Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft

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ROSTISLAV NĚMEC
Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft
Themenkreise:
1. Veränderbarkeit der Sprache. Sprachgeschichtsschreibung (Sprachhistoriographie) –
Beschreibung der historischen Entwicklung einer Sprache (Sprachgeschichte)
2. Theorien vom Sprachwandel – Entwicklung von Sprache
a. Sprachliche Ökonomie
b. Sprachliche Innovation
c. Sprachliche Variation
d. Sprachliche Evolution
3. Periodisierung der dt. Sprache – wichtigste Etappen
4. Vorgeschichte der dt. Sprache. Sprachgruppen der Erde. Indogermanische
(indoeuropäische, IE) Sprachen.
5. Vom IE zum Germanischen. Erste Lautverschiebung, die zur Entwicklung der
germanischen Sprachen führte.
6. Das Germanische – bis zum 1.Jh.v.Ch.
7. Zeit germanischer Stammessprachen – verschiedene germanische Stämme. 1.Jh.v.Ch.
– 5.Jh.n.Ch. Erste schriftlich belegte Sprache – das Gotische.
8. Anfänge der deutschen Sprache. Die zweite Lautverschiebung.
Quellen:
Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd.1,
Kap. 1,2,3. Berlin 2000.
Peter von Polenz: Geschichte der dt. Sprache. 9. überarbeitete Auflage. Kap.1,2. Berlin 1978.
Wilhelm Schmidt: Geschichte der dt. Sprache. 7. überarbeitete Auflage. Seitenumfang 15-26.
Stuttgart 1996.
Gliederung:
A) Was ist Sprache?
B) Vorkommnisweisen von Sprachen
C) Beschreibungsmethoden
D) Beschreibungsdimensionen
E) Beschreibungsebenen
ad A) Was ist Sprache?
Sprache ist die wichtigste Schöpfung des menschlichen Geistes. Das Funktionieren des
menschlichen Geistes konnte ohne Sprache kaum begriffen werden. Die Sprache ist ein Code
oder ein komplexes System verschiedener Subsysteme, mit deren Hilfe Individuen oder
soziale Gruppen kommunizieren.
WILHELM VON HUMBOLDT (1767-1835)
Er kam mit der „Energea-These“: Die Sprache ist kein Werk (ergon), sondern eine Tätigkeit
(energea). Die Sprache ist etwas in jedem Augenblick vorübergehendes, selbst ihre Erhaltung
durch die Schrift ist immer nur eine unvollständigeAufbewahrung. „Die Sprache ist die sich
ewig wiederholende Arbeit des Geistes.“ Diese Auffassung entspricht der Ideologie der
deutschen Romantik: Sprachen sind anders, weil sie die Mentalität einzelner Völker
widerspiegeln. Wir wissen nun, dass das nicht stimmt, trotzdem ist die Energea-These von
großer Bedeutung. „Sprache ist veränderlich im Sinne eines selbstständigen
Wandlungsprozesses und veränderbar durchs menschliche Handeln.“
1
ad B) Vorkommnisweisen von Sprachen
Über das Phänomen >Sprache< können wir zwei Aussagen machen: Sprachliche Äußerungen
erfahren wir nicht als Einzelzeichen, sondern als strukturierte, nach einem gewissen Prinzip
organisierte Texte (textum = Gewebe).
Sprachliche Texte nehmen wir in zwei Erscheinungsformen wahr:
1) primäres Zeichensystem in der gesprochenen Sprache, begleitet von paraverbalen
Ausdruckmitteln (Tonhöhe, Stärke, Rhythmus) und extraverbalen Ausdruckmitteln
(Mimik, Gestik)
2) sekundäres Zeichensystem in der geschriebenen Sprache.
F. de Saussure – Dichotomie langue-parole
- bei Untersuchungen der Sprache steht im Zeitraum ein konkretes
Sprechereignis, vor allem die geschriebene Sprache -> fordert zur Analyse
des grammatischen oder semantischen Systems heraus
- untersuche ich parole, finde ich Merkmale von langue
Die traditionelle Sprachgeschichtsforschung hatte vor, die Entwicklung von einheitlich
gesehenen Nationalsprachen zu verfolgen. Dies ist jedoch nicht möglich, weil:
1) die Sprache kein Monosystem, sondern ein Polysystem ist, das beeinflusst wird von:
a. regionalen Varietäten
b. sozialen V.
c. funktionalen V. (Fachsprache)
d. individuellen V.
2) eine Nationalsprache ist keinesfalls homogen, es gibt parallel existierende Sprechund Schreibstile
3) solche Sprech- und Schreibstile können als Zweck orientierte Funktionalstile
vorkommen:
a. Stil des öffentlichen Systems
b. S. der Wissenschaft
c. S. der Publizistik und Presse
d. S. des Alltagsverkehrs, Umgangsstil
e. S. der schönen Literatur
ad C) Beschreibungsmethoden
Es gibt Schwierigkeiten bei der Auswertung des Materials. NOAM CHOMSKY formulierte ein
Kategorienschema – er unterscheidet 3 Angemessenheitsebenen, die bei der Auswertung
behilflich sein können:
1) Beobachtungsangemessenheit – verlangt die vollständige und genaue Wiedergabe
aller relevanten Elemente von einem Textkorpus; sie beruht auf exakter
Datenerhebung. Die Sprachgeschichtsschreibung bedient sich dabei der
Hilfswissenschaften: Kultur, Volkskunde, Ethnographie, Soziolinguistik
2) Beschreibungsangemessenheit – verlangt eine Orientierung durch die
Klassifizierung; wir müssen auf die Kohärenz (inhaltliche Zusammengehörigkeit)
und Konsistenz (innere Einheitlichkeit) Acht geben. Die traditionelle
Sprachgeschichtsforschung verwendet 2 Methoden:
a. komparative (auch vergleichende), BOPP (19.Jh.)
b. innere Rekonstruktion
3) Erklärungsangemessenheit wird dann erreicht, wenn Strukturen oder Prozesse einer
Sprache mithilfe einer Theorie gedeutet werden
2
Noam Chomsky – Adäquatheitsebenen
Ebene
Fragetyp
Beobachtung Was-/Welche- Frage
Erläuterung
Was lässt sich beobachten? Welche Sprachelemente,
welche Äußerungsbedingungen sind erkennbar?
Wie werden solche Elemente in einem System
verwendet?
Warum werden gerade diese Elemente gebraucht?
Beschreibung Wie-/Wozu- Frage
Erklärung
Warumfrage, Damit-/Weil- Antworten
ad D) Beschreibungsdimensionen
Werden im semiotischen Dreieck von CHARLES W. MORRIS ausm Jahre 1938 formuliert.
1) Syntaktik – beschreibt Beziehungen zw. sprachlichen Zeichen oder Zwischen
Zeichen und dem Zeichensystem.
2) Semantik – Beziehung zw. Zeichen und Objekten oder Sachverhalten.
3) Pragmatik – Beziehungen eines Zeichens zu Benutzern.
Zeichensystem
1
Objekte, Sachverhalte
2
Zeichen
3
Benutzer
Zeichen – abhängig voneinander, ergänzen sich, bestimmen sich gegenseitig; ältere
Untersuchungen konzentrierten sich nur auf die Ebene der Syntaktik und der Semantik. =>
aus diesem Grund wird die ältere Sprachgeschichtsschreibung als Spracharchäologie
bezeichnet, die im Ziel hatte, isolierende Behandlungen bedeutender Einzelfakten zu
präsentieren. (JACOB GRIMM)
Heutige Sprachgeschichte (SG) ist pragmatisch aufgefasst, versteht die Entwicklung der
Sprache als soziales Handeln von Menschen unter historischen Bedingungen.
z.B. sunufatarunga – im Hildebrandlied (830):
1. Syntaktik – eine Zusammensetzung
2. Semantik – Bedeutung – Vater + Sohn
3. Pragmatik – wir haben nicht genug Informationen, um dieses
Kriterium zu beschreiben
ad E) Beschreibungsebenen in der SG
- für eine systematische Analyse der Sprache kann man 6 Beschreibungsebenen der Sprache
bestimmen:
Ebene
Textematik = Ebene des Textes
Lexematik = Ebene der WSEinheiten
Syntagmatik = Ebene des Satzes
und der Satzteile
Morphematik = Ebene der kleinsten
bedeutungstragenden Einheiten
Erklärung
Struktur des Textes
lex. Struktur (WS), die Lexik
(paradigmatische Relationen)
Verkettung u. Verknüpfung von
Wörtern (syntagmat. Relationen)
Flexion sowie WB
Phonematik, Graphemik = Ebene
der Laute und der Schriftzeichen
Vorkommen und Funktion der
Laute, z.B. vndt => und
Prosodie = Ebene der paralingualen
Phänomenen
Mittel der Redegliederung
3
Anwendungsbeispiele
Textsorten – Kaufvertrag, Bericht
WS-Umfang, -gliederung,
Bedeutungswandel (Mhd. -> Nhd.)
Satzstrukturen (Parataxe,
Hypotaxe), Satzmuster, Satzlänge
Konjugation, Deklination
(Vergleich mhd.xfnhd.: der Sonnen
Schein => Sonnenschein
Konsonantenbestand,
Diphthongierung,
Monophthongierung;
Großschreibung
Sprechpausen (in der Barockzeit
durch die Virgel „/“)
Geschichtlichkeit der Sprache und die Sprachgeschichtsforschung (SGF)
A) synchrone x diachrone Sprachbetrachtung
B) ältere SGF
C) 4 Dimensionen der Sprache bei der SGF
FERDINAND DE SAUSSURE (dS)
- zum ersten Man von dS im Jahre 1916 präsentiert
- Synchronie = Gleichzeitigkeit
- Diachronie = Aufeinanderfolge, Entwicklung
- dS schlug vor, die SW nach 2 Prinzipien zu gliedern:
- Achse AB – Achse der Synchronie; stellt Beziehung zw. bestehenden Dingen
dar (Gleichzeitigkeit)
- Achse CD – Achse der Diachronie (Aufeinanderfolge, Entwicklung)
- dS trennt ganz streng zw. der Synchronie und der Diachronie – bevorzugt
die Synchronie
C
B
A
D
EUGEN COSERIN
- kritisierte die strenge Trennung zwischen S. und D.
- „S. und D. gehören der Betrachtungsebene an.“
- jede Sprachbeschreibung muss beide Aspekte berücksichtigen
- jedes Sprechen schließt historisches Bewusstsein und die Geschichtlichkeit der
Sprache mit ein
Entwicklung der Sprache als soziales Handeln von Menschen unter historischen
Bedingungen
1. Etappe
RASMUS RASK
- befasste sich mit der Analyse der germanischen Sprachen und beschrieb den
Konsonantismus des Germanischen, v.a. die germanischen Veränderungen
(das Germanische ist die erste Etappe des Deutschen)
- Begründer der vergleichenden Grammatik, suchte die Ursprache, das
wichtigste Verfahren = Vergleich, er verglich ganz unterschiedliche Sprachen
und konzentrierte sich dabei auf den Vergleich der morphologischen Systeme,
er wies auf Zusammenhänge zw. dem IE und dem Germanischen hin
- In der späteren Phase seiner Untersuchung lehnte er den Terminus
„indogermanisch“ ab mit der Begründung: „Warum sollte man Germanen für
Repräsentanten aller Völker auf dem Kontinent halten?“
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FRANZ BOPP
- Kollege von Rask
- Begründer der vergleichenden Grammatik, suchte die Ursprache
- das wichtigste Verfahren = Vergleich => verglich ganz unterschiedliche
Sprachen und konzentrierte sich auf den Vergleich von morphologischen
Systemen
- wies auf Zusammenhänge zw. dem IE und dem Germanischen hin
- in einer späteren Phase seiner Untersuchungen lehnte er den Terminus
„Indogermanisch“ ab mit der Begründung: „Warum sollten sich die Germanen
für Repräsentanten aller Völker auf dem Kontinent halten?“
JACOB GRIMM
- Historiolinguistik – Begründer der historischen Grammatik
- suchte Gesetzmäßigkeiten im phonetischen Bereich (Erscheinungen), aufgrund
Bopps Untersuchungen
- formulierte die Entwicklungsgesetze im Germanischen
AUGUST SCHLEICHER
- die Etappe der Historiolinguistik kulminiert
- Botaniker vom Beruf, jedoch seine letzten 17 Jahre widmete er der Linguistik
- publizierte 2 interessante Werke: „Kompendium der vergleichenden
Grammatik der indogermanischen Sprachen“ (1861-62) und „Die darwinische
Theorie und die Sprache“ (1863)
- war als Professor an der Prager Uni tätig, sprach ausgezeichnet Tschechisch
- Sprache ist ein Organismus, der wächst, blüht und verfällt
- Sprachentwicklung vollzieht sich reziprok zu der Entwicklung der
Menschheit => Die Blütezeit der Sprache sah er in der vorgeschichtlichen Zeit;
die modernen Sprachen spiegeln eine Verfallsperiode wider, woraus sich
ergibt, dass die ältesten Epochen der Sprachentwicklung untersucht und
erforscht werden müssen
- verwendete öfters den Terminus Lautgesetz – er rechnete mit der
Gesetzmäßigkeit lautlicher Entwicklung
- in seinem Werk kulminiert die erste Etappe der Linguistik
2. Etappe:
Junggrammatische Schule (JG)
- in den 70er Jahren des 19.Jhs. leiteten junge Linguisten in Leipzig eine neue
Etappe der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft ein
KARL BRUGMANN – Indogermanist; IE = Ursprache (1.Stufe der Sprache)
HERMANN PAUL – 1880 verfasste er „Prinzipien der Sprachgeschichte“, was zur Bibel der
Junggrammatiker wurde
KARL VERNER
- Dane; beschäftigte sich mit Lautgesetzen, „Verners Gesetz“
- Thesen:
1. Sprache ist kein Organismus, sondern eine psychisch-physische
Tätigkeit. Sprachentwicklung ist von Menschen abhängig, die sich
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der Sprache bedienen. Real ist ausschließlich die Sprache des
Individuums.
2. Ursprache ist nur eine Fiktion. Hierfür gibt es keine schriftlichen
Quellen. Sprachdenkmäler zeigen, wie sich die Sprachen entwickeln,
wie sie leben.
3. Ein Schlussbegriff – Lautgesetz – die JG erheben die SW zu einer
Gesetzeswissenschaft
Bewertung:
4 Gründe, die aus heutiger Sicht defizitär erscheinen:
1) sie beschränkten sich auf eine diachrone Beschreibung der einzelnen Phänomene
(Jacob Grimm) – führten somit zum Sprachanatomismus
2) sie operierten nur mit sporadischen Einzelbeispielen
3) sie lieferten mechanisch-kausalistische Erklärungsmodelle, diese lehnten sich
einseitig an die Naturwissenschaften an (Schleichers Modell), vernachlässigten die
Sprache als Kulturprodukt und soziale Institution
4) behandelten zu abstrakt Prinzipien und Gesetze
Ein neues Modell (1920) von FRIEDRICH KLUGE entworfen – er konzentrierte sich nicht mehr
auf deskriptive Sammlung von Einzelfakten, er fragte nach historischen Zusammenhängen
und sucht eine erklärende Synthese.
Nach 1945 erschienen mehrere Strömungen, Einsätze, Theorien; ein Teil knüpft an Kluges
Thesen an; in der DDR marxistisch orientierte historische Linguistik (SCHILDT, AGRICOLA,
FLEISCHER, SCHMIDT).
Versuche die traditionelle Historiolinguistik zu modernisieren: MOSER, EGGERS, WELLS.
Letzte Etappe seit 1980: im Mittelpunkt des Interesses steht die sozialgeschichtlich,
sozialpragmatisch und kommunikationsgeschichtlich orientierte Soziolinguistik. Geschichte
der Textsorten: W. BESCH (Wien), O. REICHMANN, SONDEREGGER, VON POLENZ, SKÁLA (bei
uns).
Vier Dimensionen der Sprache in der Historiolinguistik
- 2 natürliche + 2 soziale Dimensionen
1) Dimension der Zeit – diachronischer (zeitbezogener) Aspekt => Ergebnis =
Periodisierung der sprachlichen Entwicklung
i. Indoeuropäisch
ii. Germanisch
iii. Germanische Stammessprachen
iv. Vordeutsch (vorliterarische Zeit, bis 750 n.Ch.)
v. Ahd. (750-1050)
vi. Mhd. (1050-1350)
vii. Fnhd. (1350-1650)
viii. Nhd. (1650-bis zur Gegenwart)
2) Dimension des Raumes – diatopischer (raumbezogener) Aspekt => Resultat =
geographische Gliederung eines Sprachraumes: man arbeitet mit Dialekten,
Mundarten
3) Soziale Dimension – Benutzer der Sprache – diastratischer
(schichtbezogener) Aspekt => sozialbedingte Unterschiede im
Sprachgebrauch:
i. Soziolekte
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ii. Gruppensprachen
iii. Idiolekte
4) Soziale Dimension – der Sprachgebrauch – diasituativer
(situationsbezogener) Aspekt => die Art und Weise sprachlicher Äußerungen
und Abhängigkeit von Situationen
Grundbegriffe der Sprachentwicklung:
- in der neueren Diskussion hat sich der Begriff „Sprachwandel“ durchgesetzt
(zum ersten Mal vom Linguisten HUGO MOSER benutzt)
HERMANN PAUL – spricht von Veränderungen des Sprachusus (= Gewohnheiten)
F. DE SAUSSURE – Entwicklungsvorgänge
Veränderung – betrifft beobachtbare Oberflächenphänomene = gram. Elemente, d.h. die
Grammatik, d.h. dieser Terminus stellt eine quantitative Kategorie dar
Entwicklung in der Sprachgeschichte – wird mit der Vorstellung von einem
kontinuierlichen Ablauf verbunden = Evolution, und stellt eine teleologische Kategorie dar
(ein solches Verfahren, wobei wir nach Zwecken und Gründen fragen)
Sprachwandel – bezeichnet die Vielfalt der ständig verlaufenden Prozesse = der
Umgestaltung, des Verlustes und der Neubildung sprachlicher Elemente. Sprachwandel stellt
eine pragmatische Kategorie dar – der Terminus entspricht den kommunikativen
Bedürfnissen; wir konzentrieren uns auf Faktoren und Bedingungen von
Veränderungsprozessen -> Sprachwandel – heute aktuell, bei Historiolinguistik verwendet
Theorien zum Sprachwandel:
Naturwissenschaften spielten eine bedeutsame Rolle, es handelt sich um scientistische
Anlehnung der Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften (im 19.Jh. aktuell).
1. Stammbaumtheorie (genealogický strom):
AUGUST SCHLEICHER: 1861-62 präsentierte und erläuterte die Entwicklung der IE
Sprachen und diese Entwicklung skizzierte er als organisches Wachstum durch
Aufspaltung einer hypothetisch rekonstruierbaren Ursprache, nämlich des IE. Infolge
dieser Aufspaltung entstanden die einzelnen Tochtersprachen. Für die Entwicklung der
Sprache gebraucht er folgende Termini: Jugend, Blütezeit, Verfall, Alter.
August Schleichers Stammbaumtheorie
IE-Ursprache
slawo-deutsch
deutsch
ariograeco-italokeltisch
slawolitauisch
litauisch
slawisch
graeco-italokeltisch
italokeltisch
italisch
albanesisch
arisch
griechisch
iranisch
indisch
keltisch
2. Wellentheorie:
Stand teils in der scientistischen Tradition. Formuliert wurde sie in den 70ern des
19.Jhs. von HUGO SCHUCHARDT und JOHANNES SCHMIDT. Politisch-geographisches
Zentrum -> Neuerungen – breiten sich durch Sprachausstrahlungen und
Sprachströmungen wellenförmig aus. Termini: Strahlung, Ausbreitung,
Überlagerung.
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PETER VON POLENZ – „Diese Theorie ist mechanistisch. Es wird darin der
Dimensionsraum überbetont und verabsolutiert. Als positiv kann das betrachtet
werden, dass sich daraus die Dialektologie entwickelt.“
3. Entfaltungstheorie:
OTTO HÖFLER, 1955. Seine Theorie rechnet mit allmählicher Durchsetzung
angeborener Eigenheiten eines Volkes – erbbiologischen Prädisposition - wonach
es, laut Otto Höfler, beispielsweise im germanischen Raum eine Anlage zur
Lautverschiebung oder zum analytischen Sprachbau gibt. Diese Theorie – heute
spekulativ.
4. Konvergenztheorie:
TRUBECKOJ (bzw. TRUBETZKOY), 1939 formuliert. Sprachen stehen im ständigen
Kontakt -> wechselseitige Beeinflussung durch Sprachmischung auch genetisch
nicht verwandter Sprachen führt zur strukturellen Angleichung, z.B. durch
Entlehnungsprozesse – nur teilweise
5. Soziopragmatische Theorien (SPG):
Nach KLAUS MATTHEIER und CHERUBIN wird die Veränderbarkeit von Sprachen durch
folgende Faktoren bestimmt:
A) Ökonomie – streben nach Kürze = Verwendung der Sprache in einer
reduzierten Weise kann die Entwicklung der Sprache beeinflussen
B) Innovation – streben nach Neuerungen = sprachliche Neuerung
C) Variation – streben nach stilistischen Alternativen = Sprachbenutzer reagiert
flexibel auf kommunikative Bedingungen
D) Evolution – Beeinflussung des Sprachgebrauchs durch gesellschaftliche Kräfte
Sprachliche Ökonomie (SÖ)
Sprache ist veränderbar, weil die sprachliche Kommunikation schnell ist. Sie gehört zur
strukturellen Sprachwandeltheorie und ist für SPG-Theorienkonzepte maßgeblich.
ANDRÉ MARTINET – formulierte als wichtigstes Prinzip der sprachlichen Entwicklung die
sprachliche Ökonomie. Wichtig ist dabei die ständige Antinomie = Widerspruch zw. den
Kommunikationsbedürfnissen eines Menschen und seiner Tendenz, seine geistige und
körperliche Tätigkeit auf das Minimum zu reduzieren.
Es gibt kein absolutes Minimum = keine sprachökonomisch ideale Sprache, nur eine relative
Optimierung. SÖ hat auch ihre Grenzen.
HUGO MOSER formulierte 1971 verschiedene Gesichtspunkte, die bei der Untersuchung der
SÖ berücksichtigt werden sollten:
1) aus der Sicht des Homo faber = Alltagssprache
2) aus der Sicht des Homo ludens (spielender Mensch) = die in der Kunst verwendete
Sprache akzeptieren
3) aus der Sicht des Homo novarum verum cupidus = der Mensch erstrebt Neuerungen
4) aus der Sicht des Homo cogitans = denkender Mensch – die Sprache in der Welt der
Abstraktion (bzw. der abstrakten Sprache)
Diese Typen können sich auch gegen die SÖ-Tendenzen auswirken. Moser unterscheidet 2
Haupttypen der SÖ:
a) systembezogene Ökonomie
i. Einsparung sprachlicher Mittel – redundante Sprachmittel = sich
wiederholende Merkmale werden aufgegeben, Varianten der
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Orthographie werden oft ausgespart: fnhd. (1350-1650) vundt -> und,
Photo -> Foto, Eisenbahn -> Bahn, Personenkraftwagen ->PKW
ii. gesteigerte Ausnutzung sprachlicher Mittel:
Polysemie = Mehrdeutigkeit (Birne = 1. Obstsorte, 2. Glühlampe; Bauer
= 1. Landwirt, 2. Käfig);
Polyfunktionalität = sprachliche Mittel haben mehrere Funktionen (der,
die, das = bestimmte Artikel, Relativpronomen, Pro-Formen, z.B. Mein
Sohn... Der weiß es...); alte Wörter dienen zur Benennung neuer Produkte
(Bleistift)
iii. Ökonomie beim Ausbau sprachlicher Mittel:
Wortbildung – (e Verneinung > s Nein, lackieren > lacken);
Verbableitungen (falsch tun > sich verfahren)
b) informationsbezogene Ökonomie
i. Vermehrung der Informationsmenge + inhaltliche Sicherung –
geschieht v.a. durch das Infotempo (z.B. die Verfestigung trennbarer
Präfixverben: anerkennen – ich anerkenne, widerspiegeln – es
widerspiegelt); komprimierende Zusammensetzungen
(Spitzenkandidat, Kanzlerreise)
ii. systemökonomisch neutrale Erscheinungen – können
informationsökonomisch sein (z.B. Ausklammerung: Der Prozess kann
dadurch, dass ... erleichtert werden -> Der Prozess kann dadurch
erleichtert werden, dass...)
iii. systemökonomische Erscheinungen – können auch
informationsunökonomisch sein, z.B. Abkürzungen: mhd. =
mittelhochdeutsch
iv. systemunökonomische Erscheinungen – können
informationsökonomisch sein, z.B.: fnhd. dass = dass, nhd. = dass,
damit, so dass
Arten der sprachökonomischen Ersparung – kennzeichnend für Textsorten
1) Kompensatorischer Stil – bei direkter mündlicher Kommunikation verwendet,
umfasst para- und nichtsprachliche Mittel (Kopfbewegungen, Gestik) und in der
schriftlichen Kommunikation werden verschiedene pragmatische Satzzeichen
benutzt (z.B. das Fragezeichen).
2) Elliptischer Stil – bestimmte Wörter oder Wortteile weggelassen – Telegrammstil,
z.B. Ankomme, Donnerstag, 13 Uhr, Hauptbahnhof.
3) Komprimierter Stil – Nominalisierung, Wortzusammensetzung
4) Hintergründiger (skrytý) Stil – typisch für die Sprache der Intellektuellen mit
Anspielungen z.B. hinsichtlich der Politik
Sprachliche Innovation (SI)
Die Sprache ist veränderbar weil sie nicht nur reproduktiv, sondern auch produktiv benutzt
wird. Zur sprachlichen Kompetenz der Sprachbenutzer gehört auch die Fähigkeit zum
kreativen Sprachgebrauch. Sie verläuft auch auf der Ebene des Wortschatzes.
3 Arten der SI:
1) Wortbildung (WB)
2) Wortentlehnung
3) Bedeutungswandel
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ad 1) Wortbildung
5 formale Arten der WB:
a. Komposition der Lexeme, z.B. das Tschernobyljahr
b. Derivation: Ableitung aus freien Lexemen mit Präfixen und Suffixen
(Vorentlastung, Soldatin)
c. Kombination: Volllexeme der Lehnwortbildung (z.B. Öko-System)
d. Konversion – Wortartwechsel (z.B. das Für und Wider, frau – man)
e. Wortkürzung (AG, Uni, Pille, Limo)
Triebkräfte der WB – 10 typische Motive von Sprachbenutzern zur kreativen Anwendung
ihrer WB-Kompetenz.
1) Benennung neuer Sachverhalte (Wissenschaft, Technik, Politik)
2) Univerbierung = Ersatz einer syntaktischen Wortgruppe durch ein Wort (z.B.
Einbahnstraße)
3) Wortersatz zur Vermeidung oder Verdeutschung von Fremdwörtern (Telefon x
Fernsprecher, Grazie – Anmut)
4) Wortersatz zur besseren Motiviertheit (Bürgersteig x Gehsteig, Gehweg; mhd. Burg =
nhd. Stadt)
5) Tendenz zur Verallgemeinerung und Verschleierung, z.B. Geburtenbeschränkung,
Empfängnisverhütung > Familienplanung
6) Vermeidung bewertender Konnotation, z.B. Putzfrau > Raumpflegerin
7) Vermeidung einer polemischen Emotionalisierung, z.B. Opportunist >Wendehals
8) Syntaktische Flexibilität – führt zur sprachlichen Innovation, z.B. Kante > kanten
(klopit), Quadrat > quadratisch
9) Komprimierter Formulierungsstil, z.B. X kann bei Y angewendet werden ->
die Y-Anwendbarkeit von X.
10) Eine und dieselbe WB kann in unterschiedlicher Bedeutung neu entstehen => WBPolysemie – eins und dasselbe Wort kann in einem Bereich neu eingeführt werden,
z.B. köpfen: 1. jn hinrichten = privative Verbableitung (etw. von etw. entfernen -> im
Bereich Strafvollzug verwendet), 2. einen Ball mit dem Kopf stoßen = instrumentative
Verbableitung -> im Bereich Sport oder Fußballspiel, 3. etw. mit dem „Kopf“
versehen (einen Brief o.Ä.) = ornative V. -> im Bereich Büroarbeit, Korrespondenz, 4.
einen Kopf ausbilden (beim Salat) = ornative V. -> im Bereich Gartenbau.
Durch diese WB-Innovationen werden Teilbereiche des Wortschatzes im Umfang und in der
Struktur verwendet -> keine Systemveränderungen der WB selbst.
ad 2) Wortentlehnungen (WE)
Stellt eine der Varianten der sprachlichen Innovation dar. Es gibt 9 Entlehnungsklassen:
1) Lehnwörter = anderen Sprachen entnommen, z.B. alte Entlehnungen ausm
Lateinischen o. Griechischen ins Germ. bzw. Ahd.: Fenster, Wein, Münze
2) Lehnsuffixe: -ismus, -abel, -ieren (mhd. interessieren, fnhd. halbieren)
3) Lehnpräfixe: anti-, in-, de4) Lehnkonfixe = gebundene Grundmorpheme, die lex. begriffliche Bedeutung haben
(z.B. Elektro-, Öko-, Bio-, Thermo-)
5) Lehnwendungen – eine ganze Wendung (z.B. bona fide = guter Glaube)
6) Lehnübersetzungen = Glied-für-Glied-Übersetzungen (z.B. Sonntag = dies solis,
Mitleid = compassio, Überfluss = super fluitas), Mehrheit (maiorite)
7) Lehnübertragungen – Teilübersetzungen, freie Wiedergaben, die Struktur entspricht
der ursprünglichen Struktur nur teilweise (z.B. Halbinsel = paeninsula = „Fastinsel“)
8) Lehnschöpfungen – freie Verdeutschungen, vom ursprünglichen Vorbild fast
unabhängig (z.B. Kraftwagen -> franz. Wort automobile = „Selbstbeweger“)
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9) Lehnbedeutungen – die Bedeutung fremdsprachiger Wörter wurde auf ein deutsches
Wort übertragen (z.B. germ. þinga = Volksversammlung aller freien Männer, ahd.
thing > ding = Gerichtsverhandlung – neue Bedeutung nach dem Lateinwort
„juditium“)
Lehnprägungen = ab 6 bis 9
Etappen (Stadien) des Entlehnungsprozesses:
1) Vorstadium – individueller, persönlicher Sprachenkontakt; wenn ein neues Element
verwendet wird, handelt es sich um Störungen, Interferenzen = negative
Beeinflussung der Sprache
2) 1.Phase – neue Entlehnung = nicht mehr Störungen, sondern einmalige individuelle
sprachliche Innovation (Gelegenheitsentlehnungen)
3) 2.Phase = Transferenzen = Übertragungen – die Ausdrücke werden schon integriert
-> Integration (6 Typen):
a. phonemische Integration: fremdsprachige Phoneme oder
Phonemverbindungen durch deutsche Phoneme ersetzt, z.B. Start, Stil... –
zunächst [st-], danach [∫t-]
b. graphemische Integration: fremdsprachige Grapheme durch deutsche ersetzt,
z.B. cakes > Keks, strike > Streik
c. grammatikalische Integration: fremdsprachige Pluralbildungen können
durch deutsche Endungen ersetzt werden, z.B. Verben (Verba), Kommas
(Kommata)
d. WB-Integration: Lehnelemente -> ins deutsche WB-System integriert, z.B.
halbieren – der Suffix wurde integriert
e. semantische Integration: entlehnte Wörter nehmen innerhalb des deutschen
Wortschatzes einen eigenen Platz ein, verursachen dadurch eine
Bedeutungsveränderung benachbarter einheimischer Wörter, z.B. im 17.-18.Jh.
wurden aus dem Französischen die Wörter „violett“ und „lila“ entlehnt und
verursachten semantische Einschränkung von „blau, rot, braun“.
f. sprachsoziologische Integration (3 Stufen):
i. das Wort ist in einem sehr geringen Grad integriert -> für einen engen
Benutzerkreis bestimmt, z.B. der Kontrapunkt (nur in der Musik,
bedeutet vedení několika melodicky i rytmicky samostatných hlasů)
ii. das Wort gehört zur allg. Bildungssprache -> Leute mit allgemeiner
Bildung verstehen es (z.B. die Kontinuität, das Potential)
iii. das Wort zählt zur Gemeinsprache – die Integration ist am stärksten, es
bedarf keinerlei Bildung, um das Wort zu verstehen, z.B. die Kontrolle
Grammatikalische Nichtintegration stellt ein sehr wichtiges
soziopragmatisches Problem dar, z.B. Kaktus – Kakteen
(umgangssprachlich Kaktusse), Atlas – Atlanten, Index – Indizes
(Indexe)
ad 3) Bedeutungswandel (BW)
Sprachwandel besteht zum großen Teil gerade im BW der bereits vorhandenen
Ausdruckelemente. Mit dem Sprachwandel beschäftigt sich die historische Semantik. Die
traditionellen Kategorien (Bedeutungs/ -erweiterung, -verengung, -verschlechterung und
-verbesserung) müssen jedoch in der Historiolinguistik durch pragmatische Erklärungen
weiter differenziert werden.
1) Bedeutungserweiterung – ein Wandel von Gebrauchsbedingungen eines Ausdruckes,
der darin besteht, dass wir diesen Ausdruck für mehr Sachverhalte (Gegenstände) als
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früher verwenden können. Es geht um Vergrößerung oder Extension des
Begriffsumfanges, z.B. mhd. frouwe = eine vornehme Frau aus der feudalen
Oberschicht = Herrin, Dame, Gebieterin; später ist jedoch das Merkmal eines
vornehmen Standes verloren gegangen und mit diesem Begriff wird im nhd. jedes
menschliche Lebewesen weiblichen Geschlechts bezeichnet
2) Bedeutungsverengung – eine Eingrenzung der Anwendung des Ausdrucks auf eine
kleinere Anzahl von Sachen, z.B. fnhd. (1350-1650) gemein = allgemein, gemeinsam,
später wurde dessen Bedeutung durch die Merkmale „sozial minderwertig“
eingeschränkt, sodass heutzutage „gemein“ in seiner ursprünglichen Bedeutung als
veraltet gilt.
In der SG lassen sich Beispiele vorfinden, an denen beide Kategorien charakterisiert
werden können, z.B. Käfer – mhd. (1050-1350) Heuschrecke, fnhd. Nutzpflanzen
fressendes Insekt -> es kam zur Bedeutungserweiterung x heute bedeutet der Käfer ein
Insekt mit gepanzertem Körper -> es kam zur Bedeutungsverengung.
Beide Bedeutungsveränderungen können auch durch außersprachlichen Sachwandel eintreten
= Bedeutungswandel infolge eines Sachwandels, z.B. Feder – bis zum 19.Jh. eine
Gänsefeder, die handwerklich bearbeitet wurde, heute „Stahlfeder“ – man behielt jedoch die
ursprüngliche Bedeutung; Zwirn – früher bezeichnete einen mehrfach gedrehten Faden, heute
hingegen einen gedrehten und dazu verflochtenen Faden
3) Bedeutungsverschlechterung (pejorative) und Bedeutungsverbesserung
(meliorative) = beide sind Bedeutungsverschiebungen, die mit Veränderungen der
gesellschaftlichen Wertung verbunden sind, z.B. Knecht = früher bezeichnete eine
Person in verschiedenen Dienstverhältnissen (Zusammensetzungen wie Edelknecht =
Knappe, Weinknappe = städtischer Angestellter, der die Steuern von Wein eintrieb),
später begann das Wort eine niedrige Stellung zu bezeichnen; Pfaffe – früher neutral,
heute negativ (kněžour), Schulmeister = heute „Pedant“
Sprachliche Variation (Veränderung)
Sprache ist veränderbar, weil sie variabel benutzt wird. Sprachbenutzern stehen mehrere
Varianten zur Verfügung (Polenz-Grammatik). Diese Variantenwahl ist durch die
Sprachnorm begrenzt (eingeschränkt). Gerade das Spannungsverhältnis zw. Varianten und
Sprachnormen = eine der wichtigsten Triebkräfte im Sprachwandel.
Variante: jede sprachliche Ausdrucksalternative, z.B. Hocker (Binnendt.), Stockerle (Ös.),
Taburett (Schweiz).
Variable: Hocker = eine übergeordnete Einheit
Varietät: Existenzformen einer Sprache: BRD, A, CH
Existenzformen einer Sprache – ein soziologischer Begriff
- nationale Varietäten: Binnendeutsch, Österreichisch-Deutsch,
Schweizerdeutsch
- dialektale Varietäten: Kölnisch, Ripuarisch
(Differenzierung nach von Polenz)
Bereiche der Sprachvariation:
1) graphemisch = in der Schreibung, z.B. „ß“ schreibt man in Majuskeln als „ss“ oder
„sz“ als Varianten des Graphems /s/ (Maß, Kuß/Kuss; Ös. – ss, sz – normative
Varianten von ß, Prosznitz)
2) orthographisch (Rechtschreibung) = „ph“ und „f“ als Varianten vom Phonem /f/ Lehnwörter aus dem Griechischen, z.B. Photo x Foto, Graphik x Grafik. Diese
Variation kann nach Textsorten geregelt werden -> „ph“ = wissenschaftlich,
konservativ x „f“ = modern, kommerziell
12
3) phonemisch (Lautung) = verschiedene Aussprachen eines Phonems, z.B. /r/: Zungen-,
Zäpfchen-, Rachen-r
4) flexivisch: Die fakultative e-Endung des Dativs Singular, z.B. am Tag(e), im Jahr(e);
im 17.,18. Jh. verwendet unterm Luthereinfluss (das sog. Lutherische „e“)
WB-Variation:
Suffixe: Suffixvarianten für Abstrakta: -heit, -keit, -igkeit (Schnelligkeit), -e (Breite, Länge),
-ität (Vitalität)
Lexemische Variation: (Wortvariation), z.B. I. Fahrstuhl, II. Aufzug, III. Lift – alle drei sind
gleichbedeutend, synonym: freigeregelt oder sozialgeregelt (I. = altmodisch, III. = modern)
Morphosyntaktische Variation: z.B. Konjunktiv II vs. würde + Infinitiv: historischstilistische Variation – Konj. II klingt manchmal altmodisch, entspricht jedoch den
traditionellen Formen
Syntaktische Variation: z.B. ein Nebensatz variiert mit einer Nominalgruppe: wegen des
Regens / weil es regnet -> textsortenspezifisch
Textsorten Variation: Veranstaltungsankündigung -> viele Texte: Plakat, Zeitungsannonce,
Rundschreiben, Flugblatt, Lautsprecheransage
Außersprachlichbedingte Variation:
Variante (Ausdrucksmöglichkeit) x Varietät (Existenzform einer Sprache)
1) Idiolektale Varianten: Individuelle Sprachgewohnheiten einer Person, z.B. Walter
Ulbricht, ein Politiker aus der ehemaligen DDR, hatte das Wort „Akademiker“ als
[agade:migə] ausgesprochen
Idiolektale Varietäten: Verschiedene Stile diverser Personen, z.B. Goethes Altersstil,
Luthers Deutsch, Personalstil eines Philosophen usw.
2) Lokale Varianten: Werden auf einem kleinen Territorium verwendet, z.B. e Stulle =
eine bestrichene Brotscheibe (nordd.); pomali, auf lepši gehen (Wienerisch)
¤L. Varietät: Wienerisch, Berlinisch usw.
3) ¤Regionale Varianten/Varietäten: auf größeren Gebieten, z.B. Haxen (regionale
Variante) = menschliche Beine im Bayrischen (regionale Varietät); r Bub (reg.
Variante) = die Bezeichnung für einen Jungen im Süddeutschland (reg. Varietät)
Gemeindeutsch – im Süddeutschland im 15.,16. Jhd. = Meißner Deutsch
4) Staatliche Varianten/Varietäten:
Abitur Matura Matura,
= Varianten
Maturität
BRD A
CH
= staatliche (nationale) Varietäten
5) Politische Varianten/Varietäten: Informieren über den unterschiedlichen
Sprachgebrauch in politischen Gruppen.
Z.B. bewaffneter Kampf (so bezeichnen ihr Tun die Radikalen) vs. Terrorismus (so
bezeichnen es ihre Gegner); arisieren = in der Nazizeit bedeutete die Überführung vom
jüdischen in den arischen Besitz; s Kombinat (DDR) = Großbetrieb
Politische Varietät = Sprache der Kommunisten, Nazideutsch etc.
6) Soziolektale Varianten/Varietäten: Ausdrücke, die in speziellen Gruppen verwendet
werden = gruppenspezifische Ausdrücke, z.B. Gastarbeiterdeutsch, Theaterjargon,
höfisches Mhd.
7) Funktionale Varianten/Varietäten: Situative Varianten, die von
Kommunikationsfunktionen bedingt sind, z.B. Gesicht – Antlitz – Fresse – Visage;
essen – speisen – fressen – sich ernähren – sich verköstigen etc.
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Sprachliche Evolution
Sprache ist veränderbar, ihre Existenzweise besteht in ständiger, evolutionärer Bewegung.
Evolutionäre Bewegung = eine starke Überschneidung im Verhältnis zw. Alt und Neu. Oft
ist das Alte neben dem Neuen im Gebrauch. Sprachliche Varianten sind sehr oft über
Jahrzehnte oder Jahrhunderte nachweisbar. In einer bestimmten Etappe geht es um eine
auffällige Zunahme des Gebrauchs einer bestimmten Variante in Textsorten, die
gesellschaftlich relevant sind, d.h. eine Variante setzt sich durch, z.B. die Nominalisierung
(Substantivisierung) = die Aneinanderreihung der Nominalgruppen.
Ahd. – klösterlich-gelehrte Prosa.
Mhd. – mystische Texte (Meister Eckhardt, 1260-1327); Fachprosa des Mittelalters.
Fnhd. – in der dt. Wissenschaftssprache der Humanisten (Gelehrten)
Nhd. (19.Jh.) – Akademisierung der Sprache des öffentlichen Lebens, im 20. Jh. hat sich hier
der Nominalisierungsstil durchgesetzt
Sprachliche Veränderungen in der dt. Sprachgeschichte
Auszug aus dem Hildebrandlied (810/820). Der Text ist ohne Glossar und ahd. Grammatik
unverständlich. Die Sprache hat auf allen Ebenen Veränderungen durchgemacht:
1) phonologische Ebene: Laute können in verschiedenen Positionen stehen: Anlaut,
Inlaut und Auslaut, z.B. Wolf: W = Anlaut (Initialstellung), OL = Inlaut
(Medialstellung), F = Auslaut (Finalstellung)
a. Lautverschiebung: dat -> das, sitten -> sitzen
b. Umlaut: ahd. wahsit -> wächst
c. Diphthongierung: lange Vokale entwickeln sich zu Diphthongen, z.B. sîn ->
sein
d. Vokaldehnung/Vokalkürzung: Kürzung in einer geschlossenen Silbe: leben
(kurz ausgesprochen) -> leben (lang ausgesprochen); jâmer -> Jammer
e. Vokalschwächung: wareen -> waren
f. Apokope: Vokalschwund im Auslaut, z.B. hina -> hin
g. Synkope: Vokalschwund im Inlaut: sagetun -> sagten
h. Monophthongierung: alte Diphthonge wurden monophthongisiert, z.B. mhd.
guot -> fnhd. gut; büechen -> Bücher
i. Rundung (Labialisierung): nicht gerundete Vokale wurden gerundet, z.B.
mhd. lewe -> fnhd. Löwe; leffel -> Löffel
j. Entrundung (Delabialisierung): gerundete Vokale wurden entrundet, z.B.
nörz -> fnhd. Nerz; eröignen -> ereignen
k. Assimilation (Angleichung): ein Konsonant im Wort wird an einen anderen in
seiner unmittelbaren Nähe angepasst. Dadurch wird die Aussprache erleichtert,
z.B. mhd. zimber -> zimmer; enphâhen -> empfangen
l. Dissimilation (Unähnlichwerden): z.B. ahd. klobalouch -> knoblauch; mhd.
turter -> turteltaube
Ursachen dieser Entwicklung sind nicht ganz klar. Eine große Rolle spielte die
Sprachökonomie, die Bequemlichkeit sowie sozial-politische Faktoren (Mode,
Prestige, Völkermischung, Sprachkontakte). Für den Lautwandel in den
germanischen Sprachen war auch der germanische Akzentwandel von großer
Bedeutung. Im IE war der Akzent beweglich, in den germanischen Sprachen auf
der ersten Silbe.
2) morphosyntaktische Ebene: die Flexion ändert sich (Deklination, Konjugation), z.B.
sinero degano -> seiner Degen. Im And. gab es deutliche Endungen, im Nhd. –
14
flexionslos. Der Satzbau war auch anders, z.B. dat hiltibrant haetti min fater – dass
mein Vater Hildebrand hieß -> keine feste Wortstellung im ahd. Nebensatz
3) lexikalische Ebene: machte Veränderungen im Wortbestand durch, z.B. ahd. barn
(von gebären) = Kind, Nachkomme; luttila (im Dt. bis zum 16.Jh.) = klein, gering;
degano = 1. Held (noch im 16.Jh.), 2. Stichwaffe (eine franz. Entlehnung).
Ursachen dieser lexikalischen Ebene sind in religiösen, kulturellen und sozialen
Sphären des Alltags zu suchen.
4) semantische Ebene: von der historischen Semantik erforscht, sie betrifft den
Bedeutungswandel
Entwicklung in der Sprachgeschichte
F. BOPP, F. BODMER – haben im 19. Jh. die Sprachen der Erde in 9 Familien aufgeteilt. Eine
wichtige Rolle spielt das Werk von beiden (+ die theoretische Beschreibung von Bodmer).
1) Indoeuropäisch (Indogermanisch): Germanisch, Slawisch, Romanisch, Keltisch
2) Finnisch-Ugrisch: Finnisch, Ungarisch, Lappisch
3) Semiotisch: Hebräisch, Arabisch, Äthiopisch
4) Hamitisch: Berbersprachen, Koptisch (letztes Stadium des Ägytpischen)
5) Tibeto-Chinesisch: Tibetanisch, Chinesisch
6) Malayo-Polynesisch: Indonesisch, Polynesisch
7) Turko-Tatarisch: Türkisch, Tatarisch, Aserbaidschanisch
8) Dravidisch: (in Indien) Tamil, Telugu
9) Bantu-Zulu: (in Afrika) Kongosprachen
Grammatische Struktur der Sprache
Nach dem grammatischen Bau unterscheidet von Humboldt 4 Sprachgruppen:
1) isolierende Sprachen: Typische Merkmale: unveränderbare Wörter, grammatische
Beziehungen werden durch die Wortstellung ausgedrückt, z.B. Peter schlägt Karl. Karl
schlägt Peter. Tibeto-chinesische Sprachen.
2) inkorporierende Sprachen: (einverleibende, polysynthetische S.) – ein Wort nimmt
einen anderen Teil in sich auf,
z.B. der Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänswittwentod
3) agglutinierende Sprachen: (anklebende, anfügende S.) – zu den unveränderlichen
Stämmen treten unselbstständige Teile (Affixe), z.B. im Finnischen, Ungarischen,
Türkischen
4) flektierende Sprachen: (beugende S.) – grammatische Beziehungen werden
ausgedrückt durch: Wurzelflexion (Umlaut, z.B. Bach – Bäche, Ablaut, z.B. kommen
– kam), Endungen (IE-Sprachen, semitische Sprachen)
IE
Die größte Sprachfamilie. Der Terminus umfasst eine Gruppe ursprünglich zw. Skandinavien
und Indien gesprochener Sprachen. Sie wurde von den Kulturen der Schnurkeramiken
(Ornamentform an Gefäßen) und Streitaxtleuten (Bestattung in Einzelgräbern) gesprochen im
3. Jahrtausend v. Ch. in der Jungsteinzeit (Neolithicum).
F. Bopp war gegen den Terminus „Indogermanisches“.
Es handelt sich vielmehr um eine Abstraktion, denn es gibt keine schriftlichen Belege für
diese Sprache. Die erschlossenen Wurzeln werden in der Forschungsliteratur mit einem
Sternchen * markiert. Diese hypothetische IE Sprache war eine flektierende Sprache mit
einem reichen Formbestand = mit synthetischem Sprachbau:
 Kasussystem (8 Kasus wie im Lateinischen: Nom., Gen., Dat., Akk., Vokativ = der
Kasus für Anrede, Ablativ = der Fall des Ausgangspunktes, einer Bewegung, einer
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Abstammung, Lokativ = der Fall der Ruhelage im Raum oder in der Zeit, Instrumental
= der Fall des Mittels, der Begleitung).
 3 Numeri: Sg., Pl., Dual (Paarzahl, wie im Griechischen).
 3 Genera verbi: Aktiv, Passiv, Medium.
 Existenz des Ablauts – wichtig -> regelmäßiger Vokalwechsel in etymologisch
verwandten Wörtern.
2 Ablauttypen
1) qualitativer: toga (Kleid) – tegere (bedecken)
2) quantitativer: sedes (ich sitze) – sēdi (habe gesessen)
 Reduplikation im IE: Verdoppelung des Anfangskonsonanten der Wurzelsilbe mit
eingeschobenem Vokal, z.B. tendo (ich spanne) – tetendi (habe gespannt)
 Akzent im IE: freier Wortakzent, jede Silbe konnte den Akzent tragen, z.B. Rōma –
Romānus – Romanōrum
Aufgrund der Gemeinsamkeiten (v.a. der lexikalischen, z.B. tři, drei, three, tré) unter den
einzelnen IE Sprachen wird die IE Sprache rekonstruiert. In den einzelnen IE Sprachen
existieren ähnliche Ausdrücke für:
 Haustiere und Viehzucht sowie wilde Tiere: Kuh – kráva – guou; Gans, Wolle
usw.
 Bäume: Buche – buk – bhāgā usw.
 Wohnkultur: Zimmer, Wand,...
 usw.
Schlussfolgerungen aufgrund dieser Beobachtung:
Indoeuropäer lebten vor ¤6 Tausend Jahren in einer Jungsteinzeitkultur, waren Viehzüchter,
später kam der Ackerbau hinzu; anfangs kannte man nur Gerste – ječmen – gherzdō; sie
lebten in Großfamilien -> Erbwörter: Vater (*pətēr), Mutter (*mātēr), Sohn (*suənu), Bruder
(bhrātēr); die Zeit wurde nicht nach den Tagen, sondern nach den Nächten gezählt ->
Erbwörter: Weihnachten, Fastnacht; Zeitmesser = Mondwechsel (Mond – mēnōt = Monat);
sie kannten das Zehnersystem – Erbwörter-> die Zahlen 1-10, 100.
Wichtigste IE Sprachgruppen:
1) Indoiranische: klassisches Altindisch (Sanskrit), Neuindisch (Hindi),
Zigeunersprachen
2) Griechische: Altgriechisch, Neugriechisch (entwickelte sich aus der Gemeinsprache
der Nachklassischen Zeit, Neues Testament)
3) Italische: Latein (Römersprache), Vulgärlatein (Volkssprache) => romanische
Sprachen (Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Rätoromanisch,
Rumänisch)
4) Keltische: vor der Völkerwanderung verbreitet; Gallisch, heute 2-3 Mio. keltisch
sprechende Leute – Irland, Bretagne)
5) Balto-Slawische: (Litauisch, Lettisch, Russisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch,
Slowenisch, Serbisch, Bulgarisch,...)
6) Germanische: (Deutsch, Englisch, Niederländisch, Afrikaans, Friesisch, Dänisch,
Färöisch, Isländisch, Schwedisch, Norwegisch,...)
7) Albanisch, Armenisch + ausgestorbene Sprachen: (Hethitisch, Ölrisch, Tocharisch,
Thrakisch, Chrygisch)
Kentum- und Satem-Sprachen:
Je nachdem, ob die alten palatalen Gaumenverschlusslaute (k, kh, g, gh) als Verschlusslaute
erhalten blieben oder in Reibelaute (Zischlaute) umgewandelt wurden.
Wichtig ist die Benennung für die Zahl „100“.
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In Kentumsprachen blieben die Verschlusslaute erhalten, z.B. kmtōn (m = silbentragender
Konsonant). Kentumsprachen sind vorwiegend die westlichen IE Sprachen (germanische,
italische, Griechisch)
In Satemsprachen haben sich die Verschlusslaute in Reibelaute (Zischlaute) umgewandelt,
z.B. satām. Satemsprachen sind vorwiegend die östlichen IE Sprachen (indische, baltische,
slawische).
Diese Ost/West Unterteilung gilt jedoch nicht 100%. Nach der Entdeckung des Hethitischen
und Tocharischen (1904, 1906) wurde die Aussagekraft dieser Gliederung (Theorie) teilweise
entwertet, weil beide dieser Sprachen zwar östlich gesprochen wurden, weisen jedoch
Ähnlichkeiten mit dem westlichen Zweig.
Germanisch
(2000 v.Ch. – 100 v.Ch.)
Die Herausbildung verschiedener Sprachgruppen aus dem IE war ein lange dauernder
Prozess. Der Prozess begann 2000 v.Ch. als neue Gebiete im westlichen Teil von Ostsee
durch Indoeuropäer besiedelt wurden und endete 500 v.Ch. Dann hat sich jene sprachliche
Veränderung gefestigt, die das Germanische von den übrigen IE Sprachen unterschied.
Veränderungen
1) Akzentwandel
2) Erste sog. germanische Lautverschiebung
3) Die damit zusammenhängende Vereinfachung des IE Endungssystems und der
Beginn der Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Sprachbau
4) Systematisierung des Ablauts bei den starken Verben
5) Herausbildung der schwachen Verben
Die rekonstruierte Vorstufe (Etappe) der germanischen Einzelsprachen wird auch als
Urgermanisch bezeichnet und wird sehr oft weiter gegliedert:
a) Prägermanisch (Bronzezeit – 2000 – 700 v. Ch.)
b) Gemeingermanisch (jüngere Eisenzeit – 700 – 100 v. Ch.)
Quellen des Germanischen
Es gibt nur spärliche schriftliche Unterlagen.
1) Vor allem sind das einzelne Wörter in lateinischen Texten (1.Jh.v.Ch.), z.B. alces
(Elch), sapo (Schminke), runa (Rune, Zauber), harpe (Harfe), medus (Met, medovina);
2) eine germanische Inschrift auf dem Helm von Negau (HARIGASTITEIWA = dem
Gott Harigast; um die Jahrtausendwende) gefunden im heutigen Slowenien – nach
dem Linguisten RUDOLF KELLER handelt es sich ums nordtruskische Alphabet;
3) frühere germ. Lehnwörter in den Nachbarsprachen
finnisch kuningas
germ. kuningaz
dt. der König
finnisch kernas
germ. gernaz
dt. gern
finnisch sakko
germ. sakō
dt. die Rechtssache
lettisch gatva
germ. gatwōn
dt. die Gasse
4) Wortschatz – an dem späteren Wortschatz lassen sich die Fortschritte gegenüber der
germanischen Urzeit erkennen. In der Bronzezeit lebten die Germanen besser als die
Indoeuropäer.
germ. badja
gotisch badi
dt. das Bett
germ. stōla [sto:la]
gotisch stols
dt. der Stuhl
Die Wörter „Wiege, Brot, Kuchen“ stammen auch aus dem Germanischen.
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Sie hatten auch mehr Werkzeuge als die Indoeuropäer (*spadōn – Spaten, *segōn –
Sege). Sie kleideten sich besser als die Indoeuropäer (*husōn – Hose). Es gibt viele
Ausdrücke im Bereich des Krieges und der Waffen (die Rufnamen *Hildegund und
*Hadubrand sind Synonymausdrücke für den Krieg).
Charakteristik der germanischen Ursprache
Akzentwandel
Im IE freier Akzent, im Germanischen auf der ersten Silbe festgelegt als starker
Druckakzent (expiratorischer Akzent). Präfixbildungen – jüngere Bildungen.
Folgen:
1) Abschwächung der unbetonten Silben, z.B. IE –m -> germ. –n (IE *toma -> gotisch
þana, ahd. þhorn, mhd. dann, nhd. denn; das „A“ am Ende des Wortes wurde
apokopiert); þ – nordisches Runenzeichen für „th“ [Θ]
2) Verschwinden von Nebensilben
keltisch Maguntiacum
dt. Mainz
lat. Colonia, franz. Cologne
dt. Köln
lat. Pelegrinus, it. Pellegrino
dt. Pilger
Mit dem Anfangsbetonung hängt auch die Entstehung der Alliteration zusammen,
z.B. in brunebarn, laute luttila.
Erste Lautverschiebung
Sie wurde von einem Dänen namens RASMUS RASK entdeckt. Der Terminus kommt jedoch
von JACOB GRIMM. Sie verlief in 3 Etappen:
1) Stimmlose Verschlusslaute – behauchte (aspirierte = ph, th, kh) und unbehauchte (p,
t, k), wurden zu stimmlosen Reibelauten
p/ph
t/th
k/kh
f
þ [Θ]
x [ch]
lat. pāater -> got. fadar
lat. trēs -> got. þreis
lat. pecū -> got. faihu
dt. f
d
h
Ausnahmen: in sog. gedeckten Stellung (sp, st, sk) wurden sie nicht verschoben, z.B.
lat. hostis – got, gosts, ahd. gast. Aber in der Konsonantenverbindung wie z.B. lat.
noct – got. naht wurde der erste Verschlusslaut verschoben.
2) Stimmhafte behauchte Verschlusslaute (bh, dh, gh)
bh
dh
gh
a
b
đ
ga
[w] [th]
[g]
b
d
g
b
t
g
*dhura -> got. daur -> Tür
3) Die stimmhaften unbehauchten Verschlusslaute b, d, g
b
d
g
p
t
k
lat. edere – got. itan – dt. essen
lat. genu – got. kniu
° = přízvučná slabika, • = nepřízvučná slabika
° f • // ° p • // ° x • // = f, þ, x (heute f, d, h); z.B. IE bhrātēr – got. brôþar – nhd. Bruder
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• f ° // • p ° // • x ° // = ba, đa, ga -> [w, th, g], heute [b, d, g]
° • f • // ° • p • // ° • x • // = ba, đa, ga -> [w, th, g], heute [b, d, g]
z.B. griechisch patēr, germ. *faþar, got. fâđar, nhd. Vater
Vernersches Gesetz (1875)
Wo den IE Konsonanten „p, t, k“ der Akzent vorausging, da entwickelten sich aus ihnen die
stimmlosen Verschlusslaute „f, þ, x“. Wo ihnen jedoch der Akzent hernachging, da wurden
aus ihnen die stimmhaften Verschlusslaute „ba, đ, ga“: IE *kmtōm -> germ. hunđ (der Akzent
geht erst nach t => đ), IE *bhrātar -> got. brôþar (der Akzent geht vor t => þ).
Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Bezeichnungen nach historischen Aspekten
Deutsch des Mittelalters (500-1450/1500)
Bezeichnungen nach sprachlichen Aspekten
Althochdeutsch (500-1050)
- Deutsch des Frühmittelalters (500-1050)
- Deutsch des Hochmittelalters (1050-1250)
- Deutsch des Spätmittlelalters (1250-1450/1500)
Mittelhochdeutsch (1050-1350)
Frühneuhochdeutsch (1350-1650)
Deutsch der Neuzeit (1450/1500-Gegenwart)
-Deutsch der früheren Neuzeit (1450/1500-1650)
-Deutsch der mittleren Neuzeit (1650-1800)
-Deutsch der jüngsten Neuzeit (1800-1950)
-Deutsch der jüngsten Neuzeit/Dt. der Gegenwart
(seit 1950)
Neuhochdeutsch
(einschließlich Gegenwartsdeutsch)
(1650-Gegenwart)
Ahd. – insbesondere christliche Glaubensbekenntnisse und Lehrsätze.
Mhd. – es ist die Sprache Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von
Straßburg, Walthers von der Vogelweide => des Minnesangs, auch z.B. der Dichter des
Nibelungenliedes.
Fnhd. – Ansätze zu überlandschaftlichen Schreib- und Verkehrssprachen; es bilden sich in
dieser Zeit im Bereich der Gebrauchsprosa neue Textsorten (Flugschriften, Sendebriefe).
Große Sprachveränderungen finden statt, die bis heute bemerkbar sind. Es bildet sich die
Basis der erst später entstandenen einheitlichen Sprache (entstand im 19.Jh.). In der Phonetik
laufen Monophthongierungen und Diphthongierungen durch. In der Morphologie werden
verstärkt Artikel angewendet (als Träger der grammatischen Information). Es konstituiert sich
eine systematische Pluralform. Die Flexionsformen werden reduziert (Dativ-e, z.B. auf dem
Wege). Die Syntax bringt Eindeutigkeit in der Anwendung von Konjunktionen (mhd. „dass“
– Subj., Obj., Adv. ... Nebensätze -> fnhd. in einigen Fällen ersetzt durch „so dass“,
„damit“,...). Es bilden sich Fachsprachen (Alchemie – Schöpfer deutscher Fachterminologie).
Interessant ist es, dass GRIMM den Termin „Fnhd.“ gar nicht angibt, rechnet mit ihm nicht. Er
hat sich nämlich auf die älteren Etappen konzentriert und danach hat er diese Veränderungen
auch für die im Nhd. bedrachtet. Der Grund dafür war die Tatsache, dass dem Studium dieser
Epoche (14.-16.Jh.) hat sich M. Luther gewidmet und seine Lebenszeit wird bereits zum Nhd.
gerechnet. M. Luther fungierte als Katalysator der Sprachentwicklung, weil er bestimmte
Veränderungen beschleunigte.
Zweite Lautverschiebung (Althochdeutsche Lautverschiebung)
Sie betrifft die germ. Tenues (p, t, k) und die germ. Medien (b, d, g) (aus ba, đ, ga). Durch die
Tenuesveschiebung hat sich der Phonembestand erweitert. Es entsanden neue Phoneme –
Affrikaten (pf, ts, kx). Die Zahl der Wörter mit Doppelfrikativen (ff, ss, xx) – vegrößert. Es
handelte sich um einen umfangreichen Prozess, der im 5./6.Jh.n.Ch. begann und 800 im
Wesentlichen abgeschlossen wurde.
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Das Ergebnis war eine deutliche Trennung des ¤oberdeutschen Konsonantenbestands von
dem ¤niederdeutschen. Und innerhalb des ¤oberdeutschen Konsonantenbestandes eine
Konsonantendifferenzierung = das wichtigste Kriterium für die Abgrenzung der Dialekte.
1.Phase – Tenuesverschiebung (5.-8. Jh.)
Germanische Explosivlaute (p, t, k) werden nach ihrer Stellung im Wort verschoben:
a) zu den ahd. Affrikaten (pf, ts, kx) im Anlaut; inlautend und
auslautend nach den Konsonanten „l, r, m, n“ und in der
Gemination (Konsonantenverdoppelung).
Die Verschiebung /t/ -> /ts/ -> (t)z – gleichmäßig über das ganze
¤oberdeutsche Gebiet verbreitet.
got. tiuhan
altsächsisch tiohan
ahd. ziohan
got. haîrtô
altsächsisch hërta
ahd. hërza
got. satjan
altsächsisch s ttian
ahd. s tzan
Unverschoben bleibt /t/ in Verbindungen /tr, ht, ft, st/. In Verbindung
mit /s/ werden auch /p/ und /k/ nicht verschoben; es steht also immer
/st, sp, sk/.
Die Verschiebung von /p/ -> /pf/:
altsächsisch pund
ahd. pfund
altsächsisch plëgan
ahd. pflëgan
altsächsisch dorp
ahd. dorpf
Die Verschiebung von /k/ -> /kx/ - nur im Bairischen und
Alemannischen: altsächsisch w kkian – bairisch/alemannisch w chan,
w cchan – fränkisch w cken; werka -> werk -> altbairisch werkch
b) Doppelfrikative (Gemination) p, t, k => ff, зз (geschwänztes
„s“), xx
altsächsisch slâpan, opan, skip ahd. slâfan, offan, skif
schlafen
altsächsisch ëtan
ahd. ëззan
essen
altsächsisch lâtan
ahd. lâззan
lassen
altsächsisch ik
ahd. ih
ich
Vereinfachung: Im Anlaut, nach langem Vokal, im Auslaut
2. Phase – Medienverschiebung – betrifft die vorahd. ¤sth. Explosiven /b, d, g/, die aus den.
germ. ¤sth. Frikativlauten /ba, đ, ga/ hervorgegangen sind. Für /ba, đ, ga/ ist kein einheitlicher
Stand in allen Dialekten vorauszusetzen.
Die Verschiebung /b/ -> bairisch/alemannisch /p/:
fränkisch gëban
bairisch këpan
fränkisch sibun
bairisch sipun
fränkisch bëran
bairisch përan
fränkisch sibba
bairisch sippa
ba -> b -> p: berg -> perk
đ -> d -> t: dag -> tag
ga -> g -> k: gast -> cast
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