Tutzinger Erklärung

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Tutzinger Erklärung
aus Anlass des Patientenforums Medizinethik
„Patientenrechte – Bürgerrechte“
am 18./19.2.2004 in der Evangelischen Akademie Tutzing
Patientenrechte und Bürgerrechte gelten durch Vereinbarung oder Gesetz. Sie
gewährleisten Einbeziehung und Beteiligung und leben durch ihre öffentliche
Wahrnehmung. Diese ist Aufgabe aller Akteure im Gesundheitswesen.
Aus diesen Gründen richtet das Tutzinger Forum die folgenden Wünsche, Erwartungen und Forderungen an Gesellschaft und Staat, verantwortliche gesellschaftliche und politische Akteure, Einzelne und Gruppen:
1.
Der öffentliche Diskurs über die Gesundheit und die Verfassung des
Gesundheitssystems sollte offener, vielfältiger und differenzierter geführt werden. Eine machtpolitische Instrumentalisierung der Debatte
über Grundsatz- und Detailfragen der gesundheitlichen Versorgung
stört die Gesprächskultur und verstellt die Möglichkeit vernünftiger
Kompromissbildungen.
Der Diskurs über gesundheitliche Detail- und Systemfragen sollte aus seiner auf Wahlen orientierten Befangenheit gelöst und auf längerfristiges
gesellschaftliches Lernen angelegt werden. Wer über Gesundheitsfragen
in Wahlperioden nachdenkt, verfehlt die notwendige Rationalität und
Nachhaltigkeit gesellschaftlicher und politischer Kompromissbildung. Gesellschaftliches Lernen erfordert die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, der Versicherten und der Patientinnen und Patienten. Ohne die Beteiligung dieser Gruppen von Betroffenen und Akteuren wird demokratische
Mitwirkung auf Wahlen zur Repräsentation reduziert. Echte Beteiligungsmöglichkeiten hingegen sind eine wichtige Ergänzung von Wahlen und
vergrößern die Chancen zum vorbehaltslosen Diskurs, zum sachbezogenen Streit und zur Einigung.
2.
Die Verfassung des Gesundheitssystems hat über das bisher Erreichte hinaus von und für Bürgerinnen und Patienten
- die Information,
- die Qualität der Leistungen gesundheitlicher Versorgung,
- die Beteiligung an Entscheidungen im Gesundheitssystem sowie
- die Rechtssituation
zu verbessern und fort zu entwickeln.
Information, Qualität, Beteiligung und rechtliche Verankerung dieser Werte
sind aus der Sicht des Tutzinger Patientenforums Medizinethik die wichtigsten Ziele, die in einem Gesundheitssystem zu gewährleisten sind.
Ihnen gilt unsere besondere Aufmerksamkeit.
-23.
Information, Beratung und Transparenz über das Angebot an, den
Zugang zu und die Qualität von medizinischen Leistungen und Leistungen des Versorgungssystems sollten erweitert; ihre Qualität sollte
verbessert werden.
Sowohl die individuelle Information und Beratung von Patientinnen wie die
allgemeine Information von Bürgern sollte übersichtlicher, verständlicher
und strukturierter gestaltet werden; zugleich sollte sie ein breiteres Spektrum umfassen und einen leichteren Zugang ermöglichen. Die Qualität dieses Angebots sollte verbessert, seine Transparenz gesteigert werden. Die
individuelle Beratung durch die Ärzteschaft über den Nutzen und die Risiken von Behandlungsmöglichkeiten sowie Behandlungsalternativen, sollte
unaufgefordert erfolgen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Öffentliche Informationssysteme sollten qualitätszertifiziert sein; diese Zertifizierung sollte auch von ihrer Eignung für die Nutzer und deren Mitwirkung
abhängig gemacht werden. Ein qualifiziertes Informationssystem setzt die
Beteiligung der Bürger an seiner Entwicklung und Ausführung voraus. Die
vorhandenen verschiedenen Informationssysteme sollten zusammengeführt, jedenfalls ein Informationsaustausch zwischen ihnen herbeigeführt
werden, um eine optimale Qualität für die Bürger und Patientinnen zu erreichen.
4.
Die Qualität der Leistungen gesundheitlicher Versorgung sollte auf
einem hohen Niveau zu leistungsgerechten Preisen gewährleistet
werden.
Eine anbieterunabhängige Qualitätsbewertung aller Produkte und Leistungen gesundheitlicher Versorgung ist erforderlich, um aus der Fülle der Angebote die optimale Qualität und Wirtschaftlichkeit auswählen zu können.
Hohe Qualität zu vertretbaren Preisen setzt die vergleichende Bewertung
der Leistungen im Versorgungssystem voraus. Die Gewährleistung hoher
Leistungsqualität ist die beste Risikoprävention und erspart Regulierungskosten. Risikoprävention und Risikoverminderung sind besser als Schadensausgleich.
5.
Lernen aus Fehlern sichert Qualität
Eine veränderte „Kultur“ des Umgangs mit und des Lernens aus Fehlern
ist eine der zukünftig wichtigsten Voraussetzungen der Gewährleistung
der Qualität medizinischer Leistungen. Irrtümer und Fehler geschehen in
der medizinischen Forschung und Praxis ebenso wie in anderen Bereichen. Es besteht eine Neigung, Fehler zu verbergen, Aufklärung zu erschweren und dadurch notwendige Lernprozesse zu beschränken. Der
mögliche Vertrauensverlust für die Medizin wiegt schwer. Die Orientierung
an Schuld und Strafe behindert mitunter eine offene Kultur des Umgangs
mit Fehlern. Pilotprojekte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Feh-
-3lern gelernt werden muss und kann. Solche Projekte sollten ausgeweitet
und gefördert werden.
6.
Die Beteiligung an Entscheidungen im Gesundheitssystem sollte
ausgebaut werden.
Die gegenwärtig vorherrschende „Beratungsbeteiligung“ von Bürgergruppen im Gesundheitssystem sollte in eine „Entscheidungsbeteiligung“ fortentwickelt werden („dritte Bank“). Dies setzt die Fortentwicklung der Patienten- und Bürgerinnenorganisationen voraus. Es setzt aber auch voraus,
dass die Finanzierung der Organisationen deren Unabhängigkeit gewährleistet und der Aufgabe angemessen ist. Beteiligung sollte auf allen Ebenen des Gesundheitssystems eingerichtet werden.
7.
Die Gewährleistung von individuellen und systembezogenen Patienten- und Bürgerrechten sollte verbessert und fortgeschrieben werden.
Es ist zu prüfen, ob ein Patienten- und Bürgerinnenrechtegesetz initiiert
werden sollte. Ein solches Gesetz könnte einerseits eine Rechtssicherheit
im Grundsatz und andererseits eine Fortentwicklung individueller und systemischer Patientinnen- und Bürgerrechte gewährleisten. Dort könnten individuelle Rechte von Patienten auf Information und Qualität sowie Beteiligungsrechte für Bürgerinnen im Grundsatz und perspektivisch geregelt,
die Voraussetzungen einer menschlichen Sterbebegleitung, der Wirksamkeit von Patientenverfügungen klar festgelegt und die Schadensregulierung verbessert werden.
8.
Die ethische Dimension der Diskussion besitzt ein Integrationspotenzial, das zur Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und zur
Verfolgung allgemeiner und konsensfähiger Zielsetzungen genutzt
werden kann und soll. Hierzu sollte eine breite Aufklärung und Förderung ethischer Kompetenz, gerade im Gesundheitswesen, erfolgen.
Ethik ist die systematische Reflexion, kritische Überprüfung und Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen und Entscheidungen, aber auch
von komplexen Handlungen und gesellschaftlichen Praxisformen. Als solche ist sie auf das Allgemeine und Verallgemeinerbare ausgerichtet und
damit auf die vernünftige Verständigung und Einigung zwischen den Dialogpartnern unter Achtung von deren Rechten und Bedürfnissen. Angesichts der wachsenden Komplexität der Gesellschaft – und auch des Subsystems Gesundheitswesen – sollte der Einzelne auch den Überbau an
Werten und Normen dieses zentralen gesellschaftlichen Bereiches kompetent bedenken und beurteilen können. Nur so ist eine aktive Beteiligung
bei gleichzeitiger Eigenverantwortung und im Blick auf das Ganze möglich.
-4-
Vielfältige Erfahrungen zeigen, dass ethische Grundkompetenz in unterschiedlichen Berufsausbildungen (z.B. Krankenpflege) oder Hochschulstudiengängen (z.B. Medizin) gut vermittelt werden kann. Dies geschieht
jedoch noch nicht konsequent genug, zumal die bereits im Beruf Stehenden kaum erfasst werden. Hier sind weiter gehende Fortbildungsmaßnahmen erforderlich. Aber auch die Akteure und Betroffenen in eigener
Sache bedürfen einer solchen ethischen Grundkompetenz. Hier haben
Politik und Bildungseinrichtungen eine Bringschuld, der sie bisher zu wenig nachkommen. Insbesondere die Fähigkeit zum „gemeinsamen Diskurs
auf Augenhöhe“ zwischen professionellen Experten des Gesundheitswesens einerseits und Patienten, ihren Angehörigen als Akteuren oder Betroffenen in eigener Sache andererseits, wird nicht ausreichend und gezielt genug gepflegt, wie es einer offenen Gesellschaft anstünde. Dies zu
verändern, ist nicht Luxus, sondern stellt ein dringendes Erfordernis dar für
unsere vor schwierigen Verteilungsfragen stehende Gesellschaft. Dafür
sollten wir das Integrationspotenzial der Ethik nutzen.
Es ist das Ziel des Tutzinger Patientenforums Medizinethik, zu einer ethisch
begründeten rechtlichen Institutionalisierung von Patienten- und Bürgerinnenbeteiligung beizutragen. Wir fordern die Verantwortlichen zu entsprechendem
Handeln auf und werden die weitere Entwicklung beobachten und begleiten.
Wir werden die Tutzinger Erklärung fortschreiben und stehen für den Dialog
gerne zur Verfügung.
gez.:
Prof. Dr. Dieter Hart, Institut für Gesundheits- und Medizinrecht, Fachbereich
Rechtswissenschaft, Universität Bremen
Prof. Dr. Stella Reiter-Theil, Institut für Angewandte Ethik und Medizinethik,
Medizinische Fakultät, Universität Basel
Dr. Christoph Meier, Evangelische Akademie Tutzing
©
Evangelische Akademie Tutzing
Schlossstraße 2+4
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www.ev-akademie-tutzing.de
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