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SPEECH/03/225
Michaele Schreyer
Für Haushalt zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission
Die Erweiterung der Europäischen
Union - mehr Chancen als Risiken?
Vortrag American Chamber of Commerce, Lunch
Hotel Steigenberger, Los Angeles Platz 1, Berlin, 28.03.2003
Anrede,
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung, heute zu Ihnen zu sprechen.
In weniger als drei Wochen – am 16. April – werden in Athen feierlich die Verträge
mit Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien,
Zypern und Malta zum Beitritt zur Europäischen Union unterzeichnet. Dennoch
bestimmt derzeit nicht dieses historische Ereignis die politische Agenda, sondern
der Krieg in Irak.
Die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der UN um eine
friedliche Lösung des Konflikts wurden durch den Kriegsausbruch beendet. Es sind
bittere Ereignisse alle die Menschen, die Opfer des Krieges sind. Es sind bittere
Tage für die Vereinten Nationen und für die Europäische Union, da es keine
umfassende gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Position gab. Wir
werden von der EU nur dann wirksam zum Frieden in der Welt beitragen können,
wenn wir gemeinsam handeln.
Wir wissen heute nicht, wann und unter welchen Umständen der Krieg beendet
werden kann. Für die oft an mich gerichtete Frage, mit wieviel Geld sich die Union
am Wiederaufbau beteiligen wird, fehlt jede Kalkulationsbasis. Ich bin auch nicht
bereit, eine Debatte zu führen, die die Illusion nährt, dass man einem
Kriegsgeschehen nur eine Wiederaufbautruppe folgen lassen muss, und alle
Schäden seien dann wieder beseitigt.
Die Kommission ist bereit, jede humanitäre Verpflichtung und jede politische
Verpflichtung zu tragen und die entsprechenden Maßnahmen zur ergreifen. Nach
der Genfer Konvention sind die kriegführenden Parteien für den Schutz und die
Versorgung der Zivilbevölkerung verantwortlich. Kofi Annan hat dies betont. Die
Lieferung von Hilfsgütern durch die USA und Großbritannien ist angelaufen. Es
sollten auch die Mittel aus dem Programm Öl für Lebensmittel genutzt werden. Die
EU-Kommission hat ihrerseits bereits 21 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur
Verfügung gestellt und die Maßnahmen laufen bereits. In den nächsten Tagen
werden weitere 79 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt bereit stehen, um über die
internationalen Hilfsorganisationen den Menschen im Irak Hilfe zu leisten.
Anrede,
die derzeitigen Geschehnisse machen uns wieder bewusst, welch unermesslich
hohes Gut der Frieden ist und erinnern uns wieder stärker daran, dass der höchste
Wert des gemeinsamen europäischen Weges darin besteht, Frieden zwischen den
Mitgliedern zu sichern.
Was bedeutet die anstehende EU-Erweiterung nun in nüchternen statistischen
Werten?
Die Bevölkerung der EU wird um 20% wachsen – von derzeit 375 Millionen
Menschen auf 450 Millionen. Territorial wird die EU um 23% größer. Damit war
übrigens die letzte Erweiterung 1995 um Österreich, Schweden und Finnland
flächenmäßig relativ zur alten Union größer und die Erweiterung 1973 von den
Gründerstaaten um Großbritannien, Dänemark und Irland bevölkerungsmässig
größer.
Ein großer Unterschied zu den früheren Erweiterungsrunden besteht in
wirtschaftlicher
Hinsicht.
Die
zukünftigen
Mitgliedstaaten
weisen ein
durchschnittliches Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von ca. 40% der bisherigen
Mitgliedstaaten auf. Als 1986 Portugal und Spanien der Gemeinschaft beitraten,
hatten sie ein Pro-Kopf-BIP von 70% des damaligen Durchschnitts.
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Ist dies ein wirtschaftliches Risiko für die jetzige EU? Absolut nein. Im Gegenteil. Es
erweitert sich ja der Binnenmarkt um 75 Million Verbraucher. Dies führt zu mehr
Warenund
Dienstleistungshandel,
zu
verstärktem
Wettbewerb,
zu
Investitionsströmen. Dies fördert das Wirtschaftswachstum. Die Erweiterung ähnelt
damit der Schaffung des Binnenmarktes. Die Integration bedeutet
Aufholmöglichkeiten für die Länder mit wirtschaftlichem Abstand. Auch die höheren
Wachstumsraten in den Erweiterungsstaaten im Vergleich zu den EU-15 sind nicht
nur positiv für die neuen Mitgliedstaaten, sondern auch für die alten. Natürlich kann
man sich dabei nicht auf einen Automatismus verlassen, sondern es bedarf zum
einen der Initiative des einzelnen Wirtschaftstreibenden und auch einer soliden
Wachstumspolitik, einer nachhaltigen Wachstumspolitik, um die vorhandenen
Potenziale zu aktivieren.
Im Jahr 2000 haben sich die Staats- und Regierungschefs in Lissabon das Ziel
gesetzt, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum zu machen. Das ist ein wahrlich ehrgeiziges Ziel und das gilt eben
auch für die erweiterte Union. Für den letzten Gipfel in Brüssel wurde Bilanz
gezogen, inwieweit die als notwendig erachteten Schritte schon gegangen sind.
Lassen Sie es mich zusammenfassen: ein Teil der Hausaufgaben ist noch nicht
gemacht und dabei sind noch nicht einmal alle Aufgaben gestellt. Es müssen eben
die politischen Schritte auch gegangen werden, um die großen Vorteile dieses
großen – und in Zukunft noch vergrößerten Binnenmarktes - auch zu nutzen.
Von den Freiheiten des Binnenmarktes – freier Waren-, freier Kapital-, freier
Dienstleistungsverkehr und Freizügigkeit tritt die letztere, die Freizügigkeit für
Arbeitnehmer nicht unmittelbar in Kraft. Für einen Zeitraum bis zu 7 Jahren können
die derzeitigen Mitgliedstaaten das Recht der Bürger aus den Ländern Mittel- und
Osteuropas auf Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung auf ihrem Gebiet
einschränken.
Die neuen Mitgliedstaaten werden auch nicht sofort Vollmitglieder von Schengen
oder Mitglieder der Währungsunion sein. Für die Mitgliedschaft von Schengen
müssen erst die Standards für die Grenzsicherheit erfüllt werden. Für die
Übernahme des Euro muss ein Land vorher 2 Jahre erfolgreich am
Wechselkursmechanismus teilgenommen haben und es müssen die MaastrichtKriterien erfüllt sein, d.h. geringe Inflation und niedrige Zinssätze nahe am EUDurchschnitt. Zudem muss das Haushaltsdefizit niedriger als 3% des
Bruttoinlandsproduktes liegen. Derzeit müssen diese Kriterien von den
Erweiterungsländern noch nicht erfüllt werden; aber dennoch orientieren sich die
Staaten in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik bereits daran.
Lässt sich die Erweiterung finanziell für den EU-Haushalt bewältigen? Hier hatte es
im Vorfeld des Abschlusses der Erweiterungsverhandlungen ja wüste
Spekulationen gegeben. Im Dezember letzten Jahres sind in Kopenhagen die
Verhandlungen abgeschlossen worden und m.E. mit einem guten und
ausgewogenen Ergebnis. Ab dem 1. Mai 2004 – dem Tag der Erweiterung –
werden die neuen Mitgliedstaaten an allen Förderprogrammen aus dem EUHaushalt teilhaben – an dem Fonds für die Landwirtschaft, für die Strukturpolitik, an
der Forschungsförderung, den Umweltprogrammen, den Jugendprogrammen und
wir werden möglichst schnell gute Beamte aus den neuen Mitgliedstaaten
rekrutieren, denn selbstverständlich wird die Erweiterung mit einer Aufstockung von
Stellen im Rat, im Parlament und in der Kommission einhergehen müssen.
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Für die gesamten Ausgaben für die Erweiterung für die nächsten 3 Jahre wurde ein
Rahmen fixiert. Es wurde auch festgelegt, dass die neuen Mitgliedstaaten von
Anfang volle Beiträge an den europäischen Haushalt entrichten. Die Nettokosten
der Erweiterung werden für die EU-15 für die ersten 3 Jahre insgesamt ca. 11 Mrd.
Euro betragen. Das macht deutlich: die zusätzlichen Mittel, die wir einsetzen, sind
z.B. nicht mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichbar. Im europäischen
Haushalt entstehen – außer in einigen Teilen der Agrarpolitik – keine
Rechtsansprüche und es gibt keinen Finanzausgleich wie im föderalen System der
Bundesrepublik Deutschland oder Österreichs.
Insgesamt wird die europäische Staatsquote – d.h. der Anteil des EU-Haushalts am
europäischen Bruttovolkseinkommen - im nächsten Jahr trotz der Erweiterung
geringer sein als 10 Jahre zuvor.
Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist eine politische Union. Die
EU-Gesetzgebung betrifft nicht nur den Wettbewerb, die Herstellung des
Binnenmarktes,
sondern
z.B.
auch
das
Gleichstellungsrecht,
die
Zuwanderungspolitik, den Umweltschutz, das Veterinärrecht oder den
Verbraucherschutz. Die Erweiterung stellt einen nie dagewesenen Transfer von
moderner europäischer Gesetzgebung dar. Es werden dann nicht mehr in 15
sondern in 25 Staaten Europas in vielen Bereichen die gleichen Gesetze gelten.
Das ist ein großer Gewinn z.B. für die Umwelt oder den Verbraucherschutz.
Welche Schritte sind konkret noch zu tun, bis die Erweiterung Realität wird? Am 9.
April wird das Europäische Parlament über seine Zustimmung zu den
Beitrittsverträgen entschieden, am 16. April ist die Unterzeichnung der Verträge
vorgesehen und es erfolgten bereits die ersten Referenden in den
Erweiterungsstaaten. Die Bevölkerungen von Malta und Slowenien haben bereits
mit Mehrheit für den Beitritt zur EU gestimmt, in Slowenien mit einer Mehrheit von
90%.
Die Erweiterung zum 1. Mai 2004 wird nicht die letzte sein. Zwei Kandidatenländer,
Rumänien und Bulgarien, verhandeln bereits seit dem Jahr 2000 über einen Beitritt
und haben bedeutende Fortschritte auf ihrem Weg hin zur Mitgliedschaft gemacht.
Wir gehen davon aus, dass eine Mitgliedschaft dieser beiden Länder zum Jahr
2007 möglich ist. Wir, die Kommission, haben gerade vorgeschlagen, die
sogenannte Vorbeitrittshilfe aufzustocken.
Auch die Türkei ist ein Beitrittskandidat, wenngleich mit ihr gegenwärtig noch keine
formalen Beitrittsverhandlungen geführt werden. Diese könnten aber schon ab
Ende 2004 aufgenommen werden, sollte das Land dann die politischen
Beitrittskriterien erfüllen, also insbesondere die Garantie der Einhaltung der
Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Die Kommission ist aufgerufen,
bis Ende Oktober 2004 einen Bericht über die Fortschritte der Türkei vorzulegen
und zu bewerten, ob die sogenannten Kopenhagen-Kriterien erfüllt sind. Die Türkei
hat in der letzten Zeit bedeutende Reformen durchgeführt. Das ist nachdrücklich zu
begrüßen und zu unterstützen. Deshalb hat die Kommission jetzt vorgeschlagen,
die Hilfe an die Türkei aus dem EU-Haushalt beträchtlich aufzustocken. Mein
Kollege Günther Verheugen hat dabei aber auch betont, dass die Kommission es
sehr kritisch betrachtet, dass noch keine politische Lösung für Zypern erreicht
wurde und dass es unvorstellbar wäre, 2004 Erweiterungsverhandlungen mit einem
Land aufzunehmen, dass einen Teil eines dann EU-Mitgliedstaates militärisch
besetzt hält. Es gilt: die Türkei hält ihre Zukunft auch in Bezug auf ihre
Mitgliedschaft in der EU selbst in der Hand.
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Wenn Sie sich die Landkarte der EU anschauen, werden Sie bemerken, dass nach
den zwei nächsten Beitrittsrunden mitten in Europa ein "weißer Fleck" liegt. Die
Balkanländer werden mitten in der Union liegen, aber ihr nicht angehören. Dass an
einem dauerhaften Zustand dieser Art aus vielen Gründen weder diese Länder
selbst, noch die Union ein Interesse haben können, liegt auf der Hand.
Die Kommission hat daher in dieser Woche noch einmal ihre Förderung einer
"immer engeren Annäherung der Länder der Region an die Europäische Union"
bekräftigt, an deren Ende eine Mitgliedschaft in der Union stehen soll. Die
Bestimmung des Tempos bei dieser Annäherung liegt auch hier letztlich in der
Hand der Länder selbst. Dabei hat Kroatien ja bereits einen Aufnahmeantrag
gestellt.
Die Union will weiterhin alles tun, um die oft schwierigen Reformen in der Region zu
unterstützen. Und es ist noch viel zu tun: die politischen Institutionen und
Verwaltungen sind teilweise noch schwach; Probleme im Rechtswesen und der
Durchsetzung von Minderheitenrechten bestehen fort. Die Ermordung Zoran
Djindjics hat uns die Probleme wieder erschreckend vor Augen geführt. Aber es ist
auch vieles mit europäischer Unterstützung erreicht worden: Aufbau von
Demokratie, Rückkehr von Flüchtlingen, Wirtschaftshilfe, massiver Wiederaufbau
der ganzen Region.
Der Balkan stellte eine grosse Herausforderung an die Gemeinsame Aussen- und
Sicherheitspolitik dar. Die Union hat mit neuen Massnahmen im Rahmen der
Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik reagiert. Sie führt jetzt – erstmalig –
eine gemeinsame Polizeimission in Bosnien durch und die Union wird erstmalig ein
militärisches Kommando - in Mazedonien -übernehmen. Der Krieg auf dem Balkan
und die frühere Handlungs- und selbst Sprachunfähigkeit der EU in den neunziger
Jahren - haben schließlich zu einem massiven Schub in der Gemeinsamen Aussenund Sicherheitspolitik geführt.
Anrede,
mit der Erweiterung wird die EU neue Nachbarn im Osten erhalten. Welche
zukünftigen Beziehungen wünschen wir zu unseren Nachbarn im Osten und im
Süden? Die Kommission hat dieser Tage ein Konzept vorgelegt für eine verstärkte
Nachbarschaftspolitik zu Russland, der Ukraine, der Republik Moldavien und
Belarus sowie zu den Ländern des Mittelmeerraumes.
Es geht um eine verstärkte Integration, um Förderung des freien Waren-,
Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, es geht um mehr Freizügigkeit, um stärkere
Beteiligung an Konfliktverhütung, um Kooperation in der Forschungspolitik. Wir
müssen verstärkt Wege gehen, um unsere Nachbarn in die Entwicklung von
Stabilität, Sicherheit, Wohlstand einzubeziehen.
Und wir müssen unser Haus, unsere Institutionen, für ein Funktionieren in der
erweiterten Union fit machen. Das ist Aufgabe des Konvents zur Zukunft Europas.
Der Konvent arbeitet an einem umfassenden Vorschlag und wird einen
Verfassungsvertrag vorlegen mit Grundrechten für die Bürger Europas, den Zielen
und den Werten der Union, mit einer Finanzverfassung, mit den Regeln für die
Gesetzgebungsverfahren und den Strukturen und Aufgaben der Institutionen. Er
muss die Balance finden zwischen Vision und Pragmatismus. Er sollte Fortschritte
bei der Parlamentarisierung der Entscheidungsprozesse bringen und weitere
Integration ermöglichen, gerade auch in der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik. Der Krieg im Irak und die derzeitigen politischen Unterschiede in
der Union sind kein Grund zur Resignation, sondern stellen allen Grund dar, unsere
Anstrengungen zu verstärken für den gemeinsamen europäischen Weg.
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