DOC - Europa.eu

Werbung
EUROPÄISCHE KOMMISSION
Viviane Reding
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, EU-Justizkommissarin
Freizügigkeit im Binnenmarkt: gemeinsam
Schutz eines unverzichtbaren Grundrechts
für
den
Konferenz: "Armutseinwanderung oder Recht auf Freizügigkeit? Europas
Binnenmobilität auf dem Prüfstand"/Brüssel
21 Januar 2014
SPEECH/14/47
Kernaussagen der Rede:
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Säule des Binnenmarkts, den alle Mitgliedstaaten
gemeinsam beschlossen haben. Sie ist nicht trennbar von den anderen drei
Grundfreiheiten – des freien Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen und Kapital.
Ich warne davor, die Freizügigkeit als Sündenbock für nationale Entscheidungen oder
Probleme zu nutzen.
Freizügigkeit ist keine Einbahnstraße. Das Recht auf Freizügigkeit ist kein Recht auf
Einwanderung in die nationalen Sozialsysteme.
Missbrauch zerstört die Freizügigkeit und muss bekämpft werden.
Falls manche Länder zu großzügige Bestimmungen für ihre Sozialsysteme haben, ist es
sicherlich nicht Aufgabe der EU-Kommission, dieses Problem zu lösen.
Wir müssen die europäischen Gesetze nicht ändern. Die derzeitigen Regeln zur
Freizügigkeit und zum Anrecht auf Sozialleistungen sind fair und ausgewogen.
Die Mitgliedstaaten sollten den Spielraum, den die europäischen Regeln ihnen bieten,
nutzen und auf nationaler Ebene konsequent durchgreifen und Missbrauch zu
bekämpfen.
Die Freizügigkeit ist eines der am meisten geschätzten Rechte der EU-Bürger, und ich
bin entschlossen, dieses Recht auch in Zukunft kompromisslos zu verteidigen.
2
REDE:
Meine Damen und Herrn,
Das Recht der EU-Bürger, in jedem anderen EU-Mitgliedstaat zu leben, zu arbeiten oder
zu studieren zählt zu den vier Grundfreiheiten der Europäischen Union. Es ist eine der
größten Errungenschaften der EU-Integration.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Säule des Binnenmarkts, den alle Mitgliedstaaten
gemeinsam beschlossen haben. Sie ist nicht trennbar von den anderen drei
Grundfreiheiten – des freien Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen und Kapital. Den
Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten gibt es also ganz oder gar nicht.
Diesen Grundsatz hat das Europaparlament letzte Woche mit überwältigender Mehrheit
bekräftigt.
An dem Recht der Freizügigkeit wird nicht gerüttelt. Darin waren sich auch die
Innenminister der EU bei ihrer letzten Sitzung am 5. Dezember einig, mit der Ausnahme
von Großbritannien. Sie waren sich auch einig, dass stärker gegen Missbrauch
vorgegangen werden soll.
Ich würde mir wünschen, dass wir die Debatte um die Freizügigkeit oder die
sogenannte Armutsmigration ruhig und nüchtern führen. Dazu möchte ich heute
beitragen.
Was sagen die Zahlen?
Die Freizügigkeit ist das Recht, das die Menschen am stärksten mit der
Unionsbürgerschaft verbinden. Mehr als 14 Millionen europäische Bürgerinnen und
Bürger haben ihr Herkunftsland verlassen und leben jetzt in einem anderen
Mitgliedstaat.
Für 56% der EU-Bürger ist diese Freiheit die größte Errungenschaft der EU. 67% der EUBürger sind überzeugt, dass die Wirtschaft ihres Landes von der Freizügigkeit profitiert.
Doch in wirtschaftlich harten Zeiten sind mobile EU-Bürger allzu oft leichte Ziele. Ich
warne davor, die Freizügigkeit als Sündenbock für nationale Entscheidungen
oder Probleme zu nutzen. Und ich stimme dem deutschen Außenminister FrankWalter Steinmeier zu, der gerade davor gewarnt hat, die Freizügigkeit einzuschränken,
da dies "Deutschland schaden" würde.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit trägt schon seit den 1960er Jahren dazu bei,
Qualifikationen und Beschäftigungsmöglichkeiten in Europa besser in Einklang zu
bringen. Die Personenfreizügigkeit zu beschränken ist keine Antwort auf die hohe
Arbeitslosigkeit oder auf die Krise.
Ganz im Gegenteil. Die Freizügigkeit ist heute angesichts der erheblichen
Ungleichgewichte auf den europäischen Arbeitsmärkten und der schrumpfenden
Erwerbsbevölkerung für das Wirtschaftswachstum mehr denn je dringend notwendig. In
der EU sind nach wie vor etwa 2 Millionen offene Stellen nicht besetzt. Arbeitskräfte
werden dringend gebraucht, um diese Jobs zu übernehmen. Deutschland, das
händeringend qualifizierte Menschen sucht, um Zehntausende Stellen zu besetzen, ist
hierfür ein gutes Beispiel.
Die übergroße Mehrheit der EU-Bürger, die in anderen Mitgliedstaaten leben, arbeitet
und zahlt dort Steuern. Im EU-Durchschnitt ist die Beschäftigungsquote bei den EUBürgern in anderen Mitgliedstaaten mit 68% sogar höher als bei den dort ansässigen
Menschen mit 65%. EU-Bürger, die in ein anderes Mitgliedsland ziehen, sind also
seltener arbeitslos. Damit tragen diese Arbeitnehmer zur Finanzierung der
3
nationalen Sozialsysteme bei, statt
Nettozahler, nicht "Sozialtouristen".
von
ihnen
zu
profitieren.
Sie
sind
Es gibt auch gute wirtschaftspolitische Argumente für die Freizügigkeit: Das
Bruttoinlandsprodukt der fünfzehn "alten" EU-Mitgliedstaaten hat als direkte Folge der
EU-Osterweiterung von 2004 bis 2009 um schätzungsweise 1 Prozent zugenommen. Das
bedeutet, dass die Mobilität nicht nur den Menschen nutzt, die von ihr Gebrauch
machen, sondern auch den Aufnahmeländern einen Gewinn bringt.
Das Ende der Übergangsregelung für Rumänen und Bulgaren ist auch deshalb eine gute
Nachricht: Sie dürfen nun überall in der EU, wie alle anderen EU-Bürger auch, ein
reguläres Arbeitsverhältnis eingehen. Das entlastet die Sozialkassen, wenn die Menschen
in dem Land Steuern und Abgaben zahlen, in dem sie leben.
Was sagen die EU-Regeln?
Freizügigkeit ist aber keine Einbahnstraße.
Die Freizügigkeit sieht Rechte und Pflichten vor. Diese sind im EU Recht (der EUFreizügigkeitsrichtlinie und der Verordnung zur Koordinierung der nationalen
Sozialsysteme) verankert.
Freizügigkeit bedeutet nicht, dass die Mitgliedstaaten allen EU-Bürgern bedingungslos
Sozialleistungen zahlen müssen. Das Recht auf Freizügigkeit ist kein Recht auf
Einwanderung in die nationalen Sozialsysteme.
Denn das Aufenthaltsrecht ist an klare Bedingungen geknüpft. EU-Bürger müssen
entweder eine Arbeit haben, eine Arbeit suchen oder ausreichende Mittel nachweisen
können, um sich selbst zu versorgen.
Missbrauch zerstört die Freizügigkeit und muss bekämpft werden. Und zwar
durch eine klare Anwendung der Regeln der Freizügigkeitsrichtlinie, die Ausweisungen
und Wiedereinreisesperren in Fällen vorsehen, in denen das Recht auf Freizügigkeit
verletzt oder missbraucht wurde.
Das EU-Recht enthält ausreichende Sicherungsvorkehrungen, um unangemessene
finanzielle Belastungen für den Aufnahmemitgliedstaat zu vermeiden.
Und falls manche Länder zu großzügige Bestimmungen für ihre Sozialsysteme haben, ist
es sicherlich nicht Aufgabe der EU-Kommission, dieses Problem zu lösen.
Was tun, wenn es Missbrauch gibt?
Ich bestreite nicht, dass vereinzelt Missbrauch vorkommt, oder dass es mancherorts eine
Konzentration ärmerer Zuwanderer gibt, die Schwierigkeiten bereitet. So ist laut dem
Städterat in Deutschland die Scheinselbstständigkeit das größte Problem in manchen
deutschen Kommunen.
Probleme wie dieses sollten in Angriff genommen werden.
Auch wenn er kein weit verbreitetes Phänomen ist, kann Rechtsmissbrauch die
Zustimmung der EU-Bürger zur Freizügigkeit untergraben. Missbrauch schadet
der Freizügigkeit. Deshalb müssen wir gegen Missbrauch vorgehen.
Manche Länder wissen sich dabei auch durchaus zu helfen. So hat Belgien (in
dem 7% der Bevölkerung EU-Ausländer sind) im Jahr 2013 insgesamt 5.571 EUAusländer – darunter viele Franzosen und Niederländer – ausgewiesen. Dabei
hat das Land die geltenden EU-Regeln zur Freizügigkeit genutzt, da die betroffenen
Menschen offenbar "Sozialtouristen" waren und nicht selbst für sich sorgen konnten.
4
Dann höre ich wiederum, dass der Vorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft jüngst
in einer Talkshow erklärt, zurzeit gäbe es in Deutschland rund 120.000 ausreisepflichtige
Ausländer. Allerdings würden diese Ausweisungen von den zuständigen Behörden nicht
vollzogen.
Fazit: Die Mitgliedstaaten sollten den Spielraum, den die europäischen Regeln ihnen
bieten, nutzen und auf nationaler Ebene konsequent durchgreifen und Missbrauch zu
bekämpfen.
Städte in Not? –Ihr seid nicht allein!
Die Kommission nimmt die Sorgen einiger Mitgliedstaaten über möglichen Missbrauch
der Freizügigkeit sehr ernst.
Die Kommission unterstützt sie daher bei der Bewältigung dieser Herausforderung.
Die Eingliederung marginalisierter EU-Bürger in einigen Großstädten ist ein Thema, das
ich besonders ernst nehme. Vereinzelt kommt es zu einer besonderen Belastung der
öffentlichen Dienstleistungen im Schul-, Gesundheits- und Wohnungswesen. Zur Lösung
dieser Probleme stehen EU-Gelder bereit, die die Mitgliedstaaten aber nicht immer
nutzen. Jüngst las ich in der deutschen Presse, dass Deutschland im November 2013
erst 63% der ihm zustehenden Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds abgerufen
hatte. Hier ist also noch Luft nach oben.
Die Kommission will helfen. Deshalb haben wir im November des letzten Jahres eine
Mitteilung zur Freizügigkeit der EU-Bürger und ihrer Familien vorgelegt.
Diese Mitteilung erläutert die Rechte und Pflichten der EU-Bürger, sowie die
Bedingungen und Beschränkungen des EU-Rechts zur Freizügigkeit. Sie enthält fünf
konkrete Aktionen, um es den Mitgliedstaaten zu erleichtern, gegen möglichen
Rechtsmissbrauch, Betrug und Gefahren für die öffentliche Ordnung
vorzugehen und EU-Mittel wirksamer für soziale Integration einzusetzen.





Erstens werden wir ein Handbuch zur Bekämpfung von Scheinehen
herausgeben,
Zweitens werden wir die Regeln für den Wohnortstest zum Bezug von
Sozialversicherungsleistungen klarer machen. Mein Kollege, Kommissar Andor,
hat am 13. Januar einen Leitfaden vorgestellt, um den nationalen
Sozialversicherungsträgern dabei zu helfen, den entsprechenden Test
effektiver anzuwenden;
Drittens wird die Kommission ein Online-Training für Mitarbeiter von lokalen
Behörden entwickeln,
Viertens werden wir am 11. Februar europäische Bürgermeister zu einer
Konferenz über EU-Mobilität auf lokaler Ebene einladen. Denn viele Kommunen
haben spezielle Maßnahmen ausgearbeitet, mit denen sie Neuankömmlinge
willkommen heißen, aber auch die Herausforderungen im Zusammenhang mit
sozialer Eingliederung angehen. Diese Konferenz bietet eine erste Möglichkeit,
sich darüber auszutauschen und gemeinsam über die Umsetzung der
Freizügigkeitsbestimmungen in der EU und die Bewältigung von sozialen
Herausforderungen in Städten und Gemeinden zu diskutieren.
Und fünftens fordern wir die Mitgliedstaaten auf, die Mittel des EU-Sozialfonds
auf lokaler Ebene effizienter zu nutzen. Mindestens 20% der Zuweisungen des
Europäischen Sozialfonds müssen Mitgliedstaaten ab diesem Jahr für die
Förderung der sozialen Eingliederung und die Bekämpfung der Armut
einsetzen.
5
Wie geht es weiter?
Mein heutiges Fazit ist: Missbrauch bekämpfen: ja. Freizügigkeit einschränken: nein.
Wir müssen die europäischen Gesetze nicht ändern. Die derzeitigen Regeln zur
Freizügigkeit und zum Anrecht auf Sozialleistungen sind fair und ausgewogen.
Sie enthalten ausreichende Sicherungen um zu verhindern, dass EU-Bürger zu einer
Belastung für ihr Wohnsitzland werden.
Aber die Mitgliedstaaten müssen sehr wohl die vorhandenen Regeln anwenden, um
wirksam gegen Missbrauch vorzugehen.
Es ist die gemeinsame Verantwortung der Mitgliedstaaten und der EU, dafür zu sorgen,
dass die Freizügigkeit Bürgern Vorteile bringt und zu Wachstum und Beschäftigung führt.
Mitgliedstaaten sollen hart gegen Missbrauch vorgehen. Die Kommission unterstützt das.
Und die europäischen Regeln erlauben es.
Wir wollen das Recht der Freizügigkeit stärken.
Die Freizügigkeit ist eines der am meisten geschätzten Rechte der EU-Bürger, und ich
bin entschlossen, dieses Recht auch in Zukunft kompromisslos zu verteidigen.
6
Herunterladen