Michael Ernst „Nützt es dir Gott, daß du Gewalt verübst?” (Ijob 10,3) Vortrag beim Zyklus „Christliches Europa – Erbe und Auftrag“ Schottenpfarre Wien Wien 10. Oktober 2007 2 Einleitung Daß Christen weder Krieg noch terroristische Gewalt gutheißen dürfen, daß sie solche Gewalt jedenfalls nicht vom Zeugnis der Bibel her legitimieren können, scheint heute ausgemacht. Daß aber Christen in der Geschichte bis heute immer wieder Gewalt ausgeübt, ja von der Bibel her legitimiert und mit dem christlichen Glauben für vereinbar gehalten haben, zeigt die Geschichte des Christentums ebenso wie ein Blick in die Tageszeitungen. Wenn in Österreich oder Deutschland Christen daher über Gewalt in revolutionären Bewegungen in der sog. Dritten Welt oder, was freilich etwas ganz anderes ist, über den gegenwärtigen Terrorismus in Westeuropa oder gar über Gewalt in Schulen (Gewalt von Schülern untereinander und gegen Lehrer, Gewalt von Eltern gegen Lehrer, Gewalt von Lehrern gegen Schüler ...) sprechen, als handle es sich um die Untaten nur „der anderen”, so sind solche Urteile nicht frei von Heuchelei und Vergeßlichkeit. Hier zeigt sich im Sprechen ein Gewaltpotential, das jedem von uns in guter Erinnerung ist, der im Zusammenhang mit den Terroranschlägen der Jahre 1977 und 1992/93 Politikerreden, Stammtischgespräche, Unterhaltungen mit Nachbarn und Kollegen, oft treuen Kirchengehern, und Leserbriefe verfolgt hat. Latente Gewalt wird offen verbalisiert, sobald eine für den einzelnen oder für den Staat als bedrohlich empfundene Situation eintritt. Was da öffentlich wird, ist im wesentlichen das alte Instrumentarium überwunden geglaubter Kategorien. Menschen werden als UnMenschen klassifiziert; selbst führende Politiker bedienen sich einer Kammerjägersprache und reden von „Ratten, Sumpf, Ungeziefer, Schädlingen, ausrotten, usw.” In kirchlichen Stellungnahmen ist wenig davon die Rede, daß wir Menschen alle Sünder sind; auch sie sind nicht frei von jener „Wir-die-anderenMentalität”, die die Öffentlichkeit beherrscht. Wie überwunden ist die Mentalität eines „heiligen Krieges”? Erweisen sich vielleicht zu bestimmten Zeiten jene Linien biblischer Texte, die vom Ausrotten des Bösen, von Gewalt und Rache, vom Schwert reden, als stärker als die gewichtigere Linie der Bibel, die auf Liebe, Versöhnung, Solidarität und Frieden zielt? Diese Frage enthält die Voraussetzung, daß die Bibel jene beiden Linien enthält. Oft spricht man die Tendenz zur Rache dem Alten, die Tendenz zur Liebe dem Neuen Testament zu. Diese Klassifizierung ist in ihrer Verkürzung falsch. Beide Testamente enthalten, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, beide Linien. Ein Satz wie „Nicht Frieden zu bringen bin ich gekommen, sondern das Schwert” (Mt 10,34) und das Gebot der Feindesliebe stehen im Neuen Testament. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” (Lev 19,18) und Rachepsalmen stehen im Alten Testament. Wie diese Aussagen zu verstehen sind, wie sie sich zueinander verhalten, davon wird hier die Rede sein. Mancher spricht vorschnell von der Widersprüchlichkeit der Bibel und schließt daraus auf ihre Untauglichkeit zum Leitfaden für gegenwärtiges verantwortliches Handeln. 3 Widersprüchlichkeit wäre gewiß etwas Mißliches in einem Lehrbuch, von dem man eindeutige Anweisungen erwartet. In einem Buch aber, in dem Menschen vieler Jahrhunderte ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben, religiöse, ethische, politische, individuelle Erfahrungen, in einem Buch, das Texte verschiedenster Art enthält, das aus Reden, Geschichten, Listen, wissenschaftlichen Spekulationen, Gleichnissen, Gebeten usw. besteht, kann Einlinigkeit nicht erwartet werden. Nicht logische Widersprüchlichkeit, sondern Reichtum des Lebens zeigt sich in der Vielfältigkeit der biblischen Aussagen. Vielfalt aber heißt nicht Beliebigkeit. Soviel dürfte deutlich sein, daß Handlungsanweisungen für gegenwärtiges Leben nicht direkt aus einzelnen biblischen Zitaten zu gewinnen sind. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament zielen als Ganze auf Liebe und Solidarität, wie sie im Zeugnis Jesu exemplarisch zum Ausdruck kommen. Wie verhält sich diese Gesamtaussage zu den widersprüchlichen Einzelaussagen? Warum sind Berichte über Kriege, ja Aufrufe zu und Legitimierungen von Gewalt Bestandteile der Bibel? Warum hat man nicht jene Gewaltlinie, von deren Nachwirkungen und Wiederaufleben bis in unsere Tage eingangs die Rede war, beseitigt zugunsten eines klaren und eindeutigen Aufrufs zu Gewaltlosigkeit und Frieden? Wir werden diesen Fragen nachgehen. Eine vorläufige Antwort ist: Weil eine solche Eindeutigkeit unehrlich wäre, weil die Welt nicht gewaltlos ist, weil der Mensch die Möglichkeit zu Güte und Vernichtung, zu Liebe und Mord, zu Befreiung und Unterdrückung in sich trägt! Denn nicht zuletzt das macht die Größe der Bibel aus, daß sie realistisch ist, daß sie kein abstraktes Bild vom Menschen entwirft, sondern von tatsächlichen Menschen und ihren konkreten tatsächlichen Lebensbedingungen ausgeht. 4 1. Gewalt im Alten Testament Von Gewalttaten ist im AT von Beginn an die Rede. Kain erschlägt Abel - eine Gewalttat steht am Beginn der Menschheitsgeschichte. Mose erschlägt einen Ägypter eine Gewalttat steht am Beginn der Befreiungsgeschichte Israels. Jahwe vertilgt die Einwohner Kanaans vor den einwandernden Israeliten - Kriege und Gewalt begleiten die Geschichte der Landnahme. Von der Verkettung von Gewalttaten künden die Propheten: Gewalt klagen sie an, Gewalt, die auf Gewalt stets folgt, künden sie an, und Gewalt müssen nicht wenige der Propheten selbst erleiden. Kriege begleiten und bestimmen die Geschichte Israels von den Tagen Josuas und Davids bis zum Befreiungskampf der Makkabäer über die Zeit der Römer (bis heute). Je nach Interessenlage hat man in der Geschichte mit dem Verweis auf diese und ähnliche Texte das AT der Blutrünstigkeit bezichtigt und/oder sich derselben Texte zur Rechtfertigung eigener Gewalt bedient. Doch auch wenn wir uns bemühen, ideologischen Verkürzungen biblischer Texte für eigene Zwecke nicht zu erliegen, bleibt das Problem: Wie gehen wir um mit der Tatsache, daß in der Bibel so viel von Krieg und Gewalt die Rede ist? So falsch es wäre, diese Tatsache zu leugnen oder zu verdrängen, so verfehlt wäre es, das AT auf die Tendenz zur Gewalt festzulegen und darin vom NT abzugrenzen. Die Vielfältigkeit der atl. und ntl. Texte, der Reichtum der in ihnen festgehaltenen Erfahrungen lassen keine Pauschalurteile zu. Zudem darf keine biblische Aussage von den ihr zugrundeliegenden Erfahrungen, von den besonderen Bedingungen und Problemen der Zeit ihrer Entstehung abgetrennt werden. Ein Überspringen des Abstandes, der unsere Situation von der der Verfasser der biblischen Texte trennt, wird in der Regel nicht nur das Erfassen des damals Gemeinten verfehlen, sondern auch eine wirkliche Aktualisierung der Texte verhindern. 1.1. Jahwe der Retter - Jahwe, der Gewalttäter Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig! Danket dem Gott der Götter ... Der die Ägypter schlug in ihren Erstgeburten ... Der Israel herausführte aus ihrer Mitte ... Der mächtige Könige geschlagen Und herrliche Könige getötet hat ...(Ps 136) 5 Der Psalm ist eine gottesdienstliche Dankliturgie. Unterbrochen jeweils vom RefrainAusruf „denn seine Huld währt ewig!” wird Jahwe als Herr der Schöpfung und Herr der Geschichte gelobt. Ein Ereignis der Frühgeschichte Israels gab bereits zu dem vermutlich ältesten Text des AT Anlaß, zum Lied der Mirjam, das die Rettung Israels nach der Flucht aus Ägypten beim Exodus besingt: Singet Jahwe, denn hoch erhaben ist er Roß und Reiter warf er ins Meer! (Ex 15,21) Um die Rettung Israels in scheinbar auswegloser Situation geht es. Die aus der Zwangsarbeit in Ägypten geflohene Schar wird von einer ägyptischen Streitmacht verfolgt und fast eingeholt. Da kommt den Flüchtlingen etwas ganz Unerwartetes zu Hilfe. Sie können einen Meeresarm durchschreiten, den Verfolgern wird die Flut zum Verhängnis. Diese Erfahrung der Rettung war so tiefgreifend, daß sie zu einer (der wichtigsten!) Tradition für ganz Israel wurde. In solchen kultischen Erinnerungen und Aktualisierungen wie z. B. Ps 136 ist im Zusammenhang des Meerwunders von Gewalt die Rede. Jahwe wird zum Retter Israels, indem er die Verfolger gewaltsam vernichtet. Rettung und Gewalt sind unlösbar miteinander verknüpft. Leszek Kolakowski hat in einer seiner „Erbaulichen Geschichten” (München 1965) unter der Überschrift „Gott - oder die Güte ist relativ” diesen Zusammenhang scharf und sarkastisch herausgestellt. Er fragt: „Was denken Ägypten und der Pharao über die Güte Gottes?” und fügt als „Moral” der Verse aus Ps 136 hinzu: „Barmherzigkeit und Wohltätigkeit kann es nicht für alle zugleich geben. Wenn wir diese Worte in den Mund nehmen, so laßt uns immer hinzufügen: für wen. Und wenn wir den Völkern Wohltätigkeit erweisen, so laßt sie uns auch fragen, wie sie über dieses Thema denken.” Kolakowskis Ermahnung bleibt zu beherzigen. Doch sind wir von daher berechtigt, Israels Dank moralisch zu verurteilen? Sollten wir nicht wenigstens zuvor eingestehen, daß jene relative Güte realistisch ist? Es liegt nahe, hier daran zu erinnern, daß der Refrain des 136. Psalms in kirchlicher Tradition vielfach als Dankgebet nach dem Essen geläufig ist. Wie wäre es, wenn wir entsprechend dem radikalen Realismus des Psalms hinzufügten: „Wir haben so viel zu essen, während andere in der Welt hungern - denn deine Huld währt ewig; wir danken dir für die ungerechten Rohstoffpreise - denn deine Huld währt ewig ...”? Ist dies eine Gotteslästerung? Wenn ja, ist es eine größere als das Verschweigen dieser Zusammenhänge? Ist nicht de facto unser Wohlergehen das Elend anderer? Sind wir christlicher, weil wir das nicht aussprechen? Aber vor allem: Israel dankt für sein Überleben, dafür, daß Gott nicht mit den stärkeren Bataillonen war. Die Sicht von Ps 136 und des Mirjam-Liedes bleibt partikular - aber darin sind diese Texte aufrichtig, weder heuchlerisch noch schadenfroh. Der Dank gilt der eigenen Rettung, 6 einer Rettung freilich, die weder hier noch bei anderen Ereignissen in der Geschichte Israels gewaltlos vonstatten ging - der Dank gilt nicht der Gewalt, nicht dem Unglück anderer! Natürlich ist die Grenze hierbei schmal. Es gibt auch atl. Texte, wo diese Grenze überschritten wird. Aber wo in Israel das Wissen um die Bewahrung durch Gott überheblich wurde, da traten Propheten auf und kündeten Jahwe auch als Rächer dieser Gewalt. 1.2. Individuelle und strukturelle Gewalt Die moderne Forschung kennt verschiedene Formen von Gewalt. Eine ihrer Unterscheidungen ist die von individueller und struktureller Gewalt - und zwischen diesen gibt es zahllose Formen. Direkte individuelle Gewalt gehört zu den ältesten Erfahrungen der Menschen. So wundert es nicht, daß die Geschichte der aus dem Paradies vertriebenen Menschen, also die Geschichte der Menschen, die über ihr Leben selbst zu entscheiden haben, in der biblischen Darstellung mit einem Fall direkter Gewalt beginnt: Mit dem Mord Kains. Die Geschichte mag uns (wie dem biblischen Erzähler) als Modell dienen. Gen 4,1-16 erzählt von Gewalt, die als Folge der Unfähigkeit, den Erfolg eines anderen zu ertragen, entsteht. Es geht um Grundmuster menschlichen Verhaltens, die die Bibel (wie auch sonst) als Familiengeschichte erzählt. Kain und Abel üben einen verschiedenen Beruf aus: Kain ist Bauer, Abel ein Hirt. Weder erzählt der Text von einer prinzipiellen Bevorzugung eines dieser Berufe noch gar eines der beiden Brüder. Beide bringen ein Opfer dar, das ihrer Arbeit entspricht. Und dann berichtet der Erzähler lapidar, Jahwe habe das Opfer Abels gnädig angesehen, das des Kain nicht (V. 4b.5a). Hier setzen die klassischen Fragen an: Woran konnte man sehen, daß Jahwe so unterschiedlich reagiert? Vor allem aber: Warum reagiert er so verschieden, so „ungerecht”? Da die Erzählung darauf nicht antwortet, versuchte man, mit Phantasie und Dogmatik die Geschichte aufzufüllen - und verfehlte damit, was sie erzählen will! Biblische Illustrationen zeigen z. B. gerade und schräg aufsteigenden Rauch, um die erste Frage zu beantworten. Die wichtigere Frage nach der Gerechtigkeit Gottes erfuhr je nach dogmatischem Standort des antwortenden Theologen verschiedene Lösungen: Kain habe letztlich nicht mit frommer Gesinnung geopfert o. ä. Die Erzählung weiß von solcher verborgenen Unredlichkeit aber nichts! Eine andere dogmatische Spielart weist die Frage als unangemessen zurück: Gott sei frei in seiner Entscheidung, dem Menschen komme es nicht zu, hier zu rechten. Aus beiden Antworten entsteht Angst - Angst vor dem Gott, der alles sieht, Angst vor dem Gott, der Menschen wie Schachfiguren behandelt. Nochmals: Der Erzähler von 7 Gen 4 sagt von alldem nichts! Er will überhaupt nicht in erster Linie eine „Lehre von Gott” schreiben, er erzählt von menschlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen: Kain und Abel bringen Erstlingsopfer dar. Deren Funktion ist es, den Ertrag der Arbeit zu sichern. Wenn V. 4f berichten, Jahwe habe Abels Opfer angesehen, so heißt das, daß Abels Arbeit in diesem Jahr erfolgreich war, während Kain Mißerfolg zu verzeichnen hatte. Der Erzähler berichtet also ein Faktum, das jeder Mensch erleben kann. Die Dramatik der Erzählung setzt mit der Frage ein: Wie wird Kain mit dieser Erfahrung umgehen? Der Erzähler berichtet: Da wurde Kain sehr zornig und senkte sein Gesicht. Da sprach Jahwe zu Kain: Warum bist du zornig und warum senkst du dein Gesicht? Nicht wahr, wenn du gut machst (wenn du Erfolg hast), dann ist Erhebung (dann läufst du mit erhobenem Haupt umher), wenn du nicht gut machst, dann ist vor der Tür die Sünde auf der Lauer, und dir gilt ihr Verlangen - du aber sollst über sie herrschen! (Gen 4, 5b-7) Es geht hier also nicht um die Entlarvung eines, der immer schon böse war, vielmehr: Wie geht der Mensch um mit der mit Arbeit immer verbundenen Möglichkeit ihrer Erfolglosigkeit? Gott warnt Kain vor dem Umschlagen der Frustration in Gewalt. Kain erliegt dieser Gefahr dennoch. Er erschlägt seinen Bruder. Der Mord wird nur kurz berichtet; nicht die Tat, sondern ihre Folgen stehen im Mittelpunkt. Erste Folge der Tat ist, daß sie notwendig weitere Verfehlungen nach sich zieht: es folgt die Lüge und die Aufkündigung der Verantwortung. Jahwes Antwort bringt weitere Folgen der Tat Kains an den Tag. Im Unterschied zu einer Ethik, die spätere Theologie der Bibel als Raster übergestülpt hat, fragt die atl. Ethik aber nicht nach Schuld, Sühne oder Strafe (“Schuld” und „Strafe” ist übrigens dasselbe Wort „cawon”). Die Ethik des frühen Israel fragt nach der Tat und ihren Folgen, wobei Tat und Folge, das Tun des Menschen und sein Ergehen, als Einheit gesehen werden. Für Kain folgt also nicht eine Strafe, die ihm Gott auferlegt, sondern die doppelte der Tat inhärente Folge. Der Ackerboden, der das Blut des Erschlagenen aufnahm, wird dem Täter keinen Ertrag mehr bringen. Das ist in der Auffassung der Antike eine „logische” Folge. Das Zweite hat Gültigkeit bis heute: Es ist der schlichte Satz: Wer seinen Bruder umbringt, wird ohne Bruder leben müssen. Daß Kain als „unstet und flüchtig” leben muß, ist keine von seiner Tat isolierte Strafe Gottes, sondern direkte Folge seiner Tat. Nicht als Straf- und Vergeltungsinstanz, als der der Gott des AT seit Jahrhunderten von der christlichen Theologie verzeichnet wurde, erscheint Jahwe in dieser Erzählung, sondern als Gott, der den Zusammenhang von Tat und Tatfolge garantiert. Dahinter steht kein magisches Welt- und Gottesverständnis, sondern die Erfahrung, daß Gewalt Folgen hat, die auf den Täter zurückschlagen, und zugleich die Hoffnung, daß der Mörder nicht über das Opfer triumphieren möge. 8 Doch damit ist die Erzählung von Kain (mit ihm soll sich der Hörer ja identifizieren!) noch nicht zu Ende. Daß Jahwe den Zusammenhang von Tat und Tatfolge garantiert, ist nur die eine Seite. Jahwe ist auch der, der diesen Zusammenhang durchbrechen kann, um den Menschen vor den tödlichen Folgen seiner Tat zu retten. So steht am Ende von der Erzählung vom Mörder Kain seine Bewahrung durch ein besonderes Zeichen, das Gott ihm gibt (NB: das „Kainszeichen” ist als Zeichen des Lebens ein Auferstehungszeichen!). Kain bleibt auch nach seiner Tat Gottes Gesprächspartner Jahwe wendet sich nicht von ihm ab. Wie könnte da ein Mensch einen anderen aufgeben? Die Erzählung von Kain steht im Kontext der Urgeschichte. Ging es in der Paradieseserzählung Gen 2-3 um Mann und Frau, so hier in Gen 4 um das Verhältnis zwischen Geschwistern. Kain ist kein Unmensch, er ist der Mensch, wie er sein kann. Der erste gezeugte Mensch ist ein Mörder - doch ebenso wichtig ist die Umkehrung: der Mörder bleibt Mensch! Die Kain-Erzählung weist jede Einteilung der Menschen in gute und böse ab, sie trennt nicht Mensch von Unmensch, sondern zeigt die Möglichkeiten des Menschseins. Daß wir Kain sind, bringt Gen 4 schließlich noch in einer Fortsetzung zum Ausdruck, die wie eine letzte, realistisch grausame Pointe erscheint: Kain wird zum Städtegründer und zum Ahnherrn der menschlichen Kultur und Zivilisation (vgl. Gen 4,17ff). Ist es die Meinung des Erzählers, daß Kultur und Zivilisation der Menschheit als Folge einer Gewalttat zu begreifen sind? Statt einer schnellen Antwort ein kurzes Gedankenexperiment dazu: Stellen Sie sich vor, vor 100 Jahren wäre ein Mann vor die deutsche Öffentlichkeit getreten und hätte das folgende Angebot unterbreitet: Ich kann eine Maschine bauen, die in der Lage ist, Menschen und Lasten schnell und über große Entfernungen zu transportieren. Diese Maschine wird die Freiheit und den Lebensstandard des einzelnen in ungeahnten Maß steigern. Der einzige Preis, der zu errichten ist: Diese Maschine ist ein Gott, und ihr sind jährlich einige tausend Menschen zu opfern! Mit Sicherheit hätte die zivilisierte Öffentlichkeit einen solchen Vorschlag entrüstet zurückgewiesen. Übrigens: das Auto wurde dennoch gebaut ... Daß zivilisatorische Errungenschaften und Kulturfortschritt auch lebensfördernd sein können, will auch der Verfasser unserer Erzählung nicht prinzipiell bestreiten. Es geht im gar nicht um Spekulationen über Fluch und Segen der Technik oder ähnliches. Er erzählt einfach in der Form von Geschichten Erfahrungen weiter - und diese Erfahrungen sagen ihm, daß sich der Fortschritt in der Regel lebensmindernd ausgewirkt hat. 1.3. „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!” 9 Gewalt, Haß, Rache, Krieg als Elemente menschlichen Verhaltens kommen im AT in ungeheurer Offenheit zur Sprache. Darin, daß diese Bereiche menschlicher Empfindungen und menschlichen Tuns nicht verschwiegen werden, kann eine Gemeinsamkeit, vielleicht die einzige Gemeinsamkeit der verschiedenen atl. Linien im Problemfeld der Gewalt gefunden werden. In der realistischen Ehrlichkeit, in der der Mensch, wie er ist, im AT gesehen wird, liegt sehr viel mehr als der Vorzug einer glaubwürdigen Darstellungsweise. Dieser Realismus bildet letztlich den Grund für die tiefe Menschlichkeit der Forderung der Nächstenliebe „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!” (Lev 19,18) - oder in der Übersetzung von M. Buber: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du! Das ist der Kernsatz einer nicht aus Vernunftprinzipien abzuleitenden, sondern geschichtlich einmalig in Israel ausgesprochenen Ethik, die die lebendige Beziehung zwischen den tatsächlichen Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen zu ihrer Grundlage macht. Der andere, das könnte auch ich sein - das ist der Grund der Mitmenschlichkeit. Dieser Ansatz entfaltet sich im AT im geforderten Verhalten den Schwachen gegenüber: Einen Fremden sollst du nicht bedrücken! Ihr wißt, wie dem Fremden zumute ist; ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten! (Ex 23,9) Wieder ist es nicht Naturrecht, nicht Vernunft, nicht abstrakte Moral, nicht göttliche Autorität, die den Grund dieser Forderung bildet. Es ist die Solidarität, die aus gemeinsamer Erfahrung kommt: der andere, das bin auch ich. Ohne die schonungslose Ehrlichkeit und realistische Härte, in der das AT den Menschen erfaßt, bliebe aber auch diese Solidarität abstrakt. Ihre Konkretion gewinnt die Forderung der Nächstenliebe daraus, daß sie sich auf tatsächliche Menschen bezieht und nicht auf den Menschen, wie er sein sollte. Und doch bezeichnet die Bergpredigt diese Solidarität als zu eng. Jesus radikalisiert sie um das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44). Darauf ist noch einzugehen. Mit einer Überlegung aber soll dieser Abschnitt über „Gewalt im AT” abgeschlossen und zugleich zum nächsten übergeleitet werden: Die Wirkungs- und Aneignungsgeschichte von Lev 19,18 und Mt 5,44 zeigt, wie schwierig es ist, die Universalität der ntl. Forderung mit der Konkretheit der atl. zu vereinigen. Wer die atl. Ethik partikularer Begrenztheit bezichtigt, weil es ihr nur um den Nächsten und nicht um alle gehe, muß darauf achten, daß nicht seine Option für alle Menschen bloße Gesinnung bleibt und damit zur reinen Parole wird. Den Anspruch des NT im Blick auf alle Menschen so zu konkretisieren, wie es dem AT im Blick auf Israel gelingt, ist schwierig - ganz unmöglich bliebe es, ohne die realistische Ehrlichkeit, in welcher der Mensch im AT gesehen wird, zum Ausgangspunkt zu nehmen. 10 2. Gewalt in der Sicht des Neuen Testaments Da sagte Jesus zu ihm: „Stecke dein Schwert in die Scheide! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte jetzt meinen Vater nicht bitten, und er würde mir auf der Stelle mehr als zwölf Legionen Engel senden? Doch wie sollten dann die Schriften erfüllt werden, (die sagen,) daß es so geschehen muß?” (Mt 26,52-54) Diese Rede an einen Jünger, die Matthäus überliefert, enthält in der Situation der Gefangennahme Jesu eine Aufforderung zum Gewaltverzicht. In den kurzen Worten ist eine dreifache Begründung enthalten. Diese drei Gründe für den Gewaltverzicht enthalten bereits entscheidende Positionen, die das NT zur Gewalt einnimmt. Die erste Begründung verweist auf den Gewaltzusammenhang, der die Strukturen der Wirklichkeit bestimmt. Gewalt erscheint in einer verhängnisvollen Kette; auf Gewalt folgt stets Gewalt. Kaum zufällig steht dieses Argument an erster Stelle. Es ist ein historisch-empirisches Argument, das von den tatsächlichen Verhältnissen ausgeht. Im ehrlichen Realismus, der, was ist, nicht verdrängt, und der nicht abstraktes Sollen gegen die Wirklichkeit setzt, schließt das NT an das AT an. Durchbrechen des Gewaltzusammenhangs ist an sein Durchschauen gebunden! Doch steht dieses von der Erfahrung geleitete Argument für den Gewaltverzicht nicht allein. Stünde es isoliert, könnte es auch Ausweis der Resignation sein: „... es hat ja doch keinen Zweck”. Daß dies nicht die Quintessenz der Aufforderung Jesu ist, zeigt das zweite Argument. Jesus ist nicht wehrlos, ihm stünde ein gewaltiges Machtpotential zu Gebote, an welchem weltliche Macht zerbrechen müßte. Die Macht der (atl.) Jahwe-Kriege ist nicht verblichen! Der Verzicht auf Gewalt (hier auf Gegengewalt) erfolgt nicht aus Ohnmacht, sondern aus Stärke. Begründet wird dies mit einem Verweis auf die Verheißungen des AT. In diesem konkreten Fall bedeutet das: Der Verzicht auf Gewalt hat etwas zu tun mit dem, was verheißen ist und was erfüllt werden wird. Die Passion Jesu, die von der Botschaft der Nähe des Gottesreiches nicht zu trennen ist, ist Folge des Gewaltverzichts. Gewaltverzicht und Nähe des Reiches Gottes haben also etwas miteinander zu tun. Für die ethische Frage nach der Gewalt verweist dieser Zusammenhang auf das Verhältnis von Ziel und Mittel. Während Gewalt, auch wo sie um eines noch so gerechten Zieles willen angewandt wird, eben indem sie angewandt wird, eine Entfernung von einem gerechten Ziel bedeutet und bewirkt, enthält der Verzicht auf Gewalt etwas von dem Ziel, um dessentwillen Gewaltverzicht angewandt wird. Drei Aspekte der Begründung des Gewaltverzichts enthält also dieses kurze 11 Jesuslogion: 1. Gewaltverzicht durchbricht die Kette, in der Gewalt stets auf Gewalt folgt. Diese Kette kann nur durchbrochen werden, wenn die vorhandenen Gewaltstrukturen und ihre Gesetze erkannt und durchschaut werden. 2. Gewaltverzicht soll als aktive Haltung aus einer Gewißheit der Stärke geübt werden. 3. Gewaltverzicht verweist auf ein Ziel, dessen Bestandteil gewaltlose Verhältnisse sind. Der Gewaltverzicht enthält bereits etwas von diesem Ziel. Diesen drei Aspekten und ihren Beziehungen zueinander (man könnte von einem empirischen, einem strategischen und einem utopischen Aspekt sprechen) möchte ich weiter nachgehen. 2.1. Die Aufdeckung der Gewaltstrukturen Die Worte Jesu und die Zeugnisse des Glaubens und der Praxis der ersten Christen gauckeln nirgends die Realität einer konfliktlosen Welt vor. An den klaren Blick des AT anknüpfend erkennt auch das NT die Gewalt, die in den Beziehungen der Menschen vorherrscht, und es verdrängt diese Wirklichkeit nicht, sondern deckt ihre Strukturen auf. Jesus selbst läßt durch sein Verhalten Konflikte aufbrechen. Er stellt Normen in Frage, auf denen die religiöse und soziale Identität und Stabilität der Gesellschaft, in der er lebte, basierte. Jesus reißt in machtvollen Aktionen und Symbolhandlungen Normen der bestehenden Gesellschaft ein. Dieses Tun schafft nicht neue Gewalt - es deckt vorhandene auf. Solche Offenlegung von Gewaltstrukturen hat Folgen. Wie Jesus selbst, so können auch die, die ihm nachfolgen, den Gewaltstrukturen nicht entrinnen. Vielmehr trägt die Existenz einer Gruppe, die sich den herrschenden Normen entzieht, zur Verschärfung bestehender Konflikte bei: Denkt nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen. Nicht Frieden zu bringen bin ich gekommen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, Entzweiung anzurichten zwischen einem Mann und seinem Vater, zwischen einer Tochter und ihrer Mutter und zwischen einer Schwiegertochter und ihrer Schwiegermutter; und seine eigenen Hausgenossen wird der Mensch zu Feinden haben. (Mt 10,34-36) Die beiden letzten Verse sind ein Zitat aus Mi 7,6. Wie bei Micha so gehören sie auch bei Matthäus in die Rede Jesu zur Kennzeichnung der vorfindlichen Realität. Sie schildern, was der in der Nachfolge Jesu stehende Christ zu erwarten hat. Doch während 12 in der prophetischen Rede eines Micha oder Jesaja der vorfindlichen Wirklichkeit eine Verheißung und Hoffnung entgegengestellt werden, stellt das Handeln Jesu und der urchristlichen Gemeinde der Realität in der Erwartung des Reiches Gottes eine Praxis entgegen. Nichts von der atl. Hoffnung auf Überwindung der Gewaltstrukturen ist damit preisgegeben, nichts von der Gewißheit, daß Gott selbst gegen die Gewalttätigen kämpfen wird (vgl. auch das Magnifikat)! 2.2. Die politische Dimension des Gewaltverzichts im NT Die Beispiele, an denen im NT der Gewaltverzicht konkretisiert wird, stammen durchwegs aus dem sog. „Privatbereich”. Doch darf man daraus nicht auf einen unpolitischen Charakter des Gewaltverzichts schließen. Das NT redet keiner doppelten Ethik das Wort, als ob für das Verhalten im individuellen, zwischenmenschlichen Bereich andere Normen zu gelten hätten als im gesellschaftlichen Leben. Christliche Ethik ist Gemeindeethik, d. h. von vornherein gesellschaftlich vermittelt. H. Gollwitzer schreibt dazu: Als gewaltlose Gruppe lebt diese Gemeinde mitten in der Gewaltgesellschaft, leidet Gewalt, aber übt sie nicht, und bezeugt damit vorwegnehmend das Leben einer neuen Gesellschaft, der anarchischen, gewaltlosen Gesellschaft des Reiches Gottes, das sie mit Worten und Leben ankündigen. Diese frühchristlichen Gemeinden sind kleine Gruppen ohne gesellschaftliche Verantwortung, meist aus Leuten der untersten Schichten bestehend. Damit können sie es sich leisten - so scheint es - , sich von der Gewaltausübung fernzuhalten, aber der Schein, sie seien nur so pietistische, unpolitischfromme Konventikel gewesen, trügt. Schon der politische Aspekt der römischen Christenverfolgungen weist darauf hin: Diese Gruppen sind in der antiken Gewaltgesellschaft politische Gegengruppen, Avantgarden einer neuen Gesellschaft. Ihre Gewaltlosigkeit ist nicht Kennzeichen ihres unpolitischen, sondern ihres politischen Wesens. (H. Gollwitzer, Zum Problem der Gewalt in der christlichen Ethik, in: Forderungen der Umkehr ....129) Für das Verhältnis der christlichen Gemeinde zum Staat ergibt sich von daher eine prinzipielle Distanz. Das gilt auch für den so oft mißverstandenen Satz des Paulus: Jedermann soll sich den Behörden, die Gewalt über ihn haben, unterordnen. Denn es gibt keine politische Gewalt, die nicht von Gott ihre Vollmacht hat; alle, die bestehen, bestehen durch Gottes Anordnung.” (Röm 13,1). Auch diese Aussage enthält eine klare Begrenzung der Macht des Staates. Der Staat hat keine Macht um seiner selbst willen. Daher gilt für den Christen: Weder hat er den Staat zu lieben noch sich mit ihm zu 13 identifizieren. Außerdem: Neben dem Hinweis auf die ordnende Funktion des Staates kennt das NT ebenso die Warnung vor der Perversion der politischen Macht. Im Blick auf ntl. Texte gesprochen: Wir dürfen Röm 13 nie ohne den die Kehrseite betonenden Text Offb 13 lesen! Jeder Staat steht immer zwischen Röm 13 und Offb 13, d. h. zwischen der das Leben regelnden und der Leben vernichtenden Tendenz politischer Gewalt. Deshalb bleibt für Christen die Notwendigkeit einer kritischen Distanz, die eine kritische Solidarität nicht ausschließt, zu jedem Staat geboten. Geboten bleibt auch und gerade deshalb der Widerstand gegen den totalen Zugriff des Politischen auf den Menschen, gegen einen Zugriff, der in Diktaturen die Regel ist, aber auch in der Demokratie erfolgen kann. 14 3. Stationen der Rezeptionsgeschichte 3.1. Auf dem Weg zur Integration in die Gewaltgesellschaft Aus den systemtranszendierenden urchristlichen Gemeinden wurde in wenigen Jahrhunderten die systemstabilisierende und -garantierende Großkirche. Schon bald ging es nicht mehr um die Frage, wie sich der Christ und die Gemeinde zur politischen Macht zu stellen habe - die Verbindung von Kirche und Macht wurde vollzogen. Christliche Obrigkeit, ja die Kirche selbst, führte Kriege. Tertullian (um 200) noch hatte es für unmöglich erklärt, daß jemand Christ und Kaiser zugleich sein könne; Origines hatte die Beteiligung von Christen am Kampf mit der Waffe selbst beim Schutz des Landes für undenkbar gehalten; für Christen im Römischen Reich war die Verweigerung des Kriegsdienstes selbstverständliche Konsequenz ihres Glaubens (vgl. hl. Martin!). Und doch wurde im 4. Jh. Konstantin Christ und seine Nachfolger blieben es fast ohne Ausnahme. Soldaten, Reiche, hohe Beamte wurden Christen und blieben hohe Beamte, Reiche und Soldaten. Was im NT und im Urchristentum unvereinbare Gegensätze waren, wurde vereint. Man kann diese Entwicklung als Abfall von der wahren christlichen Lehre bezeichnen. Es gab in der Kirchengeschichte stets Gruppen, die dieses Urteil fällten und die Verbindung mit Macht, Gewalt und Reichtum ablehnten. Solche konsequente Haltung verdient höchste Achtung. Und doch ist jener radikale Pazifismus nicht die einzige Position, die Anspruch darauf hat, als ethisch verantwortete Haltung ernst genommen zu werden. Denn wer Religion und Ethik nicht prinzipiell für übergeschichtlich hält, vielmehr ihre Verknüpfung mit historischen Entwicklungen in sein Urteil einbezieht, der wird berücksichtigen müssen, daß sich mit der veränderten sozialen Struktur der christlichen Gemeinden auch ihre Stellung in der Gesellschaft veränderte. Für das Urchristentum galt die Alternative: sich einzupassen in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen oder diese Einpassung zu verweigern. Doch in dem Maße, in dem gesellschaftlich Angesehene und Einflußreiche selbst Christen wurden, tauchte die Möglichkeit auf, auf die politischen Verhältnisse Einfluß zu nehmen. Konnte nicht auch darin christliche Ethik verwirklicht werden? War es nicht von daher geboten, die Desintegration aufzugeben? Das alles sind keine rhetorischen Fragen. Keine der beiden skizzierten Positionen kann in prinzipieller Diskussion moralische Überlegenheit oder gar die Wahrheit für sich beanspruchen. Zwischen ihnen besteht eine Spannung, die schlagwortartig als Gegensatz revolutionärer und reformistischer Haltung beschrieben werden kann. Ohne die Entscheidung zur Integration, die in der „Konstantinischen Wende” und der Entwicklung des Christentums zur Staatsreligion ihren Ausdruck fand, ohne diesen „Reformismus” wäre es nicht zur Weltkirche gekommen. Doch ist diese Entscheidung 15 unzweifelhaft um den Preis der Aufgabe wesentlicher Elemente christlicher Praxis gefallen, nicht zuletzt unter Preisgabe des Gebots des Gewaltverzichts. Zur Rezeptionsgeschichte des Themas „Gewalt in der Bibel” gehört es, daß auch diese Preisgabe immer wieder in Übereinstimmung mit biblischer und christlicher Lehre gebracht werden konnte. Das folgende Beispiel soll dies kurz illustrieren. 3.2. Die biblische Rede von Krieg und Gewalt in der Rezeption der Kreuzzugszeit Hatte noch Tertullian um 200 in der Entwaffnung des Petrus die Entwaffnung jedes Soldaten erkannt, so waren seit der Zeit Konstantins nicht mehr Kriegsdienstverweigerer, sondern Soldaten Heilige und Christus selbst eine Art Kriegsgott geworden. Cyprian (3. Jh.) hatte die scheinheilige Differenz zwischen privater und politischer Moral noch nicht gelten lassen: Es trieft die ganze Erde von gegenseitigem Blutvergießen, und begeht der einzelne einen Mord, so ist es ein Verbrechen. Tapferkeit aber nennt man es, wenn das Morden im Namen des Staates geschieht. Nicht Unschuld ist der Grund, der dem Frevel Straflosigkeit sichert, sondern allein die Größe der Grausamkeit. Aber schon bald wurde eben diese Differenz zur tragfähigen Voraussetzung eines christlich-militanten Imperialismus. Hören wir Papst Urban II. im Aufruf zum 1. Kreuzzug (1095): Mögen diejenigen, die vorher gewöhnt waren, in privater Fehde verbrecherisch gegen Gläubige zu kämpfen, sich mit den Ungläubigen schlagen; ... mögen diejenigen, die bis jetzt Räuber waren, Soldaten werden; ... mögen diejenigen, die eist Söldlinge waren um schnöden Lohn, jetzt die ewige Belohnung gewinnen ... Was bisher schlecht war, wird gut, weil es einem guten Zweck dient. Die Heiligung aller Gewalt und Grausamkeit ist damit prinzipiell eröffnet! Und doch geschah dies alles beim besten Willen der Nachfolge Christi. Wären der Kreuzzugswahn und die ihn tragenden religiösen Gedanken nur geschickte Ideologie im Machtkampf der Herrschenden gewesen, dann könnte das Christentum mit diesem teil seiner Geschichte leichter umgehen: die Klassifizierung als Verbrechen wäre bereits ein Stück der Bewältigung. Aber so leicht wird man nicht damit fertig. Der Greuel der Kreuzzüge - mindestens 20 Millionen Tote - geschah in frommer Absicht, im Bewußtsein der Übereinstimmung mit christlichen Normen und dem Willen Gottes. Damit sind die Kreuzzüge Teil der Rezeptionsgeschichte der Bibel selbst. Biblische Texte konnten, dieses Faktum ist durch nichts wegzuwischen, diese Folgen haben! 16 Es ging in den Kreuzzügen um die Befreiung des Heiligen Landes und der Heiligen Stätten. Der Haß auf die Ungläubigen, Hauptinhalt der Kriegspredigten, fand in den europäischen Juden, mit denen man jahrhundertelang im wesentlichen friedlich zusammengelebt hatte, ein erstes Opfer. Für die sich sammelnden Kreuzfahrerhaufen waren die Sarazenen fern, aber es gab ja in nächster Nähe auch Ungläubige. Vor allem aber: die Juden waren eine erkennbare Minderheit. Wer sich anders verhält, anders gekleidet ist, anders ißt, anders lebt als die Mehrheit, wird als störend empfunden, und es bedarf nur geringer Aufhetzung, den „Anderen” zum Feind, zum Bösen zu machen, von dem man sich und die Mehrheit befreien muß. So kam es zum Beginn der Kreuzzüge zum Massenmord an Juden. Was es „damals” hieß, „das Böse auszurotten” (Dtn!), vermag ein Kreuzfahrerlied aus dem Jahr 1099 zu illustrieren: Vom Blut viel Ströme fließen, indem wird ohn' Verdrießen das Volk des Irrtums spießen - Jerusalem, frohlocke! Stoßt sie in Feuersgluten! Oh, jauchzet auf, ihr Guten, dieweil die Bösen bluten - Jerusalem, frohlocke! Zu erinnern wäre auch noch an die Conquista, „den größten Genozid der Menschheitsgeschichte” (T. Todorov), die allein im 16. Jh. ca. 90 Millionen Menschen das Leben kostete - mit durchaus vergleichbarer religiöser Motivation! Fragen wir noch einmal nach der Wirkungsgeschichte der biblischen Rede von Krieg und Gewalt, so kann das Fazit nicht eindeutig sein. Jesu Forderung nach Gewaltverzicht scheint vergessen, atl. Theologie pervertiert. Aber ist nicht jenes „Ausrotten des Bösen” auch ein biblisches Erbe? Vom Ausrotten des Bösen in der Mitte Israels (dort freilich selbstkritisch nach innen, nicht imperialistisch nach außen gewandt) ist im AT an wichtigen Stellen die Rede. Aber dieses Motiv ist im AT eine Linie unter anderen. Daneben steht die Friedenslinie, die das endgültige Aufhören von Krieg und Gewalt erhofft, daneben die Forderung nach Nächstenliebe, Solidarität, nach Schutz gerade der Schwachen, Fremden und Bedrückten. Und schließlich steht im AT eine Ethik, die keinem Menschen das volle Menschsein bestreitet! Unter diesen vielschichtigen, nicht zur Harmonie zu bringenden Tendenzen nahm die Kirche im Kreuzzugs- und Conquista-Zeitalter jene eine auf: das Ausrotten des Bösen, des „Anderen”. Unter diesem Ziel ist Gewalt sanktioniert, ja gottgefällig. Bereits Hieronymus begründete seine Sentenz „Grausamkeit ist nicht, was vor Gott aus Frömmigkeit getan wird”, mit dem Verweis auf das deuteronomische Gebot, das Böse auszurotten. Solches Ziel konnte nicht nur in den Kreuzzügen gegen die Sarazenen akklamiert werden, es konnte 17 mit wechselnden Feindbildern gefüllt werden! 18 4. Biblisches Erbe und gegenwärtige Praxis Christentumsgeschichte ist weithin Gewaltgeschichte - dieser Eindruck stellt sich ein angesichts zweier Jahrtausende biblischer Rezeptionsgeschichte im Christentum. Wir sehen Gewalt trotz oder wegen und oft genug mit der Bibel. Gewiß ist die Christentumsgeschichte auch eine Geschichte erlittener Gewalt und in einigen Fällen auch die Geschichte versuchter Überwindung von Gewalt und Gewaltstrukturen. Auch diese Linie wäre zu dokumentieren. Daß dies hier nicht geschah, sollte der Vermeidung von Einseitigkeit dienen, daß nämlich die faktische Gewalt der Geschichte zugunsten ethischer Aspekte der christlichen Lehre unterschlagen würde. Und heute? Daß wir in einer friedlosen, von Gewalt beherrschten Welt leben, wird von keinem vernünftigen Menschen bestritten. Ebenso eindeutig wird von fast allen Menschen die Überwindung der Gewalt als Ziel ethischen und politischen Handeln anerkannt. Der Widerspruch, der sich darin zeigt, ist ebenso groß wie die Gewöhnung an einen unendlichen Abstand von Wirklichkeit und Wunsch. Daß das Vorhandene und das Wünschbare verschiedenen Welten angehören, scheint unserem Bewußtsein bereits natürlich. Die zwischen Wirklichkeit und Wunsch vermittelnde Kategorie der Möglichkeit verschwindet, selbst als Hoffnung. Wo aber selbst die Hoffnung auf die Vermittlung zwischen Zustand und Ziel verschwindet, da tritt Interpretation an die Stelle der Veränderung. An die Stelle des Engagements für die Aufhebung von Gewalt tritt die Erklärung, warum sie so sein müsse. Einige Verhaltensforscher treffen sich mit einigen Theologen darin, daß sie Gewalt für naturgegeben erklären. Rasch wird eine solche Lehre zur Legitimation bestehender Gewaltverhältnisse. Faktisch stützen sie das „Recht” des Stärkeren; dem Opfer bleibt die Einsicht der Notwendigkeit und die Resignation. Aber führt nicht auch die geschichtliche Erfahrung fast ausnahmslos zur Lähmung angesichts der faktischen Gewaltgeschichte, in der die Überwindung von Gewaltverhältnissen in der Regel zur Etablierung neuer, meist schlimmerer, führte, und in der die gewaltsame Erzwingung des Himmels auf Erden in aller Regel zu Verhältnissen führte, die der Vorstellung der Hölle näherkommen? Der Fortschritt der menschlichen Fähigkeiten hat nicht zur Minimierung, sondern zur Perfektionierung von Gewalt geführt. “Wie steht es schließlich mit der Moral einer Gesellschaft, die einen terroristischen Anschlag als Angriff auf ihren Bestand ansieht und sich gleichzeitig mit jährlich etwa 15.000 Verkehrstoten (zynisch, zugleich entlarvend spricht man von „Opfern”) und 19 ebenso vielen Selbsttötungen ... ohne Identitätsprobleme abfindet? Wie steht es mit einer Gesellschaft, die über Geschwindigkeitsbeschränkungen unter dem Aspekt der Ölverknappung sehr viel, unter dem Aspekt der Verminderung von tödlichen Unfällen fast gar nicht nachdenkt? Wie steht es mit der Moral einer Politik, die Gewalt ächtet und zugleich mit Dutzenden von Terrorregimen paktiert?”, fragt J. Ebach (für Deutschland). Solche Fragen lassen sich zu einer endlosen Kette aneinanderreihen. Aber wie steht es mit den Antworten? Es scheint nur eine Alternative zu geben: auf der einen Seite stehen Resignation, Pessimismus, Nihilismus - auf der anderen Seite die große Weigerung, die Aufforderung zum Auszug aus dieser Gesellschaft und ihren Spielregeln. Tertium non datur? Gibt es jenseits dieser Alternative Möglichkeiten der Praxis? Und kann die biblische Rede von Gewalt und Gewaltfreiheit etwas zu einer Antwort beitragen? Die Frage bleibt nahezu unbeantwortbar. Jedenfalls zeigt sie dem Versuch, die theologisch und ethisch „richtige” Antwort zu finden, seine Grenzen. Die Beseitigung jeder Form von Gewalt, der Kampf um die Menschenrechte usw. sind gewiß Ziele, für die zu kämpfen eine christliche Ethik fordert, wenn das Gebot der Nächstenliebe in der Konkretheit der Bibel nicht leeres Gerede sein soll. Doch ebenso wird das Gebot der Feindesliebe in Widerspruch geraten zu jeder gewaltsamen Aktion. Ich meine, daß dieser Gegensatz unaufhebbar und seine Betonung unaufgebbar ist, gerade weil die Rezeptionsgeschichte der Bibel zu viele faule Kompromisse zwischen diesen beiden Forderungen kennt. Ein solcher fauler Kompromiß, der beide Forderungen verrät, liegt z. B. in der Behauptung, man könne den Feind töten und ihn gleichzeitig als Mensch und Nächsten lieben - die Denkfigur der Inquisition (bzw. mancher Kriegstheologie). Eine andere Form, dieser Spannung zu entgehen, ist der Kreuzzugs-Mechanismus (das FeindbildDenken!), der dem „Anderen” das Menschsein bestreitet. Wie kann man aber die Spannung aushalten und handeln? Ist es eine Lösung, konsequent auf jede Gewalt zu verzichten? Gegen diese Lösung spricht nichts außer ihrer Unmöglichkeit in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben. Denn wer z.B. eine Befreiungsbewegung und ihre Gewalt nicht unterstützt, unterstützt die dortigen Machthaber und deren Gewalt. In der Weltgesellschaft ist Neutralität unmöglich geworden. Verzicht auf Veränderung ist Option für den jeweiligen status quo - Zaungäste gibt es nicht. In die Formen der strukturellen Gewalt, die sich z.B. in allen Elementen internationaler Wirtschaftsverflechtungen manifestiert, sind wir alle so verstrickt, daß eine Vermeidung von Komplizenschaft nur um den Preis des Auszugs aus der Gesellschaft möglich wäre. Fragen wir auf der Suche nach Kriterien weiters nach der Brauchbarkeit der Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt. Gewiß kann nicht der Zweck der 20 Gewalt über ihre Berechtigung entscheiden. So einleuchtend auf den ersten Blick dies sein mag, so sehr vermag gerade der Blick auf die Kirchengeschichte zu zeigen, zu welchen Folgen die Anerkennung dieses Maßstabs führen kann. Denn daß der Zweck die Mittel heilige, ist einer der Sätze, deren tatsächliche (nämlich mörderische!) Folgen in der Rezeptionsgeschichte der biblischen Rede von Gewalt zu studieren waren. Kein noch so guter Zweck kann böse Mittel heiligen, aber böse Mittel vermögen auch den besten Zweck zu pervertieren. Tatsächlich ist einzig die Gewalt legitim, die den Kreislauf der Gewalt durchbricht und beendet. Einzig auf den Abbruch der Geschichte der Gewalt ist zu hoffen. Auf je verschiedene Weise haben das AT, das NT und die Praxisentwürfe des Urchristentums eben dieses Ziel im Blick. Auf die Gewalt Jahwes als Ende der Gewalt aller bisherigen Machthaber richtet sich die (dankbare) Erfahrung des Exodus und ebenso die Erwartung der Propheten. Eben diese Gewalt manifestiert sich im Verhalten Jesu als Macht, die im Gewaltverzicht ihre wahre Stärke zeigt. In der zuversichtlichen Gewißheit dieser Macht richten sich die Praxisentwürfe der frühen Christen auf eine Praxis, die dem Kreislauf der Gewalt und den Spielregeln der Gewaltgesellschaft ihre Naturgesetzlichkeit bestreitet, indem sie mit der Weigerung, an ihnen Anteil zu haben, zugleich Elemente eines Lebens jenseits der Gewaltverhältnisse verbindet. Alles hängt davon ab, daß jene drei Arten des biblischen Umgangs mit der Gewalt nicht in drei getrennte Ebenen auseinander fallen. Zusammen und einander korrigierend halten sie die Einheit von Hoffnung, Gewißheit und Praxis fest: die Hoffnung auf das Ende der Gewalt, die Gewißheit, daß diese Hoffnung nicht grundlos ist, und die Praxis, die jene Hoffnung (wenigstens bruchstückhaft) zu realisieren beginnt. Gegenüber dem mythischen Kreislauf der vorhandenen Gewalt (W. Benjamin) ist diese Trias von Hoffnung, Gewißheit und Praxis ganz und gar unmythisch, sie ist allein real. Daß die Realität der Gewalt erkannt und weder verdrängt noch beschönigt wird, konnte als Ansatz des Umgangs mit den verschiedenen Formen von Gewalt in der Bibel ermittelt werden. Atl. Rede von Krieg und Gewalt verweist zudem auf den Zusammenhang von Rettung und Vernichtung, jene Dialektik, die Gewalt von je her auszeichnet. Dabei ist mit dem Realismus der atl. Texte ein Sich-Abfinden mit der Gewaltgesellschaft und ihren Strukturen nicht gegeben. Im Gegenteil: Die Kenntnisnahme der Gewaltstrukturen erweist sich als Voraussetzung ihrer Durchbrechung, letztlich ihrer Überwindung, die in Israel als Hoffnung formuliert wurde. Dieses Ergebnis der Betrachtung atl. Texte kann mehr sein als ein Stück historischer Rekonstruktion. Der in ihnen zu findende Umgang mit Gewalt kann zugleich der Ansatz sein, biblische Traditionen heute in praktischer (politischer, ethischer, ..) Absicht neu zu beerben. Nicht formale Frömmigkeit im Umgang mit der Bibel rät zu diesem Ansatz, sondern, daß die Verhältnisse in ihren Grundstrukturen 21 gegenüber der Gewalt die gleichen geblieben sind. Noch immer gilt, um Kolakowskis Hinweis noch einmal aufzugreifen, die „Relativität der Güte Gottes”, noch immer bedeutet Rettung für die einen Vernichtung für andere. Alles hängt schließlich daran, den Zusammenhang von Ziel und Mittel festzuhalten. Was seine Preisgabe bedeutet, zeigen die Stationen der Kirchengeschichte, von denen hier die Rede war. Biblische Texte, vor allem die Praxisentwürfe des Urchristentums, können die Dimensionen zeigen, in denen geträumt, gedacht, gehofft, gelebt werden kann. Die für heute konkreten Formen einer alternativen Praxis jenseits der Gewaltgesellschaft und doch in ihr müssen heute gefunden werden! Dabei gilt es, die eigenen Interessen offen zu nennen und für sie einzutreten (“jede Erkenntnis ist interessegeleitet”!), zugleich sie nicht für die einzigen zu halten und mit anderen zu vermitteln; schließlich gilt, in gegenwärtiger Praxis, im Leben unter den Bedingungen der bestehenden Gewaltstrukturen bruchstückhaft etwas von dem vorwegzunehmen, wie es einmal sein soll. Diesen Zusammenhang drückte ein Zeitgenosse Jesu, Rabbi Hillel, so aus: Wenn ich nicht für mich bin, wer sollte dann für mich sein? Und wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann? (Dieses Referat ist in wesentlichen Teilen eine Kompilation von J. Ebach, Das Erbe der Gewalt. Eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte, (GTB 378) Gütersloh 1980.