1 Ulrike Baumann Seelsorge im Religionsunterricht Lehrerinnen

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Ulrike Baumann
Seelsorge im Religionsunterricht
Lehrerinnen und Lehrer, die täglich mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen,
hören auch von Erfahrungen, die Anlass zur Seelsorge sind: neben Belastungen, die im
engeren Sinn mit Schule zusammenhängen, geht es um Trennungs- und Verlusterfahrungen,
die Bewältigung von Krankheiten, die Auseinandersetzung mit Gewalt bis hin zum
Missbrauch oder zu Suizidversuchen. Die mit gesellschaftlichen Veränderungen verbundenen
Probleme im Blick auf die Lebensplanung lassen Seelsorge mit Jugendlichen dringlicher
werden. Heranwachsenden die lebensdienliche Funktion von Religion zu erschließen, nicht
zuletzt in den Krisen ihres Lebens, gewinnt angesichts dieser Erfahrungen neue Bedeutung.
Bei Fragen der Identitätsbildung und Sinnfindung sind die Übergänge zwischen Pädagogik
und
Seelsorge
fließend.
Deshalb
etabliert
sich
Seelsorge
zunehmend
als
religionspädagogisches Angebot in der Schule. Es gilt auch, die seelsorgerlichen Aufgaben
des Religionsunterrichts bewusst aufzunehmen und nicht länger zu vernachlässigen. Welche
seelsorgerlichen Ziele formulieren konzeptionelle Entwürfe? Welche spezifischen Inhalte des
Faches können eine Rolle spielen? Welche seelsorgerlichen Handlungsstrategien sind
sinnvoll?
1. Grundlagen
Ein offenes Verständnis eines biographiebegleitenden Religionsunterrichts findet sich bei
Karl Ernst Nipkow im Horizont der Grundaufgabe „lebensbegleitende, erfahrungsnahe
Identitätshilfe“. Weil sich dieser Lebens- und Erfahrungsbezug nicht von selbst versteht,
präzisierte ihn Nipkow seit den 80er Jahren mit Hilfe der Stufentheorie der
Glaubensentwicklung. Wie für Nipkow ist auch für Gerhard Büttner (1991, 1995) die
Glaubensentwicklung mit dem Zuwachs der Ich-Kräfte insgesamt verbunden. Büttner betont
allerdings, dass die seelsorgerliche Wirkung des Religionsunterrichts darauf beruhe, dass er
nicht nur Progression fördere, sondern auch punktuelle Regression ermögliche, einschließlich
der damit einhergehenden Emotionen und Phantasien. Dafür habe er korrespondierende
Symbole bereitzustellen, die neben der Kognition auch Unbewusstes ansprechen, bei den
einzelnen und bei der Gruppe als ganzer. Büttner behält realistisch die schulischen
Rahmenbedingungen im Blick: die Notengebung, die Größe der Klasse, die Gegebenheiten
des Klassenzimmers seien in ihrer Bedeutung zu gewichten, ebenso das Schulklima, zu dem
sich die einzelnen Faktoren verdichten und das latent und langfristig wirke. Diese
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Rahmenbedingungen erleichtern oder erschweren seelsorgerliche Prozesse, und bei ihrer
Herausbildung spielt die jeweilige Schulleitung eine hervorragende Rolle (191, 72-74).
Der Religionsunterricht bleibt Unterricht, in dem bestimmte Lernergebnisse zu erarbeiten
sind. Aber neuere religionspädagogische Lehrbücher nehmen den Gesichtspunkt der
Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen auf (Baumann 2005, Schweitzer 2006), und diese
Hinweise sind bei der wachsenden Bedeutung entsprechender Aufgaben unerlässlich. Junge
Menschen können von bestimmten Problemen unterschiedlich betroffen sein, doch sie sollen
ernst
genommen
werden,
entwicklungsbedingte
mit
Fragen
allen
wie
die
Problemen,
die
sie
Auseinandersetzung
haben:
mit
den
Dazu
zählen
Eltern,
die
Selbstproblematik, Erfahrungen mit Freundschaft und Liebe; aber auch Leistungsdruck, Sucht
oder Ängste angesichts von Katastrophen und Gewalt in einer komplexen Welt gehören dazu.
Ob der Lehrer oder die Lehrerin bei diesen Fragen um Rat gebeten werden, hängt mit ihren
persönlichen Stärken, Schwächen und Eigenheiten zusammen. Das unterstreicht die
Notwendigkeit,
bei
der
Religionslehrerausbildung seelsorgerliche
Kompetenzen
zu
berücksichtigen, denn häufig sind die genannten Probleme mit religiösen Fragen verbunden.
Seelsorge mit Heranwachsenden ist in der Regel nicht als geplantes Einzelgespräch denkbar;
Kinder überfordert es geradezu, weil sie stark in die Beziehung zu ihren Eltern eingebunden
sind. Doch seelsorgerliche Anlässe ergeben sich nicht nur zwischen Tür und Angel nach der
Stunde oder in den Pausen; es gibt sie auch im Unterricht im Zusammenhang einer
Lerngruppe.
Die Gesamtheit der Interaktionen im Unterricht einschließlich der unterschwelligen, kaum
bewussten Prozesse hat Auswirkungen auf die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler.
Zumeist sind Lehrerinnen und Lehrer sensibilisiert für diese Zusammenhänge. Manche
sammeln Erfahrungen mit Methoden, die im Umfeld von Beratung und Therapie anzusiedeln
sind, und versuchen, davon etwas in den Unterricht einzubringen. Erstrebenswerter wären
entsprechende Module in der Lehrerbildung. Können Religionspädagogik und Seelsorge hier
einen eigenen Beitrag zur Professionalisierung leisten? Büttner weist auf Elemente aus
pastoralpsychologischen Kursen und die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn hin.
Die seelsorgerliche Wirkung des Religionsunterrichts selbst basiert für ihn auf dem
Zusammenspiel von Themen und Interaktionen in der Klasse sowie korrespondierenden
Entwicklungsprozessen der Schülerinnen und Schüler (Büttner 1991, 1, 88 ff).
2. Bearbeitung elementarer Fragen
Ein seelsorgerlich wirksamer Unterricht gestaltet sich als suchendes Gespräch über
elementare Fragen des menschlichen Lebens. Dabei können die spezifischen Inhalte und
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Themen des Religionsunterrichts als entscheidende Steuerungsinstrumente eine konstruktive
Rolle spielen, nicht zuletzt wegen ihres symbolischen Gehalts. Büttner versteht den
angemessenen Symboleinsatz geradezu als Schlüsselvariable für die seelsorgerliche Relevanz
(a.a.O. 114). Biblische Geschichten enthalten ein reiches Symbolangebot; Ängste, Zweifel
und Hoffnungen finden in ihnen ihren Spiegel. Man darf ihnen zutrauen, dass sie ein
grundlegendes Vertrauen erzeugen können, wenn ein elementarisierender Unterricht die
entwicklungsbedingten Zugänge berücksichtigt. Der Religionsunterricht ist in seinen
psychischen Auswirkungen nicht neutral und sollte sich deshalb auch thematisch auf die
Lebensgeschichte und die religiöse Entwicklung einstellen. Themen sollten so formuliert
werden, dass sie über die kognitiven Bedürfnisse hinaus den emotionalen und unbewussten
Impulsen
Raum
geben,
sich
zu
artikulieren.
Entwicklungspsychologie
und
Lebenslaufforschung helfen zu einem präziseren Verständnis der für Kinder und Jugendliche
biographisch bedeutsamen Lernaufgaben und –möglichkeiten und zur Identifizierung der in
den jeweiligen Lebensphasen besonders wirksamen Symbole. Außerdem sucht sich ein
Thema u.U. Ausdruck im Geschehen innerhalb der Lerngruppe. Was bedeutet dies für
Themenbereiche, die in Religionsunterricht und Seelsorge relevant sind?
a) Zum Kern der für den christlichen Glauben zentralen Überzeugung der Rechtfertigung
gehört die Unterscheidung von Person und Leistung. Wert und Würde der Person sind
unabhängig von ihrer Leistung, aber Schule muss Leistung erwarten und bewerten.
Ein seelsorgerlicher Religionsunterricht nimmt Rücksicht auf Schwächen und achtet
auf die Individualität der Beteiligten, so dass die Lernenden erfahren, dass Leistung
ihrer Person zugute kommt.
b) Wer im Religionsunterricht über Sexualität spricht, muss damit rechnen, dass
Grenzüberschreitungen bis hin zum Missbrauch zur Sprache kommen. Dabei sind
Scham und widersprüchliche Gefühle im Spiel. Erhalten die Jugendlichen hier auch
Gelegenheit, Gott zu befragen und anzuklagen? Sie sollten Stärkung und Ermutigung
finden z.B. durch das Doppelgebot der Selbst- und Nächstenliebe, dem Jesus einen
hohen Stellenwert gegeben hat.
c) Jungen und Mädchen hören Jesusgeschichten unterschiedlich und verleihen Ihnen
einen geschlechtsspezifischen Sinn. Aber dass beide das Kreuz als Schmuck tragen,
gibt zu denken. Wieso beschäftigen sich auch Jugendliche, die nicht unmittelbar von
einem Trauerfall betroffen sind, mit dem Tod? Sie blicken von der Grenze her auf ihr
Leben und wollen wissen, was es gelingen lässt. Der Religionsunterricht unterstützt
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notwendige Veränderungsprozesse, wenn er im Wechsel von Vergehen und Werden
etwas von der Auferstehungshoffnung verdeutlicht.
d) Der Gebrauch von Suchtmitteln dient direkt oder indirekt der Entlastung von
Entwicklungsdruck. Unterrichtsinhalte können hier präventiv wirken, wenn man sie
aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Identität begründet sich in Beziehungen. Gilt
das auch für die Beziehung zu Gott? Am Symbol des zugewandten, bestätigenden
Angesichts Gottes können Jugendliche lernen, dass für ihre Entwicklung ein weiter
Raum vorhanden ist und damit Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung.
e) Nachrichten von nationalen und weltweiten Katastrophen und Krisen erreichen uns in
Minutenschnelle. Die Medienpräsenz erlaubt eine rasche Information über die
Ausmaße des Geschehenden. Kinder und Jugendliche sind dem ausgesetzt. Nicht
wenige fragen, wo die Liebe Gottes bleibt. Wie soll der Religionsunterricht
verdeutlichen, dass keine Destruktivität den von Gott gestifteten Raum des Segens
zerstören kann? Er sollte für die unterschiedlichsten Fragen und Ängste einen
Resonanzraum mit einer offenen Atmosphäre anbieten.
Lebensbegleitung
Entwicklungsstufen
umfasst
herausfordernde
zurückgreifende
Elemente
regressive
ebenso
Elemente.
Wie
wie
weit
auf
er
frühere
solche
Regressionsprozesse zulassen kann, ist ein Kernproblem des seelsorgerlichen Unterrichts. Er
fordert den Lehrer oder die Lehrerin als ganze Person: Sie sollten ihre eigene theologische
Auffassung didaktisch-kritisch reflektieren und durch gezielte Fragen und Rückfragen das
eigene Theologietreiben der Schülerinnen und Schüler herausfordern können. Zugleich sollten
sie mit Projektionen, Prozessen der Übertragung und Gegenübertragung, in ihrer Beziehung
zu jungen Menschen umgehen können. In den von Ingo Baldermann beschriebenen
Gesprächen mit Kindern über die Symbolik der Psalmen lassen sich Züge partieller
Regression ausmachen. Aber trägt dieses Vorgehen auch über die Entwicklungsstufe des
mythisch-wörtlichen Glaubens hinaus?
3. Sprache, Kreativität und Spiritualität
Heute kommt es darauf an, einen seelsorgerlichen Religionsunterricht in den Sekundarstufen
als plausibel zu erweisen. Er hat die Aufgabe, Jugendliche in ihrer Identitätsbildung zu
unterstützen, deren Subjektsein und Subjektwerden belastet ist. Hier relevante bewusste und
unbewusste
Prozesse
stoßen
Formen
eines
dialogischen
und
kooperativen
Religionsunterrichts an.
a) Literarische Texte sind ein Niederschlag von Erfahrungen, die sich aktualisieren
lassen. Literarische Vorlieben sind auch altersbedingt. Man kann sich aber über
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Lieblingstexte gegenseitig Wichtiges mitteilen, ohne zu viel von der eigenen Person
offenbaren zu müssen. Geschichten laden zur Identifikation ein und ermöglichen ein
Probehandeln zumindest in der Phantasie. Sie lassen auch Raum zur Distanzierung
und sachlichen Kommunikation. In biblischen Geschichten sind Lebenserfahrung und
Religion miteinander verwoben. Die Schülerinnen und Schüler machen die Rezeption
an für sie bestimmenden Symbolen fest. Deshalb erlauben es diese Geschichten, über
Symbole zu kommunizieren, die lebensgeschichtlich und theologisch bedeutsam sind.
Die Vertrautheit der Unterrichtenden mit dem Symbolfeld einer Geschichte erleichtert
es, die in einer bestimmten Lebensphase erwartbare Rezeption zu erkennen und die
theologische Relevanz in scheinbar peripheren Äußerungen. Die Geschichte von
Isaaks Opferung z.B. ist nicht nur geeignet, Jugendliche an die Schattenseiten ihrer
Väter und ihres Gottesbildes heranzuführen, sondern auch an die eigenen Schatten,
wenn sie andere zu Opfern gemacht haben.
b) Ein kooperativer Religionsunterricht kann die Wirkung des Angesprochenwerdens
und des Antwortenmüssens indirekt aufzeigen, z.B. durch Rollenspiele und
bibliodramatische Übungen, in denen Menschen sich stellen müssen. Das jeweilige
Zusammenspiel ist mitbestimmt von gruppenspezifischen Vorlieben und die
Entfaltung der Einzelnen von Gruppenstruktur und Interaktion. In jedem Fall sollten
die Unterrichtenden Gesetzmäßigkeiten von Gruppeninteraktionen erkennen und
deuten können.
c) Beim Themenschwerpunkt Gottesbeziehung und Selbstkonzept habe ich im Unterricht
der Oberstufe mit bildnerischem Gestalten gute Erfahrungen gemacht. Nach einer
kurzen Vorstellung der Arbeiten erfolgt aufmerksames Nachfragen aus der Gruppe,
wobei die Unterrichtenden darauf achten, dass die positiven Elemente stärker
hervortreten als die negativen. Die Freude am Gestalten soll erhalten bleiben.
d) Meditative Formen können die Gefühlswelt früherer Entwicklungsstufen aktivieren
und dadurch Nachreifungsprozesse anregen. Voraussetzung dafür sind Unterrichtende,
die sich der verletzten Anteile in der eigenen Seele und der eigenen Spiritualität
bewusst sind. In diesem Zusammenhang ist auf Gottesdienste und spirituelle Angebote
im Schulleben hinzuweisen. Sie behalten auch in der Sekundarstufe Bedeutung.
Der Ausbau der Ganztagsschulen und Ganztagsangebote bringt in seelsorgerlicher Hinsicht
weitere Herausforderungen mit sich. Diese Entwicklung zu fördern und kritisch zu begleiten,
ist eine neue religionspädagogische Aufgabe.
6
Literatur:
Baumann, U.: Beurteilen –Beraten –Schulleben gestalten, in: dies. u.a., Religionsdidaktik.
Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, 48-56
Büttner, G.: Seelsorge im Religionsunterricht, Stuttgart 1991
Büttner, G.: Seelsorgerliche Strategien im Religionsunterricht der Sekundarstufe II, in: Religionspädagogische Hefte (Ausgabe B), Heft 2, 1995, 9-21
Schweitzer, F.: Religionspädagogik, Gütersloh 2006
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