse, dass nicht alle Behandlungen übernommen
werden: a.A. OLG Köln VersR 1991, 1279, 1280, wenn der VN zu erkennen
gegeben hat, an der umfassenden Hinzuziehung von Heilpraktikern interessiert
zu sein.
347
OLG Celle VersR 2008, 1098, 1099. Die Bejahung eines
Schadensersatzanspruchs durch OLG Hamm VersR 2000, 441 = NJW-RR
1999, 1332, 1334 beruhte auf einer Falschberatung.
65
Krankenkassen und durch Einholung von Angeboten privater Versicherer
zusammenstellen oder den Rat eines Versicherungsberaters einholen kann.348
selbst
#201#
Eine Beratung ist allerdings dann veranlasst, wenn der Versicherer den von ihm angebotenen
privaten Krankenversicherungsschutz als gegenüber dem gesetzlichen „vorzugswürdig“ oder
„besser“ anpreist. Anlass zur Beratung besteht auch, wenn der VN entsprechende Nachfragen
stellt, wenn er für den Versicherer erkennbar Leistungen in Anspruch nehmen will, die nicht
vom avisierten Produkt gedeckt werden, oder wenn Leistungen ausgeschlossen sind, der
üblicherweise von privaten Krankenversicherungsverträgen umfasst sind und von deren
Einbeziehung der VN daher ausgehen darf (s. aber auch Rdn. *).349 Auch hat der Versicherer
den VN vor Abschluss einer privaten Krankenversicherung hinsichtlich seines Familienstand zu
befragen und ggf. darüber zu informieren, dass Familienangehörige anders als in der
gesetzlichen Versicherung separat versichert werden müssen, was zu einer
Prämienmehrbelastung führt. Ergibt sich aus dem Gespräch etwa, dass die Ehefrau des VN
schwanger ist und ihre eigene berufliche Anstellung (vorübergehend) aufgeben wird, so hat der
Versicherer darauf hinzuweisen, dass eine separate Versicherung notwendig wird. Hat der VN
in einem solchen Zusammenhang das Anliegen geäußert, Versicherungsbeiträge zu sparen, so
ist er darauf hinzuweisen, dass in der privaten Krankenversicherung ein
einkommensunabhängiger fixer absoluter Betrag je zu versichernder Person zu zahlen ist und
nicht wie in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Prozentsatz vom Einkommen.350
#202#
Nicht beraten werden muss hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen für einen Wechsel
zur private Krankenversicherung; ein Hinweis auf eine Kontaktierung des gesetzlichen
Krankenversicherers zur Vermeidung einer Doppelversicherung genügt.351 Auch muss der
Versicherer nicht ungefragt und ohne besondere Anhaltspunkte auf möglichen
Anpassungbedarf des privaten Krankenversicherungsschutzes der versicherten Ehefrau
hinweisen, wenn er erfährt, dass die Tochter nunmehr gesetzlich versicherungspflichtig ist. Dies
wirkt sich nämlich nicht immer und ggf. nur zeitverzögert auf die Kürzung des
Beihilfeanspruchs der Ehefrau aus. Ohne genauere Sachverhaltsangaben kann eine nähere
Beratung hierzu vom privaten Krankenversicherer nicht erwartet werden.352
#203#
d) Beratung zur Ermittlung des Deckungsbedarfs. aa) Überblick. Die Ermittlung des
Deckungsbedarfs ist grundsätzlich Aufgabe des VN. Dies beruht darauf, dass er seinen Bedarf
an Versicherungsschutz grundsätzlich besser als der Versicherer einschätzen kann, so dass der
eine Beratungspflicht auslösende Informationsvorsprung des Versicherers nicht besteht.353
Daher werden dem VN auch die Anzeigepflichten nach § 19 auferlegt. Allerdings kann sich aus
348
Vgl. Nugel Anm. zu OLG Celle – 8 U 189/07, jurisPR-VersR 5/2008 Anm.
3.
349
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 41 f.
Sehr streng zur alten Rechtslage OLG Celle VersR 2008, 1098, 1099.
351 Vgl. auch Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 42.
352 OLG Saarbrücken r + s 1997, 208, 210 f.; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a
Rdn. 41.
353 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 52; Stöbener ZVersWiss 2007,
465, 472.
350
66
Komplexität des Vertrags oder aus Umständen in der Person des VN ausnahmsweise ein
Beratungsanlass ergeben. Insoweit erlangt auch die Fragepflicht des Versicherers (s. Rdn. *)
Bedeutung.
#204#
bb) Abzusichernde Risiken. Die Fragepflicht des Versicherers ist anlassbezogen und
begründet keine Pflicht zur umfangreichen Risikoanalyse.354 Die Pflicht des Versicherers zur
Bedarfsermittlung (auch hinsichtlich bereits bestehender Verträge, um Über- und
Mehrfachversicherungen zu vermeiden) bezieht sich daher von vornherein nur auf solche
Versicherungsprodukte, die mit dem vom VN angefragten Produkt im Zusammenhang
stehen.355 So ist im Rahmen der Beratung über den Abschluss einer Krankenversicherung zu
prüfen, inwieweit bereits Schutz für den Krankheitsfall besteht. Geht es um den Abschluss einer
Haftpflichtversicherung, so sind nach den erkennbaren Umständen nahe liegende
risikosteigernde Aktivitäten zu erfragen, die eine Beratung über eine Zusatzdeckung oder eine
separate Versicherung (z.B. Tierhalterhaftpflichtversicherung) veranlassen können.356 Beim
Abschluss einer Kapitallebensversicherung ist die finanzielle Leistungsfähigkeit des VN zu
erkunden, um zu vermeiden, dass dieser durch die Prämienzahlung überfordert ist und somit
der Zweck verfehlt wird.357
#205#
Freilich ist der VN keineswegs auf jegliche vom Vertrag nicht gedeckten Risiken
hinzuweisen.358 So muss der Versicherer anlässlich eines in der Wohnung des VN zum
Abschluss einer Lebensversicherung stattfindenden Gesprächs nicht erkunden, ob das wertvolle
Inventar der Wohnung hinreichend versichert ist.359 Auf den Nutzen einer
Berufsunfähigkeitsversicherung muss der VN nur hingewiesen werden, wenn die Deckung
verwandter Risiken (Altersvorsorge, Risikolebensversicherung) in Rede steht, nicht aber
wenn es um Sach- oder Haftpflichtversicherungen geht.360 Auf mögliche Ansprüche aus der
gesetzlichen Sozialversicherung muss im Kontext der Beratung über eine Versicherung zur
Altersvorsorge hingewiesen, nicht aber zu deren Inhalt oder Höhe beraten werden.361
#206#
Neben den Angaben des VN kann die tatsächlich erfolgte Besichtigung eines zu versichernden
Gebäudes Anlass zu besonderer Beratung bieten.362 Eine Pflicht zu einer solchen Besichtigung
354
Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24.
Miettinen Pflichten, S. 232; Reiff VersR 2007, 717, 725; Wandt in
Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 272.
356 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
25; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 10; Wandt in Handbuch des
Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 272.
357 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 10.
358 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 11.
359 Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 272.
360 LG Bochum r + s 2000, 85 f.
361 Weiter gehend Miettinen Pflichten, S. 233.
362 OLG Köln VersR 1993, 1385; Schirmer r + s 1999, 133, 137.
355
67
oder zur Überprüfung der zu versichernden Sache auf atypische Risiken besteht hingegen
grundsätzlich nicht.363
#207#
Zur Ermittlung des Deckungsbedarfs gehört auch die Überprüfung bestehender
Versicherungen über dasselbe Risiko. So muss zwischen dem bestehenden und dem neu
abzuschließenden Vertrag lückenloser Deckungsschutz bestehen;364 ist dies nicht der Fall, so
ist über verbleibende Risiken aufzuklären (s. auch Rdn. *).365 Auf einen ungedeckten Bedarf ist
der VN auch dann hinzuweisen, wenn er aufgrund des Abschlusses einer Lebensversicherung
irrig davon ausgeht, seine „Renten-Lücke“ sei hinreichend geschlossen.366 Auf atypische
Risiken ist nur aufmerksam zu machen, wenn entsprechende Hinweise vorhanden sind. So
können sich z.B. aus der Besichtigung des zu versichernden Objekts werterhöhende Umstände
ergeben, die entsprechende Deckungslücken zur Folge haben.367
#208#
Eine Beratungspflicht dahingehend, dass ein geringerer Bedarf an Versicherungsschutz
besteht als vom VN angenommen, ist grundsätzlich im Hinblick auf das berechtigte
wirtschaftliche Interesse des Versicherers am Abschluss neuer Versicherungsverträge
zurückhaltend zu handhaben (s. Rdn. *).368 So folgt aus Abs. 1 z.B. nicht die Pflicht des
Versicherers, gegenüber dem VN die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit einer GlasZusatzversicherung zur Hausratversicherung in Frage zu stellen. Es ist jedoch auf unnütze
Mehrfach- oder Überversicherungen hinzuweisen. Insoweit hat der VN nämlich ein
schutzwürdiges Informationsinteresse, das in zumutbarer Weise vom Versicherer befriedigt
werden kann (s. Rdn. *).369
#209#
cc) Wertermittlung. Die Ermittlung des bedarfsgerechten Versicherungswerts und die
Festlegung der Versicherungssumme obliegen grundsätzlich dem VN, weil dieser das
Versicherungsobjekt und dessen Wert regelmäßig am besten einschätzen kann.370 Dies gilt
363
OLG Oldenburg r + s 1996, 31, 32; Schirmer r + s 1999, 133, 137.
BGH VersR 1986, 537, 538 = NJW-RR 1986, 900, 901.
365 OLG Karlsruhe VersR 1994, 1169 (Ls.); problematisch ist freilich der
Nachweis des kausalen Schadens.
366 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
26.
367 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; OLG Oldenburg r + s
1996, 31, 32; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 17.
368 BGH VersR 1981, 621, 623 f.
369 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 10; Miettinen Pflichten, S. 98 f., 275.
370 BGH VersR 1967, 25, 26; OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94; OLG Köln r + s
1995, 267; OLG Hamm r + s 1995, 389, 390; OLG Hamm VersR 1996, 93, 94
= NJW-RR 1995, 1178, 1179; NJW-RR 1996, 1375; OLG Koblenz r + s 1997,
93, 94 = VersR 1997, 1226, 1227; OLG Köln r + s 1995, 267; Dörner in
Karlsruher Forum 2000, S. 39, 52; Engler VersR 1993, 1226; Fausten
Ansprüche, S. 119; Kollhosser in P/M § 56 Rdn. 21; Risthaus
364
68
insbesondere dann, wenn es sich beim VN um einen Unternehmer i. S. von § 14 BGB handelt.
So kann der VN z.B. in der Inventarversicherung Betriebseinrichtung, Vorräte und Material
typischerweise selbst sachgerecht bewerten.371 Folglich besteht grundsätzlich kein Anlass zur
Beratung.
#210#
Anlass für eine Beratung besteht allerdings dann, wenn dem Versicherer ein Bewertungsfehler
erkennbar wird.372 Dasselbe gilt, wenn er tatsächlich Maßnahmen zur Wertermittlung
übernommen373 oder wenn der VN ihn um Unterstützung gebeten hat und er hierauf
eingegangen ist.374
#211#
Auch wenn der Versicherer AVB verwendet, nach denen die Ermittlung des
Versicherungswerts aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen schon für einen Fachmann so
schwierig ist, dass sie für den VN ohne Hilfestellung nicht korrekt vorgenommen werden kann,
besteht Anlass zur Beratung. Dies ist insbesondere in der Gebäudeversicherung beim
Versicherungswert 1914 der Fall.375 Dasselbe gilt im Rahmen der Hausratversicherung,376
wenn bei besonders gestalteten Gebäuden wie einem Schloss die Wohnfläche errechnet
werden muss.377 Der Versicherer, der aufgrund seiner geschäftlichen Erfahrenheit über die
notwendige Sachkunde verfügt, ist dann verpflichtet, zumindest auf die Schwierigkeiten der
richtigen Festsetzung des Versicherungswerts und auf die Gefahren einer falschen Festsetzung
aufmerksam machen, ggf. auf die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben
Unterversicherung, S. 71; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36;
Römer/Langheid, § 50 Rdn. 5; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 184.
371 OLG Hamm VersR 1996, 93, 94 = NJW-RR 1995, 1178, 1179; LG Lübeck
r + s 1992, 387; vgl. auch LG Düsseldorf ZfS 1993, 170.
372 Schirmer r + s 1999, 133, 177, 184.
373 OLG Frankfurt VersR 2006, 406 f.
374 KG VersR 2007, 1649, 1650; OLG Saarbrücken VersR 2003, 195, 196; ZfS
2006, 36, 37; LG Köln ZfS 1993, 170; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36;
Risthaus Unterversicherung, S. 75; vgl. auch BGH VersR 2007, 537, 538.
375 BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59; VersR 2007, 1411; OLG
Koblenz NVersZ 2000, 581, 582; Armbrüster VersR 1997, 931 ff.; Dörner in
Karlsruher Forum 2000, S. 39, 53; a.A. OLG Köln VersR 1979, 513, 514; r + s
1985, 275, 276.
376 OLG Hamm r + s 1995, 389, 390; Kollhosser in P/M § 56 Rdn. 25; Risthaus
Unterversicherung, S. 75 f.; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 184. Für eine
Erweiterung auf alle Fälle komplexer und daher für den Laien
undurchschaubarer Rechtslagen OLG Köln VersR 1994, 342 f.; Fausten
Ansprüche, S. 120; a.A. OLG Düsseldorf VersR 1998, 845, 846; OLG
Frankfurt VersR 2006, 406 f.; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 9, 36.
377 OLG Düsseldorf ZfS 2006, 397, 398; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
36.
69
hinzuweisen, die Hinzuziehung eines Experten anzuraten oder dem VN eine eigene
fachkundige Beratung anzubieten.378
#212#
Auch wenn der VN selbst Zweifel an der Richtigkeit der Versicherungssumme äußert oder sich
erkennbar verschätzt hat, besteht eine Hinweispflicht.379
#213#
Auf eine Unterversicherung ist hinzuweisen.380
#214#
All dies gilt unabhängig davon, ob das versicherte Interesse auch im Rahmen eines früheren
Versicherungsvertrags bei demselben oder einen anderen Versicherer oder von einem
anderen VN bereits mit einer falschen Versicherungssumme versichert war.381 Wurde im
Vertrag hingegen eine unkomplizierte Art der Wertermittlung gewählt, etwa ein Gebäude nach
dem festen Neubauwert versichert, so ist keine Beratung zur Wertermittlung veranlasst. 382 Sind
in einem Bedingungswerk verschiedene Wertansätze enthalten, muss der VN über die
Unterschiede aufgeklärt werden383 sowie darüber, welchen Wert er anzugeben hat.384
#215#
dd) Beratung über den Beginn des Versicherungsschutzes. (1) Zustandekommen des
Versicherungsvertrags. Über die Art und Weise des Zustandekommens des
Versicherungsvertrags muss der Versicherer bereits nach § 1 Nr. 12 VVG-InfoV informieren.
Darüber hinaus ist er grundsätzlich nicht zur Beratung verpflichtet. Nach bisheriger
Rechtsprechung braucht er insbesondere nicht über sämtliche Voraussetzungen für den
Abschluss einer Kfz-Haftpflicht- und Kaskoversicherung aufklären, wenn diese in den
Hinweisen der nach dem Gespräch zugesendeten sog. Doppelkarte enthalten sind. Allerdings
muss er auf die in der Doppelkarte enthaltenen Hinweise aufmerksam machen.385 Im Fall einer
378
BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59; OLG Karlsruhe VersR
1994, 1169 (Ls.); OLG Koblenz NVersZ 2000, 581, 582.; OLG Oldenburg
VersR 1993, 1226; Armbrüster VersR 1997, 931, 937; Engler VersR 1993,
1226, 1227; Kollhosser in P/M § 56 Rdn. 22, 25; Risthaus Unterversicherung,
S. 75.
379 Armbrüster VersR 1997, 931, 937.
380 OLG Frankfurt NVersZ 2002, 272, 273; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
36.
381 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36.
382 OLG Hamm VersR 1996, 93, 94 = NJW-RR 1995, 1178, 1179; LG
Düsseldorf VersR 2006, 502, 503; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36.
383 OLG Frankfurt NVersZ 2002, 90; NVersZ 2002, 272, 274; Schirmer r + s
1999, 133, 177, 184.
384 OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94 = VersR 1997, 1226; vgl. auch OLG
Koblenz r + s 1997, 30, 31; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36; Stöbener
ZVersWiss 2007, 465, 470 f.; a.A. OLG Köln r + s 1985, 275, 276.
385 OLG Köln VersR 1998, 180, 181; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 181.
70
Betriebsverlegung hat der BGH auch eine Hinweispflicht darüber angenommen, dass die
Voraussetzungen für eine vorläufige Deckungszusage – hier die Mitteilung über die
Risikoaufteilung auf die beiden neuen Betriebsgelände – nicht vorliegen.386 Eine
weitergehende Beratung ist daher nur bei sich aus der Person oder Situation des VN
ergebendem Bedarf veranlasst.
#216#
(2) Vorläufige Deckung. In bestimmten Fallen kann hinsichtlich der Möglichkeit und
Notwendigkeit eines Vertrags zur vorläufigen Deckung eine Beratungspflicht bestehen.387
Auch wenn die Informationen über den Beginn des Versicherungsschutzes nach § 1 Nr. 12
VVG-InfoV eventuelle Deckungslücken offenbaren sollen, kann nämlich wegen ihrer großen
Bedeutung für den VN im Einzelfall weitergehender, individueller Beratungsbedarf bestehen.
Besonders wenn bereits zuvor ein Versicherungsvertrag (ggf. bei einem anderen Versicherer)
bestand und der Versicherungsschutz nahtlos fortgeführt werden soll, ist der Versicherer zu
Hinweis und Beratung veranlasst.388 Auch im Fall der Mitteilung des VN über die Verlegung
seines Betriebs muss der Versicherer nicht nur auf die Notwendigkeit eines neuen Vertrags
hinweisen, sondern auch über die Möglichkeit einer vorläufigen Deckung beraten (s. Rdn.
*).389
#217#
Bei Neuanträgen kommt eine Beratungspflicht über die Möglichkeit einer vorläufigen
Deckung in Betracht, wenn der Versicherungsschutz laut Antrag zu einem Zeitpunkt vor Ablauf
der Annahmefrist des Versicherers beginnen soll. Der Versicherer muss darauf hinweisen, dass
ein sofortiger oder ab beantragtem Zeitpunkt laufender Versicherungsschutz nur mittels
vorläufiger Deckung zu erreichen ist, dass der VN diesen beantragen und was er hierfür tun
muss.390 Das Bedürfnis nach schnellem Versicherungsschutz kann sich auch aus Erklärungen
oder Verhalten des Antragsstellers bei Antragsstellung ergeben, etwa wenn dieser deutlich
macht, dass er den Schutz für eine bevorstehende Reise benötigt und damit vor Ablauf der
Annahmefrist einer Deckung bedarf.391 Auch eine lange Bearbeitungszeit und sonstige
Verzögerungen in der Sphäre des Versicherers können die Pflicht zur Beratung über die
386
BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473. In BGHZ 2, 87, 91 hat
der BGH noch eine Hinweispflicht auf und eine Deckungszusage insgesamt
abgelehnt und die Pflichtverletzung hinsichtlich der Aufklärung über die
Beendigung des bestehenden Vertrag bejaht.
387 BGH VersR 1979, 709, 711; VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473,
474; Kollhosser in Prölss/Martin § 3 Rdn. 43; § 43 Rdn. 37 (soweit erkennbar);
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 12; Schirmer r + s 1999, 133, 138.
388 BGH VersR 1979, 709, 711; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 182.
389 BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473, 474; Schirmer r + s
1999, 133, 177, 182.
390 BGH VersR 1990, 618, 619; OLG Hamm VersR 1994, 1095 = NJW-RR
1994, 861; Prölss/Martin, § 3 Rdn. 43; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 12;
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 182; vgl. auch BGH VersR 1978, 457, 458; a.A.
OLG Frankfurt VersR 1990, 782, 783.
391 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 3 Rdn. 43; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
12, 35. Zum sofort erforderlichen Deckungsschutz bei Betriebsverlegung s.
BGH VersR 1987, 147 f. = NJW-RR 1987, 473 f.; ablehnend BGH VersR
1975, 1090, 1092.
71
Möglichkeit einer vorläufigen Deckung begründen.392 Gewährt der Versicherer hinsichtlich der
Haftpflichtversicherung vorläufigen Deckungsschutz, so kann der VN erwarten, dass der
Versicherer die kombinierten Versicherungen im Stadium vorläufigen Deckungsschutzes
einheitlich behandelt, solange nicht eindeutig und unmissverständlich das Gegenteil erklärt
wurde, nämlich dass entgegen dem Wunsch des VN nur das Haftpflichtrisiko vorläufig gedeckt
ist; allein ein formularmäßiger Hinweis auf der Deckungskarte genügt hierfür nicht. 393 Ohne
einen solchen Grund besteht grundsätzlich keine Pflicht zum Hinweis auf die Möglichkeit der
Vereinbarung vorläufiger Deckung.394
#218#
Von der Haftung des Versicherers aufgrund von Beratungspflichtverletzungen abzugrenzen ist
eine eventuelle Rechtsscheinhaftung des Versicherers. Sie greift ein, wenn ein
Versicherungsvermittler oder Angestellter einen dem Versicherer zurechenbaren Rechtsschein
erweckt hat, dass eine Abschlussvollmacht zur vorläufigen Deckungszusage besteht.395 Ein
solcher Rechtsschein ist aber jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn im Antragsformular eine
Abschlussvollmacht ausdrücklich verneint wird. Liegen die Voraussetzungen einer
Rechtsscheinhaftung nicht vor, entfällt auch eine Erfüllungshaftung (unabhängig von der Frage
nach deren Fortgeltung; s. dazu Rdn. * ff.) aufgrund fehlerhafter Auskünfte des Vermittlers.
Dann kommt allerdings eine Beratungspflicht des Versicherers darüber in Betracht, dass
vorläufiger Deckungsschutz zur Erreichung des Vertragszwecks erforderlich ist Eine
Schadensersatzhaftung aus Abs. 1, 5 ist in solchen Konstellationen aufgrund eines hohen
Mitverschuldensanteils des VN meist erheblich zu kürzen oder ganz auszuschließen. Allerdings
kann ein VN zwischen fehlerhafter Auskunft über das Bestehen vorläufigen Schutzes und der
rechtsgeschäftlichen, vollmachtlosen Deckungszusage kaum unterscheiden. Um den VN bei
vollmachtloser Zusage vorläufiger Deckung, also fehlerhafter Aufklärung nicht schlechter zu
stellen als bei unterlassener Aufklärung über die Notwendigkeit vorläufiger Deckung, sollten
beide Fälle zu einer Schadensersatzhaftung führen können. Das Mitverschulden ist dann im
jeweiligen Einzelfall zu bestimmen.
V.
Beratungspflichten während der Vertragslaufzeit (Abs. 4)
#219#
1. Normzweck. Nach Abs. 4 ist der Versicherer (anders als nach § 61 der Vermittler) auch
während der Laufzeit des Versicherungsvertrags zur Beratung verpflichtet. Hinsichtlich der
Voraussetzungen, des Inhalts und des Umfangs der Pflichten nimmt die Regelung Bezug auf
die in Abs. 1 Satz 1 geregelten vorvertraglichen Pflichten. Abs. 4 soll dem Umstand Rechnung
tragen, dass sich für den VN auch nach Abschluss des Vertrags ein Beratungsbedarf ergeben
kann. Dies gilt wie bei Abs. 1 Satz 1 insbesondere im Hinblick auf die Schwierigkeit, den
Versicherungsvertrag zu beurteilen sowie auf Umstände in der Person oder Situation des
VN.396 Dabei geht es allein um eine vertragsbezogene Beratung; d. h. um die Beratung
392
Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 12; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 182.
BGH NJW 1999, 3560, 3561 = NVersZ 2000, 233, 234; OLG Oldenburg
NVersZ 2000, 388; OLG Frankfurt NVersZ 2001, 130, 131; OLG Karlsruhe r +
s 2006, 414; OLG Saarbrücken r + s 2006, 274 = NJW-RR 2006, 1104 f.
394 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 35.
395 BGH VersR 1983, 121, 122; OLG Hamm VersR 1982, 843, 844; Gruber in
BK § 43 Rdn. 25 ff.; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 32. Vgl. zur Fallgestaltung
auch BGH NJW 1999, 3560-3561 = NVersZ 2000, 233, 234.
396 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59.
393
72
bezüglich solcher Umstände, die Anlass zu einer Vertragsänderung oder zu einem
Neuabschluss bieten.397 Hingegen zielt Abs. 4 nicht auf eine Beratung über allgemeine
versicherungsrechtliche Fragen ab, z.B über die Rechte und Pflichten des VN nach Eintritt des
Versicherungsfalls. Insoweit bestehen vielmehr Hinweispflichten allein nach Maßgabe der
Spezialvorschriften (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. * ff.) sowie nach § 242 BGB.
#220#
Eine Dokumentationspflicht besteht abweichend von Abs. 1 Satz 2 nicht. Ungeachtet dessen
bietet sich eine Dokumentation für den Versicherer zu Beweiszwecken an.398
#221#
2. Erkennbarer Anlass. a) Überblick. Die Formulierung in Abs. 4 weicht insofern von
derjenigen in Abs. 1 zur vorvertraglichen Beratungspflicht ab, als die Beratungspflicht nur
bestehen soll, „soweit für den Versicherer ein Anlass für eine Nachfrage und Beratung des VN
erkennbar ist“. Teils wird daraus im Umkehrschluss gefolgert, dass die Beratungspflicht nach
Abs. 1 tatbestandlich nicht die Erkennbarkeit des Beratungsanlasses voraussetze. Diese Ansicht
ist abzulehnen (s. Rdn. *). Gleichwohl weist der abweichende Wortlaut des Abs. 4 auf einen
wichtigen Unterschied: Die Initativlast dafür, dass dem Versicherer ein Anlass erkennbar wird,
liegt im Falle des Abs. 4 beim VN, da der Versicherer bereits eine Nachfrage nur dann stellen
muss, wenn ihm ein Anlass hierfür erkennbar wird. Demgegenüber hat der Versicherer vor
Vertragsschluss von sich aus initiativ zu werden, indem er durch eigene Nachfragen und die
darauf vom VN gegebenen Antworten den Anlass zur Beratung überhaupt erst schafft.
#222#
Der Versicherer muss mithin erst beraten, wenn ihm ohne eigene Initiative ein Anlass
erkennbar wird.399 Dies kann etwa aufgrund einer Nachfrage oder Mitteilung des VN, also
infolge eines Kontakts mit diesem der Fall sein. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen ein Anlass
sich aufgrund der Sachkunde des Versicherers über das Versicherungsprodukt, über
versicherungstechnische oder rechtliche Änderungen ergibt (s. Rdn. * ff.). Auch derartige
Umstände jenseits einer Äußerung des VN bieten mithin Anlass für eine Beratung nach
Vertragsschluss;400 anderenfalls würde die Beratungspflicht im Vergleich zur bisherigen
Rechtslage eingeschränkt.401 Die Regierungsbegründung nennt dementsprechend tatsächliche
oder rechtliche Veränderungen wie z. B. eine Änderung der für bestimmte
Versicherungsverträge geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen.402 Nicht ausreichend,
um Beratungspflichten auszulösen, ist dagegen allein die Aufnahme von Verhandlungen über
den bestehenden Vertrag oder Änderungen des Tarifs.403
#223#
397
So ausdr. Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 58 f.
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 107.
399 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 10.
400 Abw. GDV-Stellungnahme zum RefE, S. 63 f.
401 Römer VersR 2006, 740, 744.
402 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59; vgl. auch Franz, VersR 2008, 298.
403 OLG Hamm ZfS 2006, 462, 463 (keine Beratungspflicht hinsichtlich der
Richtigkeit des früher angegebenen Versicherungswerts).
398
73
b) Schwierigkeit, die Versicherung zu beurteilen. Auch nach Vertragsschluss kann sich für
den VN Beratungsbedarf aus der Schwierigkeit ergeben, den Versicherungsvertrag zu
beurteilen. Einzelne Klauseln, die ggf. für den Entschluss zum Vertragsschluss noch keine
Bedeutung hatten, können während der Laufzeit oder auch bei Beendigung des Vertrags zu
Problemen für den VN führen und so einen Beratungsbedarf auslösen. Wird dem Versicherer
ein dahingehender Beratungsbedarf erkennbar, hat er folglich nach Abs. 4 zu beraten. Ein
Beratungsanlass besteht jedoch nur, wenn der VN die Rechtslage oder die Folgen seines Tuns
aufgrund der Komplexität des Vertragsverhältnisses nicht zu beurteilen weiß. Ist die Situation
hingegen für den durchschnittlichen VN gut zu überblicken, bedarf es für die Feststellung eines
Beratungsanlasses weiterer Gesichtspunkte, etwa eines erkennbaren Irrtums des VN. So ist z.B.
grundsätzlich kein Hinweis auf das Auslaufen eines befristeten Vertrags ohne
Verlängerungsklausel veranlasst,404 es sei denn, dem Versicherer wird erkennbar, dass der VN
von weiterhin bestehendem Versicherungsschutz ausgeht.
#224#
Beratungspflichten können hinsichtlich der primären Ansprüche des VN nach Eintritt des
Versicherungsfalls bestehen. Insbesondere bei komplexen Verträgen oder Schadensfällen kann
es vorkommen, dass der VN seine Ansprüche nicht voll überblickt. Der Versicherer hat bei
erkennbaren Fehlvorstellungen des VN diesen bei der Schadensmeldung usw. zu unterstützen
(zur Erfüllung von Obliegenheiten s. Rdn. *). Die Beratungspflicht kann sich auch auf
Ansprüche gegen Dritte beziehen. So sind z.B. die Gründe für eine Leistungskürzung bei
überhöhten Arztrechnungen zu erläutern, damit der VN dies gegenüber dem Arzt geltend
machen kann.405 Eine Grenze liegt allerdings dort, wo die Aufklärung in eine Rechtsberatung
überginge;406 dann ist nur darauf hinzuweisen, dass der VN gegenüber anderen Personen
Rechte haben könnte, über deren Existenz, Inhalt und Durchsetzung er sich fachkundig (durch
einen Rechtsanwalt) beraten lassen sollte.
#225#
Auch während der Vertragslaufzeit kann auf Risikoausschlüsse hinzuweisen sein. Dies gilt
insbesondere dann, wenn dem Versicherer erkennbar wird, dass der VN bestimmte unter den
Ausschluss fallende Handlungen vornehmen möchte und dabei davon ausgeht, dass dafür
Versicherungsschutz besteht, oder wenn der VN gezielt nachfragt, ob Deckung besteht. Als
Beispiel sei wiederum die Europa-Klausel in der Kfz-Versicherung angeführt (vgl. bereits Rdn.
*): Teilt der VN mit, er werde in die Türkei fahren, und bittet er um die Aushändigung einer
„Grünen Karte“, so bietet dies Anlass zu einem Hinweis über den beschränkten
Deckungsschutz.407
#226#
Auf Obliegenheiten des VN, etwa zur Erteilung von Auskünften oder Anzeigen nach Eintritt
des Versicherungsfalls, hat der Versicherer teils schon aufgrund von Spezialvorschriften
hinzuweisen (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Greift keine spezielle Belehrungspflicht ein, so kommt
eine Pflicht aus § 242 BGB, nciht aber aus Abs. 4 in Betracht (s. Rdn. *).
#227#
404
Prölss/Martin § 8 Rdn. 1.
Römer Informationspflichten, S. 44.
406 Vgl. auch Franz VersR 2008, 298.
407 OLG Saarbrücken r + s 2005, 14, 15; vgl. im Übrigen Rdn. *.
405
74
Ergibt sich infolge eines Eintritt des Versicherungsfalls ein verminderter
Versicherungsschutz für die restliche Versicherungsperiode, so hat der Versicherer auf
dadurch entstehende Deckungslücken und auf die Möglichkeit einer Nachversicherung
hinzuweisen.408
#228#
Ergibt sich nachträglich die Unwirksamkeit der vom Versicherer verwendeten AVB, so kann
der Versicherer, soweit dies Auswirkungen etwa auf eine aktuelle Schadensregulierung oder die
Berechnung der Überschussanteile in der Lebensversicherung hat, nach § 242 BGB zur
Aufklärung über die Unwirksamkeit verpflichtet sein; Abs. 4 greift hingegen von vornherein
nicht ein (s. Rdn. *).
#229#
Ein Beratungsanlass kann auch bestehen, wenn der VN wegen einer Vertragsänderung mit
dem Versicherer in Kontakt tritt (s. Rdn. *). Der Versicherer hat über die nachteiligen Folgen
einer vom VN gewünschten Änderung aufzuklären und zu beraten, etwa einer
Beitragsfreistellung, Umstellung oder Kündigung in der Lebensversicherung.
#230#
Auch hinsichtlich der Existenz oder der Ausübung eines Kündigungsrechts des VN kann ein
Anlass zur Beratung bestehen (näher Rdn. *). So können sich bei der Kombination
verschiedener Versicherungen, von denen eine gekündigt oder umgestaltet werden soll,
erhebliche Konsequenzen für die anderen Versicherungsprodukte ergeben, auf die der
Versicherer hinweisen muss. Hat etwa der Grundstückserwerber die Gebäudeversicherung
gekündigt und ist dadurch eine Unterversicherung hinsichtlich der Betriebseinrichtung
eingetreten, hat der Versicherer, der von der Kündigung weiss, auf die Deckungslücke bei der
Inventarversicherung hinzuweisen und diesbezüglich eine Erhöhung zu empfehlen.409
#231#
Ist bei der Verlängerung einer Risikolebensversicherung wegen der komplizierten
vertraglichen Bestimmungen unklar, inwieweit sich fristgebundene Leistungsausschlüsse,
hier die Dreijahresfrist für Selbsttötung, auf Änderungs- oder Verlängerungsvereinbarungen
oder auf einen neuen Vertrag erstrecken, so ist hierüber zu berlehren und zu beraten. 410 Auch
im Fall einer für den VN nachteiligen Vereinbarung einer Leistungsbefristung im Rahmen
einer Berufsunfähigkeitsversicherung ist der Versicherer verpflichtet, den VN über deren
nachteilige Auswirkungen aufzuklären. Wird durch die Vereinbarung die vertragliche
Rechtslage verändert und die Rechtsposition des VN erheblich verschlechtert, so ist ein klarer,
unmissverständlicher und konkreter Hinweis des Versicherers darauf erforderlich, wie die
Rechtslage ist und inwiefern sie sich durch die Vereinbarung ändert.411 Allein aus der Frage
des VN nach dem aktuellen Rückkaufswert seiner Lebensversicherung folgt hingegen noch kein
408
BGH VersR 1985, 129, 130 mit krit. Anm. Voigt VersR 1985, 876 f.
OLG Köln VersR 1994, 342; Armbrüster VersR 1997, 931, 937; Dörner in
Karlsruher Forum 2000, S. 39, 53; Römer VersR 1998, 1313, 1320; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 14; Schirmer r + s 1999, 133,177, 184.
410 OLG Saarbrücken VersR 2008, 57, 60.
411 BGH NJW-RR 2007, 1034, 1036.
409
75
Beratungsanlass hinsichtlich der Möglichkeiten einer Umstellung oder Kündigung der
Lebensversicherung.412
#232#
c) Person des VN und dessen Situation. Insbesondere dem Versicherer erkennbar werdende
tatsächliche Veränderungen im Bereich des versicherten Risikos können Beratungspflichten
begründen (näher Rdn. *). Aber auch Änderungswünsche des VN hinsichtlich des
bestehenden Vertrags vermögen Anlass zur Beratung zu geben. Zwar genügen allein
Vertragsverhandlungen hierfür nicht (s. Rdn. *). Aus den Angaben des VN können sich aber
die hinter den Änderungswünschen stehende Ziele ergeben. Dann kann z.B. über neue, besser
auf den Bedarf des VN zugeschnittene Versicherungsprodukte oder über alternative Tarife zu
beraten sein.413 Auch wenn der VN etwa anlässlich einer Prämienrechnung den Versicherer
kontaktiert und Fragen stellt oder Beschwerde führt, und darin Fehlvorstellungen vom Umfang
der bestehenden Versicherung zutage treten, kann dies Anlass zur Beratung bieten.414 Anders
als bei vorvertraglichen Verhandlungen und entsprechenden Beratungspflichten hat der
Versicherer aber nicht selbstständig über eine aktive Befragung den Beratungsbedarf zu
erkunden; vielmehr muss er nur dann näher nachfragen und beraten, wenn sich aus den
Angaben oder sonstigen Umständen bereits ein entsprechender Beratungsbedarf ergibt (s. Rdn.
*).
#233#
d) Veränderung erheblicher Umstände. aa) Überblick. Ein Anlass für Beratung kann sich
aus Veränderungen der risiko- oder vertragserheblichen Umstände ergeben. Zwar sind die
Einschätzung und Beurteilung der abzusichernden Risiken grundsätzlich Sache des VN, weil
diesem die Änderungen eher bekannt sind als dem Versicherer (s. Rdn. *). Es gibt jedoch Fälle,
in denen der Versicherer aufgrund seiner Sachkunde die Situation unter
versicherungsrechtlichen und -technischen Gesichtspunkten besser würdigen kann. Dann ist er
verpflichtet, auf diese Umstände hinzuweisen und ggf. eine Vertragsänderung oder den
Abschluss eines neuen Versicherungsvertrags zu empfehlen.415
#234#
bb) Tatsächliche Änderung des Risikos. Ändert sich das versicherte Risiko durch
Änderungen im Bereich des VN, so kann daraus ein Beratungsanlass entstehen. Solche
tatsächlichen Änderungen können dem Versicherer durch Mitteilungen des VN, durch
Ortsbesichtigungen,416 aber auch durch beiläufig erhaltene Informationen erkennbar werden.
Teilt etwa der VN dem Feuerversicherer die Änderung der Betriebsanschrift mit, so deutet dies
darauf hin, dass dem VN die aufgrund der Betriebsverlegung bedingungsgemäß eintretende
412
A.A. F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der
Praxis, S. 32.
413 Vgl. z.B. BGH VersR 1981, 621, 623 f.
414 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
32.
415 Abschlussbericht S. 15 f.
416 Begründung zu § 42 c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 24; LG Düsseldorf ZfS
1993, 170; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 17; Schirmer r + s
1999, 133,177, 184; vgl. auch OLG Oldenburg r + s 1996, 31, 32.
76
Vertragsbeendigung nicht bewusst ist.417 Erfährt der Versicherer von einer Gefahrerhöhung
durch Neuanschaffung von Anlagen oder anderer Gegenstände, so hat er auf die infolge einer
Unterversicherung entstehende Deckungslücke hinzuweisen und eine Anhebung der
Versicherungssumme anzuraten.418 Beratungsbedarf besteht auch im umgekehrten Fall der
Überversicherung bei Veräußerung von Gegenständen (vgl. Rdn. *).419
#235#
cc) Versicherungstechnische Änderungen. Einen Anlass zur Beratung können auch
versicherungstechnische Änderungen bieten. Dies gilt auch für die Folgewirkungen einer
Änderung auf einen vom VN mit der Versicherung verfolgten weiteren Zweck sein. So besteht
ein Anlass zur Beratung, wenn eine Kapitallebensversicherung zur Ablösung eines
Baudarlehens abgeschlossen wurde und sich später infolge des unerwarteten Rückganges der
Überschüsse eine Finanzierungslücke abzeichnet.420
#236#
dd) Änderung der AVB. Einen Beratungsanlass kann die Neueinführung oder Änderung
von AVB bieten, die für den VN zumindest auch Vorteile gegenüber dem für seinen Vertrag
geltenden Klauselwerk bieten (zur Reichweite der Beratungspflicht in diesem Fall Rdn. * ff.).
#237#
ee) Änderung der Rechtslage. Auch die Änderung von Gesetzen im materiellen Sinn, also
einschließlich Rechtsverordnungen, kann Einfluss auf den Versicherungsschutz haben und
daher Anlass zur Beratung bieten. So kann die Verschärfung gesetzlicher
Haftpflichtbestimmungen Deckungslücken verursachen, hinsichtlich derer der VN, der solche
Gesetzesänderungen weniger genau als der Versicherer verfolgt, aufgeklärt werden muss.421
Zudem ist eine Beratungspflicht hinsichtlich der Anpassung von Altverträgen an die
Neuerungen durch die VVG-Reform zu erwägen (s. Rdn. *).
#238#
Gesetzesänderungen können
Gefahrerhöhungen bewirken.
Heizkessel zum verbreiteten
entsprechende Anpassung zur
Betracht kommt (s. Rdn. *).
auch zu tatsächlichen Änderungen führen, die wiederum
So führt die gesetzliche Pflicht zur Erneuerung veralteter
Einbau neuer Heizungsanlagen. Der Wertanstieg führt ohne
Unterversicherung, so dass auch hier eine Beratungspflicht in
#239#
417
BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473 f.; Römer VersR 1998,
1313, 1321; Schirmer r + s 1999, 133, 136.
418 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 36; Römer VersR 1998, 1313, 1321.
OLG Hamm ZfS 2006, 462, 463, sieht im Einzelfall die Kenntnis des
Versicherers als nicht bewiesen an.
419 Römer VersR 1998, 1313, 1321.
420 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59.
421 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 37; a.A. zum alten Recht LG
Köln r + s 1997, 235, 238 = VersR 1997, 1522.
77
Eine neue Rechtsprechung kann gleichfalls Anlass zur Beratung bieten. Dies gilt etwa für den
Fall, dass dadurch Deckungslücken entstehen. Dies kann insbesondere bei höchstrichterlichen
Entscheidungen zum Haftungsrecht der Fall sein. Werden hingegen AVB höchstrichterlich für
unwirksam erklärt, so führt dies hingegen regelmäßig nicht zu einem Beratungsanlass gem.
Abs. 4, da weder eine Deckungslücke droht noch sonst ein Handlungsbedarf des VN besteht,
hinsichtlich dessen zu beraten wäre.
#240#
3. Umfang der Beratungspflicht. a) Überblick. Der Umfang der Beratungspflicht entspricht
aufgrund der Verweisung in Abs. 4 den vorvertraglichen Pflichten nach Abs. 1 Satz 1. Der
Versicherer ist daher verpflichtet, den VN nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu
befragen, zu beraten und diesen Rat zu begründen (näher Rdn. *).
#241#
Die Frage- und Beratungspflicht beschränkt sich auf den sie veranlassenden, erkennbar
gewordenen Beratungsbedarf. Anders als beim Vertragsschluss, bei dem – je nach
Komplexität und Bedeutung des Produkts – regelmäßig eine umfangreichere Beratung zum
Produkt selbst sowie zur Anpassung an den Bedarf des VN erforderlich ist (s. Rdn. *), besteht
insoweit während der Dauer des Versicherungsverhältnisses mangels anstehender
Entscheidungen grundsätzlich kein Beratungsbedarf. Deshalb betrifft Nachfrage und Beratung
meist nur eine konkrete Frage. Der Versicherer ist nicht verpflichtet, „ins Blaue“ hinein
Fragen zu stellen.422
#242#
Ähnliches gilt für eine Adressänderung im Rahmen einer Hausratversicherung. Ergibt sich
allerdings aus dem folgenden Gespräch, dass der VN in ein Eigenheim mit Garage umgezogen
ist, und erkennt der Versicherer aus seinen gespeicherten Kundeninformationen, dass auch eine
Kfz-Versicherung bei demselben Versicherer oder innerhalb des Konzerns besteht, so ist der
Versicherer veranlasst, nicht nur hinsichtlich der ausreichenden Deckung in der
Hausratversicherung zu beraten, sondern auch auf eine eventuelle Anpassung in der KfzVersicherung hinzuweisen.423
#243#
b) Grenzen. Der Beratungspflicht auch während der Vertragslaufzeit durch die
Unzumutbarkeit für den Versicherer und die eigene Sachkunde des VN Grenzen gezogen
(vgl. zu vorvertraglichen Pflichten s. Rdn. * ff.).
#244#
aa) Zumutbarkeit. Nach Vertragsschluss ist regelmäßig nicht nur der Beratungsbedarf
schwerer erkennbar, sondern auch die Beratung nur unter größerem Aufwand durchführbar.
Dies kann eher zur Unzumutbarkeit führen als bei der vorvertraglichen Beratungspflicht. Ergibt
sich der Beratungsanlass aus Umständen, die der Versicherer ohne Zutun des VN erfährt (z.B.
Gesetzesänderungen) oder die er selbst setzt (Einführung neuer AVB), so ist es ihm regelmäßig
unzumutbar, sämtliche Vertragsverhältnisse daraufhin zu prüfen, ob der VN Beratungsbedarf
haben könnte. Lässt sich freilich ein Kriterium finden, anhand dessen sich Kategorien von
422
423
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 106.
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 106.
78
Beratungsbedarf bilden lassen, so ist die Beratung – insbesondere unter Einsatz der EDV –
zumutbar. Dies gilt z.B. dann, wenn eine bestimmte Berufshaftung ausgeweitet wird, was allen
VN mit einer entsprechenden Berufshaftpflichtversicherung mitgeteilt werden kann. Sind die
betroffenen VN hingegen mangels standardmäßig feststellbarer Eigenschaften nicht mit
vertretbarem Aufwand identifizierbar, ist eine Beratungs unzumutbar aus. Dies gilt etwa, sofern
es um den Pflicht-Austausch bestimmter Heizkessel geht (s. Rdn. *) und der Versicherer die
davon betroffenen VN nicht ohne weiteres aus seinen Unterlagen ermitteln kann.
#245#
Auch der Kostenaufwand einer Beratung ist für deren Zumutbarkeit bedeutsam. Insofern lässt
sich der zur Proportionalitätsregel des Abs. 1 Satz 1 entwickelte Grundgedanke (s. Rdn. *)
heranziehen. Demnach sind die Kosten angemessen, wenn ein durchschnittlicher VN sie auch
bei separatem Ausweis neben der um den entsprechenden Betrag ermäßigten Prämie zu zahlen
bereit wäre.
#246#
Schließlich kann auch das wirtschaftliche Interesse des Versicherers den Umfang der
Beratungspflicht begrenzen (vgl. zur vorvertraglichen Beratungspflicht Rdn. *). Dies gilt etwa
für die Frage, inwieweit er die Bestandskunden über neue AVB informieren und beraten muss
(s. dazu Rdn. *). Auch hinsichtlich von Kündigungsrechten des VN stellt sich die Frage, ob
dem Versicherer ein Hinweis auf ihre Existenz oder ordnungsgemäße Ausübung zumutbar ist
(s. Rdn. *). Der Versicherer ist jedoch nicht zur Beratung darüber verpflichtet, dass ein
Versicherungsvertrag angesichts geänderter Lebensumstände weniger bedeutsam ist, solange
die Deckung für den VN nicht völlig sinnlos wird (zur Überversicherung s. jedoch Rdn. *).
#247#
4. Art und Weise der Beratung. Hinsichtlich der Art und Weise, wie die Beratung zu erfolgen
hat, enthält das Gesetz keine Vorgaben. Die Beratung kann mithin insbesondere (fern-)
mündlich, schriftlich oder mittels elektronischer Kommunikationsmittel erfolgen.424 Die
Beratung kann auch bei ausländischen VN in deutscher Sprache erfolgen425 (s. aber zum
Einfluss mangelnder Sprachkenntnisse auf die Beratungsintensität Rdn. *).
#248#
5. Fallgruppen. a) Tatsächliche Änderung des Deckungsbedarfs. Der Versicherer kann zur
Beratung verpflichtet sein, wenn ihm tatsächliche Veränderungen bekannt werden, die einen
erkennbaren Beratungsbedarf des VN begründen. Zwar bleibt der VN grundsätzlich auch nach
Vertragsschluss für die Beurteilung seines Bedarfs an Versicherungsschutz allein zuständig.
Dennoch kann der Versicherer aufgrund seiner Sachkunde zur Beratung verpflichtet sein,426
und zwar auch über die Sinnhaftigkeit einer weiteren, inhaltlich mit dem bestehenden Schutz in
Zusammenhang stehenden Versicherung.427
424
Zur bisherigen Rechtslage bei der Aufklärung über die Änderung oder
Neueinführung von AVB Klimke NVersZ 1999, 449, 454.
425 OLG Celle r + s 2008, 100, 101.
426 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 9 f.; Franz VersR 2008, 298, 299.
427 Insoweit a.A. offenbar Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 38;
wie hier Stöbener ZversWiss 2007, 465, 477; s. bereits Armbrüster in FS
Schirmer S. 1, 14.
79
#249#
Beispiele bieten Veränderungen am versicherten Gegenstand, die zu einer Gefahrerhöhung
führen.428 Fügt der VN etwa dem versicherten Gebäude einen Anbau hinzu und erfährt der
Versicherer hiervon, so hat er über eine Erweiterung des Versicherungsschutzes zu beraten. 429
Möchte der VN nach Renovierungsarbeiten an dem versicherten Gebäude die
Versicherungsumme anpassen, so ist über die Bestimmung des Versicherungswerts 1914 zu
beraten.430 Die Veränderung kann auch allgemeine Lebensumstände des VN betreffen,
wodurch neue Risiken begründet oder bestehende Risiken ausgeweitet werden, etwa der Erwerb
eines Hausgrundstücks oder die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, die dem
Versicherer bekannt wird und die neben der bisher bestehenden Privathaftpflichtversicherung
eine Grundbesitzerhaftpflichtversicherung oder eine Berufshaftpflichtversicherung als
Ergänzung geboten erscheinen lassen.431 Auch eine Scheidung oder ein Umzug kann den
persönlichen Deckungsbedarf verändern und – bei Kenntnis des Versicherers hiervon – eine
Beratung veranlassen.432 Eine nach Vertragsschluss eingetretene und dem Versicherer
mitgeteilte Arbeitslosigkeit des VN kann zu einen Änderungs- und entsprechenden
Beratungsbedarf auslösen.433 Die Mitteilung einer neuen Anschrift deutet auf eine
Betriebsverlegung hin, was zum Wegfall des Versicherungsschutzes und damit zu
Beratungsbedarf führen kann.434 Ähnliches gilt für für die Mitteilung der Eröffnung einer
neuen Filiale, die ggf. eine Erweiterung der bestehenden Police erfordert. 435 Allein die
Mitteilung einer neuen Bankverbindung genügt hingegen nicht, um Veränderungen in der
persönlichen oder beruflichen Sphäre zu vermuten und einen Beratungsbedarf anzunehmen.436
#250#
Die Auswechslung des VN, wie etwa bei Veräußerung der versicherten Sache (§ 95), kann
beim Erwerber Beratungsbedarf veranlassen.437 Der Versicherer ist dann während des
fortlaufenden Vertragsverhältnisses nach Abs. 4 zur Beratung verpflichtet, um
Deckungslücken oder – im Fall der Risikoerhöhung – eine Unterversicherung mit den Folgen
der Kürzung der Versicherungsleistung gem. § 75 zu vermeiden.438 Dabei genügt es freilich,
428
OLG Hamm VersR 1984, 853, 854; OLG Köln VersR 1993, 1385, 1386.
Daher abgelehnt in LG Stuttgart ZfS 2006, 580; Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 11.
430 OLG Düsseldorf ZfS 2006, 397, 398.
431 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 11.
432 Franz VersR 2008, 298, 299; a.A. Neuhaus r + s 2008, 449, 457.
433 Eine Aufklärungspflicht zum alten Recht nur bejahend im Fall der
konkreten Nachfrage des VN AG Düsseldorf, VersR 2008, 767.
434 BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473 f.; Römer VersR 1998,
1313, 1321; Schirmer r + s 1999, 133, 136.
435 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
31; Franz DStR 2008, 303, 307.
436 A.A. F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der
Praxis, S. 31.
437 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 23.
438 Vgl. auch den Hinweis auf Abs. 5 in der Regierungsbegr. zu § 75, BT-Dr.
16/3945, S. 78. Hingegen eine Aufklärungspflicht darüber ablehnend, dass die
Versicherungssumme aufgrund der fehlenden Vorsteuerabzugsberechtigung
429
80
wenn der Versicherer ohne Resonanz schriftlich nachfragt, ob der Versicherungsschutz den
Wünschen des Erwerbers entspricht, und Beratung anbietet.439
#251#
Ist der Versicherungsschutz entfallen, so dass eine für den Versicherer erkennbare
Deckungslücke vorliegt, kann er gleichfalls zur Beratung verpflichtet sein.440 Dies gilt etwa,
wenn ein Kind des VN aus dem Versicherungsschutz herausfällt, etwa aus Altersgründen oder
weil es einen eigenen Haushalt gründet.441
#252#
Darüber hinaus können Deckungslücken auch durch Veränderung der rechtlichen
Rahmenbedingungen entstehen. Muss der Versicherer beispielsweise aufgrund der Einführung
einer gesetzlichen Pflicht zur Installation von Heizkesseln mit niedrigeren Schadstoffausstößen
damit rechnen, dass zahlreiche VN neue und damit wertvollere Kessel kaufen, muss er
aufgrund seiner Erfahrung damit rechnen, dass für zahlreiche VN aufgrund einer
Unterversicherung der Versicherungsschutz nicht ausreicht. Verursacht die Mitteilung keinen
unzumutbaren Aufwand (s. dazu Rdn. *), so hat der Versicherer die VN hierüber zu beraten.
Ändern sich Regelungen des Sozialrechts oder der Beamtenversorgung, die eine Absenkung
des dortigen Schutzniveaus zur Folge haben und eine Erhöhung der privaten Vorsorge
nahelegen, so ist auch hierauf zumindest hinzuweisen.442
#253#
Auch eine Gefahrverminderung, die zu einer Überversicherung und einem nutzlosen
Prämienaufwand führt, weckt beim VN einen Beratungsbedarf.443 Dasselbe gilt, wenn das
versicherte Interesse wegfällt (vgl. § 80 Abs. 2).
#254#
Eine Informationspflicht kann sich insbesondere auch dann ergeben, wenn dem Versicherer
erkennbar wird, dass der vom VN verfolgte Zweck verfehlt werden könnte. Als Beispiel nennt
die Regierungsbegründung den Fall, dass eine Kapitallebensversicherung zwecks Ablösung
eines Baudarlehens abgeschlossen wird und sich infolge des unerwarteten Rückgangs der
Überschüsse und Gewinne beim VN eine Finanzierungslücke abzeichnet.444 Behält der VN den
Zweck des Vertrags freilich für sich und geht er auch nicht aus den Umständen hervor, so
des Erwerbers um die Höhe der USt. erhöht werden muss, OLG Köln r + s
1995, 267, 268 (zum alten Recht).
439 LG Düsseldorf VersR 2006, 502.
440 OLG Köln VersR 1994, 342 f. (betr. Kündigung einer Gebäudeversicherung
durch den Erwerber und Unterversicherung bei der stattdessen eingreifenden
Inventarversicherung des Veräußerers und mietenden Gewerbetreibenden);
Armbrüster VersR 1997, 931, 937; ders. in FS Schirmer S. 1, 10; Römer VersR
1998, 1313, 1319 f.
441 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 142, 143.
442 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 142, 143.
443 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 10.
444 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59.
81
handelt es sich lediglich um sein Motiv, dessen Durchsetzung allein in seiner eigenen
Verantwortung liegt.445
#255#
b) Änderung oder Neueinführung von AVB. Schon zur bisherigen Rechtslage bestand Streit
darüber, ob der Versicherer auf die Änderung von AVB, die sich auf das gedeckte Risiko
beziehen, oder auch auf die Neueinführung von AVB oder Tarifen hinweisen muss, damit der
VN zu diesen – für ihn evtl. günstigeren – AVB oder Tarifen wechseln kann.446 Der BGH447
bejahte eine Hinweispflicht im Rahmen von Vertragsverhandlungen in einem Fall, in dem es
um die Präzisierung einer Klausel ging, die jedoch aufgrund ihres rein definitorischen
Charakters nicht zu einer Risikoerhöhung führen sollte und auch keine Prämienerhöhung mit
sich brachte. Daraus wurde von den Instanzgerichten überwiegend geschlossen, dass nur in
diesem Fall eine Informationspflicht besteht.448 In den von ihnen entschiedenen Fällen führte
die Einführung der neuen Klausel zu einer Risikoerhöhung und somit zu einer
verschlechterten Situation des Versicherers. Unter Hinweis auf die Formulierung des BGH
wurde daher eine Aufklärungspflicht überwiegend verneint.449 Andere sahen in der Aussage
des BGH kein zusätzliches, einschränkendes Kriterium.450 Die Aussage, der Versicherer habe
aufgrund der fehlenden Risikoerhöhung die Änderung der AVB nicht zum Anlass einer
generellen Prämienerhöhung genommen,451 beziehe sich auf die ausschließliche
Vorteilhaftigkeit für den VN.452 Auch sei eine Differenzierung danach, ob eine Risikoerhöhung
vorliegt oder nicht, nicht sinnvoll, da der Versicherer auf gleichermaßen negative Änderungen
wie Prämiensenkungen ohne Einschränkung des Leistungsumfangs hinweisen müsste, da hier
keine Risikoerhöhung vorläge.453 Letztlich sind die meisten (und wesentlichen) Fälle einer für
den VN günstigen Änderung mit einer Risikoerhöhung verbunden, weil sie sonst nicht
günstiger wären.454
#256#
Ein Interesse des VN an einem Hinweis über die Neueinführung oder Änderung von AVB oder
Tarifen ist regelmäßig anzunehmen, sofern diese Regelungen für den VN günstiger sind und der
Versicherer einen Wechsel zulässt.455 Günstiger für den VN sind die neuen AVB dann, wenn
445
Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 10.
Vgl. ausführlich Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 7; Fausten VuR 2003,
366-374; Klimke NVersZ 1999, 449 ff.; tendenziell ablehnend Franz VersR
2008, 298, 299.
447 BGHZ 81, 345 = VersR 1982, 37, 38 = NJW 1982, 926, 927; näher Klimke
NVersZ 1999, 454.
448 OLG Saarbrücken VersR 1989, 245, 246; OLG Hamm VersR 1994, 37 =
NJW-RR 1993, 1247; OLG Düsseldorf r + s 1997, 523; OLG Hamm NJW-RR
2000, 982 f.; a.A. LG Bad Kreuznach ZfS 1991, 207, 208.
449 OLG Saarbrücken VersR 1989, 245, 246.
450 LG Bad Kreuznach ZfS 1991, 207, 208; Voit VersR 1989, 834, 835.
451 BGH BGHZ 81, 345 = VersR 1982, 37, 38 = NJW 1982, 926, 927.
452 Klimke NVersZ 1999, 454.
453 Klimke NVersZ 1999, 454.
454 Fausten Ansprüche, S. 130, ders. VuR 2003, 366, 368.
455 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 5; Voit VersR 1989, 834, 835. Ebenso
Fausten Ansprüche, S. 159; ders. VuR 2003, 366, 371, der jedoch dieses
446
82
sie objektiv vorteilhaft sind. Ein solcher Vorteil kann bereits in einer Präzisierung der
vertraglichen Regelungen liegen, vor allem aber in einer Erweiterung des Umfangs des
Versicherungsschutzes durch die Ausweitung der Leistungsbeschreibung oder die Streichung
oder Reduzierung von Risikoausschlüssen, oder in einer Beschränkung der Pflichten oder
Obliegenheiten des VN. Keinen Unterschied für den Beratungsbedarf des VN macht es, ob es
um die Einführung völlig neuer AVB geht oder ob nur um die Änderung einzelner Klauseln, da
auch kleinere Änderungen für den VN bedeutsam sein können.456 Die AVB müssen nicht
ausschließlich günstiger sein.457 Ein Beratungsbedarf ist also schon dann vorhanden, wenn die
neuen AVB auch nur teilweise günstiger sind und damit durch die erteilte Information eine
vernünftige Entscheidungsalternative eröffnet wird.458 Wollte man Vor- und Nachteile
saldieren, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Vorteile und Nachteile gewichtet
werden, um ein „objektives“ Vergleichsergebnis zu erhalten.459 Zwar sinkt das Interesse des
VN, wenn er sich die Vorteile durch Nachteile erkaufen müsste.460 Tatsächlich kann es aber für
jeden VN auf andere Gesichtspunkte ankommen. So kann ihm an der Deckung eines
bestimmten Risikos besonders gelegen sein, so dass er dafür auch eine höhere Prämie in Kauf
nimmt.461
#257#
Ob neue oder geänderte AVB oder Tarife eine Beratungspflicht auslösen, hängt wesentlich vom
damit verbundenen Aufwand ab. Im Rahmen von Vertragsverhandlungen verursacht die
Beratung keine unzumutbaren Kosten; sie ist daher zu leisten.462 Erfolgt die Kundenbetreuung
über Vermittler, so ist ohnehin sicherzustellen, dass diese über eine ausreichende
Informationsbasis verfügen, um hinsichtlich der Produkte ihres Versicherers qualifiziert zu
beraten.463 Die Verhandlungssituation ist nicht grundsätzlich anders als beim Neuabschluss.
Der VN darf daher darauf vertrauen, dass ihn der Versicherer auf die von ihm angebotene
Möglichkeit der Vereinbarung abweichender AVB hinweist, und zwar unabhängig davon, ob
Beratungsbedürfnis nicht als Anlass ansieht und stattdessen von einer
„autonomen“, also anlassunabhängigen Pflicht spricht.
456 Klimke NVersZ 1999, 449, 450: a.A. OLG Bamberg VersR 1998, 833, 834.
457 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 I Rdn. 36; s. auch Marlow/Spuhl Das Neue VVG
kompakt, S. 27; a.A. OLG Düsseldorf VersR 2008, 1480, 1482.
458 Klimke NVersZ 1999, 449, 451, Martin Sachversicherungsrecht K I Rdn.
10; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 I Rdn. 36.
459 Klimke NVersZ 1999, 449, 451; Martin Sachversicherungsrecht K IV Rdn.
10.
460 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 6 f.; ähnlich OLG Saarbrücken VersR
1989, 245, 246.
461 Klimke NVersZ 1999, 449, 451.
462 OLG Saarbrücken VersR 1993, 1386, 1387; OLG Düsseldorf r + s 1997,
523; VersR 2008, 1480, 1481; Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 6 f.; ders.
ZVersWiss 2008, 425, 433; Franz VersR 2008, 298, 299; Marlow/Spuhl Das
Neue VVG kompakt, S. 27; Martin Sachversicherungsrecht K I Rdn. 11;
Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 39; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 I
Rdn. 36; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 25.
463 Klimke NVersZ 1999, 449, 453.
83
diese Bedingungen dem VN ausschließlich oder nur teilweise vorteilhaft sind und ob eine
Prämienerhöhung mit ihnen verbunden ist oder nicht.464
#258#
Außerhalb von Verhandlungen ist eine Beratungspflicht hinsichtlich der Neueinführung oder
Änderung für den VN günstiger AVB oder Tarife hingegen grundsätzlich abzulehnen.465 Zwar
besteht auch in diesem Fall ein erkennbares Beratungsbedürfnis des VN.466 Anders als
während der Vertragsverhandlungen fehlt es jedoch an einem Vertrauenstatbestand für den
VN, während die Beratung dem Versicherer erheblichen Aufwand verursachen würde.467
Zudem kommen Änderungen der AVB relativ häufig vor, so dass aufgrund zahlreicher
geringfügiger Änderungen die größere Anzahl der Benachrichtigungen zu unverhältnismäßigen
Kosten führt.468 Um diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wird teils zwischen den
verschiedenen Situationen und Konstellationen differenziert und eine Hinweispflicht außerhalb
von Verhandlungen auf größere Änderungen, insbesondere der vollständigen Auswechslung
der AVB beschränkt.469 Dies führt allerdings zu Abgrenzungsschwierigkeiten dahingehend,
welche Änderungen größer und bedeutsamer sind und welche nicht.470 Mit Blick auf die
Proportionalitätsklausel des Abs. 1 könnte danach differenziert werden, ob es sich um Verträge
mit hohen Prämiensätzen und hoher Gewinnmarge handelt oder nicht.471 Im ersten Fall werden
die Informationskosten als regelmäßig angemessen angesehen, auch wenn es bei einer großen
Zahl zu informierender VN und damit einhergehenden hohen Gesamtkosten bleibt, da hier ein
entsprechend großer Gesamtumsatz gegenüber stehe.472
#259#
464
Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 7; Klimke NVersZ 1999, 449, 451 f.;
Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 I Rdn. 36.
465 Vgl. OLG Saarbrücken VersR 1989, 245, 246; OLG Hamm VersR 1994, 37
= NJW-RR 1993, 1247; OLG Düsseldorf r + s 1997, 523; OLG Düsseldorf
VersR 2008, 1480, 1481 f.; Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 8 f.; ders.
ZVersWiss 2008, 425, 433; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 I Rdn. 36; wohl auch
Martin Sachversicherungsrecht K I Rdn. 11 und K IV Rdn. 10; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 25; a.A. Fausten VuR 2003, 366, 372 ff.;
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 107; Voit VersR 1989, 834, 835;
differenzierend nach Umfang der Änderungen Klimke NVersZ 1999, 449, 500
ff.; Schwintowski in B/M Rdn. 40.
466 Klimke NVersZ 1999, 449, 450 f.; zum neuen Recht Meixner/Steinbeck Das
neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 51.
467 Vgl. OLG Saarbrücken VersR 1989, 245, 246; OLG Düsseldorf VersR
2008, 1480, 1482.
468 A.A. Fausten VuR 2003, 366, 374; Voit VersR 1989, 834, 835.
469 Klimke NVersZ 1999, 449, 453; a.A. Fausten VuR 2003, 366, 374, der sich
auch bei geringen Änderungen für eine Informationspflicht ausspricht.
470 Fausten Ansprüche, S. 164.
471 Zum alten Recht Klimke NVersZ 1999, 449, 452, Fn. 25. Ähnlich OLG
Saarbrücken VersR 1989, 245, 246.
472 Klimke NVersZ 1999, 449, 452; a.A. Voit VersR 1989, 834, 835
84
Über den (Kosten-)Aufwand hinaus kann jedoch auch ein wirtschaftliches Interesse des
Versicherers daran bestehen, dass die Bestandsverträge zu den alten Bedingungen weiterlaufen
und nur Neukunden in den Genuss der vorteilhafteren Bedingungen kommen. Seit dem
Wegfall der Vorabkontrolle besteht eine weitreichende Gestaltungsfreiheit, die nicht dadurch
eingeschränkt werden sollte, dass die neu gestalteten AVB oder den neuen Tarif aufgrund der
Beratungspflicht sämtlichen VN angeboten werden müssen.473 Der Anreiz für den Versicherer,
neue AVB zu entwickeln, würde hierdurch nämlich gemindert. Damit würde auch die durch
Wettbewerb und privatautonome Entscheidung begründete Innovationskraft geschwächt. Dem
Versicherer muss es daher möglich sein, seine AVB gezielt für Neukunden fortzuentwickeln,
ohne – zumindest faktisch – gezwungen zu sein, zugleich den gesamten Bestand auf die neuen
Bedingungen umzustellen. Es liegt in der Verantwortung des VN, sich nötigenfalls mit
Unterstützung von Verbraucherschutzverbänden oder Maklern darüber zu informieren, ob
mittlerweile ein ihm vorteilhafterer Schutz am Markt erhältlich ist, und in diesem Fall auch mit
seinem bisherigen Versicherer in Verbindung zu treten, um eine Auswechslung der dem
Vertrag zugrunde liegenden AVB zu erreichen.474
#260#
Teilweise wird eine Beratungspflicht außerhalb Verhandlungen jedenfalls bejaht, wenn eine
sonstige Kontaktaufnahme vorliegt, etwa durch Übersendung der Prämienrechnung oder
einer Mitgliederzeitschrift.475 In diesen Fällen ist es in der Tat kostengünstig, über die neuen
AVB zu informieren. Indessen wird auch hier anders als bei Vertragsverhandlungen kein
Vertrauen des VN geweckt, er werde über Alternativen zum geltenden Versicherungsvertrag
informiert.476 Auch automatische Vertragsänderungen aufgrund von vereinbarten
Fortsetzungsklauseln oder regelmäßiger Dynamisierung von Prämie und Leistung sind
Verhandlungen nicht gleichzusetzen;477 sie lösen daher keine Beratungspflicht aus.
#261#
Grundsätzlich ist daher eine Hinweispflicht außerhalb von Verhandlungen abzulehnen. Eine
Ausnahme ist nur dort anzunehmen, wo durch die neuen AVB ein bisher ungedecktes Risiko
einbezogen wird, dessen Deckung eine sinnvolle Ergänzung zum bestehenden
Versicherungsschutz des VN ist, soweit dem Versicherer dieser Deckungsbedarf bekannt war.
Dabei sind die modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung zu berücksichtigen.478 Auch
wenn der VN im Rahmen der Vertragsverhandlungen erkennbar auf einen umfassenden
Versicherungsschutz Wert gelegt hat und der Versicherer selbst eine derartige
Zusatzversicherung in sein Angebot aufgenommen hätte, ist eine Beratungspflicht anzunehmen.
473
Vgl. Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 9; vgl. auch OLG Saarbrücken VersR
1993, 1386, 1387.
474 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 9; ders. ZVersWiss 2008, 425, 433; gegen
eine willkürliche Ungleichbehandlung von Alt- und Neuverträgen Klimke
NVersZ 1999, 449, 451.
475 Klimke NVersZ 1999, 449, 453; Voit VersR 1989, 834, 835.
476 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 7.
477 OLG Hamburg VersR 1988, 620; OLG Düsseldorf r + s 1997, 523; VersR
2008, 1480, 1481 f.
478 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 8 f.; ders. VersR 1997, 931, 937; Rixecker
in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 25; Schirmer r + s 1999, 133, 136; vgl. auch OLG
Düsseldorf VersR 2008, 1480, 1482 („erkennbarer Grund“).
85
Keinesfalls muss hingegen auf neue AVB von Konkurrenzunternehmen hingewiesen
werden.479
#262#
Was den Umfang einer Beratungspflicht über neue AVB oder Tarife angeht, so war nach
überwiegender Ansicht zum früheren Recht zunächst ein Hinweis auf die verschiedenen
Klauselwerke und die damit verbundenen wesentlichen Neuerungen ausreichend; nähere
Angaben oder eine Beratung sollten nur erforderlich sein, wenn der VN entsprechendes
Interesse bekundet.480 Auch eine „Hinwirkungspflicht“481 würde demnach die wirtschaftlichen
Interessen des Versicherers, den Vertrag zu den bisherigen Konditionen weiterlaufen zu lassen,
in unzumutbarer Weise beeinträchtigen und wurde daher abgelehnt.482 Die Beratungspflicht
nach Abs. 4 geht darüber hinaus, indem der Versicherer, sofern der Beratungsanlass feststeht,
von sich aus zu beraten hat.
#263#
c) Änderung der Rechtslage. Ändert sich die Rechtslage, so kann dies zu einer
Deckungslücke führen. So kann z.B. die Änderung der für bestimmte Versicherungsverträge
maßgeblichen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu einer dem Versicherer erkennbaren
Schutzlücke führen. Dies gilt etwa für die Verschärfung der gesetzlichen Haftpflicht483 oder die
Anhebung von Mindestdeckungssummen,484 was zu Deckungslücken in der Betriebs-, Produktoder Umwelthaftpflichtversicherung führen kann. Der Versicherer ist dann ggf. auch dazu
verpflichtet, den VN auf neue Produkte hinzuweisen, die er zur Schließung der Deckungslücke
entwickelt hat.485
#264#
Auch wenn das vom VN gewählte Versicherungsprodukt jenseits der Haftpflichtbestimmungen
auf eine bestimmte normative Lage abgestimmt war, die aufgrund einer Gesetzesänderung
nicht fortgilt, ist eine Beratung des VN über gebotene Anpassungen veranlasst.
#265#
Neben Gesetzesänderungen kann auch eine neue Rechtsprechung zu Hinweispflichten führen.
Dies gilt etwa dann, wenn die Judikatur nunmehr eine Haftung bejaht, die von der
Berufshaftpflichtversicherung nicht gedeckt ist.486 Eine Hinweispflicht besteht erst recht, wenn
479
OLG Hamm NJW-RR 1995, 988, 989; vgl. auch allg. Rdn. *.
Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 7; Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt,
S. 27.
481 BGHZ 81, 345 = VersR 1982, 37, 38 = NJW 1982, 926, 927.
482 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 9; Klimke NVersZ 1999, 449, 454 mit Fn.
49.
483 Armbrüster ZVersWiss 2008, 433; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 37; Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 52.
A.A. zum alten Recht LG Köln r + s 1997, 235, 238 = VersR 1997, 1522.
484 F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der Praxis, S.
32.
485 Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 107.
486 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 26.
480
86
sich gerade solche Umstände ändern, auf die der Versicherer beim Vertragsschluss besonders
abgehoben hatte.487
#266#
In Betracht kommt eine Hinweispflicht auch im Hinblick auf Änderungen im
Sozialversicherungs- oder Steuerrecht, die sich auf die Befreiung von
Sozialversicherungsbeiträgen oder auf die steuerliche Absetzbarkeit von Aufwendungen
auswirkt, da dies ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Wirtschaftlichkeit von
Lebensversicherungsverträgen, Altersvorsorgeverträgen und anderen Produkten ist. Dies gilt
unabhängig davon, ob es sich um eine Gesetzes- oder um eine Rechtsprechungsänderung
handelt.488
#267#
Bereits beim Abschluss einer privaten Rentenversicherung in Gestalt eines
Gruppenversicherungsvertrages (und daher nach Abs. 1 Satz 1 und nicht erst nach Abs. 4) ist
der versicherte Arbeitnehmer darauf hinzuweisen, dass es im Fall des Arbeitgeberwechsels
wegen der unterschiedlichen Tarife und Konditionen in den vom Versicherer mit dem alten und
dem neuen Arbeitgeber geschlossenen Gruppenverträgen Änderungen im Bereich von Prämie
und Leistungen geben kann. Dies gilt zumindest dann, wenn der Vermittler bei den zum
Vertragsschluss führenden Gesprächen auf ausdrückliche Frage des Versicherten erklärt, im
Fall eines Wechsels des Arbeitgebers sei die Fortführung des Vertrags mit keinen Änderungen
verbunden, oder wenn dem Vermittler die Fehlvorstellung erkennbar ist.489
#268#
Die VVG-Reform brachte vielfältige Rechtsänderungen. Nach Art. 1 Abs. 3 EGVVG konnte
der Versicherer seine AVB für Altverträge, soweit sie vom neugefassten VVG abweichen, zum
1.1.2009 ändern, sofern er dem VN die geänderten Bedingungen unter Kenntlichmachung der
Unterschiede spätestens einen Monat vor dem Zeitpunkt in Textform mitteilte, zu dem die
Änderungen wirksam werden sollten. Ob sich hieraus eine Anpassungspflicht ergibt, ist
streitig.490 Eine Informationspflicht sieht die Übergangsvorschrift nur für den Fall der
tatsächlichen Umstellung vor. Eine allgemeine Informationspflicht ergibt sich insoweit aus § 6
Abs. 1 Nr. 2 VVG-InfoV, als dass demnach über Änderungen der wesentlichen Merkmale der
Versicherungsleistung, insbesondere Angaben über Art, Umfang und Fälligkeit der Leistung
des Versicherers, zu informieren ist (vgl. § 7 Rdn. *). Hinsichtlich der darüber hinaus gehenden
Änderungen besteht keine spontane Informationspflicht. Nur wenn ein erkennbarer
Beratungsbedarf des VN i. S. von Abs. 4 vorliegt, kann der Versicherer zur Beratung
verpflichtet sein. Mit Blick auf den gesetzgeberischen Zweck des Abs. 4, dem VN eine
informierte Entscheidung bei Änderungsbedarf oder anderweitigem Anlass während der
Vertragslaufzeit zu ermöglichen, kommt eine Beratung nur hinsichtlich solcher VVG-
487
Fenyves in FS Canaris S. 1367, 1383.
Vgl. F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der
Praxis, S. 32; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 45; a.A. Neuhaus r + s 2008,
449, 457; OLG Hamm VersR 2007, 631; zurückhaltend Fenyves in FS Canaris
S. 1367, 1384.
489 OLG Celle VersR 2008, 60, 62 f.; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 45.
490 Funck VersR 2008, 163, 168; Hövelmann VersR 2008, 612, 614;
Staudinger/Kassing ZGS 2008, 411; Wagner VersR 2008, 1190, 1191; Weidner
r + s 2008, 368.
488
87
Änderungen in Betracht, die dem VN eine Entscheidungsalternative geben.491 Dies ist
hinsichtlich der meisten VVG-Änderungen nicht der Fall.492
#269#
Freilich kann sich infolge der Reform die Unwirksamkeit von AVB ergeben, so dass der VN
ohne entsprechende Aufklärung von der Geltendmachung seiner Ansprüchen abgehalten
werden könnte, etwa bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls.493 Indessen
sehen die spezialgesetzlichen Regeln für diesen Fall keine Hinweispflicht vor, und nach der
genannten gesetzgeberischen Zweckrichtung ist eine solche auch nicht aus Abs. 4 herzuleiten.
Insofern gilt nichts anderes als für den Fall, dass in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine
AVB für unwirksam erklärt wird. Eröffnet der Versicherer die Möglichkeit zur Umstellung auf
vorteilhaftere AVB, z.B. indem er auch die grob fahrlässige Herbeiführung des
Versicherungsfalls gegen Prämienaufschlag einzuschließen bereit ist, besteht eine
Beratungspflicht nur im Rahmen von Verhandlungen (s. Rdn. *).494
#270#
d) Rechte und Obliegenheiten des VN. aa) Überblick. Beratungsbedarf kann sich etwa
hinsichtlich der korrekten Erfüllung der vertraglichen und gesetzlichen Voraussetzungen
ergeben, um den Deckungsschutz nicht zu verlieren. Spezialgesetzliche Belehrungspflichten,
die dem VN die gesetzlichen Regelungen verdeutlichen und ihm deren Einhaltung oder die
Ausübung erleichtern sollen, sind im gesamten VVG geregelt (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *). Hinzu
kommt die vorvertragliche Information auch hinsichtlich während der Vertragslaufzeit
bestehender Obliegenheiten im Produktinformationsblatt (§ 4 Abs. 2 Nr. 6 VVG-InfoV).
Jenseits dieser Regeln kommt eine Belehrungspflicht hinsichtlich vertraglicher oder
gesetzlicher Rechte und Obliegenheiten allein nach § 242 BGB, nicht aber nach Abs. 4 in
Betracht (s. Rdn. *).
#271#
bb) Ansprüche nach Eintritt des Versicherungsfalls. Der Versicherer ist nach altem wie
nach neuem Recht gem. § 242 BGB zur Auskunft über die Ansprüche des VN aus dem
Versicherungsvertrag verpflichtet.495 Bei Eintritt des Versicherungsfalls kann sich eine
Beratungspflicht etwa aus einer Frage des VN nach dem Umfang seiner Ansprüche ergeben496
oder daraus, dass der VN seine Ansprüche erkennbar möglicherweise nicht voll überblicken
kann.497 Dies ist dem Versicherer zumutbar, da er aufgrund seiner überlegenen Sachkenntnis
491
S. demnächst Stöbener
Informations- und Beratungspflichten des
Versicherers.
492 Hövelmann VersR 2008, 612, 613 f.; der zudem ein Informationsgefälle
ablehnt; a.A. Wagner VersR 2008, 1190, 1191.
493 Weidner r + s 2008, 368, 371, sieht diese Möglichkeit als sehr theoretisch
an; s. auch Staudinger/Kassing ZGS 2008, 411, 412.
494 Weiter gehend für Beratungspflicht Wagner VersR 2008, 1190, 1192.
495 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 12; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 39.
496 OLG Hamm ZfS 1988, 150 = NJW-RR 1988, 285.
497 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 142, 143; Fausten Ansprüche, S. 237
ff.; einschränkend Martin Sachversicherungsrecht Q IV Rdn. 85, R III Rdn. 40.
88
komplexe vertragliche Regelungen besser überschaut als der VN (zur Lage nach Beendigung
des Versicherungsvertrags s. Rdn. *).498
#272#
Bisweilen ergibt sich die Beratungspflicht nicht erst aus § 242 BGB, sondern unmittelbar aus
dem Leistungsversprechen des Versicherers. Ein Beispiel bieten die sog. ServiceVersicherungen, bei denen der Versicherer damit wirbt, nach Eintritt des Versicherungsfalls
besondere Unterstützung zu gewähren. So hat der Versicherer im Rahmen einer VerkehrsService-Versicherung bei Eintritt des Versicherungsfalls (Motorschaden in einer algerischen
Oase) die Vermögensinteressen des VN durch sachgerechte Hilfestellung zu wahren und darf
sich nicht darauf beschränken, Schadensunterlagen zu sammeln und zu gegebener Zeit
abzurechnen. Insbsondere muss der Versicherer mitteilen, welche Leistungen er im
Schadensfall erbringen wird, bevor der VN erhebliche Kosten (Reparatur, Rücktransport)
aufwendet.499
#273#
Möchte der Versicherer bei der Prüfung und Regulierung des Versicherungsfalls von den
vertraglichen Bedingungen abweichen, so hat er den VN hierüber gem. § 242 BGB umfassend
aufzuklären. Er hat die tatsächliche Sach- und Rechtslage darzustellen und darf keine Abreden
treffen, die mit Blick darauf unangemessen sind.500 Auf ein in den Bedingungen einer
Berufsunfähigkeitsversicherung nicht vorgesehenes befristetes Anerkenntnis darf sich der
Versicherer wegen der damit verbundenen erheblichen Nachteile für den VN nur in engen
Grenzen berufen, nämlich wenn eine nach verständiger Sicht noch unklare Sach- und Rechtlage
besteht und wenn er den VN nicht zuvor umfassend und zutreffend über die wahre Sach- und
Rechtslage unterrichtet hat.501 Anderenfalls schuldet der Versicherer Schadensersatz im Wege
der Naturalrestitution, was regelmäßig bedeutet, dass die Vereinbarung unwirksam ist. 502
#274#
Erklärt ein Versicherer nach Eintritt des Versicherungsfalls, bestimmte nach den Bedingungen
nicht geschuldete Leistungen zu erbringen, etwa nach einem Verkehrsunfall die Kosten für
einen Mietwagen zu ersetzen, so führt diese Erklärung zu einer Deckungspflicht.503
#275#
cc) Obliegenheitsverletzungen. Der VN hat vor Eintritt des Versicherungsfalls (z.B. § 58 Abs.
1) oder danach (z.B. § 30, 31, 97) zahlreiche Obliegenheiten zu erfüllen. Unterlaufen ihm
hierbei schuldhaft Fehler, so droht der Verlust des Versicherungsschutzes. Andererseits kann
der Versicherer aufgrund seiner Sachkunde und Erfahrung oft ohne Weiteres erkennen, ob der
VN die ihn treffenden Obliegenheiten ordnungsgemäß erfüllt hat, und kann ihm durch Hinweis
498
Ähnlich Fausten Ansprüche, S. 239 f.; a.A. Rixecker in VersR-Hdb. § 18a
Rdn. 27.
499 OLG Hamm ZfS 1988, 150 = NJW-RR 1988, 285, 286.
500 BGH VersR 2007, 633, 634; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 27; vgl.
auch BGH VersR 2007, 1116, 1118.
501 BGH VersR 2007, 777, 778 f.; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 27.
502 Vgl. Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 27.
503 OLG Hamm VersR 1981, 825; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 27; a.A.
OLG Frankfurt NVersZ 2002, 319.
89
hierauf die rechtzeitige Erfüllung ermöglichen.504 Diese Erfüllung dient in erster Linie dem
Interesse des Versicherers an der Einhaltung des Vertrags und nur mittelbar dem VN, indem
dessen Versicherungsschutz erhalten bleibt.505 Das Versicherungsverhältnis ist in besonderem
Maße von Treu und Glauben geprägt, so dass den Versicherer auch Hinweis- und
Fürsorgepflichten treffen, zumal zunächst von der Redlichkeit des VN auszugehen ist. In einem
solchen Fall wäre es treuwidrig, den VN ohne Warnung mit seinem Begehren scheitern zu
lassen.506 Soweit dem Versicherer der Beratungsbedarf des VN hinsichtlich bestehender
Obliegenheiten und Defizite bei deren Erfüllung erkennbar wird, insbesondere wenn der VN
um Hilfe beim Ausfüllen von Formularen wie Schadensanzeigen bittet, ist der Versicherer
daher nach § 242 BGB (nicht: nach Abs. 4;507 s. Rdn. *) zumindest zum Hinweis und zur
Nachfrage verpflichtet.508
#276#
Beispiel: Der Versicherer kann im Rahmen einer Berufsunfähigkeitsversicherung gem. § 242
BGB verpflichtet sein, auf die Notwendigkeit der fristgemäßen ärztlichen
Invaliditätsfeststellung hinzuweisen, wenn der VN diese Anforderung erkennbar übersehen hat.
Auch wenn der Versicherer ein Gutachten einholt, ist er zum Hinweis verpflichtet, dass der VN
selbst für die Feststellung zu sorgen hat.509
#277#
Gesetzlich kodifiziert worden ist die Hinweispflicht bei Verletzung vertraglicher
Obliegenheiten in § 28 Abs. 4. Dazu zählt auch die Anzeigepflicht nach Eintritt des
Versicherungsfalls gem. § 30.510 Teilweise oder vollständige Leistungsfreiheit tritt danach nur
dann ein, wenn der Versicherer auf diese Rechtsfolge hingewiesen hat.511 Auch die
unterlassene Belehrung über die vertragliche Obliegenheit zur Einreichung einer
Stehlgutliste512 wird nunmehr von § 28 Abs. 4 erfasst.
#278#
dd) Kündigungsrecht des VN. Eine Pflicht des Versicherers, den VN auf das
Kündigungsrecht nach einer Prämienerhöhung nach § 40 Abs. 1 Satz 1 hinzuweisen, ist in
504
Vgl. BGH VersR 2008, 1491 f.
BGH BGHZ 47, 101 = NJW 1967, 1226, 1229 = VersR 1967, 441, 443.
506 OLG Brandenburg r + s 2008, 325, 326.
507
So
aber
Franz
VersR
2008,
298,
299;
Münkel
in
Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 37; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 27.
508 BGH BGHZ 47, 101 = NJW 1967, 1226, 1229 = VersR 1967, 441, 443;
BGH r + s 1997, 84, 85; OLG Hamm VersR 1985, 461, 462 (in concreto
ablehnend); OLG Brandenburg r + s 2008, 325 f.; Armbrüster in FS Schirmer
S. 1, 12; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 142, 143. Dies gilt auch für sog.
spontane Obliegenheiten; BGH VersR 2008, 1491 f. (betr. Stehlgutliste).
509 BGH NJW 2006, 911 f.
510 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 70
511 Bisherige Rspr.; BGHZ 47, 101 = NJW 1967, 1226, 1229 = VersR 1967,
441.
512 BGH VersR 2008, 1491 f. = NJW 2008, 3643, 3644; a.A. noch OLG
Koblenz VersR 1988, 25.
505
90
Satz 2 dieser Vorschrift ausdrücklich vorgesehen.513 Für andere Kündigungsrechte des VN
(z.B. nach §§ 92, 96, 111) existiert keine derartige spezialgesetzliche Hinweispflicht. Daraus ist
zu schließen, dass der Gesetzgeber eine Hinweispflicht insoweit nicht für angemessen gehalten
hat.
#279#
Allerdings kann der Versicherer hinsichtlich der Rechtsausübung zur Information verpflichtet
sein: Ist eine vom VN vorgenommene Kündigung unwirksam, etwa weil sie unvollständig,
formnichtig, verfrüht oder verspätet ist oder weil die Kündigungsvoraussetzungen nicht
vorliegen,514 so hat der Versicherer den VN hierauf gem. § 242 BGB unverzüglich
hinzuweisen, sobald er den Mangel erkannt hat oder bei üblicher Sorgfalt hätte erkennen
müssen.515 Eine gesetzliche Zurückweisungspflicht besteht bei fehlendem Nachweis der
Vollmacht oder der vollmachtlosen Kündigung durch einen Dritten, für die §§ 174, 180 BGB
Wirksamkeit vorsehen, soweit der Versicherer die Kündigung nicht unverzüglich zurückweist
oder der Versicherer die fehlende Vertretungsmacht nicht beanstandet und der VN genehmigt.
Über dieses gesetzliche Zurückweisungsrecht hinaus wird teilweise unter Berufung auf die
grundsätzliche Eigenverantwortung des Erklärenden für die Wirksamkeit seiner Erklärung
eine Hinweispflicht abgelehnt, weil dadurch die mit dem eigenen Handeln verbundene
Rechtsunsicherheit auf den anderen abgewälzt würde. Zudem könne der Erklärende die
Unsicherheit durch telefonische Nachfrage oder Bitte um eine Bestätigung beenden.516 Die
Gefahr einer Hinweispflicht liegt auch darin, dass der VN sie missbrauchen könnte, um sich
vom Vertrag zu befreien, wenn der Versicherer nicht widerspricht.517 Zwar besteht kein
Beratungsbedarf und damit keine Hinweispflicht, wenn der VN die Unwirksamkeit seiner
Kündigung kannte;518 diese Kenntnis ist allerdings schwer feststellbar und beweisbar.519
#280#
Vor allem bei komplizierter Regelung der Kündigungsvoraussetzungen in den AVB ist dem
VN die Unwirksamkeit seiner Kündigung oft nicht bewusst, was zu Beratungsbedarf
513
Bereits zur alten Rechtslage Harrer in BK § 31 Rdn. 38.
S. die Übersicht bei Leverenz VersR 1999, 525.
515 So zur Hinweispflicht aus § 242 BGB nach bisherigen Recht OLG Hamm
VersR 1977, 999; VersR 1991, 663; OLG Karlsruhe VersR 2002, 1497; LG
Dortmund VersR 1969, 654, 655; LG Hannover VersR 1977, 351; AG Köln
VersR 1981, 227; AG Hamburg VersR 1994, 665; AG Delmenhorst r + s 2003,
331; ÖOGH, VersR 1984, 1208; Langheid in R/L § 8 Rdn. 29, § 70 Rdn. 2;
Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 12; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 40; Leverenz VersR 1999, 525; Prölss/Martin § 8 Rdn. 16; Wriede VersR
1965, 9, 11; a.A. Brams VersR 1997, 1308, 1309; Jonczak VersR 2000, 306,
307; hinsichtlich der Nichteinhaltung der Schriftform Kollhosser in P/M § 70
Rdn. 3.
516 ÖOGH VersR 1984, 1208.
517 Brams VersR 1997, 1308, 1310.
518 So bereits zur bisherigen Rechtslage OLG Karlsruhe VersR 2002, 1497;
Römer/Langheid § 8 Rdn. 20; a.A. AG Köln VersR 1981, 227. Auch bei grober
Fahrlässigkeit eine Hinweispflicht ablehnend LG Köln r + s 1991, 243.
519 Schirmer r + s 1999, 133, 135.
514
91
führt.520 Noch größer ist dieser Bedarf, wenn der VN aufgrund der Kündigung wichtige
Dispositionen treffen wird, etwa den Neuabschluss einer Gebäude- oder
Haftpflichtversicherung.521 Einen solchen Beratungsbedarf kann der Versicherer aufgrund
seiner überlegenen Sachkunde durch einen entsprechenden Hinweis ohne unzumutbaren
Aufwand decken.522 Nur wenn der VN von der Unwirksamkeit weiss, ist eine Hinweispflicht
schon tatbestandlich ausgeschlossen. Selbst bei grob fahrlässiger Unkenntnis von der
Unwirksamkeit der Kündigung oder dem Fehlen der Voraussetzungen kann der VN hingegen
Aufklärung erwarten.523
#281#
Die Zurückweisung einer Kündigung hat unter Angabe der Unwirksamkeitsgründe zu
erfolgen.524 Wie ausführlich dies geschieht, hängt auch davon ab, wie genau der VN seine
Kündigung begründet. Ohne jegliche Angaben des VN kann auch der Hinweis des Versicherers
kurz ausfallen.525
#282#
Der Hinweis bedarf keiner besonderen Form; er kann daher auch mündlich erfolgen. An den
Zugangsnachweis sind keine hohe Anforderungen zu stellen, da anderenfalls die Zumutbarkeit
des Hinweises insgesamt in Frage gestellt würde. Daher muss etwa auch die Absendung des
Hinweisschreibens zum Nachweis genügen, zumal die Beweislast hinsichtlich der objektiven
Pflichtverletzung beim VN liegt.526
#283#
Die Zurückweisung muss erfolgen, sobald es dem Versicherer im normalen Geschäftsgang
zumutbar war, die Kündigung zu prüfen und über die Zurückweisung zu befinden.527
520
Leverenz VersR 1999, 525, 529.
OLG Karlsruhe VersR 2002, 1497.
522 BGH VersR 1981, 621, 623; Leverenz VersR 1999, 525, 529 f.; a.A. Brams
VersR 1997, 1308, 1309 f.
523 OLG Hamm VersR 1977, 999, 1000; LG Dortmund VersR 1969, 654, 655.
524 Prölss/Martin § 8 Rdn. 16; Schirmer r + s 1999, 133, 134; *LG Dortmund
VersR 1969, 654, 655
525 Leverenz VersR 1999, 525, 532.
526 Etwa durch glaubhafte Bekundung der Zeugin, vgl. AG Delmenhorst r + s
2003, 331; a.A. OLG Karlsruhe VersR 2002, 1497.
527 Die Rspr. nimmt unterschiedliche Fristen an; OLG Hamm VersR 1988, 514
(Ls.): (17 Tage verfristet); OLG Hamm VersR 1991, 663 (sofort, 3 Tage
verspätet); LG Dortmund VersR 1969, 654, 655 (angemessene Zeitspanne; ggf.
mehrere Wochen, wenn der fehlende Nachweis der eingetretenen
Versicherungspflicht ohnehin zwei Monate nachgereicht werden kann); LG
München I VersR 1990, 1378 (binnen Wochenfrist); AG Hamburg VersR
1994, 665 (ggf. sechs Wochen bei notwendigen Nachforschungen);
Prölss/Martin § 8 Rdn. 16 (relativ lang, wenn Nachforschungen notwendig).
Leverenz VersR 1999, 525, 532 plädiert für einzelfallbezogene Betrachtung.
521
92
#284#
Rechtsfolge einer unterbliebenen Zurückweisung ist es nach verbreiteter Rspr. Zum alten
Recht, dass die Kündigung als wirksam fingiert wird.528 Zieht man hingegen § 280 Abs. 1 BGB
heran, so ist der VN so zu stellen, wie er ohne die Verletzung der Hinweispflicht stünde, wenn
er also zeitnah von der Unwirksamkeit seiner Kündigung gewusst hätte (vgl. allg. Rdn. *).
Damit ist seine Kündigung nicht wirksam, sondern er kann Schadensersatz etwa in Höhe der
Kosten einer unnötigen zweiten Versicherung beanspruchen, die er in der Annahme
abgeschlossen hat, seine Kündigung sei wirksam.529 Dadurch wird einerseits dem
Gesichtspunkt Rechnung getragen, dass Dauerschuldverhältnisse generell nur bei schweren
Pflichtverletzungen außerordentlich kündbar sind. Andererseits sind im Rahmen eines
Schadensersatzanspruchs nur kausal durch den unterlassenen Hinweis verursachte Schäden zu
ersetzen, so dass ein Anspruch z.B. ausgeschlossen ist, wenn der VN zeitgleich mit der
Kündigung eine neue Versicherung abgeschlossen hat.530
#285#
Unzumutbar wäre für den Versicherer im Hinblick auf sein Vertragsinteresse (s. Rdn. *) eine
Pflicht, den VN darüber zu beraten, wie er das Vertragsverhältnis am schnellsten und
vorteilhaftesten wirksam beenden kann.531 Insoweit ist der Versicherer lediglich zu einem
Hinweis auf die bestehenden Möglichkeiten verpflichtet.
#286#
ee) Nachteile einer Kündigung oder Änderung. Auch wenn der VN eine wirksame
Kündigung erklärt oder einen Änderungsantrag gestellt hat, kommen Beratungspflichten zu den
Auswirkungen dieser Entscheidung in Betracht. So ist auf die Nachteilhaftigkeit eines
Neuabschlusses oder der Vertragsänderung wegen ungünstigerer neuer AVB hinzuweisen.532
Angesichts vergleichbarer Interessenlage der Parteien und nicht immer leichter Abgrenzung
zwischen Änderung und Neuabschluss eines Ersatzvertrags unter Beendigung des bisherigen
Versicherungsverhältnisses muss entsprechendes auch für letzteren Fall gelten.533 Umgekehrt
ist bei der Vertragsänderung nach Abs. 4 auf neue, vorteilhaftere AVB hinzuweisen534 (näher
Rdn. * ff.).
528
OLG Hamm VersR 1977, 999 (muss sich so behandeln lassen, als wenn
fristgerecht erfolgt); LG Berlin VersR 1951, 163; a.A. Prölss/Martin § 8 Rdn.
17.
529 Zum alten Recht (pFV) s. AG Hamburg VersR 1994, 665; Jonczak VersR
2000, 306, 307; Leverenz VersR 1999, 525, 530; Wriede VersR 1965, 9, 12;
Prölss/Martin § 8 Rdn. 17.
530 Leverenz VersR 1999, 525, 531.
531 Armbrüster in FS Schirmer S. 1, 13; Franz VersR 2008, 298, 299; a.A. LG
Marburg VersR 1963, 1191; LG Saarbrücken VersR 1965, 945.
532 BGH VersR 1973, 176, 177; vgl. allgemein Dörner in Karlsruher Forum
2000, S. 120 f.
533 Martin Sachversicherungsrecht K I Rdn. 13 f., differenzierend für
gewerbsmäßig tätige VN.
534 Vgl. OLG Saarbrücken VersR 1989, 245, 246.
93
#287#
Kündigt der VN einen Lebens- oder Krankenversicherungsvertrag, um (ggf. zu einem
späteren Zeitpunkt) einen neuen Vertrag abzuschließen, ist er nach Abs. 4 darauf hinzuweisen,
dass aufgrund gesteigerter oder neuer Risiken in der Person des VN, etwa wegen höheren
Alters und Erkrankungen, die Gefahr besteht, höhere Versicherungsprämien zahlen zu
müssen oder überhaupt keinen Vertrag mehr angeboten zu bekommen.535 Im Fall der
Umwandlung einer Lebensversicherung in eine prämienfreie Versicherung muss der
Versicherer auf die Rechtsfolgen hinweisen.536 Auch über einen beim Wechsel des
Krankenversicherers drohenden Verlust von Altersrückstellungen ist aufgrund der finanziellen
Bedeutung hinzuweisen.537 Dies gilt freilich dann nicht, wenn der Plan des VN zum Wechsel
des privaten Krankenversicherers dem Versicherer nicht erkennbar ist und eine erhöhte
Wahrscheinlichkeit hierfür auch nicht allein aus dem jungen Alter des VN folgt.538
#288#
Will der VN die Krankenversicherung oder die Berufsunfähigkeitsversicherung wechseln, so
hat der Versicherer über die gesundheitlichen Voraussetzungen eines Wechsels zu beraten und
ggf. von einem solchen abzuraten.539 Auf die Möglichkeit einer Veräußerung der
Lebensversicherungspolice auf dem Zweitmarkt muss nicht hingewiesen werden, da dies
gleich einem Verweis auf Konkurrenzprodukte für den Versicherer unzumutbar ist.540
#289#
Drohen dem VN durch eine Vertragsänderung zeitliche Lücken im Versicherungsschutz,
insbesondere Karenzfristen wie in der Rechtsschutz- und Krankentagegeldversicherung, oder
neue Ausschlussfristen, so muss der Versicherer hierauf nach Abs. 4 zumindest hinweisen. Bei
erkennbarer Suizidgefahr ist auch auf die Ausschlussfrist für Leistungen bei Suizid und darauf
hinzuweisen, dass diese bei Abschluss eines neuen Vertrags neu zu laufen beginnt.541 Besteht
etwa im Rahmen der Kfz-Versicherung bereits ein hoher Schadensfreiheitsrabatt, so kann sich
auch ein günstiger „Basistarif“ im Schadenfall als erheblich nachteilig erweisen; der
Versicherer ist entsprechend zur Beratung verpflichtet.542 Entgegen der Auffassung des LG
Offenburg543 hat der Versicherer darauf hinzuweisen, dass ein Wechsel der privaten
Krankenversicherung aufgrund eines Selbstbehalts (unter Verrechnung mit den Prämien)
teurer ist als der bisherige PKV-Beitrag, auch wenn sich dies aus den zur Verfügung stehenden
Unterlagen ergibt.
535
LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.
OLG Köln r + s 1992, 138.
537 A.A. LG Offenburg VersR 2002, 177, da dies eine Selbstverständlichkeit
sei; Miettinen Pflichten, S. 46.
538 LG Köln VersR 2008, 1100, 1101; AG Köln VersR 2008, 1100, 1101.
539 OLG Frankfurt Urt. v. 13.12.2007 – 12 U 214/06, juris, unter II 1 d
(Pflichten eines Maklers); Neuhaus r + s 2008, 449, 457.
540 Armbrüster in FS Schirmer, S. 1, 13; ders. ZVersWiss 2008, 425, 431; a.A.
M. Surminski ZfV 2004, 718; Schwintowski Diskussionsbeitrag, abrufbar unter
http://versnetzb.de/Homepage/archiv/051114_schwinto_leben.pdf (S. 15).
541 OLG Hamm VersR 1988, 51; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 13.
542 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 15.
543 LG Offenburg VersR 2002, 177 f.
536
94
#290#
Keine Aufklärung ist hinsichtlich der Wechselmöglichkeit beim früheren Anbieter geboten,
die bei höherem Selbstbehalt zu niedrigeren Prämien geführt hätte und deshalb vorteilhaft
gewesen wäre; dies zu prüfen ist Sache des VN. Auf künftige Beitragssteigerungen muss
bereits nach § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VVG i.V. mit § 3 Abs. 1 Nr. 3, 7 VVG-InfoV hingewiesen
werden (zur Beratungspflicht nach Abs. 1 s.. Rdn. *). Auch auf die Problematik der Mitnahme
von Altersrückstellungen ist hinzuweisen.544
#291#
Ein Beratungsbedarf besteht nicht, wenn und sofern der VN vom Konkurrenzunternehmen
oder Vermittler, bei dem er den neuen Vertrag abschließen möchte, ausreichend beraten
wurde.545
#292#
ff) Weitere Fälle. Eine Beratungspflicht – und zwar nicht nach § 242 BGB, sondern nach Abs.
4, da es um eine Vertragsänderung geht (s. Rdn. *) – kann bestehen, wenn erkennbar wird,
dass der VN in Abänderung des Versicherungsvertrags statt jährlicher Prämienzahlung
vierteljährliche Zahlung möchte und auch nur entsprechende Beträge zahlt. Vermerkt der
Versicherungsvertreter diesen Wunsch, ist er aber nicht bevollmächtigt, entsprechende
Änderungen der Prämienvereinbarung vorzunehmen, so ist er zum Beratung darüber
verpflichtet, dass ohne Änderung kein Versicherungsschutz besteht.546 Geschieht dies nicht,
haftet der Versicherer für das Verhalten des Vertreters nach § 278 BGB; er hat den VN im
Wege des Schadensersatzes nach Abs. 5 so zu stellen, als hätte der VN die erforderliche
Prämienvereinbarung beantragt und somit Versicherungsschutz erhalten.
#293#
Teilt der VN mit, dass er aus dem Schuldienst ausscheidet, seinen Beihilfeanspruch daher
verliert und eine Änderung des Krankenversicherungsvertrags wünscht, so muss der
Versicherer nicht gem. Abs. 4 nachfragen, ob er über den Ehepartner noch beihilfeberechtigt
ist.547
#294#
Umstritten ist es, inwieweit den Versicherer Informationspflichten hinsichtlich strafbarer
Handlungen von Versicherungsvertretern treffen, insbesondere bezüglich einer Veruntreuung
von Geldern der VN.548 Gegen eine unverzügliche generelle Warnpflicht aus § 242 BGB wird
die Unschuldsvermutung vorgebracht. Bei nicht rechtskräftig verurteilten Vermittlern sei
daher die Schwere der Unregelmäßigkeiten gegen die Beeinträchtigung der Geschäftstätigkeit
des Vertreters durch einen Hinweises abzuwägen.549 Eine generelle Informationspflicht wird
544
A.A. LG Offenburg VersR 2002, 177 f.
Zu den Pflichten des Vermittlers und des neuen Versicherers hinsichtlich
der Folgen des Vertragswechsels vgl. OLG Köln r + s 2006, 483.
546 BGH NJW-RR 1988, 23.
547 Vgl. zum alten Recht OLG Hamm NVersZ 2000, 125 = r + s 2000, 211.
548 Abgelehnt von KG VersR 1987, 1196; a.A. LG Berlin VersR 1987, 290
(Vorinstanz).
549 Fausten Ansprüche, S. 166, Fn. 656; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 13.
545
95
daher bei systematisch die VN schädigenden Handlungen zu bejahen sein, bei Einzelfällen über
einen längeren Zeitraum ist sie zu verneinen. Alternativ kann der Versicherer verpflichtet sein,
direkt gegen den Vermittler vorzugehen. Wird diese Pflicht verletzt, haftet der Versicherer
unabhängig vom Bestehen von Informationspflichten.550
#295#
6. Verzicht (Abs. 4 Satz 2). Ein Verzicht des VN auf die Beratung während der
Vertragslaufzeit ist nach Abs. 4 Satz 2 möglich. Er soll freilich nach dem Willen des
Gesetzgebers nicht von vornherein erfolgen können, insbesondere nicht bereits bei
Vertragsschluss, sondern muss von Fall zu Fall vom VN erklärt werden.551 Ein Verzicht im
Versicherungsvertrag, insbesondere durch AVB, auf jede Beratung nach Vertragsschluss
verstößt daher gegen das Leitbild von Abs. 4 Satz 2 und ist somit nach § 307 Abs. 2 Nr.1 BGB
unwirksam.552
#296#
Im Zeitpunkt der Verzichtserklärung muss der Gegenstand der Beratung mithin feststehen, der
Beratungsanlass muss vorliegen und der Versicherer muss auf den von ihm erkannten
Beratungsbedarf zumindest konkludent durch Hinweis auf die Verzichtsmöglichkeit
hingewiesen haben. Der VN kann dann durch die Verzichtserklärung einer unerwünschten
Beratung entgehen.
#297#
Der Verzicht bedarf der Schriftform (vgl. Rdn. *). Zulässig ist es, dass der VN – im konkreten
Einzelfall (s. Rdn. *) – eine vom Versicherer vorformulierte Verzichtserklärung
unterschreibt.553 Abweichend von Abs. 3 stellt das Gesetz keine weiteren Anforderungen auf;
insbesondere bedarf der Verzicht keiner gesonderten Erklärung; zudem hat der Versicherer
nicht auf den möglichen Verlust von Schadensersatzansprüchen hinzuweisen.
VI. Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung
#298#
1. Schadensersatz (Abs. 5). a) Normzweck. Verstößt der Versicherer gegen eine Pflicht aus
Abs. 1, 2 oder 4, so ist er dem VN nach Abs. 5 zum Schadensersatz verpflichtet. Hinsichtlich
der vorvertraglichen Pflichten handelt es sich um eine Spezialregelung der Haftung aus c.i.c.
(§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB), hinsichtlich der Pflichten während der
Vertragslaufzeit der Haftung nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.554 Die Regelung hat nach
550
Fausten Ansprüche, S. 166, Fn. 656.
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59; Armbrüster ZVersWiss 2008, 425,
434.
552 Vgl. Blankenburg VersR 2008, 1446, 1449; Marlow/Spuhl Das Neue VVG
kompakt, S. 27; Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 108.
553 A.A. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 41.
554 Dörner/Staudinger WM 2006, 1710, 1711; Franz VersR 2008, 298, 300;
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 108. Vgl. auch Wandt in Handbuch des
Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 282.
551
96
Willen des Gesetzgebers insbesondere klarstellende Funktion.555 Inhaltlich handelt es sich
um eine Haftung für enttäuschtes Vertrauen des VN in das Verhalten des Versicherers.556 Sie
greift auch, wenn kein Vertrag zustande gekommen ist.557 Haftungserleichterungen sind
aufgrund des halbzwingenden Charakters der Vorschrift gem. § 18 nicht möglich558 (s. aber zur
Verzichtsmöglichkeit Rdn. *).
#299#
b) Haftungsbegründung. aa) Pflichtverletzung. Die Schadensersatzpflicht setzt die
Verletzung einer Beratungspflicht voraus. Die vorvertragliche Beratungspflicht wird verletzt,
wenn der Versicherer einen objektiv bestehenden Beratungsbedarf des VN nicht erfragt oder
nicht entsprechend des festgestellten Bedarfs berät. Auch wenn der Versicherer seinen Rat
nicht begründet oder die Dokumentation unterlässt, kommt eine Haftung für dadurch
verursachte Schäden in Betracht.559 Eine Verletzung von Beratungspflichten während der
Vertragslaufzeit liegt vor, wenn der Versicherer trotz erkennbaren Beratungsbedarfs nicht
diesbezüglich nachfragt und entsprechend berät.
#300#
Außer bei unterlassener Beratung (Nachfrage, Dokumentation) liegt eine Pflichtverletzung auch
dann vor, wenn die Beratung etc. unvollständig oder verspätet erfolgt sowie wenn sie
inhaltlich falsch ist.
#301#
Für fehlerhafte freiwillige (überobligationsmäßige) Auskünfte des Versicherers gilt Abs. 5
dagegen nicht, da insoweit keine Beratungspflicht nach Abs. 1, 2, 4 besteht. Insoweit haftet der
Versicherer nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 280 I, (311 II,) 241 II BGB (zur
Abgrenzung zwischen Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *).560
#302#
bb) Zurechnung des Verhaltens Dritter. Der Versicherer haftet gem. § 278 S. 1 BGB für
seine Angestellten und Vertreter als seine Erfüllungsgehilfen. Darunter fallen angestellte
Mitarbeiter des Versicherers, namentlich Außendienstmitarbeiter,561 aber auch
555
Regierungsbegr. zu § 42c a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 59.
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
557Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 282.
558 Vgl. Blankenburg VersR 2008, 1446, 1447.
559 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 43; Marlow/Spuhl Das Neue
VVG kompakt, S. 29 f.; Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 108 f. Anders
noch die Reformkommission, Abschlussbericht (zu § 6 Abs. 4). Skeptisch
hinsichtlich der Dokumentationspflichtverletzung Rixecker in VersR-Hdb. §
18a Rdn. 29.
560 S. dazu demnächst Stöbener Informations- und Beratungspflichten des
Versicherers.
561 BGH VersR 1987, 147 f. = NJW-RR 1987, 473 f.; so auch zur neuen
Rechtslage Armbrüster ZVersWiss 2008, 425, 434; Werber VersR 2008, 285,
287.
556
97
Innendienstmitarbeiter562, wenn sie am Telefon fehlerhafte Hinweise erteilen.563 Für
Ausschließlichkeitsvertreter und für sog. unechte Mehrfachvertreter, die für mehrere nicht
miteinander in Wettbewerb stehende Versicherer tätig sind, wird der Versicherer regelmäßig
eine uneingeschränkte Haftung übernehmen, um eine gewerberechtliche Erlaubnispflicht zu
vermeiden (vgl. §§ 34d Abs. 4 Nr. 2 GewO, 80 Abs. 3 S. 2 VAG, 6 Abs. 2 VersVermV).564
Vertragliche Abweichungen hiervon im Innenverhältnis, wie ein Regress des Versicherers,
wirken nicht auf das Außenverhältnis zum VN.
#303#
Makler sind dagegen Sachwalter des VN und daher grundsätzlich keine Erfüllungsgehilfen.565
Auch die gegenseitige Erfüllungswirkung scheidet mangels Gesamtschuldnerschaft aufgrund
fehlender identischer Pflichten aus.566 Grundsätzlich ist der Versicherer nicht zur Beratung
verpflichtet, wenn der VN durch einen Makler beraten wird (s. noch Rdn. *). Es kann jedoch zu
einer (Mit-) Haftung kommen, wenn der Versicherer ausnahmsweise dennoch gem. § 242 BGB
(vgl. Rdn. *) oder aus einem konkludenten Beratungsvertrag haftet, etwa wenn der Makler
einen Mitarbeiter des Versicherers in die Lösung einer komplizierten Deckungsgestaltung
einbezogen hat und der Fehler vom Mitarbeiter herrührt.
#304#
Problematisch ist die Haftung des Versicherers für selbstständige Versicherungsvertreter, also
echte Mehrfachvertreter, die die Produkte mehrerer, in Konkurrenz stehender Versicherer
vertreiben. Nach bisheriger Rechtsprechung sind auch diese Personen Erfüllungsgehilfen.567
Mit Umsetzung der Vermittlerrichtlinie sind dem Vertreter erstmalig vertragliche Pflichten
gegenüber dem VN auferlegt worden, obwohl er nicht Vertragspartei des vermittelten
Versicherungsvertrags ist.568 Er erfüllt daher mit der Beratung auch eigene Pflichten. Wie das
Verhältnis zwischen Pflichten des Versicherers und des Vermittlers zueinander ist, ist
gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Richtigerweise haftet der Versicherer auch für
562
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 36.
OLG Köln VersR 1998, 180; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 36; Römer VersR
1998, 1313, 1314; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 181.
564 Armbrüster ZVersWiss 2008, 425, 434; Werber VersR 2008, 285, 287.
565 Zur neuen Rechtslage Armbrüster ZVersWiss 2008, 434; Werber VersR
2007, 1153, 1154; s. auch Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 130.
566 Armbrüster ZVersWiss 2008, 434; Werber VersR 2008, 285, 286.
567 BGH VersR 1979, 709, 711; NJW 1998, 2898, 2899; VersR 1992, 217 =
NJW 1992, 828, 829; OLG Karlsruhe VersR 1988, 486 = NJW-RR 1987, 922;
OLG Nürnberg VersR 1994, 585 = NJW-RR 1994, 1515; Kollhosser in P/M
§ 43 Rdn. 36; Langheid in R/L § 43 Rdn. 47; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn.
129.; a.A. für das neue Recht Reiff Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch,
S. 82: Der Versicherer hafte nur für seinen Ausschließlichkeitsvertreter, wenn
er die „uneingeschränkte Haftung“ übernimmt, was er, wie § 34d Abs. 4 GewO
belegt, tun könne, aber nicht müsse.
568 Abschlussbericht S. 14. Der BGH (VersR 1991, 1052, 1053) hatte eine
Eigenhaftung des Versicherungsagenten neben dem Versicherer nur unter sehr
engen Voraussetzungen im Rahmen der Sachwalterhaftung angenommen; vgl.
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 181.
563
98
selbstständige Versicherungsvertreter weiterhin nach § 278 BGB.569 Nimmt der Versicherer
die Dienste eines Vertreters in Anspruch, so erfüllt dieser mit der Befragung, Beratung und
Dokumentation gem. § 61 nämlich gleichzeitig die Pflicht des Versicherers aus Abs. 1 Satz
1.570
#305#
Aus der eigenen Beratungspflicht des Vermittlers gem.§ 61 folgt freilich, dass Versicherer und
Vermittler jedenfalls hinsichtlich der vorvertraglichen Beratungspflichten in einem
Gesamtschuldverhältnis stehen. Da die Beratungspflichten identisch und nur einmal zu
erfüllen sind, liegt ein identisches Leistungsinteresse vor, die Pflichten sind gleichstufig und
beide Schuldner stehen in einer Tilgungsgemeinschaft.571 Nach § 422 BGB kommt dem
Versicherer die Erfüllung der Beratungspflicht durch den Vertreter zugute.572 Hinsichtlich der
Verletzung der Pflicht gilt freilich nach § 425 BGB an sich der Grundsatz der Einzelwirkung.
Danach würde der Versicherer nicht für eine fehlerhafte oder unvollständige Beratung des
Vertreters haften, da hier die Einzelwirkung greift, sondern nur, wenn die Beratung vollständig
ausbleibt, weil dann die Erfüllungswirkung des § 422 BGB entfällt. Für
Ausschließlichkeitsvertreter sehen §§ 34d Abs. 4 GewO, 80 Abs. 3 VAG 6 Abs. 2 VersVermV
eine uneingeschränkte Haftungsübernahme im Außenverhältnis vor (s. Rdn. *) Aber auch
hinsichtlich der Zusammenarbeit des Versicherers mit einem echten Mehrfachvertreter, der die
Produkte mehrerer, in Konkurrenz stehender Versicherer vertreibt, ergibt sich aus dem
Schuldverhältnis, dass der VN eine Haftung des Versicherers für eine Fehlberatung durch den
VN erwarten darf. Daher ist im Bereich des § 6 eine Ausnahme vom Grundsatz der
Einzelwirkung zu machen.573 Spiegelbildlich hierzu wirkt auch ein Mitverschulden des VN
i.S.d. § 254 BGB gegenüber allen Gesamtschuldnern, also Versicherer und Vertreter.574
#306#
Unternehmen, die Versicherungsprodukte im Annexvertrieb vermitteln, treffen gem. § 66
keine Beratungs- und Dokumentationspflichten nach § 61. Für den Versicherer muss dies
analog gelten, so dass lediglich. Aufklärungspflichten aus Treu und Glauben in Betracht
kommen (s. dazu Rdn. *).
#307#
Ist infolge einer Fehlberatung durch einen Mehrfachvertreter ein Vertragsschluss
unterblieben, so haftet allein der Vertreter, wenn er dem Kunden einen nicht mit der
gewünschten Deckung stehenden Ratschlag erteilt oder vorab grundsätzliche Hinweise gibt,
569
Armbrüster ZVersWiss 2008, 435; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 44; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 129; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn.
32; Werber VersR 2008, 285, 289, kritischer noch ders. VersR 2007, 1153,
1154: a.A. Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 23.
570 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 58.
571 Werber VersR 2008, 285; dem folgend Armbrüster ZVersWiss 2008, 425,
435; so auch Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 23; Rixecker in
VersR-Hdb. § 18a Rdn. 32.
572 Werber VersR 2008, 285, 286.
573 Armbrüster ZVersWiss 2008, 435; Werber VersR 2008, 285, 288 f. (abw.
noch ders., VersR 2007, 1153, 1154); a.A. Reiff Versicherungsvermittlerrecht
im Umbruch, S. 82.
574 Bydlinski in MünchKomm-BGB § 425 Rdn. 21.
99
noch bevor er einen von ihm vertretenen Versicherer einbezogen hat. Ein Beispiel bildet der
Fall, dass der Vertreter über steuerliche Rahmenbedingungen fehlerhaft aufgeklärt hat, wodurch
der Kunde zu Unrecht vom Vertragsschluss abgehalten wurde.575 In diesem Fall hat der
Vertreter (noch) nicht als Erfüllungsgehilfe des Versicherers gehandelt, da ein solcher
Geschäftsherr noch nicht konkretisiert war und ihn folglich keine Pflicht aus Abs. 1 treffen
konnte.
#308#
cc) Vertetenmüssen. Keine Schadensersatzpflicht besteht, wenn der Versicherer die
Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat (Abs. 5 Satz 2). Durch diese Formulierung wird die
Beweislast für das Nichtvertretenmüssen entsprechend der allgemeinen Regel des § 280 Abs. 1
Satz 2 BGB dem Versicherer aufgebürdet.576 Für den Inhalt des Vertretenmüssens gelten die
§§ 276, 278 BGB. Zu vertreten hat der Versicherer die Beratungspflichtverletzung demnach
insbesondere bei eigenem Verschulden (Vorsatz und Fahrlässigkeit; § 276 BGB) und solchem
seiner Erfüllungsgehilfen.577
#309#
Die Erkennbarkeit des Beratungsanlasses gehört nach der hier vertretenen Ansicht (s. Rdn. *)
nicht zum Vertretenmüssen, sondern bereits zu den Tatbestandsvoraussetzungen der
Beratungspflicht. Macht sich etwa der VN irrige und zugleich ungewöhnliche Vorstellungen
über die Reichweite des Versicherungsschutzes, so wird der Irrtum nicht nach außen erkennbar
und ist typischerweise auch nicht zu erwarten. Dadurch fehlt es bereits an einem objektiven
Anlass, so dass der Versicherer schon nicht pflichtwidrig handelt.
#310#
c) Haftungsausfüllung. aa) Naturalrestitution (§ 240 Abs. 1 BGB). Liegen die
haftungsbegründenden Voraussetzungen vor, so hat der Versicherer dem VN den durch die
Verletzung der Beratungspflicht entstandenen Schaden zu ersetzen. Der VN ist so zu stellen,
wie er ohne die Beratungspflichtverletzung, also bei ordnungsgemäßer Beratung, stünde (vgl.
§ 249 Abs. 1 BGB; Grundsatz der Naturalrestitution).578 Der Anspruch ist somit grundsätzlich
auf das negative Interesse, nämlich den Ersatz des Vertrauensschadens gerichtet.579 Hätte der
VN bei ordnungsgemäßer Beratung den Vertrag nicht geschlossen, so hat dieser einen
Anspruch auf Rückgängigmachung des Vertrags unter Zurückzahlung eingezahlter Prämien
575
Werber VersR 2008, 285, 289.
Heinrichs in Palandt § 280 Rdn. 34; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 133.
577 Vgl. zur Haftung des Versicherers für seine Ausschließlichkeitsvertreter
unter Hinweis auf die „Auge-und-Ohr-Rechtsprechung“ Begründung zu § 34d
IV GewO, BT-Dr. 16/1935, S. 19.
578 BGH VersR 1981, 621, 623 f.; VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59;
NJW 2006, 3139, 3141; OLG Hamm VersR 1988, 623; VersR 1991, 914;
Dörner in FS E. Lorenz S. 195; Franz VersR 2008, 298, 300; Heinrichs in
Palandt Vor § 249 Rdn. 18, § 280 Rdn. 32; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 137;
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180; ähnlich Langheid in R/L § 43 Rdn. 51.
579 BGH NJW 2006, 3139, 3141; OLG Nürnberg VersR 1994, 585 = NJW-RR
1994, 1515; a.A. Theisen NJW 2006, 3102, 3104.
576
100
und Ersatz des Zinsschadens oder entgangenen Gewinns.580 Wäre bei ordnungsgemäßer
Beratung der Versicherungsvertrag zu für den VN günstigeren Bedingungen zustande
gekommen oder hätte er rechtzeitig anderweitig entsprechenden Versicherungsschutz erhalten,
so ist der VN so zu stellen, als wäre der Versicherungsvertrag mit dem von ihm gewünschten
Deckungsschutz zustandegekommen.581 So ist etwa im Fall der Europa-Klausel Deckung auch
für im nicht-europäischen Ausland entstandene Schäden zu leisten (vgl. Rdn. *). Ein darüber
hinausgehender Vermögensschaden ist im Rahmen der Naturalrestitution nach § 249 BGB nicht
erforderlich, da der Schaden schon im Vertragsschluss, der vertraglichen Bindung liegt und in
erster Linie die Willensfreiheit geschützt wird.582
#311#
Die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Schadens trägt grundsätzlich der VN.
Allerdings kommt ihm eine Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens zugute (näher Rdn.
*). Diese bezieht sich allerdings nur darauf, dass der VN bei ordnungsgemäßer Beratung den
ungünstigen Vertrag nicht so geschlossen hätte, nicht hingegen darauf, dass und mit welchem
Inhalt ein anderer, günstigerer Vertrag geschlossen worden wäre. Ob sich der Versicherer auf
die für den VN günstigeren Bedingungen (bei unveränderter Prämie) eingelassen hätte, steht
nämlich nicht von vornherein fest. Im Streitfall obliegt es dem VN zu beweisen, dass der
Vertrag zu den günstigeren Bedingungen zustande gekommen wäre. Ein Wahlrecht zwischen
dem Anspruch auf Aufhebung und auf Anpassung des Vertrags hat er hingegen nicht.583
Allerdings steht dem VN, wenn dieser an dem für ihn ungünstigen Vertrag festhält, neben der
580
OLG Düsseldorf VersR 2001, 705, 706 (betr. Rentenversicherung): Dörner
in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 57; ders. in FS E. Lorenz, S. 195, 197;
Dörner/Staudinger
WM
2006,
1710,
1711;
Ebers,
in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 46; vgl. auch BGH VersR 1981, 621, 623
f. Skeptisch hinsichtlich des Beweises, dass die Beratungspflichtverletzung
zum Vertragsschluss geführt hat, Franz VersR 2008, 298, 300.
581 BGHZ 40, 22, 28 = NJW 1963, 1978, 1980; BGH VersR 1989, 472, 473 = r
+ s 1989, 58, 59; BGHZ 108, 200 = NJW 1989, 3095, 3096; OLG Hamm
NJW-RR 2001, 239 = r + s 2001, 334, 336 f.; OLG Saarbrücken r + s 2005, 14,
16; OLG Koblenz VersR 2007, 482, 484; LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.;
Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 57; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 46; Gruber in BK § 43 Rdn. 39; Ihle
Informationsschutz, S. 216; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 40; Schirmer r + s
1999, 133, 177, 180; s. auch Theisen NJW 2006, 3102, 3104 f.
582 Zur Problematik ausführlich Kindl in Erman § 311 Rdn. 43; vgl. auch
Canaris AcP 200 (2000), 273, 315; Ihle Informationsschutz, S. 215 f.; Kersting
JZ 2008, 714, 718; S. Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag,
1997, S. 388 ff.; a.A. Dörner in FS E. Lorenz S. 195, 196; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 45; Lieb in FS Medicus S. 337, 342 f..;
Fleischer AcP 200 (2000), 91, 111 f.; Oetker in MünchKomm-BGB § 249
Rdn. 338; vgl. auch Huber in Karlsruher Forum 2000, S. 5, 36.
583 S. zum Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB BGH
NJW 2006, 3139, 3141; Grüneberg in Palandt § 311 Rdn. 57; Kersting JZ
2008, 714, 716 f.; gegen ein solches „Minderungsrecht“ nach alter
Rechtsprechung S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 78
f.; Kindl in Erman § 311 Rdn. 43; Emmerich in MünchKomm-BGB § 311 Rdn.
271.
101
Vertragserfüllung nach § 251 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Ersatz des Differenzbetrags, um
den die Leistung zu teuer erworben wurde (Restvertrauensschaden) zu.584
#312#
Ist am Markt Versicherungsschutz in der Form erhältlich, wie er sich für den VN aus der
Beratung ergeben hätte, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass bei ordnungsgemäßer
Beratung der Versicherungsvertrag zu den für den VN günstigeren Bedingungen zustande
gekommen wäre oder er rechtzeitig anderweitig entsprechenden Versicherungsschutz erlangt
hätte.585 Dann wird auch der Vertrauensschaden in seinem Umfang mit dem positiven Interesse
übereinstimmen, und der VN erhält eine „Quasi-Deckung“, muss sich allerdings die
Prämiendifferenz anrechnen lassen (s. Rdn. *). Der Versicherer ist verpflichtet, den VN im
Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als ob die Gegenstände ordnungs- und wunschgemäß
versichert gewesen wären.586
#313#
Kam es beispielsweise aufgrund einer Beratungspflichtverletzung zu einer Unterversicherung,
so hat der Versicherer den VN so zu stellen, wie er stünde, wenn ein Vertrag mit der richtigen
Versicherungssumme nach dem Neuwert zustande gekommen wäre. Der Versicherer ist also
verpflichtet, den aufgrund des Eintritts des Versicherungsfalls entstandenen Schaden in vollem
Umfang zu regulieren.587 Dies bedeutet nicht, dass der Versicherer „gehindert [wäre], sich auf
Unterversicherung zu berufen“.588 Vielmehr ändert sich an der vertraglichen Regelung nichts:
Eine Unterversicherung mit den Folgen des § 75 besteht, der VN bekommt seinen Schaden aber
gem. Abs. 5 i. V. mit § 249 Abs. 1 BGB ersetzt.
#314#
Wurde eine Sache aufgrund einer Beratungspflichtverletzung nicht hinreichend versichert, ist
grundsätzlich der Zeitwert der Sache zu ersetzen, nicht ihr Neuwert.589 Dies gilt freilich nicht,
wenn der VN nachweisen kann, dass er eine Neuwertversicherung abgeschlossen hätte.
584
BGHZ 69, 53, 56 = NJW 1977, 1536, 1538; Canaris AcP 200 (2000), 273,
315 f.; Czub ZfIR 2007, 41, 52; a.A. Kersting JZ 2008, 714, 717-719.
585 BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978, 1980: „die Parteien [hätten] mit
Sicherheit den Vertrag auf die Türkei erstreckt“; BGH VersR 1989, 472, 473 =
r + s 1989, 58, 59; BGHZ 108, 200 = NJW 1989, 3095, 3096; OLG Koblenz
VersR 2007, 482, 484; LG Stuttgart VersR 2002, 835 f.; Dörner in Karlsruher
Forum 2000, S. 39, 57; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 46;
Gruber in BK § 43 Rdn. 39; Ihle Informationsschutz, S. 216; Kollhosser in
P/M § 43 Rdn. 40; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
586 BGH VersR 1987, 147, 148 = NJW-RR 1987, 473, 474; Dörner in
Karlsruher Forum 2000, S. 39, 57; ders. in FS E. Lorenz S. 195, 197;
Dörner/Staudinger
WM
2006,
1710,
1711;
Ebers
in
Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn.
46;
Münkel
in
Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 46.
587 OLG Koblenz VersR 1997, 1226; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
588 Ähnlich BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s 1989, 58, 59.
589 Langheid in R/L § 43 Rdn. 51.
102
#315#
Hat ein VN eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen, weil der Versicherer überhöhte,
nämlich auf veralteten und in Kürze zu ändernden Sterbetafeln basierende, Prognosen
hinsichtlich der Gewinnbeteiligung getroffen hat,590 so kann sich der VN im Rahmen des
Schadensersatzes vom Vertrag lösen und ohne weiteres einen Zinsschaden in Höhe der Rendite
kurzfristiger Geldanlagen ersetzt verlangen. Die Rendite eines Aktienfonds kann hingegen
regelmäßig nicht beansprucht werden, da es sich dabei im Unterscheid zu einer
Lebensversicherung um eine spekulative Anlageform ohne gesicherte Mindestrendite handelt,
so dass typischerweise nicht feststeht, dass ein entsprechender Vertrag abgeschlossen worden
wäre.591
#316#
Ein Anspruch auf die Gewinnbeteiligung und damit auf das positive Interesse besteht nicht.592
#317#
Hat der VN aufgrund einer Fehlberatung den Krankenversicherer gewechselt und dadurch die
Alterrückstellungn verloren, so liegt der ersatzfähige Schäden nicht in der verlorenen
Rückstellung, sondern in der Differenz zwischen den von ihm jetzt gezahlten Prämien und den
an seinen früheren Versicherer sonst zu leistenden Beiträgen als einem konkreten
Vermögensverlust.593
#318#
bb) Haftungsausfüllende Kausalität. Zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden muss
ein Zurechnungszusammenhang bestehen; dieser muss durch die Beratungs- oder
Dokumentationspflichtverletzung
verursacht
worden
sein.
Da
es
sich
bei
Aufklärungspflichtverletzungen um ein pflichtwidriges Unterlassen handelt, setzt Kausalität
voraus, dass der Schaden in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit entfiele, wenn man das pflichtgemäße Tun, die Beratung und Aufklärung,
hinzudenkt.594 Darüber hinaus sind über die Adäquanztheorie unwahrscheinliche
Ursachenzusammenhänge ausgeschlossen. Schließlich wird der Schaden nur zugerechnet, wenn
er den Gefahren zugeordnet werden kann, zu deren Abwendung § 6 geschaffen wurde
(Schutzzweck der Norm).595
#319#
Der Beweis der Kausalität ist grundsätzlich Aufgabe des anspruchstellenden VN. Im Bereich
der Beratungspflichtverletzung fällt es dem Geschädigten meist schwer nachzuweisen, wie er
auf einen pflichtgemäßen Hinweis reagiert hätte. Diese Schwierigkeiten hat der Versicherer
durch die Informationspflichtverletzung ausgelöst.596 Um die typische Beweisnot zu lindern
und die mit dem Schadensersatzanspruch verbundene Präventionswirkung für den
Aufklärungspflichtigen nicht durch mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der Ansprüche zu
590
Hierzu auch § 7 VVG und Verletzung der Wahrheitspflicht.
OLG Düsseldorf VersR 2001, 705 = VuR 2001, 31, 33; Schwintowski VuR
1997, 83, 94: langfristige Anlageverträge bei Bank und Investmentgesellschaft.
592 A.A. OLG Düsseldorf VersR 2000, 1357, 1358 (betr. Änderungsvorbehalt).
593 BGH VersR 2006, 1072, 1073.
594 BGHZ 64, 46, 51; Canaris in FS Hadding S. 3, 13.
595 Vgl. allg. Heinrichs in Palandt Vor § 249 Rdn. 54-62.
596 Römer Informationspflichten, S. 38; vgl. auch Stodolkowitz VersR 1994, 11.
591
103
schmälern,597 greift zugunsten des VN eine Beweislastumkehr ein:598 Steht fest, dass der
Schaden nicht eingetreten wäre, wenn der ordnungsgemäße Rat erteilt und befolgt worden
wäre, weil sich der VN vernünftigerweise nicht über den erteilten Rat hätte hinwegsetzen
können, dann wird vermutet, dass sich der VN aufklärungsgemäß verhalten hätte. Der
Versicherer ist für das Gegenteil beweispflichtig.599 So muss der Versicherer etwa beweisen,
dass der VN einen umfangreicheren Schutz aufgrund der damit verbundenen höheren Prämie
nicht vereinbart hätte.600 Dass der VN stets auf Prämienreduktion bedacht gewesen ist, ändert
an der Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens zumindest dann nichts, wenn er außerdem
umfassenden Versicherungsschutz wollte.601 Die Vermutung gilt hingegen nicht, wenn der VN
trotz mehrerer Angebote zur Umstellung auf teilweise vorteilhaftere AVB nicht gewechselt
hat.602
#320#
Die Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens gilt nicht, wenn bei ordnungsgemäßer
Aufklärung mehrere gleichwertige, aber mit unterschiedlichen Folgen verbundene
Möglichkeiten vernünftigen Verhaltens existierten, also ein Entscheidungskonflikt bestand, es
sei denn alle Entscheidungsalternativen hätten den Schaden vermieden.603 Ein solcher Konflikt
ist etwa dann anzunehmen, wenn bei der privaten Rentenversicherung eine Absicherung des
eingezahlten Kapitals zu einer niedrigeren monatlichen Rentenzahlung geführt, dafür den Erben
bei einem frühzeitigen Versterben einen Vorteil verschafft hätte.604
597
BGH NJW 1961, 868, 870; BGHZ 61, 118, 122; Canaris in FS Hadding S.
3, 4.
598 BGHZ 61, 118, 122; 64, 46, 51; näher Canaris in FS Hadding S. 3, 4 ff.;
abw. (Anscheinsbeweis) BGH NJW 1994, 1472, 1475; Heinrichs in Palandt
§ 280 Rdn. 39; S. Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 443;
Stodolkowitz VersR 1994, 11, 13 f.
599 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 47; Marlow/Spuhl Das Neue
VVG kompakt, S. 30; Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 135 f. Zum alten Recht s.
BGHZ 61, 118, 122; BGHZ 64, 46, 51; BGH VersR 1989, 472, 473 = r + s
1989, 58, 59; OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 904, 905; OLG Koblenz r + s
1997, 93, 94 f. = VersR 1997, 1226; OLG Hamm NJW-RR 2001, 239 = r + s
2001, 334, 336 f.; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 57; ders. in FS E.
Lorenz 195, 197; Gruber in BK § 43 Rdn. 39; Heinrichs in Palandt § 280 Rdn.
39; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 38; Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 14; für
Versicherungsmakler:
BGH
VersR
1985,
930,
931;
Römer
Informationspflichten, S. 36 f.; Roth in MünchKomm-BGB § 241 Rdn. 167b;
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 186. S. auch Canaris in FS Hadding S. 3, 15.
600 OLG Saarbrücken VersR 2003, 195, 196 = r + s 2002, 294, 295.
601 OLG Hamm NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239, 241; anders die
Fallgestaltung in OLG Hamm VersR 2005, 685.
602 OLG Hamm NJW-RR 2000, 982, 983.
603 BGHZ 123, 311, 314 = NJW 1993, 3259; BGH NJW 2001, 2021; OLG
Hamm NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239, 241; Heinrichs in Palandt
§ 280 Rdn. 39; Stodolkowitz VersR 1994, 11, 12.
604 OLG Stuttgart r + s 2009, 28, 30.
104
#321#
Ein Schaden ist nicht kausal durch die Pflichtverletzung verursacht, wenn er auch bei korrekter
Aufklärung und beratungsgerechtem Verhalten des VN nicht versicherbar gewesen wäre. Dies
betrifft zum einen die Grenze zwingenden Rechts: Zusagen, die gegen zwingendes Recht
verstoßen würden, können keinen kausalen Schaden verursachen, weil der VN auch bei
korrekter Beratung bei keinem Versicherer einen entsprechenden Versicherungsschutz erhalten
hätte;605 sein Vertrauen ist dann nicht schutzwürdig.
#322#
Auch ein mangelndes Angebot am Markt unterbricht regelmäßig den Kausalzusammenhang:
Schäden aufgrund von Risiken, die faktisch nicht versicherbar sind, beruhen nicht kausal auf
der Beratungspflichtverletzung und sind daher nicht ersatzfähig.606 Die Kausalität könnte nur
dann bejaht werden, wenn der VN allein im Vertrauen auf den Versicherungsschutz das Risiko
eingegangen ist oder anderenfalls andere Sicherungsmaßnahmen ergriffen hätte.607 Kann etwa
für ein isoliert gelegenes leerstehendes Waldhotel praktisch kein Versicherungsschutz gegen
Vandalismus erlangt werden,so ist zwar das Angebot einer Versicherung mit Risikoausschluss
für Vandalismusschäden trotz des Wunsches nach umfassender Absicherung als
Beratungspflichtverletzung anzusehen; es ist jedoch kein kausaler Schadens entstanden.608 Die
Beweislast hinsichtlich anderweitig erhältlichen Deckungsschutzes liegt beim VN. Insoweit
geht es nicht um die Unaufklärbarkeit subjektiven Verhaltens, das durch die
Informationspflichtverletzung verursacht wurde, so dass die Vermutungsregel (s. Rdn. *) nicht
eingreift.609
#323#
Entsprechendes gilt für den Fall, dass zwar Versicherungsschutz auf dem Markt existiert, aber
nur unter bestimmten Voraussetzungen angeboten wird, die der VN nicht erfüllt.610 So hat ein
VN ohne Berufsausbildung darzulegen und zu beweisen, dass er anderweitig nicht nur sein
Erwerbsunfähigkeits-, sondern auch das Berufsunfähigkeitsrisiko hätte versichern können.611
Gleichfalls hat der VN hat darzulegen und zu beweisen, dass sein Antrag auf Abschluss einer
Lebensversicherung und einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung trotz seines
Drogenkonsums – ggf. gegen Risikoaufschlag – angenommen worden wäre.612
605
OLG Düsseldorf VersR 1998, 1366*; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
OLG Köln VersR 1990, 1381, 1382 (Versicherungsschutz für vorhandene
Gesundheitsstörungen); Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 47;
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
607 Schirmer r + s 1999, 133, 177; vgl. auch die Argumentation des OLG
Saarbrücken r + s 2005, 14, 16.
608 OLG Karlsruhe VersR 1994, 1169 (Ls.); zur Beweislastverteilung s.
Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 38 a.E.; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
609 Heinrichs in Palandt § 280 Rdn. 39; Römer Informationspflichten, S. 38;
vgl. auch Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 31.
610 OLG Frankfurt VersR 1990, 782, 738 (funktionstüchtige Alarmanlage);
Schirmer r + s 1999, 133, 177, 183
611 OLG Saarbrücken VersR 2007, 235, 236.
612 OLG Brandenburg r + s 2008, 220; ähnlich OLG Nürnberg VersR 1980, 36,
38 (zur Krankenhauszusatzversicherung); LG Berlin r + s 2000, 344, 345 (zur
Krankentagegeldversicherung).
606
105
#324#
Auch wenn die Beratungspflichtverletzung durch Nachholung der entsprechenden Hinweise
quasi „geheilt“ wurde, bevor der Schaden eingetreten ist, so dass noch genügend Zeit bestand,
das Risiko anderweitig abzudecken, ist die Beratungspflichtverletzung nicht mehr kausal für
den Schaden.613 Es handelt sich dann um einen Fall der Unterbrechung des Kausalverlaufs
durch die eigenverantwortliche Entscheidung des VN, die Deckungslücke trotz
zwischenzeitlicher Beratung nicht zu schließen.
#325#
cc) Mitverschulden (§ 254 BGB). (1) Heranziehbarkeit. Eine Mitverantwortung des VN für
die mangelnde Information und Beratung führt nach der bisherigen Rechtsprechung zur
Minderung oder zum völligen Wegfall des Anspruchs gem. § 254 BGB wegen
Mitverschuldens.614
#326#
Im Schrifttum wird die Anwendbarkeit von § 254 BGB teils kritisch beurteilt. J. Prölss lehnt
sie ab, weil bei Bejahung eines Informationsbedürfnisses und damit einer entsprechenden
Informationspflicht nicht zugleich dem VN eine Obliegenheit zur Selbstinformation auferlegt
werden könne. Hätte der VN bei Beachtung der notwendigen Sorgfalt den Umstand selbst
erkennen können, bestehe bereits kein Beratungsbedürfnis.615 Eine Ausnahme komme nur
dann in Betracht, wenn der VN wissen musste, dass der Versicherer ihn nicht richtig oder
ausreichend aufgeklärt hat und dass er daher Anlass hatte, das Informationsmaterial auf diese
Fragen hin zu überprüfen. Dies gelte auch für das Lesen von AVB.616 Grigoleit nimmt nur
dann ein Mitverschulden an, wenn die Fehlvorstellung des VN weiter reicht als die jeweilige
Beratungspflicht, und wenn sie auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht beseitigt worden
wäre.617
#327#
Den einschränkenden Ansichten ist nicht zu folgen.618 Die Aufklärungspflicht des Versicherers
und die vom VN zu erwartende Sorgfalt bei der Wahrnehmung seiner Interessen sind nämlich
auf dasselbe Ziel gerichtet, nämlich auf die Schaffung einer hinreichenden
613
LG Köln VersR 1985, 381 f.; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn.
45; Römer Informationspflichten, S. 36.
614 S. nur BGH VersR 1968, 467; OLG Hamm VersR 1994, 718, 719 = NJWRR 1994, 484; OLG Frankfurt VersR 2006, 406 f.; im Einzelfall verneint bei
OLG Koblenz r + s 1997, 93, 94 f. = VersR 1997, 1226.
615 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 15; vgl. auch S. Lorenz Der Schutz vor
dem unerwünschten Vertrag, S. 442.
616 Prölss/Martin Vor §§ 6, 7 II Rdn. 15. Beispiel: OLG Saarbrücken VersR
2003, 195, 196 (Hinweis im Versicherungsschein muss bei Zweifeln zur
Nachfrage des VN veranlassen).
617 Grigoleit Vorvertragliche Informationshaftung, S. 258 f.; zustimmend Ebers
in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 48.
618 Für Berücksichtigung eines Mitverschuldens neben der Rspr. etwa auch
Schwintowski in B/M Rdn. 18, 44, 101.
106
Entscheidungsgrundlage für den VN. Somit trägt jede Seite zum Schaden bei, wenn sie die
sie treffenden Verhaltensregeln nicht befolgt.619 Hieran ändert auch die gesetzgeberische
Grundentscheidung dafür nichts, im Rahmen der §§ 28, 81 ein Fehlverhalten des VN erst bei
grober Fahrlässigkeit als bedeutsam zu erachten und auch dann noch nach
Verschuldensanteilen zu quoteln.620 Dies betrifft nämlich nicht Schadensersatzansprüche des
VN, sondern den Verlust des Versicherungsschutzes und damit den Kern des
Leistungsversprechens des Versicherers.
#328#
(2) Kriterien. Bei der Bemessung eines Mitverschuldens sind die Umstände des Einzelfalls wie
die Stellung und Sachkunde des VN (soweit dies nicht schon zur Verneinung einer
Beratungspflicht geführt hat; s. dazu Rdn. *) und der Verschuldensgrad zu berücksichtigen.621
Die bisherige Rechtsprechung hierzu ist uneinheitlich. Insbesondere wenn sich der
Beratungsbedarf durch Lektüre der AVB decken ließe, weil etwa Ausschlüsse klar daraus
ersichtlich sind, wird ein Mitverschulden angenommen. Zurückhaltend verfährt die
Rechtsprechung hingegen bei nicht gewerblich handelnden VN, die umfassenden
Versicherungsschutz gewünscht hatten.622 Dies verdient auch für Abs. 5 Zustimmung.623 Bei
Aufklärungspflichten über den Deckungsumfang wurde ein Mitverschulden tendenziell eher
abgelehnt oder gering bemessen.624 Im Fall der Betriebsverlegung, die dem Versicherer
aufgrund der Adressenänderung erkennbar war und eine Hinweispflicht ausgelöst hat, wurde
der Schadensersatz wegen Mitverschuldens aufgrund der klaren Formulierung der AVB wegen
Mitverschuldens um 25 % gekürzt.625 Wurden die in der sog. Doppelkarte genannten
Voraussetzungen für den Abschluss der Versicherung nicht beachtet, ist trotz entsprechender
Aufklärungspflicht des Versicherers ein Mitverschulden von 50 % angenommen worden.626
Bei der vom Versicherer übernommenen Wertermittlung in der Hausratversicherung wurde
ein hälftiges Mitverschulden des VN bejaht.627 Dasselbe gilt bei ungenauen Aussagen darüber,
welcher Versicherungswert anzugeben ist.628 Ein grobes Mitverschulden mit der Folge eines
vollständigen Anspruchswegfalls wurde selbst bei einer Falschberatung angenommen, wenn der
VN den Anpreisungen des Versicherers oder Vermittlers keinen Glauben schenken durfte, weil
619
Römer Informationspflichten, S. 39.
Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 28; E. Lorenz in FS Canaris S. 757, 774.
621 Schirmer r + s 1999, 133, 177, 180.
622 BGHZ 40, 22 = NJW 1963, 1978, 1980 = VersR 1963, 768 (1/2
Mitverschulden); OLG Karlsruhe VersR 1988, 486 = NJW-RR 1987, 922
(geringes Mitverschulden); OLG Köln VersR 1993, 1385, 1386. OLG Hamm
NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239, 241 sieht ein Mitverschulden von 1/3
vor, wenn der Rechtsanwalt die AVB nicht gelesen hat, auch wenn er
umfassenden Versicherungsschutz wünschte; s. auch OLG Frankfurt VersR
1998, 1103, 1104 (1/2 Mitverschulden). Sehr streng hingegen im Rahmen der
Erfüllungshaftung OLG Düsseldorf VersR 1967, 1189, 1190; r + s 1996, 318;
LG Oldenburg r + s 2000, 86.
623 Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 137; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 31.
624 1/4 Mitverschulden: OLG Hamm VersR 1994, 718, 719 = NJW-RR 1994,
484, 485.
625 OLG Hamm VersR 1994, 718, 719 = NJW-RR 1994, 484, 485.
626 OLG Köln VersR 1998, 180; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 181.
627 OLG Frankfurt VersR 2006, 406, 407.
628 OLG Koblenz r + s 1997, 30, 31.
620
107
ein besonders krasser Widerspruch zwischen AVB und Beratung vorlag.629 Wenn der VN
auf die steuerliche Absetzbarkeit der Lebensversicherungsbeiträge vertraut hat, wurde ein
Mitverschulden von 50 % angenommen.630 Bei Aufklärungspflichten zur korrekten Ermittlung
der Versicherungssumme wurde – insbesondere bei Unternehmern – ein erhebliches
Mitverschulden an der fehlerhaften Berechnung angenommen und ein Anspruch daher gekürzt
oder ausgeschlossen.631
#329#
Abgelehnt wurde ein Mitverschulden, wenn der VN zwar in Ausübung seiner Berufstätigkeit
handelt, aber versicherungsrechtlicher Laie ist und keine weiteren Versicherungen
unterhält.632 Generell lässt sich folgendes sagen: Je unerfahrener der VN in
Versicherungsangelegenheiten ist, desto geringer ist ein Mitverschulden anzusetzen. Hat der
VN gezielt nachgefragt, ob ein Risiko abgedeckt ist, oder laienhaft geschildert, welches Risiko
abgedeckt sein soll, und dies ist dennoch nicht der Fall, so ist auch bei eindeutig
anderslautenden AVB das Mitverschulden gering anzusetzen.633 Bei Verstärkung der
Fehlvorstellung durch den Versicherer ist ein Mitverschulden ganz zu verneinen.634
#330#
dd) Vorteilsanrechnung. Ein Schadensersatzanspruch ist im Wege der Vorteilsanrechnung zu
kürzen um den Differenzbetrag zwischen der vertraglich vereinbarten Prämie und jener, die
sich bei richtiger Beratung und entsprechender Abdeckung weiterer Risiken ergeben hätte. 635
Der Schadensersatzanspruch schützt nämlich nicht die Erwartung des VN, für die vereinbarte
Prämie die seiner Vorstellung entsprechende Versicherungsleistung zu erhalten, sondern soll
nur den erlittenen Schaden ausgleichen (s. Rdn. *). Aus diesem Grund kann auch das
629
LG Oldenburg r + s 1999, 139; vgl. auch OLG Frankfurt VersR 1999, 1397
= r + s 2000, 84, 85.
630 OLG Hamm VersR 1988, 623, 624.
631 1/3 Mitverschulden: OLG Hamm VersR 1984, 853, OLG Köln VersR 1994,
342, 343; 854 (Gewerbetreibender, Wunsch nach umfassendem
Versicherungsschutz); hälftiges Mitverschulden: OLG Saarbrücken VersR
2003, 195, 197 = r + s 2002, 294, 296 (Versicherungswert 1914, wenn im
Versicherungsschein
auf
Unterversicherungsrisiko
hingewiesen).
Überwiegendes Mitverschulden: OLG Hamm VersR 1984, 880; OLG
Düsseldorf VersR 1998, 845, 846; OLG Hamm NJW-RR 1996, 1375; vgl. auch
Fausten Ansprüche, S. 170. Mitverschulden ablehnend OLG Koblenz r + s
1997, 93, 95 = VersR 1997, 1226 (betr. Versicherungswert 1914).
632 OLG Koblenz r + s 1997, 93, 95 = VersR 1997, 1226.
633 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 31; für den Wunsch nach umfassendem
Versicherungsschutz OLG Hamm NVersZ 2001, 88 = NJW-RR 2001, 239,
241.
634 Römer VersR 1998, 1313, 1321.
635 BGH NJW 1972, 822, 824 = VersR 1972, 530; BGH VersR 1989, 472, 473
= r + s 1989, 58, 59; OLG Stuttgart NJW-RR 1986, 904, 905; OLG Koblenz r
+ s 1997, 93, 95 = VersR 1997, 1226; OLG Frankfurt VersR 2006, 406, 407;
Armbrüster VersR 1997, 931, 937; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39,
57; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 46; Schirmer r + s 1999, 133,
177, 180.
108
Argument, dass insbesondere bei langen Vertragslaufzeiten ein Vorteilsausgleich den
Schadensersatzanspruch aufzehren könnte, nicht überzeugen, da in diesem Fall letztlich kein
Schaden vorliegt.636 Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Vorteilsausgleichs liegt
beim Versicherer.
#331#
ee) Beweislast. Macht der VN Schadensersatz nach Abs. 5 geltend, so hat er als
anspruchsbegründende Tatsache die Verletzung der Beratungspflicht – in Gestalt
unterbliebener oder fehlerhafter Beratung – darzulegen und zu beweisen.637 Dabei helfen ihm
Lücken in der Dokumentation, da sie auf eine pflichtwidrig unterlassene Beratung hindeuten,
so dass dem Versicherer der Entlastungsbeweis für eine dennoch ordnungsgemäße Beratung
auferlegt wird (s. Rdn. *).638
#332#
2. Gewohnheitsrechtliche Erfüllungshaftung. Streit besteht darüber, ob die
Schadensersatzhaftung an die Stelle der bisherigen gewohnheitsrechtlichen Erfüllungshaftung
tritt.639 Jene Haftung ist in der Systematik des Vertragsrechts ein Fremdkörper, dessen
Notwendigkeit schon nach alter Rechtslage bezweifelt wurde.640 In den Voraussetzungen
wie Rechtsfolgen weicht sie von den Regeln des allgemeinen Schuldrechts ab:
Sie verlangt also kein Verschulden des Versicherers. Ein Mitverschulden wird nicht
angerechnet;641 allerdings ist die Erfüllungshaftung bei erheblichem Eigenverschulden, d.h.
Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis, des VN vollständig ausgeschlossen.642
Rechtsfolge der Erfüllungshaftung ist nicht wie nach §§ 241 II, 311 II, 280 I BGB der Ersatz
des negativen Interesses. Vielmehr wird der Versicherungsvertrag i.S. der fehlerhaften
636
Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 138; a.A. Hohloch VersR 1980, 107, 117.
Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 30.
638 Begründung zu § 42e a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 26; s. auch Marlow/Spuhl
Das Neue VVG kompakt, S. 30.
639 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 28; E. Lorenz in FS Canaris S. 757, 772 f.;
Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 146; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 52;
Wandt in Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 410;
a.A. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 56; Schimikowski/Höra Das
neue VVG, S. 108; Terbille in Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, § 2 Rdn.
37 ff.; tendenziell wohl auch Schwintowski in B/M Rdn. 5, 43.
640 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 59; ders. in FS E. Lorenz S. 195,
198; Hilgenhövel Erfüllungshaftung, S. 130-146; Kollhosser in P/M § 43 Rdn.
35 a und b; ders. r + s 2001, 89 ff.; E. Lorenz in FS Canaris S. 757, 767 ff.;
Römer VersR 1998, 1313, 1316; ders., Informationspflichten, S. 18. Vgl. auch
Fausten Ansprüche, S. 103, Ihle Informationsschutz, S. 229 Fn. 391.
641 Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 31.
642 BGH VersR 1978, 457; OLG Düsseldorf VersR 1967, 1189, 1190
(Leseobliegenheit bzgl. AVB); OLG Schleswig VersR 1985, 756, 757; OLG
Koblenz VersR 2007, 482, 483 f.; Kollhosser in P/M § 43 Rdn. 31; Langheid
in R/L § 43 Rdn. 44; Schirmer r + s 1999, 133, 177, 179.
637
109
Aufklärung umgestaltet,643 d.h. die Erfüllungshaftung ist auf den Ersatz des positiven
Interesses gerichtet.
#333#
Mit Einführung des Schadensersatzanspruchs nach Abs. 5 ist ein wesentlicher
Anwendungsbereich der Erfüllungshaftung entfallen. Die Gesetzesbegründung äußert sich
hierzu zwar nicht; zudem ist es erklärtes Ziel des Reformgesetzgebers, den Verbraucherschutz
zu stärken.644 Der Schutz durch Abs. 5, § 63 sowie die §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2
BGB bleibt allerdings nicht in beachtlicher Weise hinter jenem der Erfüllungshaftung zurück:
Wenn ein Versicherungsschutz des Inhalts, wie ihn der Versicherer behauptet hat, am Markt
nicht erhältlich ist, würde zwar ein Schadensersatzanspruch an fehlender Kausalität scheitern
(s. Rdn. *). Hierfür wurde die Erfüllungshaftung ursprünglich entwickelt. Allerdings werden die
Fälle, dass ein bestimmtes Risiko nicht gedeckt werden kann, auf dem deregulierten
Versicherungsmarkt immer seltener.645 Zudem kann ein Schadensersatzanspruch bestehen,
wenn der VN bei ordnungsgemäßer Beratung auf andere Weise vorgesorgt hätte, um die
Risiken zu begrenzen oder gar nicht erst zu schaffen, etwa indem er die risikoträchtige
Tätigkeit vollkommen unterlassen hätte (s. Rdn. *). Wo der VN diese Wahl nicht hatte,
erscheint das Vertrauen des VN auf eine am Markt gar nicht erhältliche Deckung nicht
schutzwürdig.646
#334#
Ein weiterer Unterschied zwischen Erfüllungshaftung und Schadensersatzanspruch liegt in der
Anwendbarkeit des § 254 BGB, d.h. der Anrechnung eines Mitverschuldens des VN. Zwar
kommt es insofern zu einer Schlechterstellung des VN, als dass dessen Verschulden bei der
Erfüllungshaftung bis zur Grenze der Erheblichkeit unberücksichtigt blieb. Ein
Schadensersatzanspruchs wird demgegenüber bei erheblichem Verschulden lediglich nach §
254 BGB gekürzt (s. Rdn. *). Die durch Abs. 5 erzielte Rechtsfolge ist mithin keine
schlechtere, sondern lediglich eine andere als diejenige der Erfüllungshaftung. Diese
gesetzgeberische Entscheidung spricht ebenso wie das Abrücken des Reformgesetzgebers vom
Alles-oder-nichts-Prinzip dafür, dass die Erfüllungshaftung durch die Reform obsolet geworden
ist und nicht mehr fortbesteht.647
#335#
643
Kollhosser in P/M § 43, Rdn. 30; Schirmer r + s 1999, 133, 177; a.A. BGH
NJW 1964, 244, 245 f. (es sei nur so zu erfüllen, als ob der Vertrag in dieser
Weise zugunsten des VN zustandegekommen wäre). Für Anspruch erst bei
Eintritt des Versicherungsfalls Canaris Vertrauenshaftung, S. 349. Offen
lassend BGHZ 108, 200 = NJW 1989, 3095, 3096 = VersR 1989, 948.
644 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 47.
645 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 58; Reiff ZVersWiss 2002, 103,
133; ders. in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 146; Wandt in Handbuch des Fachanwalts
Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 409.
646 Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39, 60; so auch Ihle
Informationsschutz, S. 231.
647 Eingehend E. Lorenz in FS Canaris S. 757, 775; so auch Armbrüster
Rechtsfragen, S. 1, 28; Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski Rdn. 43.
110
3. Weitere Rechtsfolgen. Ein klagbarer Erfüllungsanspruch des VN auf Aufklärung durch
den Versicherer besteht nicht.648 Gleiches gilt im Hinblick auf Beratung.
#336#
Einige besondere Rechtsfolgen von Beratungspflichtverletzungen sind vorrangig gegenüber
einem Schadensersatzanspruch, indem sie bereits den Schadenseintritt abwenden. Werden
Zusagen des Vermittlers ggf. durch Individualvereinbarung in den Vertrag einbezogen, weil
eine entsprechende Abschlussvollmacht besteht, so besteht insoweit Deckungsschutz (s. § *
Rdn. *). Auch eine Rechtsscheinvollmacht kann zur Bejahung von Deckungsschutz führen.
Darüber hinaus kann eine unterlassene Aufklärung im Rahmen der Auslegung von AVB zu
einem Deckungsschutzes führen (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *).
#337#
Unabhängig von möglichen Schadensersatzansprüchen wurde zum früheren Recht teils
angenommen,
dass
sich
der
Versicherer
jedenfalls
bei
bestimmten
Beratungspflichtverletzungen – ähnlich wie bei Obliegenheitsverletzungen – nicht auf seine
Leistungsfreiheit oder die Unterversicherung berufen könne, dass also eine „Quasi-Deckung“
bestehe.649 Angesichts der Kodifizierung des Schadensersatzanspruchs in Abs. 5 und der darin
zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers sollte diese extra legem entwickelte
Rechtsfolge nunmehr allein auf die Naturalrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB gestützt
werden. Dem entspricht es, wenn die Regierungsbegründung zu § 75 darauf hinweist, dass dem
Einwand der Unterversicherung ein Schadensersatzanspruch nach Abs. 5 entgegenstehen
kann.650
#338#
Eine Unwirksamkeit des Vertrags aufgrund einer Beratungspflichtverletzung soll nach einer
im Schrifttum vertretenen Ansicht aus § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unter dem Gesichtspunkt der
Intransparenz folgen können.651 Dies überzeugt bereits deshalb nicht, weil die Transparenz
der AVB unabhängig von einer Beratung durch den Versicherer zu beurteilen ist. 652
Demgemäß sieht der Gesetzgeber in Abs. 5 eine eigene Rechtsfolge vor, die – je nach dem
Interesse des VN – dazu führen kann, aber nicht muss, dass der VN so zu stellen ist, wie wenn
der Vertrag nicht zustande gekommen wäre. Auch das Widerrufsrecht nach § 8 ist nicht
Rechtsfolge eines Beratungspflichtverstoßes;653 vielmehr besteht es völlig unabhängig davon.
#339#
648
Roth in MünchKomm-BGB § 241 Rdn. 167, vgl. zur Abgrenzung von
Auskunftsansprüchen Vor §§ 6, 7 Rdn. * .
649 OLG Hamm r + s 1995, 389, 390; Dörner in Karlsruher Forum 2000, S. 39,
61; Kollhosser in P/M § 56 Rdn. 23; Römer in VersWissStud Bd. 11, S. 23, 29.
650 Regierungsbegr. zu § 75, BT-Dr. 16/3945, S. 78.
651 So Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 59, der Unwirksamkeit
nach § 307 Abs. 1 Satz 2 wegen Intransparenz für möglich hält.
652 *
653 So aber Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 59.
111
Ein Rückgriff auf das allgemein-zivilrechtliche verschuldensunabhängige Rücktrittsrecht nach
§ 324 BGB ist nicht sachgerecht und wegen der speziellen Rechtsfolgenregelung in Abs. 5
abzulehnen.654
#340#
Dagegen kann im Einzelfall das für Dauerschuldverhältnisse geltende Kündigungsrecht nach
§ 314 BGB eingreifen.655 Insoweit sind aber an die Unzumutbarkeit im Hinblick auf den
zugleich bestehenden Schadensersatzanspruch aus Abs. 5 hohe Anforderungen zu stellen;
regelmäßig muss es sich um wiederholte Verstöße von solchem Gewicht handeln, dass die für
eine Fortführung des Vertrags erforderliche Vertrauensgrundlage völlig zerstört ist.
#341#
In einem Verstoß gegen die Beratungspflicht kann zugleich eine arglistige Täuschung des VN
liegen, die diesen gem. §§ 123, 142 Abs. 1 BGB zur Anfechtung des Vertrags mit der Folge
von dessen rückwirkender Nichtigkeit berechtigt.656
#342#
Zu den vertragsrechtlichen Folgen können bei wiederholten oder schwerwiegenden Verstößen
aufsichtsrechtliche Sanktionen im Wege der Missbrauchsaufsicht nach § 81 VAG hinzutreten.
Darüber hinaus bestehen verbraucherschutzrechtliche und wettbewerbsrechtliche
Sanktionen nach dem UKlaG und dem UWG (näher § 7 Rdn. *).
#343#
4. Verjährung. Der Anspruch aus Abs. 5 unterliegt der Regelverjährung nach §§ 195, 199
BGB. Er verjährt mithin mit Ablauf von drei Jahren ab dem Schluss des Jahres, in dem er
entstanden ist und der VN von den den ihn begründenden Umständen und der Person des
Schuldners erfahren hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erfahren müssen, spätestens zehn
Jahre von ihrer Entstehung an oder 30 Jahre nach dem schadensauslösenden Ereignis.
#344#
Kenntnis vom pflichtwidrigen Unterlassen einer Beratung hat der VN erst dann, wenn er die
Umstände kennt, aus denen sich die Beratungspflicht ergibt.657 Beim Abschluss einer
fondsgebundenen Lebensversicherung aufgrund fehlerhafter Beratung entsteht der Schaden
und damit der Anspruch nicht erst mit Realisierung der Verluste, sondern bereits mit der Wahl
des nicht bedarfsgerechten Versicherungsvertrags. Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis
von der Tatsache, dass es sich um ein Produkt mit dem Risiko der Wertminderung und nicht um
eine „sichere“ Anlage handelt, und damit von der fehlerhaften Beratung und dem bestehenden
Anspruch besteht, wenn der VN das mit der Police zugesendete Merkblatt zur
654
Dörner in FS E. Lorenz S. 195, 199-203; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 59; allg. für Beratungsfehler Mankowski
ZGS 2003, 91.
655 Insoweit a.A. Dörner in FS E. Lorenz S. 195, 202; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 59.
656 Insoweit zutr. Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 59.
657
BGH ZIP 2003, 1782, 1783 (zu Aufklärungspflichten über
Terminoptionsgeschäfte); Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 50.
112
fondsgebundenen Lebensversicherung erhält, aus dem das Risiko der Wertminderung
hervorgeht, spätestens aber mit den jährlich zugesandten Wertbestätigungen, aus denen die
Abhängigkeit der Wertentwicklung vom Kurswert der Fondsanteile hervorgeht.658
VII. Bereichsausnahmen (Abs. 6)
#345#
1. Großrisiken (Fall 1). a) Normzweck. Die Beratungspflicht soll dem Schutzbedürfnis des
VN Rechnung tragen, indem dem Versicherer aufgrund seiner überlegenen Sachkunde eine
besondere Fürsorgepflicht auferlegt wird. Dieses Schutzbedürfnis besteht im Bereich von
Großrisiken nicht, da es sich hier beim VN regelmäßig um einen professionellen
Marktteilnehmer handelt.
#346#
b) Großrisiko. Wann ein Großrisiko vorliegt, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EGVVG.
Im Einzelfall kann es bei der Anwendung der Kriterien zu Unsicherheit kommen. Sofern der
VN zugleich durch einen Makler betreut wird, was in der Praxis bei Großrisiken häufig der
Fall ist, erledigt sich das Abgrenzungsproblem hinsichtlich der Beratungspflicht des
Versicherers durch den dann eingreifenden Ausschluss nach Abs. 5 Fall 2; es bleibt dann
hinsichtlich der Pflicht des Maklers nach § 61 freilich wegen der Bereichsausnahme in § 65
bestehen. Im Übrigen bietet sich bei Ungewissheit ein Verzicht nach Abs. 3 an.659
#347#
2. Vermittlung durch Makler (Fall 2). a) Normzweck. Vermittelt ein Versicherungsmakler
den Vertrag, so ist davon auszugehen, dass er den VN aufgrund seiner Pflicht aus dem
Maklervertrag und aus § 61 umfassend berät. Der Ausschluss in Abs. 5 Fall 2 soll
gewährleisten, dass es dann nicht zu einer überflüssigen Doppelberatung kommt.
#348#
b) Makler. Die Bereichsausnahme erfasst neben Maklern auch sonstige Vermittler (§ 66) und
Versicherungsberater (§ 68), da auch diese Personen der Beratungspflicht nach § 61
unterliegen.660
#349#
Die Bereichsausnahme gilt nicht für den sog. Pseudomakler, d.h. den als Makler auftretenden
Vermittler. Hier verbleibt es für den Versicherer bei den Pflichten aus Abs. 1 bis 5. Dabei
kommt es zu einer gesamtschuldnerischen Haftung mit dem Vermittler.661
658
LG München I VersR 2008, 626 f. (teils zu § 12 Abs. 1 a.F.).
Freitag r + s 2008, 96, 98.
660 Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 59; vgl. auch Abschlussbericht S. 13;
Werber VersR 2008, 285.
661 Zur alten Rechtslage Reiff ZVersWiss 2002, 103, 114 f.; vgl. auch BGH
NJW 1988, 60, 61 f.
659
113
#350#
c) Vermittlung. Es gilt der weite Vermittlungsbegriff gem. Art. 2 Abs. 3 der
Vermittlerrichtlinie. Mithin genügt es, dass der Makler die laufende Betreuung des VN
übernommen hat, etwa die Vertragsverwaltung und Schadensfallabwicklung, ohne dass er den
Vertragsschluss vermittelt hat.662
#351#
Ist im Maklervertrag ausnahmsweise nur eine Abschlussvermittlung und keine laufende
Betreuung vorgesehen, so greift die Bereichsausnahme nach ihrem Wortlaut ein.663
Entsprechendes gilt, wenn der VN nach erfolgter Vertragsvermittlung nicht oder nicht mehr
laufend durch den Makler betreut wird.664 In diesen Fällen droht dem VN im Hinblick auf die
Beratung während der Vertragslaufzeit (Abs. 4) eine Schutzlücke. Diese Lücke läuft dem vom
Gesetzgeber mit § 6 verfolgten Regelungszweck zuwider, da die Bereichsausnahme für von
Maklern vermittelte Verträge lediglich eine überflüssige Doppelberatung verhindern (s. Rdn.
*), nicht jedoch dem VN nach Vertragsschluss jegliche Beratung nehmen soll. Die Schutzlücke
ist daher durch eine telelogische Reduktion von Abs. 6 Fall 2 zu schließen. Mithin trifft den
Versicherer auch dann eine Beratungspflicht, wenn der Vertrag durch einen Makler vermittelt
wurde, dieser jedoch nicht oder nicht mehr die laufende Betreuung des VN übernimmt. 665
Freilich ist dem Versicherer die Beratungspflicht nur zumutbar, wenn ihm die fehlende
laufende Betreuung durch den Makler und der dadurch beim VN entstandene Bedarf erkennbar
geworden ist. Um einen effektiven Schutz des VN zu gewährleisten, ist daher der Makler, wenn
er die laufende Betreuung nicht oder nicht mehr übernimmt, zu einer entsprechenden Mitteilung
an den Versicherer verpflichtet.666
#352#
d) Reichweite der Bereichsausnahme. Der Ausschluss greift nur hinsichtlich der Pflichten aus
Abs. 1 bis 5. Nur insoweit ist durch die Parallelnorm des § 61 nämlich gewährleistet, dass den
Makler die in § 6 für den Versicherer vorgesehenen Pflichten treffen. Auf eine aus anderen
Rechtsgründen bestehende Aufklärungs- oder Beratungspflicht des Versicherers erstreckt sich
die Bereichsausnahme hingegen nicht. Dies gilt insbesondere für die Pflichten aus Treu und
Glauben (zu ihnen s. Rdn. *). Erkennt der Versicherer z.B. eine Fehlvorstellung des VN, so ist
er auch im Fall der Beratung durch den Makler gem. § 242 BGB zur Richtigstellung
verpflichtet. Auch wenn der Makler die Hilfe des Versicherers in Anspruch nimmt und dadurch
seine fehlende Sachkunde offenbart, ist der Beratungsbedarf des VN dem Versicherer
erkennbar, so dass dieser nach § 242 BGB zur Aufklärung verpflichtet ist.667 Der Versicherer
kann auch gegenüber dem VN zu einem Hinweis darauf verpflichtet sein, dass die vom Makler
662
Werber VersR 2007, 1153, 1155.
Vgl. F. Baumann/Beenken Das neue Versicherungsvertragsrecht in der
Praxis, S. 35; F. Baumann/Sandkühler Das neue VVG, S. 38.
664 Vgl. Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2690; Schimikowski/Höra Das neue
VVG, S. 108.
665 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 19 f.
666 In dieser Richtung bereits Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 21. Vgl. auch
Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 108.
667 Armbrüster ZVersWiss 2008, 427; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer
Rdn. 53; Marlow/Spuhl Das Neue VVG kompakt, S. 28; Rixecker in VersRHdb. § 18a Rdn. 21; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 479; vgl. auch
Schirmer/Höhne VersR 1998, 661, 665.
663
114
ausgefüllten Antragsformulare nicht ausreichen, um vorläufigen Deckungsschutz zu
erhalten.668
#353#
3. Fernabsatzverträge (Fall 3). a) Normzweck. Die Bereichsausnahme für
Fernabsatzverträge wurde erst im Stadium des Regierungsentwurfs mit der Begründung
eingefügt, dass bei ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln die
Befragungs- und Beratungspflicht praktisch nicht erfüllt werden könne. Ein VN, der einen
Vertrag im Fernabsatz schließt, sei sich zudem bewusst, dass er lediglich die
Standardinformationen erhalten wird, eine Beratung aber nur, wenn er ein entsprechendes
Bedürfnis hierfür gegenüber dem Versicherer, z. B. durch entsprechende Fragen, zum
Ausdruck bringe. Es bestehe daher kein Vertrauen in eine umfangreiche Beratung. Stets eine
Verzichtserklärung gem. Abs. 3 einzuholen, widerspreche regelmäßig den Besonderheiten
solcher Vertriebssysteme und der Interessenlage des VN.669
#354#
Diese Bereichsausnahme war im KommE bewusst noch nicht vorgesehen.670 Sie stellt eine
Neuerung gegenüber der früheren Rechtslage dar, wonach der VN dann, wenn er sich an einen
Direktversicherer wendet, als nicht weniger schutzwürdig angesehen wurde, so dass auch in
diesem Fall Aufklärungspflichten gelten sollten.671 Die Einführung der Bereichsausnahme ist
dementsprechend auf Kritik gestoßen, da auch im Fernabsatz Beratung möglich sei.672
Indessen ist die Beratung im Fernabsatz jedenfalls schwieriger zu leisten und zugleich darf der
VN nicht auf Beratung vertrauen, so dass die Bereichsausnahme sich in den Grenzen
gesetzgeberischen Ermessens hält und nicht gegen das Willkürverbot verstößt.673
#355#
b) Fernabsatzvertrag. Abs. 6 Fall 3 nimmt Bezug auf § 312b Abs. 1, 2 BGB. Demnach erfasst
die Bereichsausnahme alle Verträge, die unter ausschließlicher Verwendung von
Fernkommunikationsmitteln geschlossen werden. Fernkommunikationsmittel sind nach Abs.
2 solche Kommunikationsmittel, die ohne gleichzeitige körperliche Anwesenheit der
Vertragsparteien bei Anbahnung oder Abschluss des Vertrags eingesetzt werden können.
Darunter fallen das traditionelle Distanzgeschäft per Telefon, Brief oder Fax, aber auch der
moderne E-Commerce per E-Mail und Internet.
668
OLG Hamm VersR 1994, 1095 = NJW-RR 1994, 861.
Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 58; zustimmend Grote/Schneider BB
2007, 2689, 2690; Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 105; vgl. schon vor
der Reform Basedow in Karlsruher Forum 2000, S. 77, 79.
670 Abschlussbericht Reformkommission S. 14 f.
671 Vgl. OLG Köln VersR 1998, 180; Römer VersR 1998, 1313, 1314; vgl.
auch Basedow in Karlsruher Forum 2000, S. 77, 79; Dörner in Karlsruher
Forum 2000, S. 120; Miettinen Pflichten, S. 243 ff.; Stöbener ZVersWiss 2007,
465, 478.
672 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 54; Schwintowski in B/M Rdn.
49.
673 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 18.
669
115
#356#
Kein Fernabsatzvertrag liegt demnach vor, wenn in der Phase der Vertragsanbahnung ein
persönlicher Kontakt stattgefunden hat. Hierfür ist ein Kontakt erforderlich, bei dem der VN
wesentliche Informationen erhalten hat, etwa wenn die Vertragsverhandlungen im
persönlichen Gespräch geführt wurden, der VN seine Entscheidung aber noch einmal prüfen
möchte, er sodann den Antrag per Fernkommunikationsmittel sendet und der Versicherer per
Brief annimmt. Auch wenn die wesentlichen Informationen dem VN bereits bei einem früheren
persönlichen Kontakt mitgeteilt wurden, liegt kein Fernabsatzgeschäft vor.674
#357#
§ 312b Abs. 1 BGB betrifft nur Vertragsschlüsse, die im Rahmen eines für den Fernabsatz
organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgen. Dies ist der Fall, wenn der
Anbieter sich systematisch die Technik der Fernkommunikation zunutze macht, um den
Abschluss und die Ausführung von Verträgen regelmäßig im Fernabsatz zu vollziehen.675
Daher sind nur Abschlüsse über Direktversicherer und deren Vertrieb über Internet,
Callcenter und andere Vertriebssysteme des Fernabsatzes betroffen,676 nicht aber sämtliche
Vertragsabschlüsse, die ohne gleichzeitige Anwesenheit von Versicherer und VN angebahnt
werden.677 Die Bereichsausnahme greift daher z.B. dann nicht ein, wenn der VN seine
angestammten Versicherungsvertreter anruft mit der Bitte, ein neues Risiko abzusichern.
Verwendet dagegen ein Vermittler ein Vertriebssystem des Fernabsatzes, so greift Abs. 6
hinsichtlich der Versichererpflichten ein.
#358#
Die Bezugnahme in Abs. 6 umfasst nach dem Wortlaut von § 312b Abs. 1 BGB eine
Beschränkung auf Verbraucherverträge. Dies würde bedeuten, dass der Versicherer zwar
gegenüber Verbrauchern von den Pflichten nach Abs. 1 bis 5 frei gestellt ist, gegenüber
unternehmerisch tätigen VN hingegen nicht. Für diese Differenzierung besteht kein sachlicher
Grund, da die vom Gesetzgeber angenommenen praktischen Schwierigkeiten einer Beratung im
Fernabsatz unabhängig davon bestehen, ob es sich um einen Verbrauchervertrag handelt, und
ein Verbraucher nicht weniger schutzbedürftig ist als ein Unternehmer (s. zum Normzweck
Rdn. *). Es ist mithin von einem Redaktionsversehen des Gesetzgebers auszugehen. Die
Bereichsausnahme ist teleologisch dahin auszulegen, dass sie auch Verträge mit Unternehmern
erfasst.678
#359#
c) Reichweite der Bereichsausnahme. aa) Beratungspflicht aus § 242 BGB. Die
Bereichsausnahme berührt nicht eine aus Treu und Glauben herzuleitende Aufklärungspflicht
des Versicherers 8zu dieser s. Rdn. *). Zwar ist nicht generell davon auszugehen, dass ein VN,
der sich an einen Direktversicherer wendet, typischerweise in Versicherungsfragen
sachkundiger ist und damit einen geringeren Beratungsbedarf hat.679 Allerdings kann der VN
674
Heinrichs in Palandt, § 312b Rdn. 8.
BGH NJW 2004, 3699, zu § 312b BGB.
676 Vgl. Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 58.
677 So aber Funck VersR 2008, 163, 165; Schimikowski ZfV 2005, 279. Wie
hier Schimikowski/Höra Das neue VVG, S. 105.
678 Ebers, in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 54; Funck VersR 2008, 163,
165.
679 So Kollhosser in P/M Vor §§ 159 ff. Rdn. 47.
675
116
beim Fernabsatz nicht auf eine Beratung vertrauen (vgl. Rdn. * zum Normzweck von Abs. 6
Fall 2). Der Versicherer muss daher nicht eigeninitiativ Fragen stellen, um Wünsche und
Bedürfnisse des VN zu erforschen.680
#360#
bb) Produktakzessorische Versicherung. Die Beratungspflicht des Vermittlers aus § 61 ist
gem. § 66 im Fall des § 34d Abs. 9 Nr. 1 GewO ausgeschlossen. Diese Ausnahme beruht auf
Art. 1 Abs. 2 der Vermittlerrichtlinie; sie umfasst die Vermittlung bestimmter
produktakzessorischer Versicherungen. Beispiele bietet die Vertragsvermittlung durch
Kredit- oder Kreditkartenvermittler (z.B. Arbeitslosigkeitsversicherung), Brillenhändler (z.B.
Kaskoversicherung), Reifenhändler (z.B. Reifenversicherung), Versand- und Einzelhandel (z.B.
Garantieversicherung zur Verlängerung der Gewährleistung), Elektrohändler (z.B. Garantieund
Reparaturversicherung),
Fahrradhändler,
-hersteller
(z.B.
Unfallund
Diebstahlversicherung)
und
Reisebüros
auf
(z.B.
Reiserücktrittsund
681
Reisekrankenversicherung).
Die in § 34d Abs. 9 Nr. 2 und 3 GewO genannten Fälle von
Kollektivverträgen bei Bausparkassen und Restschuldversicherungen als Zusatzleistung
werden hingegen von dem Ausschluss nach § 66 nicht umfasst.
#361#
Eine entsprechende Bereichsausnahme fehlt in § 6 für Versicherer. In solchen Fällen wird
häufig kein Beratungsanlass i. S. von Abs. 1, 4 bestehen.682 Gleichwohl kann dies im Einzelfall
anders sein. Durch die Regelung im Bereich der Vermittlerpflichten zeigt der Gesetzgeber denn
auch, dass er von der grundsätzlichen Möglichkeit einer Beratungspflicht ausgeht, sie jedoch
bei Bagatellverträgen nicht für erforderlich hält.683 Die identische Interessenlage bei der
Beratungspflicht des Versicherers gebietet es, dessen Pflichten nach Abs. 1 bis 5 analog § 66
auszuschließen.684 Dies gilt freilich nur für produktakzessorische Versicherungen, die nicht
gesondert vom Hauptvertrag abgeschlossen werden. Vertreibt der Versicherer hingegen
selbstständige Versicherungen der in Rdn. * beschriebenen Art, so bleiben seine Pflichten aus
Abs. 1 bis 5 unberührt; freilich wird dann oft kein Anlass zur Beratung bestehen.
#362#
cc) Beratungspflicht des Vermittlers. Für die Beratungspflicht des Vermittlers gem. § 61
Abs. 1 fehlt eine dem Abs. 6 Fall 2 entsprechende Bereichsausnahme. Dieser Unterschied ist
angesichts des Normzwecks der Ausnahme (s. Rdn. *) sachlich nicht begründbar. Er ist auch
auch europarechtlich nicht geboten.685 Zwar enthält die Vermittlerreichtlinie keine
Bereichsausnahme für Fernabsatzverträge, sie statuiert aber lediglich eine Dokumentations- und
keine Beratungspflicht (s. Rdn. *). Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich nichts dafür
entnehmen, dass es sich bei der Differenzierung um eine bewusste Entscheidung handelt.686
Auch der vom Gesetzgeber beabsichtigte Gleichlauf der Beratungspflichten von Versicherer
und Vermittler (s. dazu Rdn. *) spricht für eine Gleichbehandlung. Abs. 6 Fall 2 ist daher
680
Miettinen Pflichten, S. 237.
Begründung zu § 34d Abs. 9 GewO, BT-Dr. 16/1935, S. 20.
682 Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2691.
683 Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 25; Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2691.
684 Im Erg. so bereits Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 25; Franz DStR 2008,
303 (teleologische Reduktion von § 6).
685 A.A. Grote/Schneider BB 2007, 2689, 2691.
686 Vgl. Regierungsbegr., BT-Dr. 16/3945, S. 77.
681
117
analog auch auf die Beratungspflicht des Vermittlers anzuwenden.687 Seine
Dokumentationspflicht besteht aufgrund der entsprechenden Vorgabe in Art. 12 Abs. 3 der
Vermittlerrichtlinie freilich auch im Fernabsatz. Insoweit gebietet das Europarecht einen
Unterschied zum Versicherer, den bei Fernabsatzverträgen keine Dokumentationspflicht trifft.
VIII. Darlegungs- und Beweislast
#363#
1. Überblick. Die Beweislast hinsichtlich eines Schadensersatzanspruchs aus Abs. 5 entspricht
jener zu § 280 Abs. 1 BGB, so dass die hierfür geltenden Regeln heranziehbar sind.688 Somit
hat grundsätzlich der VN die anspruchsbegründenden und der Versicherer die
anspruchshindernden, -vernichtenden oder -hemmenden Tatsachen darzulegen und zu
beweisen. Für das Bestehen eines Versicherungsvertrags (oder die Durchführung von
Verhandlungen darüber; vgl. Rdn. *) und der Verletzung der Beratungspflicht trägt mithin der
VN die Beweislast.689 Das Vertretenmüssen des Versicherers wird jedoch gem. Abs. 5 Satz 2
widerleglich vermutet.
#364#
2. Einzelheiten. Zunächst muss der VN nur vortragen, dass ein objektiver, erkennbarer
Anlass zur Beratung bestand und der Versicherer gegen die sich daraus ergebende
Beratungspflicht verstoßen hat. Dem Versicherer obliegt es dann, den behaupteten Verstoß
substantiiert zu bestreiten und anhand des Beratungsprotokolls zu beweisen, dass und wie im
Einzelnen der VN beraten wurde.690 Auch die Beweislast hinsichtlich eines
Beratungsverzichts (s. Abs. 3)691 oder einer Bereichsausnahme (s. Abs. 6 und Rdn. *) liegt
beim Versicherer. Sein Verschulden wird aufgrund der Beweislastumkehr in Abs. 5 Satz 2
widerleglich vermutet. Der Versicherer kann diese Vermutung nach teils vertetener Ansicht
durch den Beweis widerlegen, dass ein Anlass zur Beratung nicht erkennbar war;692 indessen
gehört die Erkennbarkeit bereits zum objektiven Tatbestand der Beratungspflicht (s. Rdn. *)
und ist mithin vom VN zu beweisen.
687
Vgl. schon Armbrüster Rechtsfragen, S. 1, 17 ff.
Begründung zu § 42e a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 25 f.
689 Vgl. OLG Saarbrücken VersR 1999, 1367 = NJW-RR 1999, 1404, 1406;
OLG Hamm VersR 2005, 685; LG Köln r + s 2008, 511, 512; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 61; Reiff VersR 2007, 717, 726. Zur
Haftung eines Maklers s. z.B. OLG Hamm NJW-RR 2001, 602, 603 = VersR
2001, 583.
690
Vgl. auch OLG Saarbrücken ZfS 2006, 36, 38; Ebers in
Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 43; Meixner/Steinbeck Das neue
Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 34; zurückhaltend S. Lorenz Der Schutz
vor dem unerwünschten Vertrag, S. 444.
691 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 47; vgl. auch OLG Saarbrücken VersR
2003, 195, 196.
692
Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 43 f., 61; Reiff
Versicherungsvermittlerrecht im Umbruch, S. 80.
688
118
#365#
Die Beweislast hinsichtlich eines Schadenseintritts liegt beim VN. Auch die
haftungsausfüllende Kausalität ist vom VN darzulegen und zu beweisen, jedoch hilft ihm die
Vermutung beratungsgemäßen Verhaltens (s. Rdn. *).693 Danach ist zu vermuten, dass der VN
bei ordnungsgemäßer Beratung den ungünstigen Vertrag nicht oder nicht unter diesen
Bedingungen abgeschlossen hätte. Der Nachweis, dass er beim Versicherer oder anderweitig
entsprechenden Versicherungsschutz erlangt hätte, obliegt grundsätzlich dem VN. Allerdings
ist davon auszugehen, dass der VN entsprechenden Versicherungsschutz erhalten hätte, soweit
solcher auf dem Markt angeboten wird (s. Rdn. * und Rdn. *). Hat der VN also angegeben,
dass er ohne die Beratungspflichtverletzung Deckungsschutz erhalten hätte, besteitet der
Versicherer dies aber substantiiert, so hat der VN zu beweisen, dass entsprechender
Deckungsschutz am Markt erhältlich ist. Ein Mitverschulden des VN ist vom Versicherer
darzulegen und zu beweisen. Hinsichtlich der Verjährung liegt die Beweislast bezüglich
Beginn und Ablauf beim Versicherer, bezüglich der Voraussetzungen einer Hemmung usw.
beim VN.694
#366#
Durch die Dokumentation soll die Beweisführung für beide Seiten erleichtert werden. Ein
Verstoß gegen die Dokumentationspflicht kann daher zu Beweiserleichterungen für den VN
führen.695 Dies lässt sich dahin konkretisieren, dass bei lückenhafter oder unterlassener
Dokumentation eine Vermutung für das Unterbleiben einer entsprechenden Beratung
spricht.696 Wer die Übermittlung der Dokumentation zu beweisen hat, ist problematisch
(näher Rdn. *).697
#367#
Hinsichtlich einer aus Treu und Glauben hergeleiteten Aufklärungspflicht trifft den
Versicherer zwar keine Dokumentationspflicht, so dass es auch nicht zu der in Rdn. *
genannten Beweiserleichterung kommt. Hat der VN aber bewiesen, dass ein erkennbarer Anlass
zur Aufklärung bestand, so muss der Versicherer darlegen und beweisen, wie er darauf reagiert
hat.698
IX. Verhältnis zu anderen Normen
#368#
1. Informationspflicht nach § 7. Abweichend von § 6 statuiert § 7 keine Pflicht zu
einzelfallbezogener Beratung, sondern eine solche zur Erteilung standardisierter
Informationen. Gleichwohl kann es Überschneidungen geben, etwa wenn hinsichtlich der in den
Informationen oder im Produktinformationsblatt genannten Eigenschaften des Produkts
aufgrund der Umstände des Einzelfalls zu informieren oder zu beraten ist (s. Rdn. *).
693
Vgl. Begründung zu § 42e a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 26; Meixner/Steinbeck
Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 36.
694 Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 61.
695 Vgl. Regierungsbegr. zu § 42e a.F., BT-Dr. 16/1935, S. 25 f.
696 Meixner/Steinbeck Das neue Versicherungsvertragsrecht, § 1 Rdn. 34.
697 Für die Beweislast beim Versicherer Marlow/Spuhl Das Neue VVG
kompakt, S. 30.
698 Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 49.
119
#369#
2. Beratungspflicht von Vermittlern (§§ 60 ff.). Die Beratungspflicht von Vermittlern gem.
§§ 60 ff. besteht grundsätzlich neben denjenigen des Versicherers aus § 6. Dies gilt allerdings
nicht, soweit der Vertrag durch einen Makler vermittelt worden ist und der VN durch diesen
laufend betreut wird (näher Rdn. *). Sofern den Vermittler hingegen eine Beratungspflicht
trifft, haftet er für Pflichtverletzungen gesamtschulderisch mit dem Versicherer (s. Rdn. *)
#370#
3. Beratungspflicht aus Treu und Glauben (§ 242 BGB). a) Grundsatz. Aufklärungs-,
Hinweis- und Informationspflichten, die vor Inkrafttreten des § 6 aus § 242 hergeleitet wurden,
aber nicht in den Anwendungsbereich von § 6 fallen, bleiben durch die Neuregelung
grundsätzlich unberührt, da diese den Schutz des VN verbessern und nicht einschränken soll.
Dies gilt freilich nicht, sofern ein abweichender gesetzgeberischer Wille anzunehmen ist.
#371#
b) Bereichsausnahmen. Für die Bereichsausnahmen des Abs. 6 bei Einschaltung eines
Maklers (s. Rdn. *) und bei Fernabsatzverträgen (s. Rdn. *) bedeutet der in Rdn. * genannte
Grundsatz, dass der Gesetzgeber hier typischerweise keinen schutzwürdigen Beratungsbedarf
annimmt. Besteht ein solcher Bedarf jedoch im Einzelfall und ist dem Versicherer, der ihn
erkennen kann, eine Aufklärung zumutbar, so kann dessen Unterlassen treuwidrig sein.699
Eine über die Informationserteilung hinausgehende Beratung ist hingegen nach § 242 BGB
dort, wo der Gesetzgeber die Anwendung von § 6 ausschließt, regelmäßig nicht geschuldet.
#372#
c) Beendeter Vertrag. § 6 sieht keine Beratungspflicht nach Beendigung des
Versicherungsverhältnisses vor. Auch insoweit kann sich freilich aus § 242 eine
Aufklärungspflicht ergeben.700
#373#
Ein praktisches Beispiel, bei dem sich die Frage einer nachvertraglichen Aufklärungspflicht
stellt, bietet die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Berechnung der Rückkaufswerte in der
Lebensversicherung.701 Teils wird hier eine Hinweispflicht des Versicherers zumindest in
solchen Fällen bejaht, in denen die Ansprüche zweifelsfrei noch nicht verjährt sind. Es könne
nicht erwartet werden, dass die früheren VN von selbst von dem Urteil erfahren und aktiv
werden. Die intransparenten Klauseln seien vom Versicherer gestellt worden; dieser habe somit
die fehlerhafte Berechnung der Rückkaufswerte und eine entsprechende Fehlinformation
verursacht und müsse daher die Kunden über ihre Ansprüche informieren.702 Indessen ist eine
699
Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 477; Wandt in Handbuch des Fachanwalts,
Versicherungsrecht, 1.Kap. Rdn. 270; s. auch Armbrüster ZVersWiss 2008,
427; Ebers in Schwintowski/Brömmelmeyer Rdn. 55; Marlow/Spuhl Das Neue
VVG kompakt, S. 28 f.; Rixecker in VersR-Hdb. § 18a Rdn. 22.
700 Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 479.
701 BVerfG VersR 2006, 489; BGH NJW 2005, 3559 = VersR 2005, 1670.
702 Römer, zitiert nach Knospe ZfV 2005, 779.
120
derartige nachvertragliche Aufklärungspflicht abzulehnen.703 Der VN kann nicht erwarten,
dass ihn der Versicherer nach Vertragsbeendigung von sich aus auf noch bestehende Ansprüche
hinweist. Seinen dahingehenden Informationsbedarf muss und kann er eigenverantwortlich auf
andere Weise befriedigen, insbesondere durch eigene Recherche oder sachverständige Beratung
durch Dritte. Dem Versicherer ist hingegen eine Aufklärungspflicht hinsichtlich gegen ihn
gerichteter Ansprüche nicht zumutbar; sie ist der Privatrechtsordnung auch für andere
Vertragsarten fremd.704 Dementsprechend hat der Gesetzgeber in Abs. 4 die Beratungspflicht
zutreffend auf die Vertragslaufzeit beschränkt.
#374#
4. Allgemein-zivilrechtliche Schadensersatzhaftung (§ 280 Abs. 1 BGB). Für eine Haftung
des Versicherers aus §§ 280 Abs. 1, (311 Abs. 2), 241 Abs. 2 BGB ist sub specie einer
Verletzung der Beratungspflicht nur Raum, soweit Abs. 5 nicht eingreift.705 Dies ist der Fall
bei der Verletzung einer aus Treu und Glauben folgenden Aufklärungspflicht (s. Rdn. *)
sowie bei der fehlerhaften Durchführung einer freiwilligen Beratung (s. Vor §§ 6, 7 Rdn. *).
703
Armbrüster ZVersWiss 2008, 433; Münkel in Rüffer/Halbach/Schimikowski
Rdn. 42; Stöbener ZVersWiss 2007, 465, 479 f.
704 Vgl. freilich die Rspr. des BGH (NJW 2000, 1267) zur Pflicht eines
Rechtsanwalts, den Mandanten auf seine Haftung wegen Pflichtverletzung
hinzuweisen.
705 Vgl. Reiff in VersR-Hdb. § 5 Rdn. 124.
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