1.2. Management als eine neue Handlungsform in der Sozialen Arbeit

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Prof. Dr. Günter Gerhardinger
Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum zur Lehrveranstaltung
Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
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Prof. Dr. Günter Gerhardinger
Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum
zur Lehrveranstaltung
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Teil II. Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
1. Das äußere Bedingungsgefüge der Arbeit mit Einzelnen und Familien
1.1. Handlungsformen (Grundformen des Handelns in der Sozialen Arbeit mit Einzelnen
und Familien
1.2. Management als eine neue Handlungsform in der Sozialen Arbeit
1.3. Arbeitsfelder
1.4. KlientInnen
1.5. Formen des Setting
1.6. Freiwilligkeit und „Zwang“
1.7. Interdependenzen im äußeren Bedingungsgefüge
2. Institutionalisierung der Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
2.1. Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD)
2.1.1. Von der Familienfürsorge zum Allgemeinen Sozialdienst
2.1.2. Der Allgemeine Sozialdienst heute
2.1.3. Organisationsform
2.1.4. Aufgaben des ASD
2.1.5. Idealvorstellungen vom ASD
1.
Das äußere Bedingungsgefüge der Arbeit mit Einzelnen und Familien
Aus den bisherigen Bemerkungen dürfte in Ansätzen bereits hervorgegangen sein, dass die
Arbeitsform "Arbeit mit Einzelnen und Familien" wie die anderen Arbeitsformen auch, kein in
sich geschlossenes Konzept oder, im nicht richtigen Sprachgebrauch, eine abgeschlossene
Methode der Sozialarbeit darstellt. Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien ist vielmehr eine
von den jeweils konkreten Umständen abhängige Herangehensweise an die Probleme einzelner
KlientInnen oder KlientInnensysteme.
1.1. Handlungsformen
Zunächst ist wichtig, sich anzuschauen, welche Handlungsformen SozialarbeiterInnen in der
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Arbeit mit Einzelnen und Familien verwenden.
Es sind dies in der Regel keine originären sozialarbeiterischen Handlungsformen, sondern aus
dem Alltagshandeln und dem Handeln von Nachbarprofessionen entliehene. Sozialarbeit
allgemein ist in der paradoxen Lage, aus diesen entliehenen Handlungselementen die eigene
Praxis konstituieren, der eigenen Identität wegen gleichzeitig aber eine Abgrenzung gegenüber
diesen Bereichen vornehmen zu müssen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt,
dass zu diesen Handlungsformen gehörende Methoden und Techniken unter
sozialpädagogischer Perspektive angewendet werden (eingebettet in ein sozialpädagogisches
Konzept) und so zu Methoden und Techniken der Sozialen Arbeit werden. Kochen innerhalb
des Konzepts der Sozialpädagogischen Familienhilfe ist nun einmal etwas anderes als Kochen
einer Mutter in der Familie, obwohl die grundlegenden Methoden und Techniken weitgehend
dieselben sind. Ausschlaggebend ist der konzeptionelle Hintergrund. Noch komplizierter wird
der Sachverhalt, wenn man bedenkt, dass es eigentlich falsch ist, von der Technik "Kochen"
oder der Technik "Fußballspielen" zu sprechen. Natürlich steckt auch hinter den Techniken des
Kochens immer ein Konzept und ebenso hinter den Techniken des Fußballspielens. So ist das
Konzept des Fußballspielens in einem leistungsorientierten Verein natürlich ein anderes als das
in einem Jugendzentrum mit dem Gedanken der Integration. Ebenso gibt es beim Kochen
unterschiedliche Konzepte. Vollwertküche unterscheidet sich nun mal von "Hausmannskost"
und "Fastfood". Es ist also richtiger zu sagen, Konzepte aus dem Alltagsleben oder den
Nachbarprofessionen werden in sozialpädagogisch konzipiertem Handeln angewendet und so
entsprechend modifiziert. Dass dies ein mehrschichtiger und äußerst komplizierter Vorgang ist,
liegt auf der Hand.
Es ist sehr schwer, zu beschreiben, was eine SozialarbeiterIn tatsächlich tut, wie Ihr Handeln
vom Handeln anderer Professionen abzugrenzen ist. Die Auflösung in Techniken ist zu konkret,
das Sprechen von der Anwendung von Techniken und Methoden unter sozialarbeiterischer
Perspektive in den Konzepten ist sehr abstrakt. Also muss eine Ebene gefunden werden, auf der
die immer wiederkehrende Anordnung von Methoden und Techniken (die in der Regel nicht
originär sozialarbeiterisch sind) unter sozialarbeiterischer Perspektive in der Praxis thematisiert
wird. Dies soll hier mit dem Begriff der Handlungsformen geschehen. Dies geschieht in
Anlehnung an Giesecke, der der Meinung ist, dass „alle pädagogischen Berufstätigkeiten so zu
erfassen (sind), daß man das bei ihnen vorfindbare pädagogische Handeln auf wenige
Grundformen reduzieren kann“. Er unterscheidet „fünf solcher Grundformen“, „nämlich
Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren und Animieren“ (Giesecke 1987, S. 66; vergl.
die ausführliche Beschreibung der Grundformen, S. 68 – 99).
Die wesentlichen Handlungsformen ("Grundformen des Handelns") der sozialen Arbeit mit
Einzelnen und Familien sind die folgenden:
-
Beratung: Die in der Arbeit mit Einzelnen und Familien tätige SozialpädagogIn muss hier
das gesamte Spektrum der Beratungsmöglichkeiten von der Informationsvermittlung bis hin
zur therapeutischen Beratung abdecken. Zwischen den beiden Endpolen liegen eine
Vielzahl von Möglichkeiten der Beratung, in denen sich auch therapeutische Elemente mit
unterschiedlicher Intensität zeigen. So ist zum Beispiel die auf dem ersten Blick in reiner
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Informationsvermittlung bestehende Vermittlung eines Plegebedürftigen in ein Altenheim
durch eine KrankenhaussozialarbeiterIn nicht selten eine "hochtherapeutische"
Angelegenheit. Der Pflegebedürftige muss von der Notwendigkeit der Aufgabe der
häuslichen Selbständigkeit überzeugt werden. Die pflegenden Angehörigen haben
Schuldgefühle, weil sie Vater oder Mutter "abschieben". All dies sind Sachverhalte, die mit
bloßer Informationsvermittlung nicht zu bearbeiten sind. Die therapeutischen Prozesse
müssen aber auch geleitet sein von den Notwendigkeiten, die der Krankenhausalltag mit
sich bringt.
Mit der Grundform des Handelns der Beratung wird ein ganzes Kontinuum von
Handlungsweisen abgedeckt, das von der Beratung im Sinne von Informationsvermittlung
auf der einen Seite bis zu therapeutischer Beratung auf der anderen Seite reicht.
Beratung im
Sinne von
Informationsver
mittlung
Beratung im
Sinne von
Therapie
Die Handlungsform der Beratung besteht aus einer ganzen Reihe von Techniken und
Methoden, die zum Teil aus Nachbarprofessionen entliehen sind (z.B. aus der Psychologie),
aber unter sozialarbeiterischer Perspektive in ihrer Anwendung zu einer eigenen Praxis der
Sozialen Arbeit führen. Z.B. werden Elemente der non-direktiven Gesprächspsychotherapie
nach Rogers auch in einer therapeutisch orientierten Sozialen Arbeit wesentlich anders
aussehen als in einem Setting der Gesprächstherapie, wie sie von einem Psychologen
durchgeführt wird. Zur Handlungsform der Beratung werden die immer wieder in
bestimmter Anordnung benutzten Techniken und Methoden, weil sie eben in dieser
Anordnung von SozialarbeiterInnen in ihrer Praxis eingesetzt werden.
-
Therapie: Neben den bereits angedeuteten eher "therapeutischen" Arbeitsfeldern sind
SozialarbeiterInnen natürlich auch in den verschiedensten ambulanten und stationären
Einrichtungen der Einzel- und Familienarbeit mit originär therapeutischem Charakter tätig.
Zu nennen sind hier Erziehungs- und Eheberatungs-, Sucht- und sonstige psychosoziale
Beratungsstellen und -dienste. SozialarbeiterInnen arbeiten auch als TherapeutInnen in
verschiedenen Kliniken und stationären Einrichtungen.
Nicht selten wird bei der Umschreibung der Praxis der Sozialarbeit davon ausgegangen,
dass die originäre sozialarbeiterische Tätigkeit darin besteht, dass SozialarbeiterInnen
beraten, mit Therapie hätten sie nur in Randbereichen ihrer Tätigkeitsfelder zu tun.
Therapie sei eigentlich nicht ihr Aufgabengebiet. Häufig wird auf diese Art und Weise auch
die Abgrenzung von Sozialer Arbeit zur praktischen Psychologie vorgenommen. Viele
SozialarbeiterInnen haben diese Trennung so internalisiert, dass sie fest überzeugt der
Meinung sind, sie dürften überhaupt keine Therapie durchführen und so das meiste ihres
Tuns, auch wenn es noch so therapeutisch orientiert ist, Beratung nennen.
Dabei ist ein großer Teil der Techniken und Methoden, die SozialarbeiterInnen verwenden,
so arrangiert und kehrt in diesem Arrangement auch immer wieder, dass die daraus
entstehende Handlungsform durchaus Therapie genannt werden muss. Zu denken ist in
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diesem Zusammenhang etwa an den oben bereits angesprochenen Abbau von Ängsten bei
einem Eintritt in ein Altenheim, ohne den eine vernünftige Verlegung nicht zustande
kommen kann. Therapeutisch arbeiten genannt werden kann es aber auch schon, wenn ein
Mensch mit Hilfe der Tätigkeit seiner SozialarbeiterIn seine Scheu überwinden kann,
materielle Hilfe des Sozialamtes in Anspruch nehmen zu können. Therapie hat immer etwas
mit Heilung, mit der Beseitigung einer Störung zu tun, und diese Tätigkeit ist in der
sozialarbeiterischen Praxis eine verlässliche Konstante.
-
Betreuung: Im Alltag der Sozialarbeit mit Einzelnen und Familien haben die
SozialarbeiterInnen es immer wieder mit Menschen zu tun, die aufgrund ihres psychischen
oder körperlichen Zustandes hilflos sind. So ist es natürlich ein wesentlicher Teil des
sozialarbeiterischen Handlungsspektrums für Menschen etwa zu tun. Das sich Kümmern
um alte, kranke oder hilflose Menschen heißt jedoch nicht, sie zu bevormunden. Das
Betonen von Hilfe zur Selbsthilfe kann aber auch zum "Hilf dir selbst" werden, wenn
übersehen wird, dass viele Menschen eben überhaupt nicht in der Lage sind, sich zur
Selbsthilfe motivieren zu lassen.
Betreuung wird zum professionellen Anspruch in der "Berufsbetreuung". Dort ist es gerade
die Hauptaufgabe der SozialpädagogIn, in bestimmten Bereichen die "..... Angelegenheiten
des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht" (§ 1901 Abs. 2 BGB).
-
"Seelsorge": Soziale Arbeit ist Alltag im und mit dem Alltag der KlientInnen. Dieser Alltag
ist nicht immer sog. professionellen Handlungsformen zugänglich. Im Leben der
KlientInnen gibt es nicht selten Situationen, die mit Therapie und Beratung nicht zu
bearbeiten sind, aber sich auch dem Verwaltungshandeln verschließen. Es geht hier um die
Situationen im Leben der KlientInnen, die mit der Frage nach dem Sinn zu tun haben. Die
Frage einer Mutter, warum gerade ihr Kind Drogen konsumiert, die Lebenssituation einer
HIV-Positiven, das Sinnlosigkeitsgefühl eines vierzigjährigen hochqualifizierten
Arbeitslosen ist rationalen Zugängen weitgehend verschlossen. Ebenso kann die Situation
einer jungen Frau im Krankenhaus nach einer Brustamputation von der
KrankenhaussozialarbeiterIn nicht nur als REHA-Fall betrachtet werden. Sinnfragen
können nicht lehrbuchmäßig bearbeitet werden. Hier ist ein Bereich der Sozialarbeit, der
weitgehend von der Persönlichkeit der SozialarbeiterIn und deren eigenen individuellen
Fähigkeit mit Sinnfragen umzugehen abhängig ist.
-
Verwaltungshandeln: Dies ist ein, wenn auch häufig von den PraktikerInnen ungeliebt, ein
wesentlicher Teil des Handelns von SozialarbeiterInnen. Sozialarbeit im Bereich der Einzelund Familienhilfe ist alleine von ihrer Natur her in weiten Tätigkeitsbereichen schon die
Ausführung von rechtlichen Vorgaben (weite Bereiche der ASD-Arbeit, Bewährungshilfe,
Betreuungstätigkeiten). Aber auch im Allgemeinen hat Sozialarbeit viel mit Aktenführung
und Büroorganisation zu tun. Dabei zeichnet sich gute Sozialarbeit nicht durch übermäßige
Bürokratie aus, aber auch das Ablehnen derselben ist nicht als sozialarbeitstypisches
Qualitätsmerkmal zu verstehen. Aktenführung und sonstiges Festhalten von
sozialarbeiterischen Vorgängen dient der Nachvollziehbarkeit und Transparenz und damit
auch dem Schutz von KlientIn und auch SozialarbeiterIn.
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All diese Grundformen des sozialarbeiterischen Handeln sind orientiert an den Betroffenen
selbst und favorisieren den persönlichen Umgang mit den Betroffenen. Es sind
Handlungsformen, die (mit Ausnahme von Verwaltung) direkt sind und ein sich Einlassen der
SozialarbeiterIn auf die KlientInnen fordern. Beratung, Therapie, „Seelsorge“ und Betreuung
sind Handlungsformen, die ein Höchstmaß an Nähe zum jeweiligen Fall bedeuten.. In
vereinfachender Art und Weise kann gesagt werden, dass diese Handlungsformen das
sozialarbeiterische Geschehen als Behandlung sehen. Diese Behandlung kann auch mit dem
Schlagwort der Psychologisierung umschrieben werden. Begriffe wie Individualisierung1 und
helfende Beziehung2 haben in Konzepten, die diese Handlungsformen im Vordergrund stehend
betrachten, eine bedeutende Rolle.
-
Management: Seit den 90er Jahren tritt in der Sozialen Arbeit allgemein und insbesondere
im Bereich der Arbeit mit Einzelnen und Familien der Begriff Management in den
Vordergrund. Die planmäßige Organisation von Abläufen sowohl des organisatorischen
Geschehens als auch des Handelns im Umgang mit den KlientInnen wird in den
Vordergrund gerückt. Letzteres wird deutlich mit der Ausformulierung des
Handlungskonzeptes des Casemanagements, in dem nicht mehr die direkte Arbeit mit den
KlientInnen im Vordergrund stehen soll, sondern die Organisation des Hilfeablaufs. Die
SozialarbeiterIn wird als Case ManagerIn zu einer den sozialarbeiterischen Prozess aus der
Die klassische und traditionelle Soziale Einzelhilfe (Casework)
betrachtet das Prinzip des Individualisierens als eines ihrer
grundlegendsten Merkmale. Bang (1958) sieht Soziale Einzelhilfe als „eine
besondere Art der Individualhilfe“ (S. 17). „Jeder Klient ist ein
Individuum; ein jedes Problem ist ein ganz persönliches Problem“. So ist
„moderne Einzelhilfe ..... bezogen auf den Klienten. Sie hat ihre
Grundlagen in der individuellen Darstellung des Problems“.
Individualisieren heißt, die einzigartigen Eigenschaften eines jeden
Klienten zu erkennen und zu verstehen ..... Individualisieren stützt sich
auf das Recht des Menschen, als dieser ganz bestimmte, ....., und nicht als
‚Fall’ behandelt zu werden“ (Biestek 1972, S. 33). „Der Grundsatz des
Individualisierens fordert, dass der Sozialarbeiter versucht, sich auf
jeden Klienten als auf ein Individuum einzustellen und ihm als einem
solchem zu helfen; der Klient ist für ihn ein Mensch in einer Situation,
die eine einmalige Kombination aus biologischen, psychologischen und
sozialen Elementen darstellt“ (Maas 1966, S. 77)
2 In den Theorien zur Sozialen Einzelhilfe ist der zentrale Begriff im
Behandlungsvorgang die helfende Beziehung. „Die körperliche und geistige
Anstrengung, die mit einer problemlösenden Tätigkeit verbunden ist, lässt
sich leichter ertragen, wenn eine Beziehung besteht, von der Wärme und
Sicherheit ausgehen“ (Pearlman 1973, S. 83). Diese Beziehung wird zwar
enorm betont, aber nur vage beschrieben. Die KlientIn soll in der
SozialarbeiterIn eine Person ihres Vertrauens sehen können (vergl. Hollis
1971, S. 176). „Der Erfolg aller Maßnahmen hängt in hohem Maße vom
Vertrauen des Klienten in den Sozialarbeiter als Fachmann oder als
Autoritätsperson ab“ (Hollis 1971, S. 177; kritisch dazu vergl. Peter 1982,
S. 15).
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Metaperspektive organisierenden Person.
Unabhängig von der Anwendung des Case Managements haben SozialarbeiterInnen einen
guten Teil ihres Berufsalltags in der Arbeit mit Einzelnen und Familien im
Mangementsinne zu gestalten. Dies gilt insbesondere für Berufsfelder in denen viele
Vermittlungs- und Verweisungstätigkeiten sowie Vernetzungsaufgaben zu leisten sind.
Zudenken ist hier insbesondere an die Tätigkeiten in den Allgemeinen Sozialdiensten, in
Krankenhaussozialdiensten aber auch in Bereichen wie der Berufsbetreuung, in der die
Sozialpädagogin vom Berufsbild her die beratenden, betreuenden, pflegenden etc.
Aufgaben nicht selbst übernehmen darf, sondern organisieren muss.
1.2. Management als eine neue Handlungsform in der Sozialen Arbeit
Zum Begriff Management3
Mit Management kommt eine Handlungsform in die Soziale Arbeit, die die bisherigen
Handlungsprämissen in Frage und teilweise sogar auf den Kopf stellt.
Management bedeutet in der Betriebswirtschaftslehre ungeachtet aller unterschiedlichen
Konzepte letztendlich „Führung“ (vergl. Kühn 1999, S. 23), wird aufgefasst als „die bewusste
und gewollte Führung, Steuerung und Kontrolle wirtschaftlicher, bürokratischer und sozialer
Organisationen in ihren inneren Abläufen und in ihrer Wirkung nach außen“ (Weigand 1994, S.
121). „Die Prozesse in einem Unternehmen bedürfen einer Gestaltungs- und Steuerungsfunktion,
damit sie koordiniert und zielgerichtet ablaufen. Diese Funktion wird als Führung bezeichnet.
Die Begriffe ‚Management und ‚Leitung’4 werden meistens synonym verwendet“ (Thommen/
Achleitner 2001, S. 821; vergl. Bühner 2001, S. 458).5
Zur wortgeschichtlichen Herkunft des Begriffes Management kann mit Wendt
folgendes gesagt werden: „Der moderne Ausdruck ist in Europa zuerst in
Italien gebraucht worden. ‚Maneggiare’ sagte man in der Renaissance, wenn
wilde Pferde einzureiten und dabei zu zügeln waren. Englisch ‚managen’
meint seither: etwas im Griff haben und geschickt fertig bringen; ‚die
Sache deichseln’. Das englische Verb hat aber auch eine französische
Wurzel: ..... Franz. ‚ménager’ heißt einen Haushalt führen, haushalten,
etwas mit Sorgfalt gebrauchen. In diesem Sinne wurde Management zum Synonym
für Betriebsführung“ (1997, S. 31). Hinzugefügt werden kann, dass das
italienische Wort maneggiare sicher eine Wurzel in der lateinischen Sprache
hat: „manus“ – die Hand, „agere“ – führen, also „an der Hand führen“
(vergl. Bader, S. 30)
4 Zur Differenzierung der Begriffe „Führen“ und „Leiten“ vergl Kühn (1999),
S. 23
5 Führung muss hier als sehr weiter Begriff aufgefasst werden. Wenn
Management und Führung abgegrenzt werden, dann ist diese Abgrenzung häufig
sehr unscharf: „Bei den Managementtätigkeiten handelt es sich ..... mehr um
die rein sachliche Gestaltung, um die formalen Strukturen. Management ist
eher ein Instrumentarium von Hilfsmitteln und Techniken, die auf rationalen
3
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Der Begriff des Managements ist aus betriebwirtschaftlicher Betrachtungsweise ein
mehrdimensionaler (vergl. Schwarz 1996, S. 42). Grundsätzlich ist „Management ..... die
zielorientierte Gestaltung, Steuerung und Entwicklung des soziotechnischen Systems
Unternehmung in sach- und personenbezogener Dimension“ (Hopfenbeck, zit. n. Horak/
Heimerl-Wagner 1999, S. 144; vergl. Decker 1997, S. 60). Bei Management in diesem Sinne
kann ein institutioneller und ein funktioneller Aspekt unterschieden werden, wobei beim
funktionellen wiederum die sachbezogene (Ziele festlegen, planen, entscheiden, durchführen und
kontrollieren) und die personenbezogene (Führung und Motivation der Mitarbeiter) Seite
unterschieden werden muss (Hopfenbeck, zit. n. Horak/ Heimerl-Wagner 1999, S. 144 f). In
unserem Kontext interessiert besonders der funktionelle Aspekt, der Management als
„Problemlösungsprozess“ erscheinen lässt. Als konstitutive Elemente der Führung erscheinen
aus dieser Perspektive:




„Planung: Die Aufgabe der Planung besteht in einem systematischen
Vorgehen zur Problemerkennung und Problemlösung sowie zur Prognose der
zu erzielenden Resultate.
Entscheidung: Eine von der Planung ausgearbeitete Handlungsvariante wird
für gültig erklärt und es erfolgt die definitive Zuteilung der zur Verfügung
stehenden Mittel.
Aufgabenübertragung: Es handelt sich um die Übertragung von Aufgaben im
Rahmen des Problemlösungsprozesses. Diese Funktion ist vor allem bei der
Realisierung von geplanten Maßnahmen von Bedeutung.
Kontrolle: Diese Funktion umfasst die Überwachung des gesamten
Problemlösungsprozesses und die Kontrolle der dabei erzielten Resultate.
Die Elemente Planung und Entscheidung dienen primär der Willensbildung, die
Elemente Aufgabenübertragung und Kontrolle der Willensdurchsetzung“
(Thommen/ Achleitner 2001, S. 831 f).
Der Ablauf des Managementprozesses („Problemlösungsprozesses“) kann demgemäß in 6
Stadien eingeteilt werden: 1. Analyse der Ausgangslage, 2. Formulierung der Ziele, 3.
Festlegung der Maßnahmen, 4. Bestimmung des Mitteleinsatzes, 5. Durchführung
(Realisierung), 6. Evaluierung der Resultate) (Thommen/ Achleitner 2001, S. 834; vergl. die
Übersicht über Managementdefinitionen bei Decker 1997, S. 60 f; vergl auch Decker 1997, S.
68).
Die Übernahme dieser grundsätzlichen Managementvorstellungen in die Soziale Arbeit bedeutet
schon ein grundsätzlich neues Denken. Die strenge Rationalität des Managementdenkens war
bisher in der Sozialen Arbeit nicht weit verbreitet. Zur Tradition Sozialer Arbeit gehört zwar das
methodische Arbeiten (mit bestimmten Techniken und Mitteln von einem Ausgangspunkt
Überlegungen und Erfahrungen beruhen. Wenn auch Management und
Führungstätigkeiten verschieden sind, so schließen sie sich doch nicht aus,
vielmehr ergänzen sie sich“ (Decker 1997, S. 69).
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ausgehend ein formuliertes Ziel erreichen) (vergl. Brack 1980, S. 520)6. Dieses methodische
Arbeiten wurde und wird aber in der Praxis immer wieder durch situatives und spontanes
Handeln ersetzt, was durchaus nicht nur mit Unfähigkeit der Praktiker zu geschlossenem
methodischem Handeln erklärt werden kann, sondern gute Gründe in der Natur der Sozialen
Arbeit selbst hat. So kann unschwer bestritten werden, dass der eigentliche Gegenstand Sozialer
Arbeit, nämlich der Alltag der betroffenen Menschen, sich schwer mit rationalen Kriterien
erfassen lässt. Der Alltag von Menschen ist nun einmal voller Brüche und Widersprüche und so
dürfte auch eine Grundproblematik des neuen Denkens in der Sozialen Arbeit sein, dass die zu
managende Angelegenheit sich in gewisser Art und Weise gegen die Logik eben dieses
Managements sperrt. Die uralte Diskussion, dass berufliches Handeln in der Sozialen Arbeit kein
Abbild der vorausgedachten (allgemeinen) Situationen sein kann, auf die sich Konzepte,
Methoden und Verfahren beziehen (Geißler/ Hege 1988, S. 31) ist auch heute noch gültig. Ein
zwingend methodisch-planerisches Vorgehen würde unweigerlich zu Verkürzungen und
Verzerrungen führen. Es sähe den Menschen als bloßes Objekt der Konzeptanwendung und
nicht als Subjekt seiner Lebens- und Entwicklungstätigkeit. Und es würde auch kaum
funktionieren, denn Planung von Sozialarbeit relativiert sich alleine schon deswegen, weil die
Wirklichkeit der Betroffenen kaum vorhersehbar ist (Schicksalsschläge, Krankheiten, Tod,
Unterschiede in der Wirklichkeitssicht zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn).
Neu im Denken der Sozialen Arbeit mit der Übernahme des Managementgedankens ist auch der
Anspruch der „Führung“. Wenn Führung im betriebswirtschaftlichen Management auch nicht
autoritäre oder despotische Führung bedeutet, so ist mit Führung doch angedeutet, dass die zu
bearbeitende Angelegenheit nicht den Zufälligkeiten überlassen wird, sondern sehr zielgenau
und stringent auf vorher festgelegte Ziele zugegangen wird und auch überprüft wird, ob diese
Ziele erreicht worden sind. Damit kommt in die Soziale Arbeit eine neue Art von
Verantwortung. Erreichen von Zielen kann nicht mehr nur den betroffenen Menschen überlassen
werden („der Klient war nicht motiviert“; „der Prozess ist noch nicht abgeschlossen“), sondern
wird zu einer Angelegenheit des Erfolgs oder Scheitern der damit befassten Professionellen.
Ein Handlungskonzept der Sozialen Arbeit, das die Kategorie des Managements zur Grundlage
macht, muss die methodische Ebene entsprechend gestalten. Grundsätzlich kann dazu gesagt
werden, dass die weitgehend feststellbare „Offenheit“ von Sozialarbeitskonzepten einem neuen
„In-sich-Geschlossensein“ wird weichen müssen. Ob dies funktionieren kann ist fraglich, wie
die Gedanken zum methodischen Arbeiten bereits angedeutet haben. Priorität hat im
managementorientierten Denken die Formulierung und Erreichung von Zielen, sowie die
Evaluation der Zielerreichung. Die Auffassung, dass ein Beratungsprozess offen sein muss, die
Interventionen nicht starr sein dürfen, sondern sich den sich verändernden Situationen und
Personen anpassen müssen und damit auch eine Evaluation im Sinne von richtig oder falsch,
erfolgreich oder nicht erfolgreich kaum möglich ist, kann damit nicht mehr aufrechterhalten
Mit Brack (1980) muss die Methode die Frage beantworten, „wie kommt der
Klient/ das Klientsystem vom Ausgangspunkt (Analyse des Problems) zum
erwünschten und erreichbaren Zielpunkt, nämlich der Veränderung/
Verbesserung des Zustandes, im Idealfall zur Lösung des Problems?“ (S. 520)
6
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werden.7
Sollen diese mit dem Begriff Management neu in die Soziale Arbeit kommenden Tendenzen
nicht sofort dazu führen, dass Management als grundlegende Handlungsform in der Sozialen
Arbeit sich selbst ad absurdum führt, dann müssen auch einige strukturelle Veränderungen
vorgenommen bzw. zugelassen werden. Verbindlichkeit von Absprachen, die noch dazu mit
Sanktionen abgesichert wird, lässt es nicht mehr zu, die Absprachen im Bereich des
Unverbindlichkeit geradezu provozierenden zu belassen. Absprachen müssen vielmehr konkret
und praktisch werden. Sie müssen dem Kriterium der Lösungsorientiertheit entsprechen.
SozialarbeiterInnen werden mit ihren KlientInnen keine Verträge schließen, die nicht
einzuhalten sind und sie werden hoffentlich nichts von ihren KlientInnen verlangen, was nicht
zu erfüllen ist. „Gesund werden“, „Clean werden“ oder gar „das Leben wieder im Griff haben,
sind Absprachen, die nicht einzuhalten sind und für die auch keine sanktionsbewehrten
Verträge geschlossen werden können, es sei denn, man nimmt die Verträge von vorneherein
nicht erst. Die Absprachen werden sich auf konkreten, nachvollziehbaren und damit auch
überprüfbaren Ebenen befinden müssen.
1.3. Arbeitsfelder
"Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien" ist in den verschiedensten Arbeitsfeldern der
Sozialarbeit Praxis:
-
in den Allgemeinen Sozialdiensten (ASD) (Familienberatung, -fürsorge) (vergl. die
Ausführungen zum Allgemeinen Sozialdienst);
in der Bewährungshilfe und Jugendgerichtshilfe, in der Sozialarbeit in Justizvollzugsanstalten;
in der Sozialarbeit im Gesundheitswesen (insbesondere Gesundheitsämtern, Krankenhäusern, Fachkliniken);
in der Betriebssozialarbeit;
in den verschiedensten Beratungsstellen und stationären Einrichtungen;
etc.
1.4. KlientInnen
Dies bedeutet, dass die "Arbeit mit Einzelnen und Familien" bei unterschiedlichsten KlientInGeißler/ Hege (1988): „ Ein Beratungsprozeß hat jeweils seine Geschichte
mit sich verändernden Bedingungen, und an diesen orientiert zeigen sich
Interventionen situativ angemessen oder unangemessen. Situationen sind
dynamische Handlungseinheiten. Sie sind ein erfahrbarer Ausschnitt sozialer
Wirklichkeit. Diese Erfahrungsorientiertheit lässt eindeutig vorab und
situationsunabhängig formulierte Handlungsimperative für Interventionen
nicht zu.“ Interventionen können daher nicht auf einer Skala „richtig –
falsch“, sondern auf jener, die zwischen „angemessen – unangemessen“
differenziert, beurteilt werden.
7
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nengruppen Strategie sein kann. Besser sollte man sagen, dass mit Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen gearbeitet wird, die aber in der Regel gekennzeichnet sind durch
materielle, psychische, soziale und auch physische Deprivation. "Lebenslagen sind die je
historisch konkreten Konstellationen von äußeren Lebensbedingungen, die Menschen im
Ablauf ihres Lebens vorfinden, sowie die mit diesen äußeren Bedingungen in wechselseitiger
Abhängigkeit sich entwickelnden kognitiven und emotionalen Deutungs- Verarbeitungsmuster,
die diese Menschen hervorbringen. Lebenslage ist ein dynamischer Begriff, der die historische,
sozialen und kulturellen Wandel erzeugende Entwicklung dieser äußeren Bedingungen
einerseits umfaßt und andererseits die spezifischen Interaktionsformen zwischen dem sozialen
Handeln der Menschen und diesen äußeren Bedingungen" (Amann 1983, S. 147). Die KlientInnen rekrutieren sich aus unterschiedlichen Alters- (von Jugendlichen bis zu alten Menschen)
und Bevölkerungsgruppen, wobei aber häufig betont wird, dass ein Schwerpunkt auf Menschen
aus "unteren sozialen Schichten" liegt. Die Sozialarbeit der Schabe sich natürlich der Schwierigkeiten aller Menschen, die sie kontaktieren, anzunehmen. Sie sollte sich aber bewusst sein,
dass sie ihre Tradition in der Armenfürsorge hat, und ihren Arbeitsschwerpunkt auch weiterhin
auf die Bevölkerungsgruppe mit der am wenigsten ausgeprägten Lobby legen. Dabei wird aber
vergessen, dass bei Zugrundelegung des Lebenslagenkonzeptes jede Problematik für den
Betroffenen eine Katastrophe sein kann, auch dann, wenn sie objektiv als durchaus bewältigbar
erscheint.
KlientInnen in der Arbeitsform "Einzelne und Familien" werden demnach sein:
- Mitglieder von belasteten Familien;
- Menschen mit sehr geringen materiellen Möglichkeiten;
- Menschen mit Schwierigkeiten, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen;
- psychisch und physisch kranke Menschen, behinderte Menschen;
- Menschen mit Schwierigkeiten im Umgang mit Suchtmitteln und illegalen Stoffen;
- Straffällige und Strafentlassene;
- Menschen mit Integrationsproblemen (Aussiedler, Asylbewerber, ausländische Arbeitnehmer);
- etc..
Folgt man Wendt (1988, S.15), der in der Sozialarbeit mit Einzelnen und Familien vier
bedeutsame Gruppen ("die 'sozial schwachen' Familien", die "Zielgruppe der
Alleinerziehenden", "die Behinderten, psychisch Kranken und pflegebedürftigen alten
Menschen" und die "Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten") sieht und legt man die
relevante Untersuchung von von der Haar (zit. n. Wendt 1988, S.14) zugrunde, die als Ergebnis
einer Untersuchung an 46 Berliner SozialarbeiterInnen der Familienfürsorge 1981/82 der
Gewichtigkeit bzw. Häufigkeit der Interventionsanlässe nach "wirtschaftliche Probleme",
"Erziehungsfragen", "persönliche und familiäre Probleme" sowie "Regelungen elterlicher Sorge
und Maßnahmen für Behinderte" nennt (vergl auch Karsten 1987), so kann man ganz allgemein
unterscheiden in
- unvollständige,
- überlastete und
- unterversorgte Familien
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Neuerdings differenziert sich aus diesem Kontext eine Problemgruppe heraus, die man als
Menschen, die in prekärem Wohlstand leben bezeichnen könnte. Bisher wurden diese nicht
und sie werden auch heute noch kaum zu den Zielgruppen der Sozialen Arbeit mit Einzelnen
und Familien gerechnet. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Familien, die nach außen
hin lange Zeit den Eindruck erwecken, völlig unproblematisch zu leben und denen eher ein
gewisser Wohlstand zugerechnet wird. Gemeint sind die Familien, die den allgemein
gestiegenen Lebensansprüchen dieser Gesellschaft genügen wollen und sich diese
„Normalität“ durch den Vorgriff auf zu erwartendes Einkommen, also Schuldenmachen,
erkaufen und dadurch nicht selten in Situationen geraten, in denen es materiell und
psychosozial nicht mehr möglich ist, ein zufriedenstellendes Leben zu führen, obwohl dies
nach außen hin nicht sichtbar wird. Diese Familien bewegen sich über längere Zeit leidend und
unter enormen Stress stehend auf die Katastrophe zu, da für sie in dieser Gesellschaft kaum
Hilfsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Hilfe erhalten diese Familien erst, wenn sie
sich eingereiht haben in die sogenannten Multiproblemfamilien, also die Familien, die die
sozialen Dienste klassischerweise beschäftigen. Das bedeutet aber auch, dass sie erst Hilfe
bekommen, wenn sie abgestiegen sind in die Bereiche der absoluten Armut. Relative
Armutsformen interessieren die Soziale Arbeit und andere Hilfeinstanzen dieser Gesellschaft
kaum.
Konkret bestimmen sich die Lebenslagen dieser Typen von Familien durch
- Eheprobleme und Familienkonflikte und deren Folgen wie Trennung, Scheidung,
Alleinerziehen usw.,
- Kinderreichtum,
- Arbeitslosigkeit,
- Armut,
- Behinderungen, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit von Familienmitgliedern,
- Suchterkrankungen von Familienmitgliedern,
- mangelnde Integration von ausländischen Familien/ Fremdenfeindlichkeit gegenüber
ausländischen Familien
Jedoch wird durch einzelne dieser Faktoren in Familien nicht automatisch Krisenhaftigkeit
hervorgerufen. Die Lebenslagen von Familien werden zur problematischen Lebenslage erst
durch das Zusammentreffen von Problemkonstellationen, gesellschaftlichen Kontexten und
persönlichen Verarbeitungsmöglichkeiten der Betroffenen.
1.5. Formen des Setting
Die direkte "Arbeit mit Einzelnen und Familien" findet weiters unter unterschiedlichen sog.
settings statt:
- Kontakte in Dienst-/ Beratungsstellen;
- Gespräche am Arbeitsplatz;
- Hausbesuche;
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Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum zur Lehrveranstaltung
Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
-
Aufsuchen am Ort des "gewöhnlichen Aufenthalts" (street-work etc.);
Besuche am Krankenbett,
etc.
Grundlegend kann das setting in der Arbeit mit Einzelnen und Familien unterschieden werden
hinsichtlich ihrer "Komm-" bzw. "Gehstruktur". Die KlientInnen werden entweder gebeten oder
aufgefordert in die Dienststelle zu kommen oder dort aufgesucht, wo sie sich normalerweise
aufhalten (aufsuchende Sozialarbeit).
1.6. Freiwilligkeit und „Zwang“
Die Kontakte zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn(nen) sind, was für die Arbeit von besonderer Wichtigkeit ist, entweder
- freiwillig oder
- "zwangs"weise.
Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass Sozialarbeit fast nie freiwillig stattfindet. Der
"Zwang" wird mit unterschiedlicher Stärke ausgeübt und von den Betroffenen unterschiedlich
stark erlebt. Bei manchen sozialarbeiterischen Angeboten kann durchaus von "Zwangsberatung/
-kontakt" gesprochen werden (Beratung nach §218 StGB; Bewährungshilfe, Adoptions- und
Pflegestellenberatung). Bei anderen wiederum findet ein eher subtiler Zwang statt (Gewährung
von materieller Hilfe nur nach psychosozialer Beratung etc.).
Diese Differenzierung ist insofern notwendig, als aus allen Einzelpunkten,
-
den verschiedenen Dienststellen,
den unterschiedlichen KlientInnengruppen,
den vielfältigen Möglichkeiten des settings und
der Frei- bzw. Unfreiwilligkeit des Kontaktes
Konsequenzen resultieren, die die direkten praktischen Berufsvollzüge nicht unbeeinflußt lassen.
1.7. Interdependenzen im äußeren Bedingungsgefüge
Im Folgenden sollen einige Hinweise auf mögliche gegenseitige Auswirkungen in dem skizzierten Bedingungsgefüge gegeben werden:
Dienststelle vs. KlientInnengruppe: Zu beachten ist in diesem Zusammenhang insbesondere die
Hemmschwelle, die manche KlientInnen zu überwinden haben, wenn sie eine bestimmte
Dienststelle (nicht Dienststelle allgemein) aufsuchen sollen. Erwiesen ist eine geringere
Frequentierung von Beratungsstellen durch Angehörige der "sozialen Unterschicht" (sog. Mit-
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Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum zur Lehrveranstaltung
Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
telschicht-Bias von Beratungsstellen). Einzelne Dienststellen werden von manchen KlientInnengruppen aber auch aufgrund bestimmter Ängste gemieden (zu denken ist hier z. B. an die Angst
von Drogenabhängigen vor Übermittlung ihrer Daten an die Polizei oder ganz allgemein die
Angst vieler Menschen vor Stigmatisierung durch den Besuch einer Beratungsstelle).
KlientInnengruppe vs. Setting: Bei manchen KlientInnengruppen wird aufsuchende Sozialarbeit
als fast zwingend notwendig angesehen: "Unterschichtangehörige", Kranke, Suchtmittelabhängige etc.. Die unter SozialarbeiterInnen weitverbreitete Meinung, dass aufsuchende
Sozialarbeit die bessere Sozialarbeit sei, z.B. Hausbesuche allemal mehr brächten als Gespräche
in der Beratungsstelle, ist so jedoch nicht haltbar. Es muss bedacht werden, dass Beratungsstellenatmosphäre sowohl Vertrauen als auch Mißtrauen schaffen kann und es wiederum auf die
ganz konkrete Lebenslage der KlientInnen ankommt, ob ein Hausbesuch vielleicht als
Schnüffelei und Belästigung aufgefaßt wird, oder als hilfreiches Entgegenkommen.
Dienststelle vs. Setting: Die Art der Dienststelle bestimmt die Möglichkeiten der SozialarbeiterIn
bezüglich des Kontaktes mit den Betroffenen. Es muss hier insbesondere an die Vorstellungen
und Vorgaben des Trägers der Dienststelle gedacht werden. Diese bestimmen sich aus dessen
Normen- und Wertehintergrund, den Rechtsvorschriften, denen dieser mit seinen Angeboten
nachkommt, aber auch aus seiner Bereitschaft zu einer mehr oder weniger großzügigen
materiellen Ausstattung von Projekten.
Dienststelle vs. Frei-/ Unfreiwilligkeit; Setting vs. Frei-/ Unfreiwilligkeit: Die Rechtsgrundlagen
der Dienststelle bestimmen die Frei- bzw. Unfreiwilligkeit des Kontaktes. Bei unfreiwilligen
Kontakten muss der "Zwang" nicht immer dieselbe Intensität haben (Bewährungshilfe, Beratung
nach § 218 StGB, Adoptions- und Pflegestellenvermittlung etc.).
Auch die Art des Settings kann von der KlientIn als Zwang oder auch Erleichterung bzw.
Entgegenkommen empfunden werden (sowohl Vor-/Einladung in Dienststelle als auch Hausbesuch).
KlientInnengruppe vs. Frei-/ Unfreiwilligkeit: Bei verschiedenen KlientInnengruppen ist die
Unfreiwilligkeit des Kontaktes vorprogrammiert (Bewährungshilfe, Straffälligenhilfe, bei der
Sozialarbeit mit materiell Bedürftigen, Kranken etc.), bei anderen wird Freiwilligkeit geradezu
vorausgesetzt (Klienten von Erziehungs-, Ehe- und sonstigen Beratungsstellen).
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Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum zur Lehrveranstaltung
Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
3.
Institutionalisierung der Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
3.1. Der Allgemeine Sozialdienst (ASD)
3.1.1. Von der Familienfürsorge zum Allgemeinen Sozialdienst
Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind nur denkbar eingebunden in das sozialstaatliche
Verwaltungshandeln mit all seinen Prinzipien. Damit ist sozialarbeiterisches Handeln rechtlich
kodifiziertes Handeln und angelehnt an Leitlinien wie das Subsidiaritätsprinzip. Die
Beschäftigung der Sozialarbeit mit Familien kann daher zunächst abgeleitet werden aus den die
Familie unter ihren besonderen Schutz stellenden Rechtsvorschriften.
Art. 6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates. Das
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) fokussieren die
Familie ebenfalls, wobei das KJHG "dazu beitragen (will -G.G.), positive Lebensbedingungen
für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu
erhalten oder zu schaffen" (§1(3)4). Das BSHG nimmt die Familie als Solidargemeinschaft in
die Pflicht, was bei der heutigen Wirtschaftslage von großer Bedeutung ist und nicht selten zu
Widersprüchlichkeiten zu den Emanzipationsansprüchen des KJHG führt (vergl. Hirschauer/
Ohlendorf 1987).
Abgeleitet wird aus diesen Rechtsvorgaben das Herzstück der Sozialarbeit mit Familien: Die
Familienfürsorge.
Der Begriff Familienfürsorge muss differenziert gesehen werden. Er war zu Beginn der
Geschichte der Sozialarbeit fast identisch mit dieser, zumindest stand die Einbeziehung von
Familien in die Sozialarbeit von Anfang an fest. Hierzu die Klassikerin Alice Salomon: "Zum
Material der Ermittlung gehören (daher) alle Tatsachen aus dem Leben der Bedürftigen und
seiner Familie, die dazu helfen können, die besondere Not oder das soziale Bedürfnis der
Betreffenden zu erklären und die Mittel zur Lösung der Schwierigkeit aufzuzeigen" (1920, S. 7).
Familienfürsorge hatte und hat in der Praxis zumindest zwei Bedeutungen:
- Familienfürsorge als Umschreibung einer Tätigkeit bei öffentlichen und auch freien Trägern,
in den Bezirkssozialdiensten der Jugend- und Gesundheitsämter genauso wie bei
Beratungsdiensten der Wohlfahrtsverbände (etwa sog. Familienfürsorgestellen aber auch
Krankenhaussozialdienste etc.). Familienfürsorge (und heute Allgemeiner Sozialdienst) sind
in diesem Verständnis nicht nur ein Organisationstypus, sondern werden als tragendes
Prinzip der Sozialarbeit verstanden. So wird heute der ASD als "Kernstück" der Sozialarbeit
verstanden: "Soziale Arbeit nur mit Sonderdiensten, verbunden mit einem Auseinandernehmen der Familien und des Menschen nach einzelnen Bedarfen und Symptomen geht
völlig am notwendigen ganzheitlichen Ansatz vorbei und ist letztlich auf Dauer gesehen
keine soziale Arbeit mehr" (Feldmann 1991, S. 64). Die SozialarbeiterIn der
Familienfürsorge bzw. des ASD wurde und wird als die "AllgemeinärztIn" der Sozialarbeit
verstanden.
-
Familienfürsorge als Bezeichnung einer Institution, in der die auf die Familien bezogenen
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
Aufgaben der Kommunen (Kreise und kreisfreie Städte) im Bereich der Sozialhilfe, Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe wie im BSHG und KJHG definiert,
geleistet werden. Es handelt sich hier um die Erfüllung kommunaler Pflichtaufgaben. Der
Begriff "ASD" als Bezeichnung für die kommunalen Sozialen Dienste hat sich
mittlerweile weitgehend durchgesetzt.8
Bis heute trifft die Definition von Marie Baum den Kern des Familienfürsorgegedankens: ".....
die in einem bestimmten geographischen Bereich in der Form der Einheits- und nach der
Methode der Familienfürsorge durchgeführte Wohlfahrtspflege, die je nach Lage des Einzelfalles
zur Maßnahme der Wirtschafts-, Gesundheits- oder Erziehungsfürsorge greifen, offene oder geschlossene Fürsorge vermitteln, vorbeugenden, heilenden oder rettenden Charakter annehmen
kann und die in all ihren Schritten bewußt auf die Stärkung der in der Familie liegenden Pflegeund Erziehungskräfte abzielt" (zit. nach Linke 1980, S. 272).
Die in dieser Definition enthaltenen Prinzipien
- Konzentration auf einen bestimmten geographischen Bereich (Bezirk),
- Befassung möglichst einer SozialarbeiterIn mit dem Fall (Ganzheitlichkeit),
- Vermittlung zwischen und Koordination von verschiedenartigen Hilfen (z.B. materielle und
persönliche)
gelten für beide oben angesprochenen Formen der Familienfürsorge, wobei bei der institutionalisierten öffentlichen Familienfürsorge
- hoheitliche Aufgaben im Zusammenhang mit gesetzlichen Grundlagen (KJHG, BSHG etc.)
hinzukommen.
Der Begriff der Familienfürsorge ist ein also traditioneller, der schon 1912 eingeführt wurde
(vergl. Schubert/ Schubert-Scheulen, S. 265). Der Begriff der Fürsorge ist spätestens in den 70er
Jahren stark in die Kritik geraten und mehr und mehr durch andere Begriffe ersetzt worden.
Insbesondere die Bezeichnung Allgemeiner Sozialdienst ist mittlerweile gebräuchlich (vergl.
Thermat 2002), wobei diese Bezeichnung die undeutliche Unterscheidung zwischen den beiden
skizzierten Spielarten der Familienfürsorge nicht aufgehoben hat. Mittlerweile gibt es Ämter, die
sich ASD nennen, aber auch Wohlfahrtsverbände nennen ihre entsprechenden Hilfs- und Beratungsdienste nicht selten so.
Verwirrend ist auch, dass die Allgemeinen Sozialdienste, die begrifflich und praktisch die
Familienfürsorge ersetzen sollen, sich nicht nur mit dem Bereich der Arbeit in Familien
beschäftigen. Sie haben eine Vielzahl anderer Aufgaben wahrzunehmen, z.B. die
Nichtsesshaftenhilfe, die Arbeit mit alleinstehenden alten und kranken Menschen, mit
Ausländern, Aussiedlern und Asylbewerbern.
Greese sieht einen Zusammenhang zwischen dem Strukturwandel der Familie (immer weniger
"echte" Familien, also Paare mit Kindern in der Gesamtbevölkerung und damit auch in der
Klientel der Sozialarbeit) und der (Weiter-)Entwicklung der Familienfürsorge zum ASD. "Die
Entwicklung vom Familien- zum Allgemein-Dienst ist insoweit konsequent, als die gesellschaftliche Entwicklung die Sozialagentur Familie immer mehr geschwächt hat und LeVergl. die Vollerhebung von Van der Santen u.a. im Jahr 2000 - Befragung
aller Jugendämter (befragt wurden alle 616 damals bestehenden Jugendämter;
Rücklaufquote 83 %). In 95% der befragten Jugendämter gab es einen ASD. Bei
weiteren 3 % ASD-ähnliche Organisationseinheiten. ( vergl. Van der Santen/
Zink 2003, S. 27)
8
16
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
benskrisen und Lebensrisiken immer mehr außerhalb von Familien aufgefangen werden müssen.
..... War also Familienfürsorge insbesondere auch wegen der Aufwachsbedingungen der Kinder
geschaffen worden, so verliert mit der Ausweitung zum Allgemeinen Sozialen Dienst das Kind
sowohl quantitativ wie qualitativ seine zentrale Bedeutung" (Greese 1994, S. 312).
Gleichwohl ist der Allgemeine Sozialdienst im behördlichen Sinne, wie auch im Sinne der freien
Wohlfahrtspflege die Institution, in der die Sozialarbeit mit Familien stattfindet.
3.1.2. Der Allgemeine Sozialdienst heute
Die 1980er Jahre waren für die Familienfürsorge eine seltsames Jahrzehnt. Es war das Jahrzehnt
des praktischen Wandels von der Familienfürsorge hin zum Allgemeinen Sozialdienst. Es war
aber ein Jahrzehnt des Wandels, das weitgehend unbeachtet von der Fachliteratur blieb. Größere
Publikationen zum Thema gibt es in den 80er Jahren kaum. Die bedeutendste Untersuchung
stammt von v. d. Haar aus dem Jahr 1984. Wagner stellt 1981 die beginnende Umorientierung
dar. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema scheint 1980 mit der deprimierenden
Beschreibung von Kasakos eingeschlafen zu sein.
"Familienfürsorge gilt bei den meisten Kritikern der Sozialarbeit als einer ihrer unterentwickeltsten Bereiche. In ihr sind all die Merkmale kumuliert, die von den verschiedensten
Standpunkten aus gegen die Sozialarbeit vorgetragen werden: Bürokratismus und staatliche
Kontrolle, Reaktivität und Wirkungslosigkeit der Maßnahmen, Zersplitterung in Einzelfallhilfe
und mangelnde Spezialisierung, politische Bedeutungslosigkeit und geringe Hilfsmöglichkeiten
für Klienten, Koppelung von Beratungsaufgaben mit obrigkeitlichem Zwang, schlechte
Arbeitsbedingungen bei schlechtem Status der Mitarbeiter, unzureichende wissenschaftliche
Ausbildung und hohe Belastung mit administrativen Tätigkeiten - kurz, Familienfürsorge gilt als
der Inbegriff all dessen, was sich angehende Sozialarbeiter ersparen möchten" (Kasakos 1980, S.
13; vergl. Krieger 1994, S. 22 f). Zwanzig Jahre später scheint diese äußerst negative
Bestandsaufnahme des Allgemeinen Sozialdienstes immer noch nicht einer grundlegend
veränderten Entwicklung unterworfen zu sein. Viele der von Kasakos angebrachten Kritikpunkte
werden von Greiffenhagen (2002) immer noch konstatiert: „..... zum Beispiel
 Die Trennung von beratendem und ermittelndem Außendienst sowie dem hilfegewährenden
Innendienst
 Die örtliche Zuständigkeit für Stadtbezirke
 Die individualisierende Problemsicht und Hilfe
 Die starke Bürokratisierung der Arbeit
 Das organisatorische Niemandsland zwischen Sozialamt, Jugendamt und Gesundheitsamt
 Die rechtliche Aufgesplittertheit nach Ansprüchen und Zuständigkeiten nach dem Kinderund Jugendhilfegesetz (KJHG), dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), dem
Jugendgerichtsgesetz (JGG); von Ländergesundheitsgesetzen und Verwaltungsvorschriften
ganz zu schweigen“ (S. 5).
Die mangelnde wissenschaftliche Rezeption in und seit den 1980er Jahren ist umso erstaunlicher,
als die alte Fürsorge ebenso wie der heutige ASD mit Textor ausgedrückt, "..... auf der kommunalen Ebene die Grundlage des Sozialsystems (bildet)" (1994, S. 9). Der ASD ist die Basis
der Sozialarbeit, die für alle und alles zuständig ist und sein muss. Es kann keine Problematik
und kein Hilfesuchender abgelehnt werden. Der ASD kann weitervermitteln, ist aber auch dann
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
noch zuständig, wenn Klienten sich nicht weitervermitteln lassen wollen oder andere (Fach)Beratungsstellen sich nicht (oder noch nicht oder nicht mehr) zuständig fühlen.
"Somit ist der ASD ein allzuständiger, zielgruppen-, generationen- und gesetzesübergreifender
Basisdienst, der zentrale soziale Dienst einer Kommune. Er sichert die psychosoziale Grundversorgung im Landkreis bzw. in der kreisfreien Stadt. Als einziger Dienst, der keinen Hilfesuchenden abweisen kann, bildet er letztlich 'ein Netz unter dem sozialen Netz'. So ist er auch
das Auffangbecken für unmotivierte Klienten, Personen ohne Krankheitseinsicht und solche, bei
denen die Spezialdienste versagt haben ('hoffnungslose Fälle')" (Textor 1994, S. 9).
Die Praxis der Allgemeinen Sozialdienste sieht aber meistens ganz anders aus.
Allzuständigkeit im Sinne von gesetzesübergreifender Arbeit ist weitgehend nicht
verwirklicht. Dies hängt sicher damit zusammen, dass ein wesentlicher Teil der Aufgaben der
ASD Aufgaben sind, die sich aus dem KJHG ergeben, also Aufgaben der Jugendhilfe. Nach
der 1993 in Kraft getretenen Reform des § 69 SGB VIII dürfen Jugendhilfeaufgaben nur einer
Organnisationseinheit Jugendamt zugewiesen werden. "Zwar ist eine separate
Organisationseinheit für Soziale Dienste weiterhin möglich, jedoch muss die Fachaufsicht für
die Jugendhilfeaufgaben der sozialen Dienste auch dann weiterhin beim Jugendamt bzw. bei
der Organisationseinheit für Jugendhilfe liegen ......" (Van der Santen/ Zink 2003, S. 26).
3.1.3. Organisationsform
Da das Aufgabenspektrum gesetzesübergreifend ist (KJHG, BSHG, JGG etc.) und sowohl
Jugend-, Sozial- als auch Gesundheitshilfe streift bzw. miteinbezieht, ist es bis heute zu keiner
einheitlichen organisatorischen Zuordnung gekommen und auch die Aufgabenzuteilung nicht
genau festgelegt. "Während beispielsweise die Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung
und Scheidung (§ 17 KJHG) und der Familiengerichtshilfe (§ 50 KJHG) in vielen Kreisen und
Kommunen wie selbstverständlich zum Arbeitsalltag des ASD gehören ....., werden in anderen
Städten und Kreisen dieses Landes beispielsweise die Angebote nach § 17 KJHG nur durch freie
Träger formuliert, wohingegen sich der ASD auf Familiengerichtshilfe konzentriert ....."
(Güthoff 1993, S. 31).
Dazu kommt, unterstützt durch ASD-immanente Unsicherheiten der betreffenden
SozialarbeiterInnen, dass die konkrete Praxis von den PraktikerInnen völlig unterschiedlich
gestaltet wird. "Und so passiert es, daß in der einen Kommune ein Team von 6 Professionellen
bei einer bestimmten Fallzahl jedwede Form lebensweltorientierter Zugangsweisen zum sozialen
Raum verweigert ('Die Einzelhilfe frißt uns auf.'), während in einer anderen Kommune, ..... ein
ähnlich ausgestattetes Team bei gleicher Fallbeslastung in einem durchaus vergleichbaren Bezirk
seine Regelarbeit in eine Vielzahl lebensweltlicher Zugänge einbettet (von einer aktivierenden
Befragung bis hin zu systematischer Gruppenbegleitung und Teilnahme an politischen
Gremien)" (Hinte 1993, S. 10).
Wie sieht nun die konkrete Zuordnung des ASD in den einzelnen Kreisen und kreisfreien
Städten aus?
Feldmann eruierte 1988 im Rahmen einer Tagung mit Teilnehmern aus 22 Städten und 16
Landkreisen die Situation des ASD in den beteiligten Kommunen:
- "In den meisten Kommunen (53 %) ist der ASD dem Jugendamt zugeordnet. In 11 % der
Kommunen ressortiert er beim Sozialamt, in 8 % bei einem Sozial- und Jugendamt. Bei 22 %
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
der beteiligten Kommunen ist er als quasi eigenes Amt organisiert".
- "Sonderdienste gibt es in allen beteiligten Kommunen. Am häufigsten vertreten sind
Jugendgerichtshilfe, Adoptions- und Pflegekinderwesen, Erziehungsbeistandschaft; es
kommen aber auch noch z.B. Behindertenhilfe, Altenhilfe, Schuldnerberatung, Beratung von
Asylbewerbern, sozialpädagogische Familienhilfe, Hilfe zur Arbeit nach BSHG, Schwangerschaftsberatung vor".
- "In 81 % der beteiligten Kommunen gibt es Teamarbeit. 63 % der Kommunen, die
Teamarbeit vorsehen, haben Teams mit Entscheidungsbefugnis. Von diesen 63 % haben 33 %
Teams sowohl mit als auch ohne Entscheidungsbefugnis".
- "In 60 % der Kommunen ist der ASD in irgendeiner Weise an der Sozialplanung der
Kommune beteiligt".
- "In 50 % der bei der Tagung vertretenen Kommunen arbeitet der Allgemeine Sozialdienst
stadtteilorientiert" (Feldmann 1991, S. 64 f).
Dass die überwiegende Zahl der Allgemeinen Sozialdienste beim Jugendamt organisiert ist, ist
auch heute noch so (vergl. Krieger 1994, S. 32 f).. Die große Zahl von Jugendhilfeaufgaben
und die gesetzlich vorgeschriebene Fachaufsicht über Jugendhilfeaufgaben (vergl. Van der
Santen/ Zink 2003, S.27)9 ist wohl einer der wesentlichen Gründe dafür, dass die ASD
organisatorisch hauptsächlich bei den Jugendämtern angesiedelt sind.
Die hier zugrunde liegende Untersuchung von Van der Santen u. a. ergibt, dass es eine
deutliche Tendenz der Zuordnung des ASD zum Jugendamt gibt. "Bei fast allen
Jugendämtern ist der ASD ... dem Jugendamt zugeordnet." (van der Santen/ Zink 2003, S.28).
Unterschiede gibt es bei den unterschiedlichen Jugendamtstypen. "Alle regionalisierten
Jugendämter geben an, dass der ASD ihrem Zuständigkeitsbereich zugeordnet ist. Auch bei
Landkreisen ist dieser Anteil mit 95 % hoch, wohingegen bei Jugendämtern kreisfreier Städte
dies nur in 82 % der Fall ist" (van der Santen/ Zink 2003, S. 28).
Sind die ASD dem Jugendamt zugeordnet, so ist die oben bereits thematisierte
Allzuständigkeit nur bei 29 % konstatiert (43 % bei kreisfreien Städten, 23 % bei
Kreisjugendämtern und 26 % bei regionalisierten Jugendämtern). 25 % der befragten
Jugendämter gibt an, dass es getrennte ASD für Aufgaben nach dem KJHG und dem BSHG
gibt. (van der Santen/ Zink 2003, S. 29).10
Die Allzuständigkeit wiederum ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Stellung der ASDLeitung auf der Hierarchieebene des Organisationszusammenhanges.
Diese Stellung ist relativ hoch, wenn der ASD nicht dem JA zugeordnet ist: "39 % dieser
Jugendämter geben an, dass die Leitung des ASD auf einer tieferen Ebene angesiedelt sei, 58
% geben‚ auf der gleichen Ebene’ an und lediglich bei einem Jugendamt ist die Leitung auf
"Auch wenn der ASD organisatorisch nicht dem Jugendamt zugeordnet ist,
verlangt der Gesetzgeber, dass ‚dem Leiter des Jugendamts die Fachaufsicht
für die Wahrnehmung aller Aufgaben nach diesem Gesetz erhalten bleibt und
die Beteiligung des Jugendhilfeausschusses in vollem Umfang gesichert ist’"
(BT-Drucks. 12/3711, S. 41, zit.n. Van der Santen/ Zink 2003 S.31).
10 "Die Daten der Vollerhebung zeigen, dass es bei einer Allzuständigkeit
des ASD mit gesplitteten Aufgabenprofilen häufiger zu einer Zuordnung zu
anderen Ämtern (18 %) kommt, doch in etwas mehr als vier Fünftel der Fälle
ist der ASD auch hier dem Jugendamt zugeordnet. Das Jugendamt stellt also
auch bei einem ASD mit Allzuständigkeit die mit Abstand häufigste Einheit
dar, welcher der ASD zugeordnet ist" (Van der Santen/ Zink 2003, S. 29).
9
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
einer höheren Ebene angesiedelt. Das heißt, in den wenigen Fällen in denen der ASD nicht
dem Jugendamt zugeordnet ist (was überproportional bei einer Allzuständigkeit vorkommt),
ist die Leitung des ASD in der Mehrheit der Fälle auf der gleichen Ebene wie die
Jugendamtsleitung und damit in der Hierarchieebene höher angesiedelt, als wenn der ASD
dem Jugendamt zugeordnet wäre. Eine Allzuständigkeit führt also zu einem
Bedeutungsgewinn des sozialen Dienstes, da dieser - vermutlich als eigenständige
Organisationseinheit - dann häufig auf der gleichen Hierarchieebene eingegliedert wird wie
das Jugendamt" (Van der Santen/ Zink 2003, S. 31).
Hinte merkt zur Organisationsform des ASD an:
"Den Allgemeinen Sozialdienst neu zu organisieren erweist sich als echter
Konjunktur-Dauerbrenner. Vielleicht wollen sich manche Vorgesetzte in
Jugend- und Sozialämtern damit ein Denkmal setzen, daß sie diese zentrale
Abteilung der Jugendhilfe neu organisieren. Modelle gibt es dazu zuhauf: Daß
der ASD nicht ins Sozialamt gehört, ist heute gängige Meinung, aber ob er nun
Bestandteil des Jugendamtes sein soll oder aber ein eigenes Amt, darüber streitet
man sich wort- und seitenreich, fast so, als ob es nichts wichtigeres zu tun gäbe.
(Im übrigen: Selbstverständlich gehört der ASD in das Amt, das fälschlicherweise Jugendamt heißt" (Hinte 1983, S. 18).
Zu Hinte muss jedoch gesagt werden, dass die Allgemeinen Sozialdienste nicht nur die zentralen
Abteilungen der Jugendhilfe sind, sondern die der Familienhilfe und darüber hinaus auch noch
die für eine ganze Reihe anderer Lebenslagen.
Die Statistik des Essener ASD für das Jahr 1991 macht das deutlich: "So waren von 9751
Haushalten, in denen der ASD tätig war, 4582 (47 %) ohne Kinder und von den 28930
Problemanzeigen hatte nur etwa die Hälfte etwas mit Kindern zu tun" (Greese 1994, S. 312).
Von der sozialarbeiterischen Intention her wird wohl die Organisation in einem eigenen Amt die
günstigste sein, wenngleich Effektivität nur dann erreicht werden kann, wenn dieses Amt für den
ASD Entscheidungskompetenz in Bezug auf die rechtlich-materiellen Grundlagen hat und so
nicht Gefahr laufen muss, zwischen den Ansprüchen verschiedener anderer Ämter (Sozialamt,
Jugendamt) zerrieben zu werden (Gegenargumente vergl. Van der Santen/ Zink 2003).
3.1.4. Aufgaben des ASD
Der ASD ist ein Basisdienst, man könnte ihn auch den "Allgemeinarzt der Sozialarbeit" nennen.
Dorthin kommen die Menschen zunächst einmal mit ihren Problemen und Schwierigkeiten und
dann wird entschieden, inwieweit Fachberatungsstellen oder anderweitige Hilfe in Anspruch
genommen werden sollte. Im Idealfall bleibt der ASD mit der betroffenen Familie auch während
anderweitiger Hilfsangebote verbunden und ist bereit, bei der Integration der fachlich
spezialisierten Hilfe in den Alltag zu helfen. Die MitarbeiterInnen des ASD müssen also ihre
Praxis als GeneralistInnen organisieren in Abgrenzung zu den SpezialistInnen der
Fachberatungsstellen.
Genauso ist die Klientel der Allgemeinen Sozialdienste eine umfassende. Textor fasst
zusammen:
"Die Klientel des ASD umfaßt also Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und
alte Menschen, Alleinstehende, Ehepaare, Familien und Alleinerziehende, Deutsche, Ausländer
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Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
und Asylanten sowie Randgruppenangehörige. Ihre Probleme liegen im
- persönlichen Bereich: Einsamkeit, psychische Auffälligkeiten, Verhaltensstörungen, kriminelle Delikte, Tablettenmißbrauch, Drogenabhängigkeit,
Alkoholismus, Diskriminierung usw.;
- gesundheitlichen Bereich: körperöliche oder psychische Krankheit,
psychosomatische Leiden, Behinderung, Pflegebedürftigkeit usw.;
- beruflichen Bereich: Probleme am Arbeits oder Ausbildungsplatz, (Jugend-)
Arbeitslosigkeit usw.;
- familiären Bereich: Eheprobleme, Trennung, Scheidung, Überlastung,
Kinderreichtum, fehlende Kinderbetreuung usw.;
- Erziehungsbereich:
Erziehungsschwierigkeiten,
Vernachlässigung,
Kindesmißhandlung, sexueller Mißbrauch, Schulprobleme (Schulversagen,
Leistungsverweigerung, Schulschwänzen), Ablösungsproblematik usw.;
- materiellen Bereich: unzureichendes Einkommen, Verschuldung usw.;
- Bereich des Wohnens: Mietrückstände, Wohnungssuche, Obdachlosigkeit,
problematisches Mietverhalten usw. sowie
- Wohngebiet:
Bevölkerungssruktur
(z.B.
hoher
Ausländeranteil),
weitverbreitete soziale Probleme (z.B. Armut, Bandenbildung, Treffs von
Drogenabhängigen), schlechte Lebensqualität, hohes Verkehrsaufkommen,
Umweltverschmutzung, zuwenig Kinderbetreuungsangebote, Mängel in der
psychosozialen Infrastruktur usw."(Textor 1994, S. 9 f.).
Hier tut sich der gesamte Kosmos der sozialarbeiterischen Problemstellungen auf und man
müßte meinen, es beim ASD und seinen MitarbeiterInnen mit einer großartig ausgebauten
Behörde oder hoffnungslos überlasteten PraktikerInnen zu tun zu haben.
Bei Durchsicht der Literatur zum Thema ASD fällt auf, dass es kaum empirisch gesichertes
Material zur Praxis des ASD gibt. Was dazu geschrieben wird, sind meist Idealvorstellungen
oder resignierende Berichte von PraktikerInnen. Um der Praxis des ASD gerecht zu werden,
muss man zumindest differenzieren zwischen teilweise Sonntagsreden auf Kongressen und
wohlmeinenden Empfehlungen und den wenigen empirischen Ergebnissen zur Praxis und
Berichten aus der konkreten Praxis.
3.1.5. Idealvorstellungen vom ASD
Die Idealvorstellungen bezüglich des Allgemeinen Sozialdienstes gehen vom Postulat der
Ganzheitlichkeit aus.
"Aufgrund der Allzuständigkeit des ASD haben alle Klienten
(zunächst) nur einen Ansprechpartner, der auf die Gesamtheit ihrer
Probleme ganzheitlich reagiert. Mehrfachzuständigkeiten,
Zuständigkeitskonflikte
und
Doppeltätigkeit,
zusätzliche
Verwaltungsarbeiten, verzögerte Beratungsabläufe und Personalmehrbedarf oder die Segmentierung von Lebensbereichen, wie
sie bei der Problembearbeitung durch mehrere Sozialdienste entstehen können, werden damit ausgeschlossen" (Textor 1994, S. 11
f.).
SozialarbeiterInnen müssen damit GeneralistInnen sein. In der Tat wird das Aufgabenspektrum
des ASD sehr weit definiert:
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Prof. Dr. Günter Gerhardinger
Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien – Skriptum zur Lehrveranstaltung
Teil II: Grundüberlegungen zur Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien
"-
Beratung und Unterstützung in allgemeinen Lebensfragen
funktionale Erziehungsberatung
Hilfen für Familien in besonderen Situationen
Beratung und Unterstützung von alleinerziehenden Elterntei
Mitwirkung bei der Adoptionsberatung/ -vermittlung
Mitwirkung im Pflegekinderwesen
Mitwirkung in allen Bereichen der 'Hilfe zur Erziehung' einschließlich der
Hilfe in Einrichtungen
Familiengerichtshilfe
Vormundschaftsgerichtshilfe
Jugendgerichtshilfe
Hilfe für Suchtgefährdete und Suchtkranke
Hilfe zum Lebensunterhalt
Eingliederungshilfe für Behinderte und Hilfe für psychisch Kranke
Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten
Altenhilfe
sonstige Hilfen in besonderen Lebenslagen
Mitwirkung bei der Sozialplanung
Kooperation mit freien Trägern, Initiativen sowie sonstigen Diensten und Institutionen
Hinweise auf Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen
Kontaktvermittlung" (Humpe-Wassmuth 1993, S. 70)
Humpe bezieht sich bei dieser Aufzählung auf die "Empfehlungen zur Organisation des
kommunalen Allgemeinen Sozialdienstes" aus dem Jahre 1983 (vergl. Krieger 1994, S. 46-49).
In den Empfehlungen werden die einzelnen Aufgaben auch mit dem Vermerk versehen,
inwieweit und in wie enger Kooperation sie mit der Verwaltung und den Sonderdiensten erfüllt
werden sollen. Bei der Betrachtung dieser Empfehlungen fällt auf, dass sozialpädagogische
Fachkräfte von bestimmten Aufgaben in unterschiedlichem Maße ferngehalten werden. So soll
z.B. die Gewährung von laufenden Leistungen nach dem BSHG (HZL) Aufgabe der Verwaltung
sein, bei der im Einzelfall eine Abstimmung zweckdienlich sein könnte. Die Beratung und
Behandlung von Suchtgefährdeten ist Aufgabe des entsprechenden Sonderdienstes, der in der
Aufzählung lediglich wegen der engen Verflechtung mit den Aufgaben des ASD aufgeführt sei
(vergl. Krieger 1994, S. 46 ff.). Solche Kompetenzregelungen stehen eindeutig im Widerspruch
zur postulierten Ganzheitlichkeit, zumal sich durch solche Kompetenzzuschreibungen im
bürokratischen Alltag eines Amtes sehr bald konkrete Handlungszuweisungen und abgrenzungen für bestimmte Mitarbeiter herausbilden werden.
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