Seminar-Skript_EV_II

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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
1. Semantik
1.1 Grundbegriffe
– Sprachliche Ausdrücke sind Zeichen = Form + Bedeutung
– Semantik: Lehre von den Bedeutungen (von der regelhaften Zuordnung von Bedeutungen zu
Ausdrücken, genannt Interpretation, vom Aufbau der Bedeutungen, Beziehungen von
Bedeutungen zueinander etc.)
– Teilgebiete der Semantik:
•
•
•
lexikalische Semantik: Bedeutung gebundener und freier Morpheme, komplexer Wörter
etc. insbesondere sogenannter Inhaltswörter/Autosemantika wie Nomen, Adj., Verben (=
offene Klassen)
Satzsemantik: Bedeutung komplexer sprachlicher Ausdrücke, Sätze, Satzteile etc.,
Satzstruktur wichtig, auch Bedeutung sogenannter Funktionswörter/Synsemantika wie
Determinierer, Konjunktionen, Modalverben (= geschlossene Klassen) – haben nur im
Satzzusammenhang eigentlich eine Bedeutung, daher Bedeutungsbestimmung ausgehend
vom Satz (siehe Freges Kontextprinzip)
Textsemantik/Diskurssemantik:
Bedeutung
sprachlicher
Ausdrücke
im
Text-/Diskurszusammenhang, semantische Kohärenz von Texten, z.B. Verwendung
indefiniter oder definiter NPs
a.
b.
Eine Frau kam in das Zimmer. Die Frau erzählte viele lustige Geschichten.
Die Frau kam in das Zimmer. Eine Frau erzählte viele lustige Geschichten.
in (a) gleiche Frau (die Frau und eine Frau koreferent), in (b) zwei
verschiedene Frauen (die Frau und eine Frau nicht koreferent)
– Bedeutung der Wörter allein reicht nicht aus:
a.
b.
c.
Anna liebt Otto.
Anna liebt Paul.
Otto liebt Anna.
Bedeutungsunterschied zwischen (a) und (b) aufgrund verschiedener Wortsemantik von
"Otto" und "Paul", dagegen Bedeutungsunterschied zwischen (a) und (c) nicht aufgrund anderer
Wortsemantik, sondern aufgrund anderer syntaktischer Struktur
– Frege-Prinzip/Kompositionalitätsprinzip: Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ist
eine Funktion der Bedeutungen der elementaren Ausdrücke und der Art ihrer
Verknüpfung
(→ kompositionale Semantik)
– Besonderheit: die Bedeutung mancher komplexer Ausdrücke, sogenannter Phraseologismen
oder Idiome (z. B. jemandem einen Bären aufbinden, den Löffel abgeben) ergibt sich
ausnahmsweise nicht kompositional aus den Bestandteilen und der Art ihrer Verknüpfung,
sondern ist für den gesamten komplexen Ausdruck festgelegt/im Lexikon gespeichert
– Wörter können produktiv zu immer neuen Sätzen mit neuen Bedeutungen verbunden
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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
werden (Produktivität), für Verstehen eines Satzes (Interpretation) Übereinstimmung mit
Tatsachen unerheblich
– wichtiges Hilfsmittel zur Verdeutlichung von Bedeutungen: Paraphrasen (Umschreibung der
Bedeutung mit anderen sprachlichen Ausdrüchen), für wissenschaftliche Zwecke weitere
Präzisierung/Formalisierung nötig
– semantische Beziehungen zwischen Sätzen:
•
Implikation: Wahrheit eines Satzes folgt aus Wahrheit eines anderen Satzes
Schorsch hat rote Haare impliziert Schorsch hat Haare
•
Synonymität/semantische Äquivalenz: zwei Sätze haben die gleiche Bedeutung,
implizieren sich gegenseitig
Schorsch mäht täglich den Rasen. Der Rasen wird täglich von Schorsch gemäht.
•
Kontradiktion: zwei Sätze sind kontradiktorisch, wenn sie nicht gleichzeitig beide
wahr oder gleichzeitig beide falsch sein können
Schorsch hat rote Haare ist kontradiktorisch zu Schorsch hat keine Haare
– Viele sprachliche Ausdrücke sind mehrdeutig (ambig). Arten von Mehrdeutigkeiten
(Ambiguitäten):
•
lexikalische Ambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund von zwei möglichen Bedeutungen eines
Wortes/Lexems
z. B. Da steht eine Bank.
2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:
a.
b.
•
Dort befindet sich ein Geldinstitut.
Dort befindet sich ein Sitzmöbel für mehrere Personen.
Strukturelle Ambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund verschiedener möglicher syntaktischer
Strukturen des Ausdrucks
z. B. Gabi hat den Mann mit dem Fernglas gesehen.
2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:
a. Gabi hat mit Hilfe des Fernglases den Mann gesehen.
b. Gabi hat den Mann, der ein Fernglas dabei hatte, gesehen.
Erklärung – 2 versch. syntakt. Strukturen:
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a.
b.
•
Gabi hat [ NP den Mann] [ PP mit dem Fernglas] gesehen.
Gabi hat [ NP den Mann [ PP mit dem Fernglas]] gesehen.
Skopusambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund des Vorkommens sogenannter quantifizierender
Ausdrücke wie z. B. ein Tiger, jede Lampe, alle Experten, haben einen semantischen
Wirkungsbereich (Skopus), ein quantifizierender Ausdruck kann im Skopus des anderen
interpretiert/verstanden werden oder umgekehrt
z. B. Alle Studenten mögen einen Dozenten.
•
2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:
a.
b.
Alle Studenten haben irgendeinen Lieblingsdozenten (evtl. jeder einen
anderen).
Es gibt einen großartigen Dozenten, den wirklich alle Studenten gut finden.
– semantische Anomalie (z. B. Die Wand brüllt seit Wochen den Fischteich an.) ≠
Ungrammatikalität (z. B. *Der bösen Nachbar brüllst seine Frau an.)
– Was ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke?
•
•
•
realistische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = die bezeichneten Dinge,
Sachverhalte etc. (Referenten), v. a. einflussreich in Satzsemantik
kognitivistische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = die durch den Ausdruck
aktivierten mentalen Repräsentationen/Konzepte (Kernbedeutung vs. Weltwissen/
enzyklopädisches Wissen), v. a. einflussreich in lexikalischer Semantik
gebrauchstheoretische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = Gebrauch des
Ausdrucks
– semantisch besondere Ausdrücke:
•
•
•
deiktische Ausdrücke: verweisen direkt auf Dinge, Ereignisse etc. in der Welt z. B.
das, dort, dieser
definite Deskriptionen: bezeichnen in konkreten Situationen genau ein 'Ding', z. B.
der Mann mit den roten Haaren
indexikalische Ausdrücke: Interpretation in Abhängigkeit vom Kontext eindeutig z. B.
ich, du, hier
– Wie kommt es zur Bedeutung? Arbitrarität (Willkürlichkeit) (i. d. R. nicht ikonisch),
Konventionalität sprachlicher Zeichen
– verschiedene Bedeutungsebenen – Bsp.: Ich friere.
•
•
3
wörtliche Bedeutung/Satzbedeutung: Dem Sprecher ist es kalt. > zentral in Semantik
Äußerungsbedeutung: nach Anreicherung, Disambiguierung, Referenzbestimmung (z.
B. wenn ich den Satz jetzt äußere:) Andreas Jäger ist es kalt. > zentral in
Semantik/Pragmatik
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•
Sprecherbedeutung/kommunikativer Sinn: (z. B. wenn ich den Satz ironisch äußere:)
Mir (Andreas Jäger) ist es überhaupt nicht kalt. > zentral in Pragmatik
1.2 Lexikalische Semantik
1.2.1 Bedeutungen: Extension, Intension, Konnotation
– Wir stellen uns die folgende, stark reduzierte Welt vor, in der es fünf Individuen mit
folgenden Eigenschaften gibt:
•
•
•
•
•
Anna:
Bettina:
Christian:
Daniel:
Erwin:
ist eine Frau, studiert Biologie, raucht nicht
ist eine Frau, ist Reiseleiterin, raucht nicht
ist ein Mann, studiert Mathematik, raucht
ist ein Mann, studiert Linguistik, raucht nicht
ist ein Mann, ist Taxichauffeur, raucht
– Die Bedeutung im Sinn der Extension (auch: das Denotat, bei Frege: "Bedeutung") eines
sprachlichen Ausdrucks ist die Menge von Sachverhalten, Gegenständen/Individuen etc. in der
Welt, auf welche man mit dem Ausdruck Bezug nehmen kann (“Begriffsumfang”):
Frau: {Anna, Bettina}
Mann: {Christian, Daniel, Erwin}
Student(in): {Anna, Christian, Daniel}
Raucher: {Christian, Erwin}
Linguist: {Daniel}
– Die Beziehung eines Ausdrucks auf seine Extension wird Denotation genannt. In unserer MiniWelt denotiert der Ausdruck Raucher Christian und Erwin, aber nicht Anna, Bettina,
Daniel.
– Die Bedeutung im Sinn der Intension eines sprachlichen Ausdrucks (bei Frege: "Sinn") ist
dessen definitorischer Inhalt, seine konzeptuelle Bedeutung (“Begriffsinhalt”). Die Intension
eines Wortes kann beispielsweise durch eine Wörterbuchdefinition expliziert werden:
•
•
•
Student: eine Person, die an einer Hochschule eine höhere Ausbildung absolviert.
Raucher: eine Person, die gewohnheitsmässig Tabak raucht.
Linguist: eine Person, die sich berufsmässig mit Sprachwissenschaft beschäftigt.
– Referenz ist die aktuelle Bezugnahme auf ein oder mehrere konkrete Elemente aus der Menge
der Objekte, die mir die Extension des Ausdrucks prinzipiell zur Verfügung stellt:
Angenommen, Christian steht vor dem Eingang des Institutsgebäudes und raucht. Ich kann
mich dann folgendermassen auf ihn beziehen:
Da steht ein Student und raucht.
Der Student dort macht Rauchpause. etc.
– Die Extension von Student(in) ist {Anna, Christian, Daniel}. Weil Christian ein Element dieser
Menge ist, kann ich mich mit dem Ausdruck Student auf Christian beziehen, d.h., ich kann mit
dem Ausdruck Student auf Christian referieren (aber nicht z.B. auf Erwin, weil Erwin nicht in
der Extension von Student enthalten ist).
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– Zusammenfassung: Die Intension ist abstraktes, situationsunabhängiges, definitorisches Wissen
über die Inhaltsseite eines Ausdrucks. Dieses definiert eine Menge von Objekten, die Extension,
auf welche der Ausdruck prinzipiell anwendbar ist. Referenz ist die konkrete Auswahl
eines (oder mehrerer) Elemente aus dieser Menge durch den Sprecher.
– Der Unterschied zwischen der Bedeutung im Sinn der Extension und der Bedeutung im Sinn der
Intension ist relevant in sogenannten opaken/intensionalen Kontexten: Sabine weiß, dass Helmut
Weiß der Professor für Historische Sprachwissenschaft ist impliziert nicht und wird nicht
impliziert von Sabine weiß, dass Helmut Weiß der Autor der Syntax des Bairischen ist, obwohl
Helmut Weiß, der Professor für Historische Sprachwissenschaft und der Autor der Syntax des
Bairischen die gleiche Bedeutung im Sinn der Extension haben. Diese Ausdrücke unterscheiden
sich aber hinsichtlich ihrer Intension.
– In der oben eingeführten Mini-Welt kann ich über Christian nicht nur aussagen Christian
raucht, sondern auch Christian qualmt. In unserer Welt haben die Ausdrücke x raucht und x
qualmt die gleiche Extension (Die Aussagen Christian raucht, Christian qualmt, Erwin raucht,
Erwin qualmt sind gleichermaßen wahr, Anna raucht, Anna qualmt, Bettina raucht, Bettina
qualmt, Daniel raucht, Daniel qualmt sind falsch), aber qualmen ist semantisch spezifischer: In
Christian qalmt sage ich nicht nur aus, dass Christian Raucher ist, sondern auch etwas über
meine Einstellung zu dem Sachverhalt: qualmen hat eine negative (pejorative/abwertende)
Konnotation, die rauchen nicht hat. Konnotative Bedeutungen sind allgemeine, sozial und
kulturell determinierte Bedeutungsaspekte, die ebenfalls zur wörtlichen Bedeutung gehören.
1.2.2 Semantische Relationen
– paradigmatische (s. Folgendes) vs. syntagmatische (s. u.: Satzsemantik) semantische
Relationen
– Synonymie: Zwei Ausdrücke A und B sind synonym, falls in jedem Kontext A und B
gegenseitig ersetzt werden können, ohne dass sich daraus ein Bedeutungsunterschied
ergibt.
A=B
Bürgersteig – Gehweg
Zündholz - Streichholz
– Echte Synonyme – solche, die nicht nur in der Extension, sondern auch in Konnotationen,
regionalen oder stilistischen Aspekten übereinstimmen – sind äußerst rar. Die Vermeidung
von Synonymie äußert sich beispielsweise in der Wortbildungsmorphologie:
– er-Ableitung ist blockiert, wenn es zum Resultat der Ableitung bereits ein Synonym gibt:
fahren – Fahrer
machen – Macher
lesen – Leser
stehlen - *Stehler (aber: Dieb)
kochen - *Kocher (als Nomen agentis, aber: Koch)
– Partielle Synonymie liegt vor, wenn zwei Lexeme (nur) in ihrer intensionalen und
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extensionalen Bedeutung übereinstimmen:
Auto – PKW
Fleischer – Metzger
Billett - Ticket
– Hyponymie/Hyperonymie: Ausdruck A ist ein Hyperonym (Oberbegriff) von Ausdruck B, wenn
alles, was unter den durch B benannten Begriff fällt, auch unter den durch A benannten
Begriff fällt, aber nicht umgekehrt. Der Ausdruck B ist dann ein Hyponym zu A. Die Extension
des Hyponyms ist eine Teilmenge der Extension des Hyperonyms:
A
B
C
Pflanze
Baum
Buche
Buche
Eiche
Tanne
Nelke
Rose
Tulpe
– Inkompatibilität/Heteronymie: Auch inkompatible Ausdrücke haben gemeinsame
Bedeutungsanteile (und sind daher häufig Hyponyme eines gemeinsamen Hyperonyms, d. h.
Kohyponyme). Sie bilden eindimensionale Reihen, die einen Bereich vollständig abdecken.
Zwei Ausdrücke A und B sind inkompatibel, wenn nichts gleichzeitig unter die durch A und B
benannten Begriffe fallen kann:
A
B
C
D
E
Montag, Dienstag, Mittwoch etc.
Januar, Februar, März etc.
– Komplementarität: Zwei Ausdrücke A und B sind komplementär, wenn sie einen Bereich
in genau zwei Teile unterteilen und sich gegenseitig ausschließen. Zwei Ausdrücke A und B
sind komplementär, wenn sie miteinander inkompatibel sind und alles entweder unter den durch
A oder den durch B benannten Begriff fällt:
A
B
tot – lebendig
männlich – weiblich
schuldig – unschuldig
– Antonymie: Zwei Ausdrücke A und B sind antonym, wenn sie miteinander inkompatibel sind
und die durch A und B benannten Begriffe die Endpunkte einer (abstrakten) Skala bilden:
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A
<----------------->
B
gross – klein
heiß – kalt,
jung – alt / neu – alt
– Meronymie: Teil-Ganzes-Beziehung, z. B. Fuß – Bein, Seite - Buch
– Konversion: Konversion ist nur bei Ausdrücken möglich, die eine Beziehung zwischen
mindestens zwei Elementen bezeichnen. Konversion liegt dann vor, wenn die Ausdrücke die
gleiche Art Beziehung bezeichnen, aber aus entgegengesetzter Perspektive, d.h. mit
vertauschten Rollen:
x ist oberhalb von y
x ist die Mutter von y
x findet vor y statt
x verkauft dem y das Auto -
y ist unterhalb von x
y ist das Kind von x
y findet nach x statt
y kauft das Auto von x
1.2.3. Lexikalische Dekomposition, Prototypen, Polysemie
– Ein Versuch, die intensionale Bedeutung von Ausdrücken präziser zu fassen, ist die
Zerlegung (Dekomposition) der Bedeutung in semantische Merkmale, Seme, die entweder
als plus, als minus oder nicht spezifiziert sind (in Analogie zur Analyse von Phonemen
als Bündel phonologischer Merkmale). Die klassische Merkmalssemantik hat sich heute zwar
etwas überlebt (Problem u.a. keine unstrittige, endliche Menge universeller semantischer
Merkmale, relationale/nicht absolute Merkmale wie [± groß]), bildet aber noch immer die
Basis für aktuelle, wesentlich elaboriertere Ansätze. Der Ansatz ist recht erfolgreich bei
der internen Struktur von relativ geschlossenen Wortfeldern (siehe Tabelle) sowie in der
auf der Merkmalszerlegung aufbauenden sogenannten lexikalisch-konzeptuellen Semantik
(siehe z. B. Jackendoff) etwa bei der Analyse der Bedeutung von Verben (s. u.)
Wortfeld GEWÄSSER
[+] fliessend
[+] salzig
[+] groß
Meer
-
+
+
See (mask.)
-
-/+
+
Teich
-
-
-
Fluss
+
-
+
Bach
+
-
-
– Semantische Relationen sind z. T. durch Verhältnisse semantischer Merkmale
beschreibbar, z. B.:
•
•
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Synonymie: alle Seme/ semantischen Merkmale stimmen überein
Hyponymie/Hyperonymie: Hyponyme enthalten alle entsprechend spezifizierten
Merkmale ihres Hyperonyms und darüberhinaus noch einige weitere Merkmale/ die
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•
•
Merkmale eines Hyponyms ist eine Teilmenge der Merkmale des Hyperonyms
Inkompatibilität/Heteronymie: mindestens ein gleich spezifiziertes Merkmal und
mindestens bei einem sonstigen Merkmal unterschiedliche Spezifizierung
Komplementarität: durch binäre Spezifizierung eines Merkmals Zweiteilung einer
Menge von Objekten, Bedeutungsunterschied durch positiven vs. negativen Wert eines
Merkmals
– fließenden Grenzen der Bedeutung (Extension und Intension): Vagheit Problem für
Merkmalssemantik/Dekomposition, Bsp. Stuhl - ist ein hocker- oder sesselähnliches
Möbelstück auch noch als Stuhl zu bezeichnen?
– typische(r) Vertreter als Zentrum/Kernbereich der Bedeutung (Prototyp): repräsentiert die
Standardbedeutung des Ausdrucks, bedingt durch Häufigkeiten, gesellschaftliche Relevanz
oder enzyklopädisches Wissen
– Vagheit eines Ausdrucks: Ausdruck denotiert eine Menge von mehr oder weniger
typischen Vertretern – dagegen Mehrdeutigkeit/Ambiguität (s.o.): Ausdruck denotiert
verschiedene Mengen von Elementen
Arten lexikalischer Mehrdeutigkeit/Ambiguität:
•
•
Polysemie: gleiches Wort/ein Lexikoneintrag im mentalen Lexikon, gemeinsamer
Bedeutungskern, verschiedene Bedeutungen durch kontextbedingte Spezifikation
einer unterspezifizierten Bedeutung oder Verschiebung/Übertragung Bsp. Schule unterspezifiziert: 'dient Lehr- und Lernprozessen', je nach Kontext Institution (Die
Gelder sollen der Schule zugute kommen), Gebäude (Ich wohne direkt gegenüber der
Schule) oder Person (Die Schule hat schon wieder angerufen), Bauer –
'Landmann' vs. 'Schachfigur'
Homonymie: zwei verschiedene Wörter/zwei Lexikoneinträge im mentalen Lexikon, i.
d. R. morphologischer Unterschied (z. B. verschiedenes Genus, verschiedene
Pluralformen), i. d. R. auch etymologisch nicht verwandt, zufällig lautlich und i. d. R.
graphematisch gleicher Ausdruck
Bsp. Laster - 'Untugend' vs. 'LKW', das Laster – der Laster Bauer – 'Landmann' vs.
'Vogelkäfig', die Bauern – die Bauer
1.3. Satzsemantik
1.3.1. Verbalsemantik: Aktionsarten, Dekomposition von Verben
– Sätze beschreiben Zustände, Situationen oder Ereignisse mit verschiedenen 'Mitspielern'
(vom Verb an seine Argumente vergebene thematische Rollen/Thetarollen, z. B. Agens,
Patiens, Thema, Ziel etc., s. Einf. Teil I, Kap. 3.3.2. ) und unterschiedlichem inneren
temporalen Aufbau – verschiedene Aktionsarten
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– Aktionsarten sind abhängig vom Verb, aber z. T. auch von der Art des Objekts,
bestimmten Adverbialen etc.
Aktionsarten
atelisch
telisch
State
Activity
Achievement
Accomplishment
(Zustand)
(Aktivität)
(punktuelles Ereignis) (Entwicklung mit Resultat)
Individual-Level
Stage-Level
(Individuenprädikate)
(Stadienprädikate)
– telisch (z. T. auch terminativ, resultativ oder perfektiv genannt): mit natürlichem Beginn oder
Endpunkt, auf den hin das Ereignis kulminiert/grenzbezogen z. B. ankommen, sterben,
erröten
atelisch entsprechend ohne einen solchen Endpunkt/nicht grenzbezogen z. B. sitzen,
schlafen, lachen
– Einfluss der Morphologie auf Aktionsart: Verben können z. B. durch Präfigierung telisch werden
(blühen vs. erblühen, malen vs. bemalen)
– Einfluss des Objekts:
•
•
Verben können durch Hinzufügen eines Objekts telisch werden (laufen vs. 100 m
laufen)
vielfach Verben mit Objekt mit kumulativer Referenz (Zusammenfassung der
Objektdenotate fällt wieder unter das gleiche Denotat z. B. Krimis und Krimis sind
wiederum Krimis) atelisch z. B. Krimis lesen, mit gequantelter Referenz
(Zusammenfassung der Objektdenotate fällt nicht wieder unter das gleiche Denotat z. B.
drei Krimis und drei Krimis sind nicht wieder drei Krimis) telisch z. B. drei Krimis lesen
– Einfluss von Adverbialen: Bewegungsverben können durch Hinzufügen einer direktionalen
PP telisch werden (z. B. tanzen vs. durch den Saal tanzen, Unterschied wirkt sich beispielsweise
aus auf Wahl des Perfektauxiliars: Elke hat/*ist getanzt vs. Elke ist durch den Saal getanzt)
– Tests: atelische Prädikate (im Unterschied zu telischen Prädikaten)
•
•
durch Zeitdaueradverbiale wie zwei Stunden lang modifizierbar (Peter schläft zwei
Stunden lang vs. *Peter erwacht zwei Stunden lang – allenfalls iterative Lesart)
sogenannte Rheinische Verlaufsform impliziert den entsprechenden perfektiven Satz (Peter
ist am Schlafen impliziert Peter hat geschlafen vs. Peter ist am Erwachen impliziert nicht
Peter ist erwacht)
– Achievements punktuell
(plötzlicher
Zustandswechsel
z.
B.
erwachen)
vs.
Accomplishments (allmählicher Zustandswechsel z. B. sinken) und atelische Verben
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(States und Activities) durativ
– Tests: durative Prädikate durch durative Zeitdaueradverbiale wie seit zwei Stunden
modifizierbar
Peter schlief seit zwei Stunden
Das Schiff sank seit zwei Stunden
*Maria erwachte seit zwei Stunden
(atelisch)
durativ
(telisch: Accomplishments) durativ
(telisch: Achievement)
nicht durativ
– dagegen nur Accomplishments (im Präteritum) durch Zeitspannenadverbiale wie in zwei
Stunden modifizierbar, atelische Prädikate und Achievements nicht (da nur punktueller
bzw. kein Zustandswechsel):
*Peter schlief in zwei Stunden
Das Schiff sank in zwei Stunden
*Maria erwachte in zwei Stunden
(atelisch)
(telisch: Accomplishments)
(telisch: Achievement)
– atelische Prädikate beschreiben entweder zeitlich begrenzte Situationen/Aktivitäten ohne
inhärenten Endpunkt (Activities z. B. sitzen, schlafen) oder länger anhaltende
Eigenschaften von Individuen (States z. B. heißen, wissen)
– Tests: bei States (im Unterschied zu Activities)
•
Imperativ nicht möglich
Lach doch mal!
*Heiß Helmut!
•
Rheinische Verlaufsform nicht möglich
Er ist am Lachen
*Er ist am Helmut-Heißen
•
Activity
State
Activity
State
keine Mehrdeutigkeit bei lokativen PPs
Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse kluge Bücher lesen
Activity
= (i) `Susi glaubt, dass alle Kinder, die in dieser Klasse sind, kluge Bücher lesen’
= (ii) `Susi glaubt, dass alle Kinder, wenn sie in dieser Klasse sind, kluge Bücher
lesen’
Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse Helmut heißen
State
= (i) `Susi glaubt, dass alle Kinder, die in dieser Klasse sind, Helmut heißen’
≠ (ii) `Susi glaubt, dass alle Kinder, wenn sie in dieser Klasse sind, Helmut heißen’
– individual-Level-Predicates (Individuenprädikate): Eigenschaften von Individuen (States) vs.
Stage-Level-Predicates
(Stadienprädikate):
Situationen
(Activities,
Achievements,
Accomplishments)
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– semantische Dekomposition von Verben in der lexikalisch-konzeptuellen Semantik:
Bedeutung eines Einzelverbs zusammengesetzt aus idiosynkratischen Bedeutungsaspekten
und semantischen Basisprädikaten (spiegeln z. T. Aktionsarten wieder) wie z. B.
•
•
•
•
BECOME: Zustandswechsel (Bestandteil aller Achievements und Accomplishments)
CAUSE: extern verursachtes Geschehen
BE: Zustand
DO: Aktivität (einziges Basisprädikat von Activities)
– dadurch Gemeinsamkeiten der lexikalisch-konzeptuellen Struktur verschiedener Verben
beschreibbar, z. B. Ähnlichkeit von sterben und töten:
sterben
töten
[BECOME [BE NOT-ALIVE y]]
[x CAUSE [BECOME [BE NOT-ALIVE y]]]
(gleiche lexikalisch-konzeptuelle Struktur + bei töten noch zusätzlich kausatives CAUSE und
ein weiteres Argument) und semantische Rollen ableitbar: z. B. Agens = erstes Argument von
CAUSE, Thema = Argument von BE
1.3.2 Sätze: Wahrheitswerte, Mengen, Funktions-Argument-Struktur
– Sprach-/Grammatikmodell nach Chomsky (1981: Lectures on Government and Binding)
Tiefenstruktur (TS, deep structure)
Oberflächenstruktur (OS, surface structure)
Phonetische Form (PF)
Logische Form (LF)
– syntaktische Struktur des Satzes bestimmt die Bedeutung mit (s. o.: Kompositionalitätsprinzip),
aber LF entspricht nicht immer direkt OS, Bsp.:
Alle Tage ist kein Sonntag
'Nicht für alle Tage gilt, dass sie ein Sonntag sind' (Neben Sonntagen gibt es auch
Montage, Dienstage usw.)
≠ 'Für alle Tage gilt, dass sie kein Sonntag sind' (Dann gäbe es überhaupt keine Sonntage.)
d. h. LF wird (ggf. durch Bewegungen von Konstituenten etc.) aus OS abgeleitet,
Bedeutung des Satzes ergibt sich aus LF durch sogenannte Interpretation
– Bedeutung eines Satzes:
"Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also
verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)" (Ludwig Wittgenstein, Tractatus
Logico-Philosophicus, 4.024)
Satz beschreibt, wie die Welt beschaffen sein muss, damit der Satz wahr ist (eine Klasse von
Situationen/möglichen Welten), d. h. Bedeutung eines Satzes verstehen heißt, seine
Wahrheitsbedingungen zu kennen (wahrheitsfunktionale Semantik)
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– Rückführung der Bedeutung eines Satzes auf seine Wahrheitsbedingungen u. a. nützliche
Vorgehensweise, da gute Sprecher-Intuitionen über Wahrheit von Sätzen
– Vorgehensweise in der Satzsemantik: Feststellen der Interpretation/ der möglichen
Lesarteneines Satzes, davon ausgehend Klärung der Bedeutung der Teile und der
syntaktischenVerknüpfung (dabei lexikalische Semantik von sogen. Inhaltswörtern als bekannt
vorausgesetzt,Aufgabe der lexikalischen Semantik)
– Ziele u. a.:
• Zusammenhang zwischen Wort- und Satzbedeutung klären, v. a. auch Klärung der
Bedeutung von Funktionswörtern und syntaktischen Strukturen,
• Bedeutungen darstellen, d. h. Repräsentationen für Bedeutungen entwerfen –
Grundlage: moderne Logik (Aussagen- und Prädikatenlogik) und Mengentheorie
Exkurs: Aussagen- und Prädikatenlogik
– Aussagen: kleinste Einheit mit Wahrheitswert (wahr: 1, falsch: 0; Bivalenzprinzip
(Zweiwertigkeit) (Aristoteles)
– Aussagenlogik: einzelne wahre oder falsche Aussagen (abgekürzt: p, q, ...), ggf.
kombiniert mit Funktoren, für die es standardisierte Symbole gibt:
• Negation:
¬
nicht
• Konjunktion:
∧
und
• Disjunktion:
∨
oder (nicht-ausschließend)
• Subjunktion:
→
wenn, dann
• Bisubjunktion:
↔
genau dann, wenn
– Bsp.:
p steht für Christian raucht, falls p wahr (1) ist, ist ¬ p – also Christian raucht nicht
- falsch (0),
p steht für Erwin ist Taxichauffeur und q steht für Bettina ist Reiseleiterin, falls p und q
jeweils wahr (1) sind, ist auch p ∧ q – also Erwin ist Taxichauffeur und Bettina ist
Reiseleiterin wahr (1)
Wahrheitsbedingungen dargestellt in einer Wahrheitswerttabelle:
UND
ODER
p∧q
p
q
p∨ q
p
q
1
1
1
1
1
1
0
1
0
1
1
0
0
0
1
1
0
1
0
0
0
0
0
0
– Prädikatenlogik: funktionale Auffassung von Prädikation, (logische) Prädikate al Funktionen
(z. B. RAUCHT oder abgekürzt R), daneben Individuenkonstanten (z. B. Christian
oder abgekürzt c,) Individuenvariablen (x, y, ...) und Quantoren
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•
•
Existenzquantor:
Allquantor:
∃x
∀x
Es gibt mindestens ein x, für das gilt ...
Für alle x gilt ...
– Bedeutungen haben etwas mit Mengen zu tun, Bsp.: Was wissen wir, wenn wir die Bedeutung
von raucht kennen? Bedeutung von raucht zu kennen, ermöglicht uns, die Lebewesen der Welt
(z. B. der oben unter 1.2.1. angegebenen Miniwelt) in zwei Mengen einzuteilen: Rauchende und
Nicht-Rauchende,
die Menge der Rauchenden ist die Bedeutung (Extension)/das Denotat von raucht
(Schreibweise: [|raucht|]),
z. B. Christian raucht ist wahr, wenn Christian in dieser Menge enthalten ist
– Darstellung von Mengen mit Mengendiagrammen (Venn-Diagrammen):
Christian
Erwin
Anna
Bettina
Daniel
[|raucht|]
– Mengen und Funktionen als Beschreibungsmittel für die Struktur unserer Welt wie sie in der
Sprache wiedergegeben wird, Beziehungen zwischen den Dingen in unserer Welt
– Hauptprinzip der Komposition (Bedeutungsverknüpfung): Funktionalapplikation, d. h.
Anwendung einer Funktion auf ein Argument, z. B. des Verbs auf das Subjekt
(Bedeutung des einen Ausdrucks wird als Funktion auf den anderen angewandt),
Bedeutungen als Funktionen, Argumente von Funktionen und Funktionswerte (funktionale
Sprachauffassung, begründet durch Frege)
– Funktion: eindeutige Abbildung von Menge von Argumenten (Definitionsbereich) in
Menge von Funktionswerten (Wertebereich)
– Bsp.: [|raucht|] als Funktion bildet in unserer Miniwelt die Argumente [|Christian|] und
[Erwin|] auf den Wahrheitswert 1 (wahr) ab, d. h. ergibt in Kombination mit Christian und Erwin
jeweils einen wahren Satz, und bildet [|Anna|], [|Bettina|] und [|Daniel|] auf den Wahrheitswert 0
(falsch) ab, d. h. ergibt mit Anna, Bettina und Daniel jeweils einen falschen Satz
– intransitive Verben wie rauchen (ebenso übrigens Appellativa wie Hocker und die meisten
Adjektive wie krumm): einstellige Funktionen (nehmen jeweils nur ein Argument) von
Individuen in Wahrheitswerte - prädikatenlogisch darstellbar als
RAUCHT(x)
ergibt z. B. angewandt auf das Argument Christian in unserer Miniwelt einen wahren
Satz: RAUCHT(Christian), vereinfacht dargestellt:
(dass)
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IP
interpretiert als
RAUCHT(Christian)
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NP
VP
Christian
raucht
Christian
RAUCHT (x)
– transitive Verben wie studieren: zweistellige Funktionen (nehmen zwei Argumente) prädikatenlogisch darstellbar als
STUDIERT(x, y)
ergibt z. B. angewandt auf die Argumente Christian und Mathematik in unserer Miniwelt einen
wahren Satz: STUDIERT(Christian, Mathematik), vereinfacht dargestellt:
(dass)
IP
NP
interpretiert als
VP
NP
Christian
V
Christian Mathematik studiert
14
STUDIERT(Christian, Mathematik)
STUDIERT(x, Mathematik)
Mathematik
STUDIERT(x,y)
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
2. Pragmatik
– Die Pragmatik befasst sich mit Äußerungen in konkreten Situationen und im
Zusammenhang mit anderen Äußerungen und untersucht dabei u. a. kontextabhängige
Aspekte der Interpretation sprachlicher Äußerungen, die kommunikative Funktion
sprachlicher Äußerungen und strukturelle Aspekte von Texten und Gesprächen.
– Die (wahrheitsfunktionale) Semantik macht Aussagen darüber, wie die Welt beschaffen sein
muss, damit der „Wortlaut“ einer Äußerung wahr ist. Wir nennen das ihren
propositionalen Gehalt. Es besteht ein gewisses Missverhältnis zwischen propositionalem
Gehalt und kommunikativer Funktion, meistens dergestalt, dass zum vollständigen
Verstehen einer Äußerung eine Menge von Information erschlossen werden muss, die nicht
ausgedrückt ist. Trotzdem sind Äußerungen i.d.R. problemlos interpretierbar, weil sie auf
Hintergrundinformationen bezogen werden können. Welche Art von Kontextwissen muss
aktiviert werden?
2.1 Deixis, Anaphern
– Personaldeixis (Referenz auf Sprecher/Adressat/"Äußerungspersonal")
•
Mittel: bestimmte Personalpronomen
Bsp.: ich (Sprecherdeixis),
wir (Sprechergruppendeixis, manche Sprachen unterscheiden inklusives vs.
exklusives wir, d. h. Adressat mit in Gruppe einbezogen oder nicht)
du/Sie (Hörerdeixis, Balanceform vs. Distanzform)
ihr/Sie (Hörergruppendeixis, Balanceform vs. Distanzform)
– Objektdeixis (Referenz auf Objekte allgemein)
•
Mittel: Demonstrativpronomen, bestimmte Personalpronomen
Bsp.:
dieser, diese, dieses (bzgl. Entfernung neutral),
jener, jene, jenes (eher distal – weiter entfernt als dieses, in vielen Sprachen
Unterscheidung distal vs. proximal)
demonstratives der, die, das
demonstratives er, sie
– Lokaldeixis
•
Mittel: Lokaladverbien
Bsp.:
hier (schließt Sprecherort mit ein oder verweist auf einen nahen Ort – proximal)
da (verweist auf einen etwas weiter entfernten Ort – medial)
dort (verweist auf einen entfernten Ort – distal)
15
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
– Temporaldeixis
•
Mittel: Temporaladverbien, Tempus
Bsp.:
jetzt (schließt Sprechzeitraum ein oder verweist auf diesen),
einst, einmal (verweist auf vom Sprechzeitraum entfernten Zeitraum in der
Vergangenheit oder Zukunft)
heute, morgen, übermorgen, gestern, vorgestern etc. (metrische Ausdrücke, die auf
einen bestimmten Tag verweisen, z. B. Tag, an dem gesprochen wird, Tag nach
diesem, Tag vor diesem etc.)
Präteritum (Zeit vor dem Sprechzeitpunkt), Futur (Zeit nach dem Sprechzeitpunkt) etc.
– Anapher: typischerweise ein Pronomen (Personalpronomen der 3. Person Sg./Pl.,
Reflexivpronomen sich, Reziprokpronomen einander), mit dem auf ein Objekt referiert
wird, auf das bereits vorher mit einem anderen Ausdruck (Antezedens) referiert wurde. Anapher
und Antezedens sind also koreferent.
Bsp.:
Nachdem [Antezedens die Sonnenblume]i drei Tage ohne Wasser auf der Fensterbank stand, ist
[Anapher sie]i jetzt leider verwelkt.
[Antezedens Sibylle]j bewunderte [Anapher sich]j im Spiegel.
– wenn das Antezedens nicht vorausgeht, sondern folgt, spricht man von einer Katapher
Bsp.:
[Katapher Er]k hatte eigentlich gut gefrühstückt und dennoch war [Antezedens Hans-Peter]k
schon wieder hungrig.
2.2 Implikaturen
– Gesprächsauschnitt:
Sibylle: Kommst du mit in die Mensa?
Hans-Peter: Ich habe gerade vorhin erst zuhause gefrühstückt.
Mit seiner Äußerung legt Hans-Peter nahe, dass er nicht mit in die Mensa kommt,
obwohl er das so gar nicht gesagt hat. Man sagt: Seine Äußerung implikatiert dies. Dass er
nicht mit in die Mensa kommt, ist eine sogenannte (konversationelle) Implikatur von Hans
Peters Äußerung (bezeichnet durch +>). Wie kommen Implikaturen zustande?
– Wir gehen davon aus, dass Gesprächspartner kooperativ sind.
•
Kooperationsprinzip (Paul Grice 1968): Gestalte deinen Gesprächsbeitrag genau so, wie es
der Punkt des Gesprächs, an dem er erfolgt, erfordert, wobei das, was erforderlich ist,
bestimmt ist durch den Zweck oder die Richtung des Gesprächs an dem du teilnimmst.
– Das Kooperationsprinzip
kann
man
weiter
aufgliedern
in
verschiedene
Konversationsmaximen, die einer rationalen (und im Normalfall erwartbaren) Konversation
zugrundeliegen:
16
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
– Maxime der Qualität: Sage nichts, was du für falsch hältst oder wofür du keine
adäquaten Evidenzen hast.
• Würde verletzt bei Lügen und bei als sicher dargestellten Aussagen, über die sich der
Sprecher eigentlich unsicher ist.
• Führt u. a. bei Ironie zur Implikatur des Gegenteils, z. B. nachdem etwas
schiefgegangen ist: Na, das hast du ja mal wieder toll hingekriegt! – Implikatur: Das hast du
überhaupt nicht toll hingekriegt/Das hast du schlecht gemacht.
– Maxime der Quantität: Gestalte deinen Beitrag so informativ, wie erforderlich, aber
nicht informativer.
•
•
Würde verletzt, wenn man nicht genug Information gibt oder zuviel.
Führt u. a. zu sogenannten skalaren Implikaturen z. B. Einige Studenten haben die
Hausaufgabe gemacht – Implikatur: Nicht alle Studenten haben die Hausaufgabe
gemacht (sonst hätte man wohl gesagt: Alle Studenten haben die Hausaufgabe
gemacht). Hieran sieht man übrigens auch sehr schön, dass Implikaturen nicht logisch aus
der Äußerung folgen. Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht ist auch wahr,
wenn alle Studenten die Hausaufgaben gemacht haben.
– Maxime der Relation: Sei relevant./Mach einen Beitrag zum Gesprächsgegenstand.
•
•
Würde verletzt, wenn man über ein ganz anderes Thema redet.
Führt z. B. zur Implikatur, dass ein scheinbar nicht zum Thema
gehörenderRedebeitrag doch irgendwie als relevante Information zum Thema gemeint sein
muss, s. Bsp. oben Kommst du mit in die Mensa? - Ich habe gerade vorhin erst
zuhause gefrühstückt. – Implikatur: Weil ich noch vom Frühstück satt bin, möchte ich nicht
mit in die Mensa essen kommen.
– Maxime der Modalität (Art und Weise): Sei klar (d.h. vermeide ungeläufige Ausdrücke oder
Ambiguitäten, fasse dich kurz, gehe geordnet vor).
•
•
Würde verletzt, wenn man zu weitschweifig oder ungeordnet erzählt bzw.
mehrdeutige oder unübliche Ausdrücke verwendet
Führt u.a. zur Implikatur einer Abfolge bei Beschreibungen etc., z. B. Wie komme ich
hinunter zum Fluss? - Biegen Sie rechts in die Georg-Cantor-Straße ein und fahren Sie am
Ende der Straße links in den Mühlweg. – Implikatur: Biegen Sie zuerst in die Georg-CantorStraße ein und fahren Sie dann am Ende der Straße rechts in den Mühlweg (nicht
etwa: Fahren Sie am Ende der Straße links in den Mühlweg und biegen Sie (danach)
rechts in die Georg-Cantor-Straße ein)
– konversationelle Implikaturen können entstehen, wenn
die Maximen beachtet werden
zwei Maximen im Widerstreit stehen
Maximen 'ausgebeutet' werden, d. h. offensichtlich verletzt werden, um auf indirekte Weise
etwas ganz Bestimmtes zu verstehen zu geben (z. B. in Arbeitszeugnissen etc.)
– Eigenschaften konversationeller Implikaturen:
•
•
•
17
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
•
•
•
•
•
•
kalkulierbar (auf der Basis des Kooperationsprinzips und der Maximen erschließbar)
annulierbar (Sprecher verhindert explizit, dass es zu der Implikatur kommt, z. B.
Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, wenn nicht sogar alle)
inhaltsbasiert (ergeben sich aus dem Inhalt dessen, was gesagt wurde, nicht aus der
Ausdrucksweise – Ausnahme: Implikaturen aufgrund der Maxime der Modalität)
nicht konventionell (setzen am Konventionellen/'dem Gesagten'/dem propositionalen
Gehalt an)
nicht eindeutig (oft gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Gesagte in Einklang mit den
Konversationsmaximen zu bringen)
bekräftigbar (Implikatur kann explizit dazugesagt werden, ohne redundant zu
erscheinen, z. B. Einige Studenten haben die Hausaufgabe gemacht, aber nicht alle)
universal (in jeder Sprache sollten Implikaturen auftreten, da das Kooperationsprinzip und
die Konversationsmaximen Rationalitätsstandards darstellen und somit für alle
rationalen Wesen gelten – Hinweis: neben der Rationalität spielen aber auch andere
Prinzipien in der Konversation eine Rolle, z. B. ethische, ästhetische, soziale)
2.3 Präsuppositionen
– Präsupposition: bei einer Äußerung vorausgesetzte Annahme, keine logische Folgerung, denn
Präsuppositionen (bezeichnet durch >>) können unter Negation, Modalität und in
Fragesätzen erhalten bleiben
Bsp.: Konstantin hat aufgehört zu rauchen.
>> Konstantin hat geraucht.
Konstantin hat nicht aufgehört zu rauchen.
>> Konstantin hat geraucht.
Hat Konstantin aufgehört zu rauchen?
>> Konstantin hat geraucht.
– Präsuppositionen gehören wie Implikaturen nicht zum "Gesagten"/propositionalen Gehalt der
Äußerung,
Unterschiede Präsuppositionen vs. Implikaturen:
•
•
Präsupposition nicht bekräftigbar/kann nicht explizit gemacht werden - würde zu
Redundanz führen (Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom
Vormieter stammt, (und/aber) der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom
Vormieter.), dagegen können Implikaturen bekräftigt werden/ohne Redundanz explizit
gemacht werden (Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, (aber) nicht
alle.)
Präsuppositionen nicht explizit annulierbar 1, Implikaturen dagegen schon (Einige
Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, wahrscheinlich sogar alle. – Implikatur: Nicht
alle Studenten haben die Hausaufgabe gemacht annulliert; dagegen nicht möglich:
Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt, aber
1 Präsuppositionen können z. T. suspendiert (aufgehoben/zurückgestellt) werden, aber das geschieht nicht durch eine
explizite Behauptung des Gegenteils im Anschluss an die Äußerung, sondern z. B. indem ein faktives Verb in den
Konjunktiv gesetzt wird oder unter glauben eingebettet wird o.ä. - Bsp.: Susanne weiß, dass der
Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt. >> Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom
Vormieter. dagegen: Susanne glaubt zu wissen, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter
stammt. >/> (= präsupponiert nicht:) Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom Vormieter.
18
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt nicht vom Vormieter.)
– Präsuppositionen kommen durch einen Auslöser (trigger) in der Äußerung zustande, z. B.
definiter Artikel, bestimmte Verben, Gradpartikeln etc.
– Arten von Präsuppositionen u.a.:
•
•
•
•
•
Existenzpräsupposition: Voraussetzung der Existenz, z. B. möglich durch definiten Artikel
(Stammt der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter? >> Es gibt einen Schreibtisch
in Astrids Zimmer), Quantorenausdrücke wie die Indefinitpronomen alle, jeder etc.
(Möglicherweise sind alle Pflanzen auf Hildes Balkon vertrocknet. >> Es gibt Pflanzen
auf Hildes Balkon.) oder die Interrogativpronomen wer, was (Wer hat vorhin angerufen? >>
Es hat vorhin jemand angerufen.)
faktive Präsupposition: Voraussetzung, dass der durch einen Objekt- oder Subjektsatz
bezeichnete Sachverhalt besteht, z. B. durch faktive Verben und Adjektive wie
bedauern/einsehen/wissen, dass bzw. schrecklich/schade/bedauerlich/wunderbar, dass
(Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer auch vom Vormieter stammt.
>> Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt auch vom Vormieter.)
nicht-faktive Präsupposition: Voraussetzung, dass der durch einen Objekt- oder
Subjektsatz bezeichnete Sachverhalt nicht besteht, z. B. durch Verben wie
vorgeben/vortäuschen (Astrid gibt vor, dass sie den Schreibtisch beim
Antiquitätenhändler erworben hat. >> Astrid hat den Schreibtisch nicht beim
Antiquitätenhändler erworben)
lexikalische Präsupposition: z. B. durch sogenannte implikative Verben wie
schaffen/vergessen (Konstantin hat vergessen, Hildes Balkonpflanzen zu gießen. >>
Konstantin wollte/sollte Hildes Balkonpflanzen gießen.) bzw. durch sogenannte
Aspektverben wie aufhören/beginnen (Konstantin hat aufgehört zu rauchen. >>
Konstantin hat geraucht.)
Präsupposition durch Gradpartikeln wie nur, auch, sogar (Nur Susanne ist gekommen.
>> Susanne ist gekommen – bleibt auch in Frage Ist nur Susanne gekommen?
erhalten; nicht präsupponiert, sondern ausgesagt/Teil des propositionalen Gehalts: Kein
anderer ist gekommen.)
2.4 Sprechakte
– Sprechen als Handeln (nach Austin) – Sprechhandlungen (Behaupten, Versprechen, SichEntschuldigen usw.): Sprechakte, dabei je nach Äußerung
•
•
explizites Performativ: Äußerung, bei der die vollzogene Sprechhandlung explizit
bezeichnet wird (Bsp.: Ich bitte dich, pünktlich zu kommen) – in expliziten
Performativen die Sprechhandlung bezeichnende Verben wie taufen, versprechen,
bitten, feststellen, behaupten etc.: performative Verben (Test: durch Äußerung Ich + Verb
in 1.P., Sg., Indikativ, Aktiv, Präsens + hiermit ... wird die durch das Verb
bezeichnete Handlung vollzogen)2
implizites Performativ: Äußerung, bei der die vollzogene Sprechhandlung nicht
2 Performative Verben sind eine Untergruppe der illokutionären - d. h. Sprechakt bezeichnenden - Verben
wobei nur mit den performativen Verben die entsprechende Handlung auch tatsächlich vollzogen wird. So ist z. B.
prahlen ein illokutionäres Verb, da es einen Sprechakt bezeichnet, aber kein performatives Verb, da man nicht
prahlen kann, indem man sagt Hiermit prahle ich, dass ich der Beste bin.
19
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
explizit bezeichnet wird (Bsp.: Komm bitte pünktlich!)
– Glücken sprachlicher Handlungen (dafür je nach Sprechakt verschiedene Bedingungen z. B
Bedingung des propositionalen Gehalts, Aufrichtigkeitsbedingung, wesentliche Bedingung)
vs. "sprachliche Unglücksfälle" z. B. Fehlschlag: (Handlung kommt nicht zustande,
Bsp.: Ich taufe dich ohne Namensangabe keine Taufe vollzogen, Äußerung Ich scheide michvon
dir gilt aufgrund anders lautender Konventionen nicht als vollzogene Scheidung) oder
Missbrauch (Handlung kommt zustande, ist aber hohl, Bsp.: Äußerung Ich verspreche dir,
morgen zu kommen, wenn Sprecher nicht diese Absicht hat)
– Aufbau von Sprechakten (nach Searle):
•
•
•
•
Äußerungsakt: Produktion gesprochener (oder geschriebener, gebärdeter etc.) Sprache
propositionaler Akt: Herstellung von Referenz und Prädikation durch eine
Äußerung,Aufbau einer Proposition (bei Ausspracheübungen, Liste unregelmäßiger
Verbformen etc.Äußerungsakt, aber kein propositionaler Akt – keine Bezugnahme auf
eine Welt, Zuschreibung von Eigenschaften an Individuen etc.)
illokutionärer Akt (Sprechakt im engeren Sinn): Aufstellen einer Behauptung, Stellen
einer Frage, Aufforderung etc. (gleiche Proposition: Referenz auf gleiches Individuum
CHRISTIAN, Zuordnung des gleichen (logischen) Prädikats HERKOMMEN, aber
verschiedene illokutionäre Akte - Behauptung/Frage/Aufforderung: Christian kommt
her./Kommt Christian her?/Christian, komm her!)
perlokutionärer Akt: Erreichen einer bestimmten Wirkung/Konsequenz der Äußerung,
z. B. Einschüchtern, Überzeugen, Umstimmen, Beleidigen
– Arten von Sprechakten (illokutionären Akten) nach Searle:
•
•
•
•
•
Assertiv: Sprecher legt sich auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition fest,
'Wort-auf-Welt-Ausrichtung' (durch die Äußerung ausgedrückte Proposition muss einer
Tatsache in der Welt entsprechen/muss sich nach der Welt richten), psychischer Zustand des
Glaubens ausgedrückt, z. B. Behaupten und Feststellen
Direktiv: Sprecher versucht den Adressaten zu einer Handlung zu bringen, 'Welt-auf-WortAusrichtung' (Welt soll zu den Worten/zum propositionalen Gehaltpassend gemacht
werden), psychischer Zustand des Wollens/Wünschens ausgedrückt, z. B. Bitten, Befehlen,
Auffordern, Erbitten, Fordern, Fragen
Kommissiv: Sprecher legt sich auf ein bestimmtes Verhalten fest, 'Welt-auf-WortAusrichtung', psychischer Zustand der Absicht ausgedrückt, z. B. Versprechen, Drohen,
Anbieten
Expressiv: Ausdruck eines psychischen Zustands des Sprechers, der auf den durch die
Proposition bezeichneten Sachverhalt gerichtet ist, (Zusammenpassen von Wort und Welt
vorausgesetzt), z. B. Danken, Sich-Entschuldigen, Sein-Beileid-Aussprechen, Gratulieren
Deklaration: Sprecher erreicht, dass die ausgedrückte Proposition der Welt entspricht,
Wort-auf-Welt und Welt-auf-Wort-Ausrichtung (bei geglückter Deklaration entsprechen
Wort und Welt einander automatisch), z. B. Taufen, Kündigen, Den-Krieg-Erklären
(hierher gehören die explizit performativen Äußerungen)
– indirekte Sprechakte: manchmal 'eigentlich' vollzogener Sprechakt (z. B. Direktiv,
20
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Unterart: Aufforderung Mach das Fenster zu!) indirekt durch einen anderen Sprechakt
ausgedrückt (z. B. durch Assertiv, Unterart: Feststellung Es zieht.), dabei oft Bedingungen des
Glückens des indirekt vollzogenen Sprechakts thematisiert (z. B. Frage Könntest du das Fenster
schließen? = indirekte Aufforderung Mach das Fenster zu! - Bedingung für das Glücken von
Aufforderungen u. a. Annahme, dass Adressat dazu in der Lage ist)
2.5 Satztyp und Illokution
– Art des Sprechakts/illokutionären Akts z. T. durch illokutionären Indikator angezeigt, z. B.
durch performative Verben, Intonation, Betonung, Wortstellung, Interpunktion, Modus des
Verbs
– Zusammenhang von Illokution und Satztyp:
Satz
wichtige Unterarten/Formen
Illokution/Sprechakt
Deklarativsatz (Aussagesatz)
V2-Deklarativsatz
Assertiv: Behauptung, Feststellung,
unterschiedliche Sprechakte
bei explizitem Performativ
Interrogativsatz (Fragesatz)
Ergänzungsfrage
w-Frage
V2-Interrogativsatz/
Entscheidungsfrage
V1-Interrogativsatz,
Echo-w-Frage
Direktiv: Frage
Imperativsatz
V1-Imperativsatz,
dass-Ve-Imperativsatz
infiniter Imperativsatz
Direktiv: Aufforderung,
Bitte, Befehl, Vorschlag
Wunschsatz (Optativsatz)
V1-Wunschsatz,
dass/wenn-Ve-Wunschsatz
Wunsch
Exklamativsatz
V1-Exklamativsatz
Expressiv: Ausruf/Erstaunen
V2-Exklamativsatz
Ve-Exklamativsatz
(für Kommissive und Deklarationen kein eigener Satztyp im Deutschen, u. a. auch durch
Deklarativsätze ausdrückbar)
2.6 Informationsstruktur
– Die in einer Äußerung mitgeteilte Information lässt sich untergliedern danach, welcherTeil
der Information bekannt und welcher neu ist, welcher Teil der Information im
Zentrumdes Interesses steht usw. Hierbei spricht man von der Informationsstruktur
einer Äußerung. Diese hängt u. a. auch mit der Syntax (z. B. Wortstellung) und
Phonologie (Betonung, Intonation) zusammen.
– informationsstrukturelle Unterscheidungen
• Topik/Thema – Kommentar/Rhema (das Thema, um das es geht vs. das darüber
Ausgesagte)
21
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
•
gegeben – neu (alte/im Kontext bereits vorerwähnte Information vs. neue Information)
Fokus – Hintergrund (das, worauf es besonders ankommt/was im Zentrum des
Interesses steht/das 'Wichtige' vs. Rest, s. u.)
– Oft gibt es Überlappungen, was dazu führt, dass die einzelnen Unterscheidungen
manchmal in der Linguistik nicht hinreichend klar getrennt werden. Z. B. ist der Fokus oft
gleichzeitig neue Information, so dass beide Begriffe manchmal synonym verwendet
werden. Zum Beispiel bei Wen hast du getroffen? – Ich habe Daniel getroffen. ist Daniel Fokus
und im Kontext noch nicht gegeben, sondern neu. Das muss aber nicht so sein: Bei Hast du
Daniel oder Erwin getroffen? – Ich habe Daniel getroffen. ist wiederum Daniel Fokus, aber
schon vorerwähnt, d. h. gegeben und nicht neu. In ähnlicher Weise ist bei Susanne hat
doch den Freund von Daniel getroffen – Nein, Susanne hat Daniel getroffen ebenfalls Daniel der
Fokus, aber gegeben.
Fokus-Hintergrund-Gliederung:
– Ein Teil der Information der Äußerung steht im Zentrum, ist das 'Wichtige' im Satz, das, worauf
es ankommt und bildet den sogenannten Fokus. Der Rest der Äußerung stellt den sogenannten
Hintergrund dar. Was der Fokus ist, lässt sich u. a. herausfinden, indem man prüft auf
welche Fragen die entsprechende Äußerung eine geeignete Antwort wäre.
– Der Fokus kann u. a. durch das phonologische Mittel der Betonung/Akzentuierung
(üblicherweise durch Großbuchstaben gekennzeichnet) markiert oder identifiziert werden. Der
Teil der Äußerung, der der Fokus ist, trägt bzw. enthält den Satzakzent (siehe Skript I,
Kap. 2.4.2).
Susanne hat [Foc geGEssen].
[Foc SuSAnne] hat gegessen.
Susanne hat [Foc ein WURSTbrot] gegessen.
(Was hat Susanne gemacht?)
(Wer hat gegessen?)
(Was hat Susanne gegessen?)
– Es kann auch ein Teilelement des Fokus (der sogenannte Fokusexponent) den Satzakzent
tragen. Wenn der Fokus also mehr umfasst als nur das betonte Element selbst, dann
spricht man von Fokusprojektion. Zum Beispiel kann bei Betonung des Objekts
nicht nur das Objekt der Fokus sein wie oben dargestellt, sondern auch die gesamte VP oder
sogar der gesamte Satz kann der Fokus sein:
Susanne hat [Foc ein WURSTbrot gegessen].
[Foc Susanne hat ein WURSTbrot gegessen].
(Was hat Susanne gemacht?)
(Was ist passiert?/Was war los?)
Dagegen ist diese Fokusprojektion bei Betonung des Subjekts nicht gleichermaßen
möglich: Der mit dem Betonungsmuster SuSAnne hat ein Wurstbrot gegessen geäußerte
Satz ist keine mögliche Antwort auf die Fragen Was hat Susanne gemacht? oder Was ist
passiert?, es kann also nicht die VP oder der gesamte Satz Fokus sein.
– Außer durch phonologische Mittel kann der Fokus auch durch syntaktische Mittel markiert
werden, z. B. durch bestimmte Abweichungen in der Wortstellung (etwa dass er nach Hause
nicht gefahren ist statt dass er nicht nach Hause gefahren ist, erstere Wortstellung führt
zur (kontrastiven) Fokussierung von gefahren – man könnte fortfahren mit sondern gelaufen –
22
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
und zur Defokussierung von nach Hause) oder durch sogenannte Spaltsätze/CleftKonstruktionen
(Es
war Peter, mit dem ich gesprochen habe markiert Fokussierung von
Peter). Auch Gradpartikeln wie nur, auch, sogar bewirken bzw. identifizieren Fokussierung
des folgenden Elements.
– semantisch gesehen kann man Fokussierung so verstehen, dass dadurch Alternativmengen ins
Spiel gebracht werden (Alternativensemantik)
23
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
3. Sprachwandel
3.1 Grundlegendes
– Die historische Sprachwissenschaft befasst sich mit Sprachgeschichte und Sprachwandel.
Dabei werden historische Sprachstufen betrachtet, aber auch mehrere aufeinander folgende
miteinander verglichen (Diachronie). Ziele sind u. a. die Beschreibung des Sprachsystems
von historischen Sprachstufen und die Beschreibung und Erklärung von Sprachwandel auf
den
verschiedenen
Ebenen
des
Sprachsystems,
also
Phonetik/Phonologie
Morphologie/Lexikologie, Syntax, Semantik und Pragmatik.
– Ursachen des Sprachwandels
•
•
interne Ursachen: Ursache der Veränderung im Sprachsystem selbst begründet,
Veränderungen in einem Teilbereich des Sprachsystems bedingt durch Veränderungen in
einem anderen Teilbereich des Sprachsystems, z. B. Veränderungen der Morphologie
(z. B. der Flexion) durch phonologische Veränderungen (z. B. Nebensilbenabschwächung)
z. T. quasi-naturgesetzartige Veränderungen Bsp. Lautgesetze (v. a. erforscht durch
sogenannte Junggrammatiker)
oft Veränderungen der Markiertheit (Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie: bei
sprachlichen Merkmalen ist immer ein Wert unmarkiert, d. h. 'normal'/unauffällig, häufiger
usw., der andere Wert markiert, d. h. 'speziell'/auffällig, seltener, aufwendiger), dabei
Verringerung der Markiertheit in einem Bereich i. d. R. verbunden mit Erhöhung der
Markiertheit in einem anderen Bereich
externe Ursachen: Ursache der Veränderung liegt außerhalb des Sprachsystems,
soziokulturelle, politische Bedingungen
– Rolle des Spracherwerbs für den Sprachwandel
– Methoden der historischen Sprachwissenschaft: Arbeit mit Textkorpora (versch. Textsorten
und regionale Varietäten), Glossaren/Konkordanzen usw.
3.2 Herkunft und Verwandtschaft des Deutschen
– Hintergrund: sprachübergreifende lexikalische Übereinstimmungen z. B. Bezeichnungen für
Haustiere, Stoffbezeichnungen, Verwandschaftsbezeichnungen, Zahlwörter etc. in viel
Sprachen von Europa bis Indien – gemeinsamer Ursprung →
Sprachfamilie: Indogermanische Sprachen
Bsp.:
24
Deutsch
Englisch
Schwedisch
Gotisch
Lateinisch
Französisch
Griechisch
Russisch
Litauisch
Altindisch
drei
three
tre
þreis
trēs
trois
treĩs
tri
trỹs
tráyas
vs.
Baskisch
Ungarisch
Finnisch
Türkisch
Georgisch
hiru
három
kolme
üç
samii
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Urindogermanisch
(Protoindoeuropean)
Keltisch
Italisch
Burgundisch
Hethitisch
Ostgermanisch
Illyrisch
Gotisch
Wandalisch
Griechisch
Neuisländisch
Germanisch
Altisländisch
Färöisch
Lykisch
Altnorwegisch
Norwegisch
Altschwedisch
Schwedisch
Altdänisch
Dänisch
Lydisch
Nordgermanisch
Altnordisch
Phrygisch
Tocharisch
Baltisch
Slawisch
Altfriesisch
Albanisch
Westgermanisch
Neufriesisch
Altenglisch
Mittelenglisch Neuenglisch
Thrakisch
Altsächsisch
Mittelniederdt Neuniederdt.
Pelasgisch
Altniederfränkisch
Flämisch
Armenisch
Niederländisch
Iranisch
Afrikaans
Indisch
´
Althochdeutsch
Mittelhochdt. Neuhochdt.
– Derzeit sind über 140 Sprachfamilien bekannt, deren Mitgliederzahlen sich stark unterscheiden
(s.u.). Andere Sprachfamilien neben dem Indogermanischen (über 400 Sprachen) sind
beispielsweise:
• Europa/Asien:
Uralisch (hierzu zählen die finno-ugrischen Sprachen wie Finnisch, Estnisch, Ungarisch)
• Afrika/Asien:
Afro-Asiatisch (u. A. Berbersprachen und semitische Sprachen wie Hebräisch, Arabisch,
Tigrinya etc.)
• Afrika:
25
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
•
•
•
Niger-Kongo (über 1400 Sprachen) (inkl. Bantusprachen wie Swahili, Zulu, Xhosa etc.)
Südasien:
Dravidisch (Tamil, Telugu, Malayalam)
Süd-/Ostasien:
Sino-Tibetisch (inkl. chinesische Sprachen (!), Birmanisch, Thai)
Australien/Ozeanien:
Austronesisch (inkl. malaio-polynesische Sprachen wie Indonesisch, Melanesisch,
Polynesisch etc.)
Australisch (Diyari, Kayardild, Warlpiri etc.)
Amerika:
Salish (ca. 20 Sprachen) (Halkomelem, Lushootseed, Squamish etc.)
Uto-Aztekisch (Hopi, Nahuatl, Yaqui etc.))
3.3 Periodisierung des Deutschen
– Althochdeutsch
•
•
•
ca. 7. Jh. – 1050
Überlieferung: v.a. Glossenüberlieferung, wenige längere Texte, v. a. Übersetzungen
lateinischer christlich-religiöser Texte (z. B. Isidor, Tatian, Otfrid, Notker), kürzere
autochthone Texte (z. B. Hildebrandslied, Merseburger Zaubersprüche)
sprachliche Chrakteristika: u. a. 2. Lautverschiebung
Bsp.: Gotisch: tiuhan - Altsächsisch: tiohan – Ahd. ziohan 'ziehen'
– Mittelhochdeutsch
•
•
•
ca. 1050 – 1350
Überlieferung: höfische Dichtung (Nibelungenlied, Werke von Wolfram von
Eschenbach, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg u. a.), Prosaliteratur,
Predigten, Urkunden, Sachtexte
sprachliche Chrakteristika: u. a. Nebensilbenabschwächung
Bsp.: Ahd. uueraldi – Mhd. werlte '(der) Welt'
– Frühneuhochdeutsch
•
•
•
ca. 1350 – 1650
Überlieferung: Zunahme der Textsorten (u. a. beeinflußt durch Erfindung des Buchdrucks),
z. B. Flugschriften, Sachtexte, Briefe, Reisebeschreibungen
sprachliche Chrakteristika: u. a. (früh-)neuhochdeutsche
Monophthongierung und
Diphthongierung
Bsp.: Mhd. zuo – Frnhd. zu Mhd. bî – Frnhd. bey/bei
– Neuhochdeutsch
•
26
ab ca. 1650
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
•
Überlieferung: weitere Textsortenzunahme
sprachliche Charakteristika: u. a. zunehmende Normierung/Standardisierung der Sprache,
Abbau morphologischer, graphematischer etc. Varianz
– Hochdeutsch = räumliche Charakterisierung, bezieht sich auf den mittleren und südlichen Teil
des deutschen Sprachraums: Mitteldeutsch und Oberdeutsch bilden zusammen das
Hochdeutsche (daneben im nördlichen Teil des deutschen Sprachraums: Niederdeutsch,
entsprechend Altniederdeutsch/Altsächsisch etc.)
27
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
– Räumliche Gliederung des Deutschen (v. a. bedingt durch 2. Lautverschiebung):
(Quelle: Das Neue Duden Lexikon, 1989, Mannheim: Duden-Verlag)
– Ostmitteldeutsch: Thüringisch, Obersächsisch, Schlesisch
– Westmitteldeutsch: Hessisch, Rheinfränkisch, Mittelfränkisch (Moselfränkisch,
Ripuarisch)
– Ostoberdeutsch.: Bairisch/Österreichisch
– Westoberdeutsch: Schwäbisch, Alemannisch, Oberfränkisch
3.4 Phonologischer Wandel
– kann phonetisch (durch artikulatorisch Eigenschaften von einzelnen Lauten) oder phonologisch
(durch Phonemsystem insgesamt, Oppositionen zu anderen Lauten etc.) motiviert sein
– Kontextabhängigkeit: der lautliche Kontext spielt oft eine wichtige Rolle bei lautlichen
Veränderungen
28
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
3.4.1 Überblick: Lautentwicklungen zum und im Deutschen
Urindogermanisch
1. oder Germanische Lautverschiebung (Grimm’s Law)
Vernersches Gesetz (Grammatischer Wechsel)
Germ.
Westgerm. Gemination vor <j, r, l, w >(Got. bidjan - Ae. biddan, Ahd. bitten)
Rhotazismus ([z] > [r], Bsp. Mhd. vriesen 'frieren', Nhd. Frost – gevrorn/gefroren)
2. oder Hochdeutsche Lautverschiebung
Ahd.
a-Umlaut/Brechung (i/u/eu > e/o/eo vor a/e/o in der Folgesilbe)
Ahd Diphthongierung (e: > ia, o: > uo)
Ahd Monophthongierung (ai > e: vor h, r, w, im Auslaut; Bsp. Got. mais – Ahd. mēr)
eo > io > ie
i-Umlaut (Primärumlaut, Sekundärumlaut)
Auslautverhärtung
sc > sch (scrīban > schrîben, scōni > schoene)
Nebensilbenschwächung (Vokal > ə)
Mhd.
Schwa-Schwund/Elision
s > sch (im Anlaut vor l, m, n, w, p, t)
Nhd Diphthongierung (î/û/iu > ei/eu/au, z. B. mîn niuwes hûs > mein neues Haus)
Nhd Monophthongierung (ie/uo/üe > i:/u:/ü:, z. B. liebe guote brüeder > liebe gute Brüder)
Dehnung in offener Silbe (z. B. ['fRa.gən] > ['fRa:.gən])
Kürzung in geschlossener Silbe (z. B. dâhte > dachte, hôchzît > Hochzeit)
Entrundung (z. B. bülez > Pilz, nörz > Nerz)
Rundung (z B. leffel > Löffel, finf > fünf)
Senkung u > o (z. B. sunst > sonst)
Frnhd.
Nhd.
3.4.2 Ausgewählte Lautwandelphänomene
– phonologisch begründet, Umordnung des Phonemsystems einer Sprache, Phonemverschiebungen:
– Erste oder Germanische Lautverschiebung (1. LV):
•
29
ca. 1200/1000–500/300 v.Chr., führt zur Ausgliederung des Germanischen aus dem
Urindogermanischen, drei Teilveränderungen, durch Sog bzw. Schub (pull-chain/
push-chain) verbunden:
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
(1) stimmlose Plosive [p], [t], [k]
> stimmlose Frikative [f], [θ], [x]
(2) stimmhafte Plosive [b], [d], [g]
> stimmlose Plosive [p], [t], [k]
(3) sth. aspirierte Plosive [bh], [dh], [gh]> stimmhafte Plosive [b], [d], [g]
stl. Plosiv > stl. Frikativ →
p>f →
b>p →
t>θ →
d>t →
k>χ →
g>k →
sth. Plosiv > stl. Plosiv → sth. asp. Plosiv > sth. Plosiv
bh > b
dh > d
gh > g
Bsp: Griech patếr - Lat. pater - Frz. père
vs.
Ae. fæder - Ahd. fater - Nhd. Vater
– Zweite oder Hochdeutsche Lautverschiebung (2. LV): ca. 6. – 7./8. Jh., führt zur
Ausgliederung
des
(Hoch-)Deutschen
aus
dem
(West-) Germanischen,
zwei
Teilveränderungen (sogenannte Tenuesverschiebung (1), Medienverschiebung (2)), ebenfalls
durch Sog (pull-chain) verbunden
•
(1) stimmlose Plosive [p], [t], [k]
(a) - nach Vokal > geminierte stl. Frikativen [ff], [ss] (<zz>), [xx] (<hh, ch>)
(nach langen Vokalen und im Auslaut werden diese zu [f], [s], [x] vereinfacht)
•
(b) - nach Konsonant (Nasal m/n, Liquid l/r)
- am Wortanfang > Affrikaten [pf], [ts] (<z>), [kx] (<ch, kch>)
- bei Geminaten ([pp], [tt], [kk])
(2) stimmhafte Plosive [b], [d], [g] > stimmlose Plosive [p], [t], [k] (Bsp. As. dag Ahd. tag)
Dieser Prozess war räumlich begrenzt und wurde teilweise in vormhd. Zeit wieder
rückgängig gemacht,
[θ] > [d] (Bsp. Germ. *broþar > Ahd. bruoder)
Bsp. für (1 a)
Germ.*drepan > Ahd. treffan, Germ. *hropan >Ahd. roufan, Germ. *skipa >Ahd. skif
Germ. *etan > Ahd. ezzan, Germ. *fōt(u) > Ahd. fouz
Germ. *makōn > Ahd. mahhōn, Germ. *ek > Ahd. ih
Bsp. für (1 b)
Wgerm.*skeppjan >Ahd. skepfen, Lat. piper - Ahd. pfeffar, Lat. campus - Ahd. kampf
Wgerm.*sattjan >Ahd. sezzen, Germ.*tehun >Ahd. zehan, Germ.*hertōn >Ahd. herza
Wgerm.*wekkjan >Ahd. wecchan, Germ.*korna >Ahd. chorn, Germ.*werka >Ahd.
werch
•
30
unterschiedliche Verschiebung der stl. Plosive (1 a vs. 1 b) je nach lautlicher
Umgebung durch Sonoritätshierarchie (vgl. Teil 1, Kap. 2.4.1.) zu erklären: Verschiebung
der stl. Plosive = Verschiebung auf der Sonoritätshierarchie in Richtung stärkerer Sonorität
[p], [t], [k] bilden als [-sonorante], konsonantische Phoneme i. d. R. den Silbenrand (Onset
oder Koda). Damit Kontrast zur vorhergehenden bzw. nächsten Silbe deutlich bleibt (→
silbenbezogener Wandel), stärkste Verschiebung (d. h. zu Frikativen) nur nach sonorsten
Lauten, d. h. nach Vokalen (1 a), dagegen nach weniger sonoren Lauten, d. h. nach
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Konsonanten (nach Nasalen/Liquiden, in Gemination = nach Plosiven) und am
Wortanfang (der auf Silben mit und ohne Koda folgen kann, d. h. u. U. auch nach
Konsonant steht) weniger Verschiebung in Richtung stärkerer Sonorität (d. h. nur zu
Affrikaten).
Sonoritätshierarchie:
geringste Sonorität
höchste Sonorität
│
│
│
│
│
│
Plosive Affrikaten Frikative
Nasale Liquide(/l/,/r/)
Vokale
•
1b
1a
•
___________
____________________
(2. LV)
geografische Staffelung: weitgehendste Durchführung der 2. LV im Süden des
Deutschen Sprachraums incl. [k] > [kx], 2. LV nicht durchgeführt im niederdeutschen
Sprachraum, dazwischen vielfache Abstufungen → unterschiedliche Dialektgebiete
(Niederdt., Mitteldt., Oberdt. s. o., sowie weitere Untergliederungen vgl. u. a.
sogen.Rheinischer Fächer), abgegrenzt durch Isoglossen (Grenzlinien der
Verbreitungsgebiete von Wortformen)
Rheinischer Fächer:
– phonetisch begründet, artikulatorischer Aufwand etc.:
– i-Umlaut:
Vokal mit Merkmal [-vorn] (sogen. velarer Vokal) in der Haupttonsilbe wird an Vokal [ I] ,
31
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
[i:] bzw. Gleitlaut [j] in Folgesilbe angepasst und damit [+vorn] ('palatalisiert'/'fronting'),
Phonologische Regel: [-vorn] → [+vorn]/ __ /i, j/
•
Primärumlaut: im Ahd. schon verschriftllicht: <a> > <e>
(verursacht Phonemspaltung Germ a > Ahd. a bzw. e)
Bsp.: alt – elti (Derivation), gast – gesti, grabu – grebis (Flexion)
•
Sekundärumlaut: im Ahd. wohl schon durchgeführt, erst im Mhd. verschriftlicht:
<a> > <ä>, <â> > <æ>, <o> > <ö>, <ô> > <œ>, <u> > <ü>,
<û> > <iu>, <ou> > <öu>, <uo> > <üe>
Bsp.: Ahd. mahtig
Ahd. tâti
Ahd. holzir
Ahd. skôni
Ahd. ubir
Ahd. hûsir
Ahd. troumen
Ahd. fuori
>
>
>
>
>
>
>
>
Mhd. mähtec
Mhd. tæte
Mhd. hölzer
Mhd. schoene 'Schönheit'
Mhd. über
Mhd. hiuser
Mhd. tröumen
Mhd. füere 'führe'
•
i-Umlaut = Assimilation (Fernassimilation, partielle Assimilation, regressive Assimilation),
vgl. Vokaltrapez (vgl. Teil 1, Kap. 2.1.4.)
•
um 1000 n. Chr. Phonologisierung bzw. Morphologisierung der i-Umlaut-Produkte:
Allophone > (neue) Vokalphoneme
– Nebensilbenschwächung:
systematische Reduktion voller Nebensilbenvokale zu Schwa am Übergang von
Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen (Spätfolge der Akzentfestlegung auf die
Stammsilbe im Germanischen, betonte Silbe wird exponiert, hebt phonolog. Wort hervor)
Bsp.:
32
[i]
[u]
[o:]
[o]
[a]
gesti > geste 'Gäste‘, nerita > nerete/nerte 'nährte'
nabulo > nabele
lobōn > loben
lobota > lobete
hōrta > hōrte
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
Abschwächung/Lenition
entlang
der
Sonoritätshierarchie
in
geringererSonorität (zunächst [u] und [i] betroffen, dann auch [e], [o], und [a]):
geringste Sonorität
│
│
│
│
│
Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide(/l/,/r/)
höchste Sonorität
│
Vokale
[ə]
[i]
[e]
[u]
[o]
Richtung
[a]
Nebensilbenabschwächung
•
Markiertheitsabnahme: [ə] bezüglich aller phonologischen Merkmale (±hint, ±vorn,
±hoch, ±tief, ±rund, ±gesp, ±lang) unmarkiert, d. h. gegenüber allen anderen Vokalen
weniger markiert (geringerer artikulatorischer Aufwand, da Zunge in neutraler Lage und
Lippen nicht gerundet)
•
Folge: Vereinfachung/Verarmung der Flexionsparadigmen (vgl. ahd hōrt-a/-ōst/-a/-um/ut/-un > mdh hōrt-e/-est/-e/-en/-et/-en)
ab 13. Jh. im Zuge des Schwa-Schwunds (Elision: Synkope oder Apokope des
Schwa) Nebensilbenvokal oft ganz geschwunden (Folge u.a.: Derivationssuffixe
werden generell einsilbig)
•
– (Frnhd.) Dehnung in offener Tonsilbe:
•
vom Mhd. zum Frnhd. Dehnung des Vokals in betonten offenen Silben (Silben ohne Koda)
Bsp.: Mhd. ['fR a.gən] > ['fR a:.gən], Mhd. ['nε.mən] (graph. z. T. <ë>) > ['ne:.mən]
•
33
prosodische/silbenstrukturelle Erklärung - Vereinheitlichung der Silbenstruktur: diachrone
Beseitigung von betonten offenen Silben mit Kurzvokal (bereits teilweise beseitigt durch
'Schließung' offener Silben aufgrund von Schwa-Schwund z. B. mi.te > mit 'mit', andere
offene Silben mit Kurzvokal: Dehnung des Vokals) seit Frnhd.: betonte Silbe muss schwer
sein: Silbenreim in betonter Position Langvokal, Diphthong oder Kurzvokal +
Konsonant, d. h. Reim einer betonten Silbe: V-C
→ wenn die betonte Silbe nur einen Vokal und keine Koda enthält, muss der Vokal lang
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
gesprochen werden
σ
Onset
Reim
Nukleus
C
h
V C
a
I
(Diphthong z. B. heiser)
σ
Onset
Reim
C
h
Nukleus
Koda
V
a
C
t
(geschlossene Silbe z. B. hat)
σ
Onset
Reim
Nukleus
•
C
V C
h
a:
(offene Silbe z. B. haben)
Folge: Entstehung von Stammallomorphie im Frnhd., z. T. wieder beseitigt durch
Dehnung der entsprechenden Stammvokale auch in Form mit geschlossener Silbe per
Analogie (analogischer Ausgleich)
Bsp.:
Tag Tage
Mhd.
Frnhd.
Frnhd.
(nach Dehnung in offener Silbe)
(nach analogischem Ausgleich)
[tak] [ta.gə]
[tak] [ta:.gə]
[ta:k] [ta:.gə]
3.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel
– bei Morphemen wie anderen sprachlichen Zeichen (s. Skript Teil I) Zeichen und
Bezeichnetes (signe und signifié) oder Form und Inhalt zu unterscheiden, in vieler
Hinsicht 'ideal': 1:1-Zuordnung von Form und Inhalt einzelner Morpheme (Transparenz: 1
Form steht für 1 Inhalt, Uniformität: 1 Inhalt ausgedrückt durch 1 Form), dagegen
verstoßen Synkretismus (1 Form/gleiches Morphem, aber verschiedene Inhalte z. B. in
Verbflexion -t 3. P. Sg. oder 2. P. Pl.) und Allomorphie (gleicher Inhalt, verschiedene
34
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Formen/verschiedene Morpheme, z. B. in Nomenflexion Plural durch -(e)n, -e, -er,
Umlaut+e, Null usw.)
– synthetischer (grammatische Merkmale ausgedrückt durch Hinzufügen von Morphemen) vs.
analytischer (grammatische Merkmale ausgedrückt durch zusätzliche Wörter) Sprachbau,
diachron häufig Wandel von synthetisch zu analytisch
– morphologischer Wandel
betrifft
lexikalischer Wandel das Lexikon
Flexionsmorphologie,
Wortbildungsmorphologie,
3.5.1 Phonologisch bedingter morphologischer Wandel
– Morphemabbau
Reduktion des Morpheminventars z. B. durch Nebensilbenschwächung (s. o.)
•
•
Bsp. Nominalflexion: Plural (a-Stämme) Ahd. tag–a/-o/-um/-a > Mhd. tag-e/-e/-en/-e Folge:
Synkretismus (kann auch zu Kasusschwund führen, d. h. Verlust eines oder mehrerer
Kasus), ausgeglichen u. a. durch stärker analytischen Sprachbau (syntaktischer Wandel):
z. B. Aufkommen der Artikel, die Kasusmarkierung mit übernehmen, Verwendung von
Präpositionalphrasen statt einfacher, kasusmarkierter Nominalphrasen
Bsp. Verlust des nominalen Derivationssuffixes –i: Ahd. Naff –i zur Derivation von
Eigenschaftsabstrakta aus Adjektiven, z. B. blint-î ('Blindheit'), skôn-î ('Schönheit'), in
Folge der mhd. Nebensilbenschwächung zunehmend durch andere Wortbildungsmuster
ersetzt, z. B. Derivation mit Naff –heit vgl. Nhd. Blindheit, Schönheit etc.
– Morphologisierung
Allomorphie, die ursprünglich phonologisch bedingt war, morphologisch genutzt, d.h.
übernimmt eine grammatische Funktion,
• Bsp. Morphologisierung des i-Umlauts (s.o.): Kennzeichnung des Plurals in der
Nominalflexion (Vater – Väter, Graben – Gräben etc.)
• (Bsp. Morphologisierung des Ablauts (s. u.) in der Tempusflexion der starken Verben:
ursprünglich rein phonetisch-phonologisch bedingt)
3.5.2 Syntaktisch bedingter morphologischer Wandel
– Univerbierung
Zusammenziehung einer syntaktischen Phrase zu einem komplexen Wort
•
Bsp. Entstehung des Fugenmorphems (sog. uneigentliche oder Kasuskomposita): urspr.
Syntagma aus zwei Nominalphrasen (NP), wobei die erste das Kasusmorphem für Genitiv
trägt (Genitivattribut), zusammengezogen zum Nominalkompositum, Genitivmorphem
reanalysiert (neu gedeutet) als Fugenelement, Anwendung dieses Wortbildungsmusters mit
Fugenelement auch in Fällen, wo es kein Genitivmorphem sein könnte (z. B. –s nach
femininem Nomen) landesGEN werung ('Währung des Landes') > Landeswährung,
sonnenGENauffgang Sonnenaufgang analog auch Erfahrungswert(GEN *der Erfahrungs),
Universitätszeitung (GEN *der Universitäts)
– Grammatikalisierung
Prozess, in dessen Verlauf eine autonome lexikalische Einheit allmählich die Funktion
einer abhängigen grammatischen Kategorie erwirbt, dadurch u. a. Entstehung neuer
35
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Funktionswörter (Auxiliare, Konjunktionen, Präpositionen etc.) und Flexionsmorpheme
•
Merkmale der Grammatikalisierung: u. a. Desemantisierung (lexikalisch-semantischer
Gehalt nimmt ab), phonologische Abschwächung (Verlust lautlicher Substanz),
Unidirektionalität (Lexikalisches Wort > Funktionswort > Partikel > Klitikum > Affix, aber
nicht umgekehrt)
Bsp. Entwicklung von Subjektspronomen zu Verbalflexionsmorphem: das Pronomen der 2.
Ps.Sg. wurde zu einem Teil des Flexivs, da es häufig enklitisch (d.h. nachgestellt und
schwachtonig) an das Verb antrat
Ahd. Pronomen: thu > Klitikon: gilaubistu > Flexiv gilaubist thu 'glaubst du'
Bsp. Entwicklung der Konjunktion während:
Verb (Partizip I) > Präposition > Konjunktion (temporal > adversativ) Partizip >
Präposition: Während des Krieges hat manches seinen Herrn verändert (Lessing) >
während des Krieges (Reanalyse), Präposition > Konjunktion: während dessen dasz/
während dem dasz > während dasz > während
Bsp. Entstehung der nominalen Derivationssuffixe –heit, -schaft, -tum (Naff): im Ahd.
Nomen (ungebundene Morpheme) heit ('Person'), scaf ('Beschaffenheit'), scaft
('Schöpfung'), tuom ('Urteil'), auch in Nominalkomposita als Erstglied z. B. tuom-tac
('Gerichtstag') oder Zweitglied z. B. got-heit ('Gottheit'), auf dieser Basis Entwicklung
zu Derivationssuffixen (gebundenen Morphemen)
3.5.3 Morphologie-intern motivierter morphologischer Wandel
– Analogischer Ausgleich
Reduktion/Abbau von Allomorphie innerhalb eines Paradigmas (Analogischer Ausgleich ist
morphologisch bedingt, da er die Existenz von Flexionsparadigmen voraussetzt),
Flexionsparadigma wird regelmäßiger
Bsp. ausgleichende Dehnung des Stammvokals auch in Formen, in denen keine offene Silbe
vorlag in Analogie zu mehrsilbigen Flexionsformen, bei denen phonolog. Wandel der
Dehnung in offener Tonsilbe eingetreten war (s. o. Tag – Tages)
Bsp. Analogischer Ausgleich des grammatischen Wechsels: als Folge des Vernerschen
Gesetzes im Ahd. bei bestimmten Verben Alternation des wurzelschließenden Konsonanten
(sog. grammatischer Wechsel), vgl.
h–g:
d–t:
s–r:
f–b:
•
36
slahan slahu sloug slougun gislagan
lîdan lîdu leid lîtun gilîtan
kiosan kiusu kôs kurun gikoran
heffen heffu huob houbon gihaban
Konsonantenwechsel vielfach durch analogischen Ausgleich wieder beseitigt, vgl. Nhd.
schlagen, heben, küren
Ablautreduktion:
Hintergrund: Tempusflexion der starken Verben mit sog. Ablaut des Stammvokals
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
(übrigens selbst wiederum durch Morphologisierung ursprünglich phonologisch
bedingten Vokalwechsels im Indogermanischen und Germanischen entstanden), insgesamt 7
verschiedene Flexionsklassen starker Verben (sogenannte Ablautreihen), pro Ablautreihe
mehrere verschiedene Stammformen/Ablautstufen,
Reduktion: Ahd/Mhd 4 verschiedene Ablautstufen > Frnhd/Nhd 3 verschiedene
Ablautstufen
Es wird im Präteritum vereinheitlicht, entweder wird die Singular- oder die Pluralform
verallgemeinert.
Bsp. Ablautreihen I – III:
Reihe Sprachstufe
Infinitiv
1SG PRÄT
1PL PRÄT
Partizip II
I
Mhd
grîfen
greif
griffen
gegriffen
Frnhd
greifen
Mhd
bieten
Frnhd
bieten
Mhd
singen
Frnhd
singen
II
III
griff(en)
bôt
buten
bot(en)
sanc
sungen
sang(en)
gegriffen
geboten
geboten
gesungen
gesungen
• (im Extremfall:) Klassenübertritt starkes Verb > schwaches Verb (eigtl. Fall von
proportionaler Analogie s.u.): Tempusflexion vormals starker Verben analog zu schwachen
Verben mit Suffix –t(e)
– vollständig:
Ahd. bellan, bal, bullun, gibullan
Ahd. hinkan, hank, hunkun, gihunkan
andere Verben: fragen, kreischen
> Nhd. bellen, bellte(n), gebellt
> Nhd. hinken, hinkte(n), gehinkt
– partiell (gemischtes Paradigma):
backen, backte, gebacken
– Konkurrenz: nebeneinander von starken und schwachen Verbformen
Bsp:
gären – gor/gegoren vs. gärte/gegärt;
glimmen – glomm/geglommen vs. glimmte/geglimmt
(Hintergrund: konstruktioneller Ikonismus – ein Mehr an Inhalt entspricht einem Mehr
an Form/komplexeres Zeichen, = unmarkiert, Wandel zu ikonischeren Formen gemäß
Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie
vorhergesagt,
hier:
zusätzliche Information
'Vergangenheit' sollte durch ein zusätzliches Morphem ausgedrückt werden)
– proportionale Analogie (analogische Ausdehnung):
Generalisierung und Ausdehnung einer morphologischen Regel auf neue Formen
37
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
Bsp. er-Plural
Ausgangsbasis: Stamm+Stammbildungselement+Flexion
im Gotischen z. B. noch transparent, im Ahd. bereits undurchsichtig,
Stammbildungselement z. T. geschwunden, z. T. als Flexiv umgedeutet (reanalysiert),
Bsp. iz/az-Stämme, z. B. 'Lamm' urspr. mit Stammbildungselement –iz- bzw. –ir-, im
Nom./Akk. Singular und Plural jeweils ohne Flexionsendung,
im Singular Stammbildungselement geschwunden (Anpassung an Nom./Akk. –
analogischer Ausgleich):
Frahd: Sg. lamb, lemb-ir-es, lemb-ir-e, lamb > Ahd: Sg. lamb, lamb-es, lamb-e, lamb
dagegen im Plural Stammbildungselement erhalten (bewirkt i-Umlaut)
Pl. lemb-ir, lemb-ir-o, lemb-ir-um, lemb-ir
Stammbildungselement –ir (unser heutiges –er) als Flexionsmorphem für Plural
reanalysiert, anschließend auch auf andere Nomen übertragen, die keine iz-/azStämme waren, z. B.
Nom./Akk. Sg. und Pl. lant > Sg. lant, Pl. lender (vgl. Nhd. Länder)
Nom./Akk. Sg. und Pl. kint > Sg. kint, Pl. kinder
(konstruktioneller Ikonismus: zusätzliche Information Plural wird durch ein zusätzliches
Morphem
ausgedrückt
=
Markiertheitsabnahme
gemäß
Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie)
3.5.4 Lexikalischer und morphologischer Wandel durch Sprachkontakt
– Sprachkontakt des Deutschen v. a. mit Latein (6. Jh., 8.-10. Jh., 15.-16. Jh.), Französisch
(Hochmittelalter, 16.-18. Jh.), Englisch (8. Jh., ab Mitte des 20. Jh.s)
– Entlehnung: Transfer von sprachlichem Material der sozial dominierenden Sprache in eine
andere Sprache bei Sprachkontakt
– Lehnwörter: direkte Wortentlehnungen, unterschiedlich stark in Ausgangssprache integriert
Indiz für Zeit der Entlehnung: z. B. Lat. tegula > Ziegel, piper > Pfeffer vor 2. LV entlehnt
da /t/ > /ts/ und /p/ > /pf/ bzw. postvokalisch zu /ff/ verschoben wurde, dagegen z. B. Lat
pelegrinus > piligrîm > Pilger, tabula > Tafel nach 2. LV entlehnt, da /p/ bzw. /t/ unverschoben
ist
– Lehnbildungen (Lehnübersetzungen, Lehnübertragungen, Lehnschöpfungen): Wortbildung
mit igensprachlichem Material nach dem Vorbild fremdsprachiger Wörter, z. B. Lat. superfluita
analog gebildet Ahd. ubarfleozzida ('Überfluss'), Lat. providere – Ahd. forakisehan
('voraussehen')
– Lehnbedeutungen: Einführung einer neuen Bedeutung für ein bestehendes Wort nach
fremdsprachlichem Vorbild z. B. Lat. dominus 'Herr', im christl. Zusammenhang
'Herr(gott)' – analog Ahd. truhtin 'Gefolgsherr' im christl. Zusammenhang mit neuer,
zusätzlicher Bedeutung 'Herr(gott)'
– Entlehnung von Wortbildungsmustern
Bsp. Frz. Naff –ie: zunächst Übernahme entsprechender Bildungen als Lehnwörter (z. B.
Mhd. profêzîe 'Prophezeiung', vilânîe 'bäurisches Benehmen'), später Derivation
38
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
weiterer Nomen auf Grundlage eigensprachlicher Wurzeln mit –ie (z. B. jegerîe
'Jägerei', wüestenîe 'Wüstenei'), -ie durch frnhd. Diphthongierung > Frnhd./Nhd. –ei
Bsp. Frz. Vaff –ier entlehnt als –irn/–ieren: nach Entlehnung französischer Verben –ieren
auch mit eigensprachlichen Wurzeln verbunden z. B. buchstabieren, stolzieren, hausieren
Bsp. Lat. Naff –arius zur Ableitung von Nomina agentis bzw. instrumenti – Ahd. –âri z. B.
betalâri 'Bettler', heilâri 'Heiland', > Nhd. -er
3.6 Syntaktischer Wandel
3.6.1 Wortstellungswandel
– Topologische Felder:
•
für Verbstellung seit dem Althochdeutschen Satzklammer grundlegend, entsprechend V1-,
V2- (jeweils finites Verb in LSK = C°) und Ve-Sätze (finites Verb in rechter
Satzklammer = V°),
Bsp.:
V1: Chihori dhu, Israhel 'Höre du, Israel' (Isidor)
V2: siin uuort ferit dhurah mina zungun 'Sein Wort geht über meine Zunge' (Isidor)
Ve: ... dhazs ih dhinan uuillun duoe '..., dass ich deinen Willen tue' (Isidor)
•
Die Zuordnung von Satztyp und Verbstellung, insbesondere Deklarativsatz – V2,
(eingeleiteter) Nebensatz – Ve, war in der Tendenz schon im Althochdeutschen
vorhanden, hat sich aber im Lauf der deutschen Sprachgeschichte verstärkt.
Restringierung der Nachfeldbesetzung:
Im Ahd. und Mhd. konnten verschiedene Satzglieder, z. B. auch Subjekt oder Objekt im
Nachfeld stehen. Im Lauf des Frühneuhochdeutschen bildet sich die heutige Regel heraus,
dass das Nachfeld nur in wenigen Sonderfällen besetzt ist, z. B. durch eine PP oder einen
eingebetteten Nebensatz. (Dies wird z. T. in einigen Darstellungen auch als Herausbildung
der Satzklammer bezeichnet – de facto gab es die Satzklammer bereits, nur war das
Nachfeld noch häufiger besetzt.)
Bsp.:
... huueo in dheru dhrinissu sii ein got ' (Isidor)
..., auf welche Weise in der Dreiheit ein einziger Gott sei'
Restringierung der Vorfeldbesetzung:
Während im heutigen Deutschen höchstens ein Satzglied im Vorfeld stehen kann,
konnte das Vorfeld im Ahd. auch zwei Satzglieder enthalten. (Diese Fälle werden
manchmal auch als V3-Stellung bezeichnet. Das Verb steht jedoch wohl an der
gleichen Stelle wie im V2-Satz, das Vorfeld ist lediglich komplexer.)
Bsp.:
[In dhemu eristin deile chuningo buohho] [sus] ist chiuuisso chiscriban ... (Isidor)
'Im ersten Teil der Bücher der Könige steht es wahrlich so geschrieben: ...'
39
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
– Stellung der Genitivattribute:
•
prä- > postnominale Genitivattribute (Rektionsrichtung von Nomen): Im Ahd. ging ein
Genitivattribut zumeist dem Nomen in der NP voraus (N folgt seinem Komplement/N
regiert nach links), während im heutigen Deutschen Genitivattribute (bis auf
Eigennamen) dem Nomen in der NP folgen (N geht seinem Komplement voraus/N regiert
nach rechts), = kann als Bsp. für Parameterwandel (s. u.) aufgefaßt werden
Bsp.:
(Isidor)
NP
NPgen
NP
N
DP
N
D
dhrinissa
dera
chiruni
>
DP
N'
D
N
das
NPgen
Geheimnis DP
D
N
Dreifaltigkeit
der
•
Verlust der Distanzstellung von Genitivattributen:
bis ins Frnhd. Distanzstellung von Genitivattributen zum Kopfnomen möglich, heute
generell nicht mehr/Attribut in der NP (möglicherweise in Zusammenhang mit
Genitivschwund), = Bsp. für Fixierung der Wortstellung (s. u.),
Bsp.:
[NPgen Der heiden] ward wol [NP hundert tusend] erschlagen
'Hunderttausend der Heiden/Hunderttausend von den Heiden wurden wohl erschlagen'
– Wandel der Negationspartikel:
Negationspartikel im Ahd. je nach V-Stellung (in linker oder rechter Satzklammer
zusammen mit Vfin) vs. Nhd. Negationspartikel im Mittelfeld
•
•
•
Ahd. proklitische Negationspartikel ni am finiten Verb
Spätahd. abgeschwächt zu ne bzw. en, verstärkt durch zweite, verbunabhängige
Negationspartikel nicht (< Ahd. niowiht 'nichts'/'in nichts', = Bsp. für
Grammatikalisierung s. u.)
urspr. Negationspartikel wird im Mhd. fakultativ und verschwindet schließlich ganz, nicht
bleibt als alleinige Negationspartikel
Bsp.:
Ahd. ih nisagu > Spätahd./frühes Mhd. ih ensage niht > Mhd./Frnhd./Nhd. ich sage nicht
3.6.2 Selektionswandel
– Objektskasus:
Das Objekt (Komplement) eines zweistelligen Verbs bekommt von diesem im heutigen
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Deutsch i.d.R. den Akkusativ zugewiesen. Im Althochdeutschen konnte ein Verb dagegen je nac
Aktionsart seinem Objekt den Akkusativ (bei telischer Aktionsart, entsprechend z. B. in Satz
mit punktuellem Adverbial) oder den Genitiv (bei atelischer Aktionsart, entsprechend z. B
in Satz mit durativem Adverbial) zuweisen, d. h. also eine Akkusativ-NP oder eine Genitiv-NP
selegieren,
Bsp.:
telisch:
Er tháhta imo ouh in gáhi [ NPAKK thia mánagfaltun wíhi joh thia hóhun wirdi] (Otfrid)
'Er dachte für sich auch plötzlich an die mannigfaltigen Weihen und die hohen Würden'
atelisch:
Sie tháhtun [ NPGEN thes gifúares] sid tho frámmortes (Otfrid)
'Sie dachten seitdem an diese Gelegenheit'
– Beziehung von Quantitätsausdrücken und Mengenbezeichnungen:
Selektionsbeziehung/Abhängigkeitsverhältnis kehrt sich um, = Bsp. für Reanalyse (s. u.)
•
urspr. z. B. vil 'viel' = nominalisiertes Adj. als Kopf einer NP, Mengenbezeichnung =
weitere NP im partitiven Genitiv als Attribut Teil der ersten NP
Bsp.:
es werben [NP vil [NP alter eerlicher reicher mann]] umb mich
→ Kopf der Gesamt-NP: vil
•
heute: Mengenbezeichnung = NP, Quantitätsausdruck Teil dieser NP
Bsp.:
Es werben [NP viele reiche Männer] um mich
→ Kopf der Gesamt-NP: Männer
– Abbau unpersönlicher Konstruktionen:
Konstruktionen ohne grammatisches Subjekt, d. h. ohne NP nom , die mit Vfin bzgl.
Person/Numerus kongruiert, nehmen im Lauf der deutschen Sprachgeschichte ab, = Bsp. für
Reanalyse (s. u.),
Bsp.:
[VP michAKK hungarit], [VP daz kintNOM/AKK hungarit]
> daz kintNOM [VP hungarit] > ichNOM [VP hungere]
3.6.3 Ursachen und Verlauf syntaktischen Wandels
– morpho-phonologische Bedingtheit syntaktischen Wandels: urch FlexionsmorphologieKodierung
grammatischer/syntaktischer Informationen (z. B. Subj.: Person/Numerus-Kongruenz mit
Vfin,
Nominativ,
indir.
Obj.:
Dativ
etc.),
durch
Nebensilbenschwächung
(phonetisch/phonologischer Wandel) Abbau von Flexionsmorphemen und Synkretismus
(morphologischer Wandel), Ausgleich durch Kennzeichnung grammatischer/syntaktischer
Informationen mit anderen Mitteln:
•
41
stärker analytischer Sprachbau: grammat. Information durch weitere syntakt.
Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
•
Konstituenten/Lexeme ausgedrückt,
z. B. Grammatikalisierung (s. o. Kap. 3.5.2: u.a. Inhaltswörter > Funktionswörter) der
Artikel (Demonstrativpron. > def. Artikel, Zahladjektiv > indef. Artikel), einer neuen
Negationspartikel (niowiht 'nichts' > nicht)
Fixierung der Wortstellung: grammatische Information wird an bestimmte Positionen
im Satz geknüpft, Wortstellung weniger frei, z. B. Verlust der Distanzstellung von
Genitivattributen
– syntaktischer Wandel durch (syntaktische) Reanalyse: bei formaler/struktureller Ambiguität (z.
B. aufgrund von morpholog. Synkretismus) wird einer linearen Abfolge von Konstituenten u.
U. eine andere syntaktische Struktur zugeordnet. Dabei ist die neu zugeordnete Struktur oft
einfacher (weniger komplex oder weniger syntaktische Derivationsschritte) bzw. syntaktisch
weniger markiert (Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie). z. B.
•
Abbau unpersönlicher Konstruktionen (syntaktisch markierter als Konstruktionen
mit grammat. Subjekt)
Bsp.:
[VP michAKK hungarit] [VP daz kintNOM/AKK hungarit] - formal ambig – Reanalyse
→daz kintNOM [VP hungarit] ich nom [VP hungere]
•
Umkehrung der Selektionsbeziehung von Quantitätsausdrücken und Mengenbezeichnungen (Genitiv in der Nominalflexion nur noch bei stark flektierenden
Mask./Neutr. Sg. formal distinkt, formale Unterscheidung Kopf vs. Komplement in der
NP erschwert, Struktur mit zwei ineinandergeschachtelten NPs reanalysiert als einfache
NP)
Bsp.:
in welchem Scharmützel auch viel Personen vmbkommen (Aviso des Jahres 1609)
NP
NP
N
NPgen
viel
>
AP
N
N
A
personen
personen
viel
– Rolle des Spracherwerbs:
Reanalyse geschieht insbesondere beim Spracherwerb: Kinder reanalysieren u. U. den
sprachlichen Output ihrer Eltern, d. h. legen der gleichen linearen Abfolge von
Konstituenten eine andere – einfachere/weniger markierte – syntaktische Struktur zugrunde
und erwerben damit eine Grammatik, die sich von der ihrer Eltern unterscheidet, d. h. mit dem
sprachlichen Output der Eltern kompatibel ist, letztlich aber auch anderen sprachlichen Output
erzeugt.
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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
Grammatik 1
Grammatik 2
Output 1
Output 2
– Reanalyse kann zu Parameterwandel führen, d. h. zur Änderung von einzelsprachlich
festgelegten Parameterwerten. Die dahinter stehende Annahme ist, dass die Universalgrammatik
(UG) aus Prinzipien mit verschiedenen möglichen Werten besteht, die einzelsprachlich
unterschiedlich ausgeprägt bzw. festgelegt (d.h. parametrisiert) sind. So ist etwa die Abfolge von
syntaktischem Kopf und Ergänzung (Komplement) einzelsprachlich festgelegt. Diese
Festlegung kann sich diachron verändern, z. B. Umkehrung der Rektionsrichtung von Nomen
im Deutschen (Komplement-N > N-Komplement).
– sprachextern bedingter Syntaxwandel:
Bei Sprachkontakt kann es zur Übernahme fremdsprachlicher syntaktischer Muster
(Lehnsyntax)
kommen
oder
zu
(qualitativer
und
quantitativer) Ausbreitung
eigensprachlicher syntaktischer Muster, die mit fremdsprachlichen syntaktischen Mustern
übereinstimmen oder diesen ähneln (Konvergenz).
•
Ahd. Dativus absolutus:
Partizipialkonstruktion im Dativ in Anlehnung an lateinischen Ablativus absolutus in
ahd. Übersetzungstexten (Lat. [Part. Prät. Passiv + NP]abl - Ahd. [Part. II + NP]dat ),
Lehnsyntax, kein genuin ahd. syntaktisches Muster
Bsp.:
Lat. - et [missis exercitibus suis] perdidit homicidas illos
Ahd. - Inti [gisanten sínen herin] furlôs thie manslagon (Tatian)
'Und nachdem er seine Heere losgeschickt hatte, verfolgte er diese Mörder.'
3.7 Semantischer Wandel
– Semantischer Wandel ist v. a. im Bereich der lexikalischen Semantik erforscht, dagegen gibt es
bisher kaum Untersuchungen zu satzsemantischem Wandel.
3.7.1 Quantitativer semantischer Wandel
– Wandel der Intension/Extension (Zunahme bzw. Abnahme)
– Bedeutungserweiterung
Bsp.:
Ahd. tior 'wildes, vierbeiniges Tier' > Nhd. Tier 'nicht-menschliches, nicht-pflanzliches
Lebewesen' (vs. Altengl. deor 'wildes Tier‘ > Neuengl. deer 'Rotwild', = Bedeutungsverengung),
Ahd. fetiro 'Bruder des Vaters' > Frnhd. Vetter 'entfernter männl. Verwandter'
– Bedeutungsverengung
Bsp.:
Ahd. faran, Mhd. varn 'jede Art von Fortbewegung (gehen, reiten, ...)' > Nhd. fahren
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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014
'Fortbewegung mithilfe eines Fahrzeugs' ('etwas fahren' – transitiv, 'mit etwas fahren' intransitiv) ,
Ahd. vaz 'Gefäß' > Nhd. Fass 'großer zylindrischer Behälter für Wein/Bier'
3.7.2 Qualitatitver semantischer Wandel
– Wandel der Konnotation
– Meliorisierung (Bedeutungsverbesserung)
Bsp.:
Ahd. marahscalk 'Pferdeknecht' > Mhd. 'höfischer und städtischer Beamter' > Nhd.
Marschall 'hoher militärischer Rang',
Ahd. arabeit 'Mühsal' > Nhd. Arbeit '(berufl.) Tätigkeit'
– Pejorisierung (Bedeutungsverschlechterung)
Bsp.:
Mhd. kneht 'Knabe, junger Mann' > Nhd. Knecht 'Diener' (vs. Aengl. cnight [knixt] >
Nengl. knight 'Ritter', = Meliorisierunng),
Mhd. maget 'unverheiratete, junge Frau‘ > Nhd. Magd 'Dienerin',
Mhd. dierne 'Dienerin' > Nhd. Dirne 'Prostituierte',
Mhd. vrouwe 'Herrin/Dame‘ > Nhd. Frau 'erwachsener weiblicher Mensch'
Mhd. wîp 'Frau/erwachsener weiblicher Mensch' (neutral) > Nhd. Weib 'Frau', abwertend
Ahd. stinkan 'riechen' (neutral, auch 'duften') > Nhd. stinken 'stinken' (vgl. aktuelle
Entwicklung von riechen: Hier riecht es. 'Hier stinkt es' – Schub/push chain, s. u.)
3.7.3 Ursachen semantischen Wandels
– Veränderung relevanten Weltwissens (z. B. Veränderung oder Nicht-mehr-Existieren
bestimmter Gegenstände und Praktiken), daneben v. a. kommunikativer Gebrauch und
seine
informativen/rationalen,
sozialen,
ästhetischen
Aspekte
(→
Pragmatik:
Konversationsmaximen, Implikaturen etc.) u. a.:
– Metapher (Bedeutungsübertragung)
basiert auf Ähnlichkeit zwischen
comparationis)
zwei
Gegenständen
oder
Begriffen
(tertium
Bsp.:
Flügel 'Vogelschwinge' > weitere Bedeutungen: 'Musikinstrument', 'Gebäudeteil', 'Teil
einer politischen Bewegung' usw.
→ Bedeutungserweiterung
– Metonymie (Bedeutungsverschiebung)
basiert auf Frames, sachlich-begrifflicher (räumlicher, zeitlicher,
Zusammenhang (semantische Kontiguität) zweier Gegenstände/Begriffe,
Bsp.:
Sandwich (Person John Montagu, 4. Earl of Sandwich (1718–1792) > Produkt)
Apfelsine (Herkunft: sina 'China' > Produkt)
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kausaler
usw.)
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Ärmel (Körperteil: 'kleiner Arm' > Kleidungsstück)
Brille (Material: berille 'Halbedelstein Beryll' > Produkt)
→ u. a. Bedeutungserweiterung
– Euphemismus
verschleiernde/beschönigende Ausdrucksweise
Bsp.:
Mhd. kranc 'schwach' > Nhd. krank,
Mhd. dierne 'Dienerin/Magd' > Dirne 'Prostituierte'
→ Pejorisierung
– Ironie/Sarkasmus
Bsp.:
Mhd. kopf 'Becher' (vgl. Engl. cup), Kriegersarkasmus für Kopf, ab 16. Jh. ohne
sarkastischen Charakter Kopf neben houbet/Haupt
verwandte Erscheinungen: Hyperbel (Übertreibung)/Litotes (Untertreibung, z. B.
jemanden leiden können 'jemanden ertragen' > 'jemanden mögen')
→ u. a. Bedeutungserweiterung, Meliorisierung
– Sonstige Implikaturen
Umdeutung/semantische Reanalyse von Wörtern, die häufig Auslöser von Implikaturen sind,
z. B. temporal > kausal
Bsp.:
Ahd. die wîla so > Frnhd./Nhd. weil
(Frnhd.: weil ['während/solange'] der hund bellt, so frist der wolff das schaaf
vs. ...dem starb ein prinz, und weil ['während/solange' oder 'weil'] die gemahlin sehr
betrübt war, schickte er seinen tantzmeister mit einer gantzen compagnie hin)
– Ellipse
Auslassung von sprachlichem Material
Bsp.:
seit 17. Jh. (mit dem großen Messer) aufschneiden > 'prahlen'
– Bedeutungswandel aufgrund von Beziehungen im Lexikon:
•
Wortspaltung
Polysemie > Homonymie, Entstehung gesonderter Lexikoneinträge für die
verschiedenen Bedeutungen ursprünglich eines Lexems (mit flexionsmorphologischen
Unterschieden)
Bsp.:
Band – Plural Bänder 'Textilstreifen' vs. Plural Bande '(freundschaftliche/
verwandtschaftliche) Verbindungen'
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•
Homonymenflucht
Einschränkung oder Aussterben einer Bedeutung/Verwendungsweise, lautlich
verschiedenes Lexem übernimmt diese Bedeutung
Bsp.:
Mhd. strûz 'Strauß'/'Kampf', zweite Bedeutung aufgegeben/übernommen von Kampf
•
Synonymenflucht
Bedeutungsdifferenzierung zur Vermeidung von Synonymen
Bsp.:
ros 'Pferd', später zusätzlich kelt. Lehnwort Pferd > ältere Bezeichnung wird
gehobener Stil (Meliorisierung): Roß 'stattliches/prächtiges Pferd'
– Wie bei anderen Sprachwandelphänomenen (z. B. Lautwandel: 1. LV etc.) kann ein
Bedeutungswandel ebenfalls weitere auslösen. So hat beispielsweise im Wortfeld der
Bezeichnungen für FRAU der Wandel von mhd. maget zu nhd. Magd den Wandel von mhd.
dierne zu nhd. Dirne bewirkt (bzw. vielleicht umgekehrt). Auch hier kann man also von
Kettenreaktionen (d.h. Sog und Schub bzw. drag/push chain) sprechen.
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