Kritik der eingereichten Papiere

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Kritik der eingereichten Papiere
Und Gedanken zur Sitzung vom 24.2.00, zum allgemeinen Vorgehen
1. Grundsätzliche Vorbermerkungen:
a) Auf dem Gebiet der Bio-Genetik tut sich in diesen Jahren vieles was die Existenzrechte und
Lebensqualität Behinderter – vor allem der sogenannten Nicht-Urteilsfähigen – gravierend
bedroht und beeinträchtigt. Gerade diesen akuten Themenkreis haben wir nicht bearbeitet.
b) Im Gegensatz zu den Papieren von Herrn Schneider sind alle anderen Arbeitspapiere innerhalb
von drei Tagen zu unserer Kenntnis gelangt. Es war schon zeitlich ausgeschlossen, die Inhalte
der Papiere gebührend mit Betroffenen zu diskutieren und im Detail kritisch anzuschauen. Die
AGG läuft Gefahr, Papiere als "in unserem Sinn" zu übergeben weil wir keine Zeit hatten, sie
kritisch zu prüfen - und andere als "noch nicht gut" zu verwerfen, weil wir die Zeit für eine
kritische Analyse gehabt haben.
c) Der Anspruch, irgendwelche Outputs unserer Arbeitsgruppe seinen demokratisch legitimiert
und daher repräsentativ für "die Behinderten" ist nicht aufrecht zu erhalten, so lange den
betroffenen Behinderten weder genügend Zeit noch demokratische Strukturen zur Verfügung
stehen, um sich nach eingehender Auseinandersetzung mit der Materie Urteile zu bilden.
Meinungsverschiedenheiten, die in dieser Phase "per Mehrheitsentscheid geklärt werden",
erscheinen spätestens in der Abstimmungskampagne wieder - wo sie dann echten Schaden
anrichten, weil sie unser Lager spalten können. Die in der Gruppe vertretenen Ansichten
repräsentieren m.E. eher ein Spektrum an Meinungen und sollten auch als solches vermittelt
werden.
d) Die Interessenlage der Menschen die ihren Lebensunterhalt mit der Betreuung Behinderter
verdienen ist nicht deckungsgleich mit jener der (betreuten) Behinderten – auch wenn viele
gerne diesen Eindruck erwecken würden.
Natürlich denkt der Bauer er sei der Interessenvertreter der Mastrinder. Das tägliche
Fütterungsritual im engen Stall überzeugt sogar viele Rinder. So lange sie als reine Sache
(Objekte) dem guten Willen des Bauern unterworfen sind und selber nicht zur Sprache kommen,
ist die Täuschung zu verstehen. Wildlebende Kühe würden wohl die Sache etwas anders sehen –
auch wenn viele von ihnen die Haustiere um den warmen Stall beneiden.
Unser Forum sollte sich nicht davor scheuen, immer wieder differenziert zu fragen: ist das nun
im Interesse der Bauern, der Hauskühe oder von zukünftigen, in ihren Rechten den Bauern
gleichgestellten freien Tieren. Demokratie ist nur unter Menschen mit gleich langen Spiessen
möglich. Die Interessen der Behinderten müssen schlussendlich von den Behinderten definiert
werden. Assistenz im Sinn der Ermächtigung ist sehr erwünscht (es gibt einfach viel zu wenig
geschulte Behinderte) – Hilfe im Sinne der Vereinnahmung nicht.
e) Unter dem Druck der unmöglichen Zeitvorgaben und unserem leider sehr schlechten
Vorbereitungsstand ist ein tragender Meinungsbildungsprozess zu detaillierten Textvorschlägen
etc. gar nicht möglich. Ich bin daher nach wie vor der Ansicht, dass wir das bisher erarbeitete
Material unter folgenden Vorbehalten übergeben: es reflektiert in der Themenbreite und
Unausgereiftheit (leider nur) den gegenwärtigen Stand der Diskussion unter den Behinderten keineswegs "von den Betroffenen getragene Forderungen". Jeder und jede kann jederzeit
weitere - auch gegenteilige - Forderungen einbringen die evtl. genauso gute Chancen haben,
legitim, sinnvoll und von den Betroffenen getragen zu sein.
f) Anhand der Subgruppen- und den Schneider- und Biedermann-Papieren wäre es m.E. aber jetzt
schon möglich, gewisse Grundprinzipien und Grundfragestellungen herauszuschälen und diese
Herrn Biedermann zu präsentieren - auch hier mit dem Vorbehalt, dass diese noch mit allen
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Kreisen von Betroffenen zu diskutieren sind. Ich füge unten einen ersten Entwurf für solche
Grundprinzipien zur allgemeinen Diskussion an.
g) Mein Antrag, unseren laufenden Prozess der Öffentlichkeit (per Internet) transparent zu machen
wurde hinausgeschoben - und damit die Möglichkeit verbaut, noch vor Übergabe an
Biedermann Input direkt aus Betroffenenkreisen zu erhalten. Das ZSL wird darum vorläufig nur
meine eigenen Eingaben und Kritik an den Papieren im Internet veröffentlichen, in der
Hoffnung damit wenigstens Interesse an den (hoffentlich nächstens) folgenden Arbeiten der
gesamten AG zu erwecken.
h) Damit sei auch schon gesagt, dass untenstehende Überlegungen auch für das ZSL noch nicht
repräsentativ sind: sie konnten aus zeitlichen Gründen noch nicht eingehend von unseren Leuten
überprüft werden. Die Eingaben, wie alles obige, reflektieren meine persönliche Meinung.
2. Entwurf Grundprinzipien:
a. Der von uns gewählte Behinderungsbegriff soll alle möglichen Behinderungsarten umfassen,
mit den internationalen Behinderungsdefinitionen (UN, WHO, Europa) bewusst verkoppelt sein
(um zukünftige Entwicklungen auf diesem Gebiet automatisch mitzuvollziehen), darf aber nicht
so abgehoben sein, dass er von der Bevölkerung und damit den Politikern nicht mehr verstanden
wird. Das ZSL schlägt vor, sich einerseits auf die Definition der ICIDH-1 (WHO) zu stützen.
Sie bestehend aus den drei grundlegenden Konzepten
 Schaden: d.h. die medizinisch, psychologisch etc. feststellbaren körperlichen, seelischen, und
geistigen Abweichungen von herkömmlichen Normvorstellungen
 (Funktions-) Beeinträchtigung d.h. was die Person nun an konkreten Aktionen nicht (mehr)
tun oder noch tun kann
 Behinderung, d.h. der beeinträchtigten Teilnahme an Gesellschaft und Aktivitäten etc.
Zusätzlich dazu sollen zwei Elemente aus der ADA-Erfahrung übernommen werden:
 Behinderung als Resultat "nicht dauerhafter" Schäden (Beispiel: Diskriminierung aufgrund
einer längst geheilten psychiatrischen Krankheit)
 Die "Vermutete aber nicht existierende Schädigung" (Beispiel: Diskriminierung aufgrund
eines durch einen Pigmentvariation "entstellten" Gesichtes.)
b) Die von uns angestrebte Gleichstellung soll umfassend sein und alle direkten und indirekten
Diskriminierungen beseitigen. Abweichungen von diesem Prinzip sollen als Ausnahme
deklariert, minimal vom Normalen abweichen, eindeutig zu rechtfertigen und zeitlich
beschränkt sein.
c) Damit ist auch gesagt, dass alle Behinderungsarten gleichermassen Anrecht auf Gleichstellung
haben – und Massnahmen nicht die eine Behinderungsursache einer anderen vorziehen dürfen.
d) Gleichstellung geschieht nicht "für die Behinderten" sondern ist wichtiges Anliegen der
demokratischen Gesellschaft schlechthin. Ihre Kosten dürfen darum keinesfalls den Opfern der
Diskriminierung (oder deren Organisationen) auferlegt werden, sondern sind von der gesamten
Gesellschaft gleichermassen zu tragen.
e) Dabei ist - z.B. bei finanziellen Ausgleichsmassnahmen - darauf zu achten, dass durch
Gleichstellungsmassnahmen nicht neue Diskriminierungen - z.B. durch einseitige hohe
Belastung - anderer Gruppen entstehen.
f) Gleichstellungsmassnahmen müssen immer so angelegt sein, dass sie die betroffenen
Behinderten weitmöglichst bemächtigen, frei, selbstbestimmt, eigenverantwortlich,
chancengleich und möglichst "normal" an allen Bereichen des Lebens teilzuhaben.
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g) Wo immer Sonderlösungen zum Zuge kommen, muss den Betroffenen (oder ihren gesetzlichen
Repräsentanten) echte Wahlfreiheit garantiert sein. D.h. Sonderlösungen müssen den
"Normallösungen" in allen Aspekten qualitativ ebenbürtig sein.
h) Mitleid, freiwillige Sach- und Tathilfe sowie Almosen sind probate Mittel zur Linderung von
kurzfristigen, unvorhersehbaren, aussergewöhnlichen Notsituationen. Als systematischer Ansatz
zur Linderung chronischer, systematischer Chancen-Ungleichheiten wirken sie diskriminierend,
weil sie das Machtgefälle und damit die Abhängigkeit zwischen dem Hilfebedürftigen und dem
"Helfer" zementieren.
i) Vollzug und Kontrolle sind genauso wichtig wie die Vorschriften selbst: Betroffene und ihre
Organisationen müssen wirksame Instrumente zur Sicherstellung ihrer Mitsprache bzw.
Kontrolle bei der Erarbeitung von Verordnungen, Normen, Ausführungsvorschriften und
Kontrollmechanismen erhalten.
j) Die Betroffenen erfüllen hiermit eine Aufgabe im Interesse der Gesellschaft (siehe c) und
müssen entsprechend gefördert werden; z.B. durch passende Strukturen (Beispiel
Behindertenrat Irland, betroffene Behindertenbeauftragte etc.) bzw. finanzielle Unterstützung.
Nachdem die Ziele gesetzt sind, einige Anforderungen an das „wie“:
k) Die Gleichstellung behinderter Menschen darf nicht andere rechtschaffene Menschen ins
Unglück stürzen. Untragbare, einseitige Belastungen sollen z.B. durch tolerante Fristen etc.
vermieden werden. ABER die volle Härte des Gesetzes soll jene treffen, die aus Eigensucht,
Intoleranz und Vorurteilen heraus das zumutbar Mögliche unterlassen oder verhindern: auch das
gehört zu einem klaren Anreizsystem.
l) Das Schirmgesetz soll nicht von heute auf morgen alles gut machen – das wäre unmöglich zu
erreichen. ABER es soll klar erkenntliche, in ihrer Stossrichtung irreversible, wirksame
Prozesse in Gang setzen, die uns unserem Ziel nicht am Sanktnimmerleinstag, sondern in
planbarer Zukunft entgegen bringen.
m) Klare Grundsätze sind wichtiger als einzelne, raffinierte Detaillösungen. Allzu filligrane
Lösungen können kontraproduktiv wirken wenn daraus Schlussfolgerungen auf andere,
sachfremde Bereiche übertragen werden.
n) Spezielle finanzielle Anreize (z.B. Steuererleichterungen etc.) sollen nur bei Übererfüllung zum
Tragen kommen.
o) Der Zweck von Sanktionen ist a) präventiv um Diskriminierungen zukünftig zu unterbinden und
b) die Geschädigten zu entschädigen. Sie müssen so angelegt werden, dass sie auch
kontrollierbar wirken bzw. so formuliert, dass sie bei fehlender Wirksamkeit verschärft werden
können.
p) Wem durch fahrlässige Nichtbeachtung des Gleichstellungsgedankens nachträglich Kosten zur
Einhaltung des Gesetzes entstehen (Beisp. SBB), soll diese nicht abwälzen können.
3. Thesen zur vertieften Diskussion:
1. Die Existenz einer speziellen Kasse, welche für "alle Belange" eines Bevölkerungssegmentes
zuständig sein soll, ist für dieses Segment diskriminierend und widerspricht den oben genannten
Grundprinzipien.
2. Die IV (oder eine andere, neue Behinderungs-Versicherung an ihrer Statt) soll - wie jede andere
Versicherung auch - nur jene Mehrkosten decken, die dem Geschädigten durch Behinderung
anfallen. Sie kann in eigener Entscheidung - wie jede andere Versicherung auch - im eigenen
Interesse öffentliche oder private präventive Massnahmen unterstützen, welche mit grosser
Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass langfristig weniger behinderungsbedingte Kosten
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entstehen (z.B. Aktionen gegen diskriminierende Gegebenheiten, spezielle, individuell
abgestimmte Eingliederungsmassnahmen).
3. Die Frage der Existenzsicherung (d.h. "normale Lebenshaltungskosten") von wegen
Behinderung erwerbsbeeinträchtigter Menschen soll im Zuge der Gleichstellung mittel- und
langfristig im Zusammenhang mit Erwerbslosigkeit allgemein gelöst werden.
4. Für diskriminierungsbedingte Mehrkosten (z.B. Transport- und Assistenzkosten wegen
fehlender Behindertengerechtigkeit) soll prinzipiell der Verursacher (z.B. Betreiber)
herangezogen werden, so dass langfristig die Anreize zur Abschaffung der diskriminierenden
Zustände richtig gesetzt sind. Andernfalls würde z.B. eine Gemeinde, die sich bemüht alle
Barrieren abzubauen, "bestraft" durch den Zuzug vieler (sowieso einkommensschwacher)
Behinderter.
Die Punkte 5. bis 8. betreffen Anliegen die uns vom ZSL besonders am Herzen liegen. Man
verzeihe mir bitte die Ausführlichkeit und Vehemenz. Ich bringe sie hier vorläufig - auch weil ich
die Papiere zur "Selbstvertretung" und zur "persönlichen Assistenz" noch nicht schreiben konnte.
5. Wo immer möglich sollen Unterstützungs- bzw. Ausgleichsmassnahmen die Betroffenen direkt
erreichen - um sie zu befähigen, ihre Selbstbestimmungsrechte und damit die Kontrolle über das
Preis/Leistungsverhältnis (Qualität) der benötigten Dienstleistung selbst auszuüben. Nur wenn
sie auch als gleichberechtigte Partner an den Verhandlungen um den Preis der Leistung
teilhaben (weil sie über das Geld verfügen können) werden die Betroffenen von abhängigen
Hilflosen zu selbst verantwortlichen Kunden. Das unterbindet gleichzeitig einige Möglichkeiten
der Dienstleister, die Finanzierer durch Druck auf die Empfänger gefügig zu machen.
6. Chancengleichheit ist undenkbar ohne Sicherstellung des Selbstbestimmungsrechtes.
Persönliche Assistenz im weitesten Sinn ist der wohl wichtigste Schlüssel dazu. Man versteht
darunter nicht nur physische Handreichungen an Stelle ausgefallener Körperfunktionen unter
der Anweisung eines körperlich behinderten Menschen, sondern ebenso z.B. die Lesehilfe für
Sehbehinderte, die Gebärden-Dolmetscherfunktion für Höhrbehinderte, Haushalthilfe für
Familien mit behinderten Kindern oder die Serviceleistungen auf dem Gebiet abstrakter
Entscheidungen welche heute unter dem Titel "begleitetes Wohnen" sehr erfolgreich geistig
Behinderten zur Verfügung stehen. Persönliche Assistenz unterscheidet sich von der
traditionellen "Hilfe" dadurch, dass die Betroffene Person in Arbeitgeberstellung bestimmt, wer,
was, wann, wo und wie an ihrer Statt durchführt: Selbstbestimmung.
Beide folgenden Punkte gehören eigentlich zu Papier "Schule" - haben aber Bedeutung darüber
hinaus. Ich habe sie deshalb hier, weiter oben, angesiedelt.
7. Chancengleichheit für behinderte Kinder bedingt den grosszügigen Ausgleich
behinderungsbedingter Belastungen ihrer Familie bzw. der erziehungsverantwortlichen
Erwachsenen. Um die Integration behinderter Kinder zu fördern, muss ihre tragende Umgebung
- auch aus volkswirtschaftlichen Überlegungen - massiv gefördert werden.
8. Die Frage ob Segregation oder Integration für die Behinderten besser oder schlechter sei, darf
auf keinen Fall nur auf der Dimension des Wohls der individuellen betroffenen Person - aus
Sicht ihrer BetreuerInnen !! – diskutiert werden (siehe Bauer und Kühe). Eine Segregation von
Menschen hat immer weitreichende moralische, volkswirtschaftliche, soziale und politische
Folgen, deren Preis wiederum die Betroffenen als Gesamtheit bezahlen:
a) Die natürlichen, dezentralen Kräfte vor Ort (z.B. Familie) werden, meist nachdem sie
wegen „Überbewirtschaftung“ zusammengebrochen sind, vollkommen und permanent
ausgeschaltet und durch künstliche, teure, zentralisierte und letztlich am Stigma
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b)
c)
d)
e)
verdienende Kräfte ersetzt. Auch letzteres bildet einen Wirtschaftszweig der danach
strebt zu wachsen. Die Kosten bezahlen „Armenkasse“ (in unserem Fall die IV) und
Allgemeinheit – was ihre Einsatzbereitschaft für Wichtigeres entscheidend einschränkt,
sowie Almosen welche wiederum nur über die Stigmatisierung einzutreiben sind.
Eines lässt sich nun mal in der Segregation nicht lernen und üben: sich in der offenen
Gesellschaft durchzusetzen. So erzeugt Segregation die Hilflosigkeit die zu lindern sie
vorgibt.
Die Sonderbehandlung mach aus Gleichwertigen Minderwertige. Der Bundesrat hat in
der Frage der Segregation ausländischer Schulkinder klare Sprache gesprochen: sie sei
zu verbieten, weil sie den Menschenrechten widerspricht. Das, obwohl man natürlich
zeigen kann, dass auch individuelle ausländische Kinder von einer Segregation
kurzfristig profitiert hätten. Das staatspolitische Interesse einer Integration aller ist höher
einzustufen als das individuelle Interesse an einer maximal den individuellen
Fähigkeiten entsprechende Schulbildung.
Bei limitierten Ressourcen (glaubt man den Politikern, so sind sie das im Sozialbereich)
ist schlussendlich jeder Franken, der in die Integration fliesst, einer, der in der
Segregation fehlt – und umgekehrt. Es handelt sich also auch bei dieser „fachlichen“
Diskussion um einen Kampf um Ressourcen.
Am gewichtigsten aber scheint mir das Argument, dass die Segregation auch nachteilige
Folgen für die nicht ausgesonderten Menschen hat - zum Beispiel in Bezug auf die
Entwicklung ihrer sozialen und moralischen Normen. Untersuchungen von Prof. Schley
(Institut für Sonderpädagogik, Uni Zürich) über integrative Schulmodelle in Hamburg
weisen darauf hin, dass die Atmosphäre in integrierten Schulklassen einen qualitativen
Quantensprung macht: die Kinder lernen anderes Sozialverhalten, andere
Wertvorstellungen auch gegenüber sich selber, eigenen Schwächen und
Unzulänglichkeiten, wobei das Lernniveau - anders als vom Vorurteil prognostiziert steigt nicht sinkt.
Die These, dass segregative Schulung zum heute verbreiteten Gesundheitswahn beiträgt,
liegt nahe. Jener wiederum erschwert die Akkzeptanz behinderter und chronisch Kranker
Menschen. Behindertenfreie Schulen fördern behinderten-phobische spätere Arbeitgeber,
Schulleiter, Mitarbeiter und verbauen zukünftigen Eltern die Chance zu lernen, dass ein
behindertes Kind auch glücklich sein kann, bzw. dass es Alternativen zu Abtreibung und
Segregation gibt.
Jede individuelle Segregation (so posititiv sie auch für den Einzelfall sein mag) schädigt so
im Endeffekt wiederum das Kollektiv der Behinderten.
Daraus sei ums Himmels Willen nicht zu schliessen, dass das individuelle Wohl (einer
behinderten Person) automatisch dem kollektiven Wohl aller Behinderten unterzuordnen
sei.. Wo beide möglichen Lösungen des Dilemmas falsch sind, ist das Dilemma falsch.
„Sonderschule-Regelschule“ als Gegensatzpaar zu verstehen ist ein falscher Ansatz. Regelund Sonderschule müssen wieder eins werden: in der Regelschule muss jedes Kind
sonderbetreut werden - oder: öffnet die Sonderschule für alle Kinder !
Niemand hat das Recht zu entscheiden was für andere Menschen gut sei – vor allem dann
nicht, wenn die andern durch seine Entscheidung von ihm abhängig werden. Ob eine Person
in ihrer vertrauten Umgebung oder lieber ausserhalb – unter „ihresgleichen“ - leben will,
kann nur diese Person individuell für sich entscheiden. Die Entscheidung hängt wohl vor
allem davon ab, in welcher Umgebung die Existenz als ganze Person überhaupt gesichert ist.
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9. Die Frage, ob wir „Bürgerrechte im amerikanischen Stil" oder die „totale Sozialversicherung
nach dem schwedischen Modell" wollen, beschäftigt Behindertenorganisationen und aktive
Betroffene seit Jahren. Unseres Erachtens ist das ein weiteres Pseudo-Dilemma das mehr mit
dem traditionellen, festgefahrenen politischen Links-Rechts-Denken, und damit mit der
Wahrung traditioneller Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, als mit der behinderten
Wirklichkeit zu tun hat.
Die Frage ist im veralteten Behindertenbild befangen, wonach eben „die Invaliden“ keine
echten Bürgerinnen und Bürger seien, spezielle Bedürfnisse hätten und darum einer
gesonderten, „ihren Bedürfnissen entsprechenden“ parallelen Rechtsprechung bedürften. Alle
Menschen mit oder ohne Behinderungen haben aber prinzipiell die selben Bedürfnisse: trinken,
essen, schlafen, wachsen, eliminieren, sich vermehren, Wärme, Sicherheit, Liebe, Teilhabe....
Die „besonderen Bedürfnisse der Behinderten“ sind Resultat nicht Ursache: sie entstehen
überall dort, wo an der Wirklichkeit vorbei, d.h. für den perfekten Idealmenschen in unseren
Köpfen, statt für den normalsterblichen, eben imperfekten Menschen, geplant und gebaut wird.
Wenn beispielsweise ein Fahrzeug so gebaut ist, dass nur Gesunde, Starke, Intelligente es
benutzen können, wird damit ca. die Hälfte der Menschheit ausgegrenzt. Ihre völlig normalen
Bedürfnisse werden nicht berücksichtigt, und erscheinen nun halt in der Rubrik „spezielle
Bedürfnisse der ..."
Die Lösung ist so offensichtlich wie das Dilemma falsch: wir wollen die totale,
uneingeschränkte Chancengleichheit – sowohl was die bürgerlichen Rechte als auch was die
soziale Sicherheit anbelangt. Wir wollen keine Versicherung, die “für die Behinderten zuständig
ist“ - keine Invalidenversicherung – sondern eine Versicherung gegen das (statistische,
finanzielle) Behinderungsrisiko aller Menschen. Eine Versicherung die uns alle fair und
gleichberechtigt gegen das Risiko finanzieller Mehrkosten durch den Eintritt eines Schadens
absichert. Sie soll sozial in dem Sinne sein, dass die Kosten der Versicherung gerecht auf alle –
Arme und Reiche – verteilt werden. Gleichzeitig und in logischer Ergänzung dazu, wollen wir
eine Gesellschaft die Menschen mit Behinderungen vollumfänglich als vollwertige Bürgerinnen
und Bürger in die Planung ihrer Strukturen – in die Normalität – mit einbezieht und so die durch
einen Schaden verursachten Konsequenzen auf ein Minimum beschränkt.
Ganz einfach wird der Übergang dazu auch für Betroffene nicht sein: gewisse Privilegien die
wir und vor allem die für uns zuständigen Organisationen über die Jahre kraft unserer Rolle als
"bedürftige Hilfsempfänger" erstritten haben – trojanische Pferde, denn jedes Privileg wurde mit
einer weiteren Erniedrigung erkauft – werden gestrichen und durch DiskriminierungsEntschädigungen ersetzt werden müssen. Beispielsweise erhalten heute IV-Rentner stark
verbilligte SBB-Generalabos: nicht etwa auf Grund der allgemeinen Diskriminierung
Behinderter im SBB-Leistungsangebot (ein Rollifahrer kann z.B. nur 100 von 600 Bahnhöfen
benutzen) sondern basierend auf der Logik, dass IV-Rentner arm sind. Einem
Schwerbehinderten der keine Rente bezieht, steht die "Verbilligung" - trotz massiv
eingeschränkter Nützlichkeit - nicht zu.
Der Umbauprozess birgt Risiken: es ist immer einfacher, anderen Bestehendes zu nehmen, als
Neues zu geben. Aber ohne diese Risiken keine Gleichstellung. Es ist also keineswegs
überraschend, dass viele Behinderten ihrer Emanzipation mit Skepsis begegnen.
Klar ist, dass unsere professionellen BetreuerInnen – als allseits anerkannte WohltäterInnen – an
unseren Privilegien, vor allem dem Mitleidsbonus, teilhabend, ohne die damit verbundene
Entwürdigung an ihrem eigenen Leib tragen zu müssen – der Gleichstellung mit gemischten
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Gefühlen begegnen. Offener Widerstand wäre ihrem Status allerdings sehr abträglich. Wenn die
Behinderten einmal Respekt statt Mitleid, Teilhabe statt Sonderstatus erreicht haben, werden
unsere „HelferInnen“ ihren Nimbus verlieren und zu ganz gewöhnlichen DienstleisterInnen.
Auch das ist ein teurer aber unvermeidlicher Preis für gleiche Rechte.
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4. Kritik der bestehenden Papiere:
Allgemein:
1. die Perspektiven der subjektorientierten Unterstützungen, im speziellen der persönlichen
Assistenz werden zuwenig beachtet.
2. Der Wichtigkeit von Mitsprache- und Kontrollmechanismen durch die Betroffenen selbst wird
allgemein zuwenig Gewicht beigemessen. Insbesondere fehlen Überlegungen wie diese
Mitsprache- und Kontrollaufgabe finanziert wird.
Aus- Fort- Weiterbildung
Der Bericht ist noch zu wenig vollständig um ihn kritisieren zu können.
Die ganze Frage der Weiterbildung im Berufsleben vor allem in privaten Ausbildungszentren über
den Arbeitgeber (Zusammenhang mit Subgruppe "berufliche Integration") fehlt überhaupt, ist aber
von zentraler Bedeutung wenn man bedenkt, dass es bald keine Berufe im Sinne einer lebenslangen
Beschäftigung mehr geben wird.
 Learning by doing
 Coaching (statt Voraus-Anforderungen)
 Teilhabe an karrierefördernden, ausserberuflichen Veranstaltungen (Beispiel: Militärischer Grad
etc.)
 Integrative Berufs- und Karriereberatung etc.
 Persönliche Assistenz in der Ausbilung
Survol de la réglementation...matière des quotas...
Ich muss mich entschuldigen: Meine Französischkenntnisse sind zu rudimentär um diesen Text
genau zu verstehen bzw. zu kommentieren. Prinzipiell meine ich, wir müssten grundsätzlich
diskutieren ob wir den Bürgerrechtsansatz (d.h. Bestrafung von "unanständigem" weil nachweisbar
diskriminierndem Verhalten) oder eine Form der Quotenregelungen - mit der darin versteckten
Unterbewertung Behinderter - den Vorrang geben. Dies getan wird das Papier Adriano Prévitali
wichtige Hinweise zu gesetzlichen Realisierungsmöglichkeiten beinhalten.
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Öffentlicher Verkehr:
Es fehlen verschiedene wichtige Transportmittel: Flugzeuge !, Trams, Schiffe, Untergrundbahnen
(Liftanlagen), Taxi, Seilbahnen etc.
Art. 3 - "Autonome Benützung" muss Teil des Grundsatzes sein. Die Ausnahmeregelung in Abs. 2
ist als vorläufige Notlösung zu kennzeichnen: Wo aus technischen Gründen für bestimmte
Vorgänge NOCH Assistenz durch Drittpersonen..... Diese Ausnahmesituation muss genügend
begründet werden und darf nicht als Vorwand für fehlende technische Verbesserungen dienen
("state of the art - Argument")
Bei der Regulierung der Fahrtarife werden immer wieder die Möglichkeit von
Mehrfahrtenabonementen sowie die dem Behinderten entstehenden Mehraufwände durch die
speziellen Bestellungsmechanismen vergessen
Art. 5
Die Betreiber öffentlicher Transportsysteme rechnen mit langer Lebensdauer (25 Jahre) ihrer
Vehikel. Eine Frist von 10 Jahren scheint mir zu kurz (grosser Widerstand) - könnte aber aus
taktischen Gründen (Manipulationsmasse) stehen bleiben. Grundsätzlich fände ich es richtig, die
Frist knapp unter die "natürliche Lebensdauer des Fahrzeugs" (also z.B. 20 Jahre) zu setzen.
Art. 6 :
Abs 1: Wo NOCH nicht durchgehend... GLEICHWERTIGES Ersatzangebot !
Abs 2: Abos ? Im übrigen tragen die Kantone, bzw. die Betreiber des öffentlichen
Verkehrsmittels....
Art. 7:
Inklusive Assistenzhunde und andere Assistenztiere. Blindenhunde sind oftmals anerkannt aber
Hunde und andere Tiere (Beispiel Äffchen) mit ähnlich gelagerten Assistenzaufgaben sind
ausgeschlossen. Regelung offen halten !
Art. 8:
Abs 1 streichen, wird auf Gesamtumsatz gelagert, Abs. 2 daher unnötig. Abs 3 eventuell: was ist
mit der Privatisierung ! Umlagern der Kosten auf alle Fahrgäste. Niemand bezahlt die Betreiber für
andere Spezialgruppen wie Raucherabteile, Vieh- oder Beton-Transportwagen.
Art. 9
Abs 2: Das Bundesamt In Zusammenarbeit mit Vertretern der Betroffenen
Abs 3: Sanktionen, Begrenzung der Frist ? Kontrolle der Wirksamkeit ?
Was soll die Kartellbegrenzung in Abs 6 ? Geschützte Arbeitsplätze für Verbandsveteranen ? Die
Kompetenz, nicht das Alter muss ausschlaggebend sein.
Zum Kommentar:
Allgemein
a) Eisenbahn, Bus, TRAM, FLUGZEUG, SCHIFF etc. etc.)
a) von der Verwaltung UND DEN BETROFFENEN
Art. 3: Nein, autonom heisst Autonom. Gewisse Behinderte sind (noch) nicht autonom - z.B. weil
sie nicht so trainiert sind, oder weil die Gegebenheiten das noch nicht zulassen. Hier soll vor allem
persönliche Assistenz möglich sein - nicht aber das Zugpersonal in "Betreuer-Funktion". Aus
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solchen bequemen Fehlplanungen werden nämlich sonst wieder Legitimationen für exorbitante
Lohnforderungen und geschützte Arbeitsplätze für Nichtbehinderte. Beispiele SBB oder BTZ
Zürich.
Menschen haben gerne andere um sich (zum plaudern und so) - aber sie wollen nicht von
Hilfestellungen Dritter abhängig sein.
3ter Abschnitt: Hilfe NOCH unumgänglich. Finanzieller Anreiz falsch gesetzt - führt zu
"Einsparungen" bei der Planung.
Art 4: Vergessen: Mitarbeit der Betroffenen
Art 5: Fristen müssen auch einen Bezug zur Grösse der Kosten haben (siehe Bemerkungen Marylin
Golden: im Vergleich zum Gesamtbudget einer SBB fallen gewisse kleine Verbesserungen gar
nicht ins Gewicht.)
Art. 6: Abonnemente und Zusatzaufwendungen der Betroffenen bei Sonderangeboten wieder
vergessen. Die BFD müssen nicht nur zum selben Preis, sondern auch in gleichwertiger Qualität
(Frequenz, Bestelldauer etc.) angeboten werden.
Art. 8: Mindestens der Kommentar sollte zur Frage Stellung nehmen, dass einige der Kosten durch
die Betreiber selbst verursacht werden, weil sie in der Planung die Bedürfnisse Behinderter (die
Forderung ist seit mehr als 20 Jahren bekannt) bewusst ausgeklammert, also bewusst diskriminiert
haben.
Art. 9: Vergessen: Bei den Frauen wurden spezielle Vorkehrungen (finanzielle Unterstützung)
getroffen, damit sie Kontrollen und Korrekturen ausüben können. Bei den KonsumentInnen wird
das im Moment gerade bewusst abgebaut. Wir müssen das sicherstellen, sonst werden die
Beh'organisatioen überfordert sein ! Eine mögliche Lösung ist, die Kontrollfunktion über
Sanktionsgelder zu finanzieren (auch im ADA).
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Gleichstellung der Geschlechter
Eine Gruppe von Frauen im ZSL hat den Vorschlag, die geschlechtliche Gleichstellung separat von
jener der Gleichstellung der Behinderten zu behandeln diskutiert. Sie erweitert den Vorschlag aus
folgende Gründen:
 Die Frauenbewegung habe sich was die behinderten Frauen anbetrifft nicht weniger
diskriminierend verhalten als die allgemeine Gesellschaft. Von Frauen ins Leben gerufene
spezifische Angebote zur Förderung der Gleichstellung sind fast durchgehend nicht
behindertentauglich. Wiederholte Hinweise von behinderten Frauen haben immer viel Mitgefühl
aber keinen Wandel ausgelöst.
 Die Interaktionen von der Diskriminierung durch eine Behinderung und jener durch das
GEschlecht sind von nicht behinderten Frauen gar nicht erfassbar. Man muss es am eigenen
Leib erfahren haben.
 Es wäre erforderlich dass die Frauenbewegung behinderte Expertinnen als Behinderten-Gleichstellungsbeauftragte einstellt genauso, wie die Behindertenbewegung Beauftragte in Sachen
geschlechtlicher Gleichstellung benötigt. Nur mit einer solchen Doppelstrategie wäre auch der
doppelten Diskriminierung beizukommen.
Themen zur Beachtung
 Beauftragte für Geschlechtergleichstellung in den grossen Behindertenorganisationen
 Beauftragte für Behindertengleichstellung in den Frauenorganisationen
 Recht auf Sexualität, Nachwuchs, Familie (Art 41. BV), Ausübung elterlicher Pflichten
(inkl. Anerkennung des Assistenzbedarfs zur Ausübung dieser Aktivitäten).
 Schutz vor Zwangssterilisation, medizinischen Eingriffen, "entmutterung"
 Rechte behinderter Mütter in Scheidungsfällen (Erziehungsberechtigung, finanzielle
Sicherung etc.)
 Zugang zu Gleichstellungsaktivitäten (der Geschlechter), Lokalen und Leistungen
 Schutz vor sexueller Gewalt
 Arbeitsplätze, Ausbildung Weiterbildung
 Gleichwertige Anerkennung der Frauenarbeit bezgl. Versicherungen (IV etc.)
 Zugang zu medizinischen Leistungen (Arztpraxen, Gebärspital, Gynäkologe,
Verhütungsmittel, ästhetischen Therapien auf Krankenkasse)
 Recht auf Intimsphäre (z.B. persönliche Assistenz)
 Nicht vergessen: Mütter behinderter Kinder und Situation behinderter Eltern.
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Schule, Ausbildung
Grundsätzlich
Das detaillierte Papier enthält ansatzweise gute Argumente für eine Integration, wirkt aber in seiner
Gesamtheit vor allem als starkes Plädoyer für die Erhaltung der (segregativen)
Sonderschulungsmassnahmen. Die integrative Schulung wird als „zwar sehr wünschbar aber nur
unter der Bedingung dass die segregative dadurch nicht gefährdet ist“ behandelt. Das ist vom
Ansatz her falsch (siehe These „Integration – Segregation“). Die gesamtgesellschaftlichen Aspekte
der Segregation von Kindern, ebenso wie die für eine wirkungsvolle Integration notwendigen
Stützmassnahmen der unmittelbaren Umgebung des Kindes (Eltern, Familie, Nachbarschaft) sind
vollkommen ausgeklammert. Im Gegenteil, in einigen Passagen schwingt sich das Papier auf zum
Sprachrohr der Eltern behinderter Kinder – in der Verteidigung der Rechtmässigkeit der
Segregation.
Bei allem tiefen Verständnis für die Lage von Eltern behinderter Kinder ist festzuhalten, dass
unsere Arbeitsgruppe den Auftrag hat, für die Gleichstellung Behinderter zu kämpfen – und nicht,
die Interessen anderer Gruppierungen zu fördern, mögen diese in sich selbst auch noch so
beachtenswert sein.
Analysiert man diese Interessenkonflikte, so wird schnell klar, dass die Gegensätze kleiner als
erwartet, aber mit anderen als den vorgeschlagenen Mitteln zu lösen sind:
 so lange das ganze Gewicht der Integration behinderter Kinder auf die Schultern von (Klein-)
Familien gelegt wird,
 sie im Namen einer Mythologie der familiären Verpflichtungen all jene Diskriminierungen der
Behinderten mit-auslöffeln müssen,
 ohne dafür etwa Lohn oder Dank zu bekommen, sondern, im Gegenteil, selbst diskriminiert
werden,
 so lange Eltern selbst Behinderte nur als jene hilflosen, von Mitleid und Almosen zehrenden,
weitgehend segregiert am Rande der Gesellschaft lebenden Wesen, wie sie in den
Bettelaktionen der „wohltätigen Organisationen“ dargestellt werden, kennen gelernt haben und
keine positiven Rollenmodelle in ihrer Umgebung kennen, weil auch die anderen behinderten
Kinder segregiert werden
 so lange Segregation die Regel und Integration die schwer umkämpfte (seit Jahrzehnten immer
von neuem als „Pilotprojekt“ sozusagen neu erfundene) Ausnahme darstellt
verwundert keineswegs, dass die meisten Eltern diesem extremen Druck – mit grossen
Schuldgefühlen und extremen Schmerzen – nachgeben. Dass sie ihr eigenes Verhalten im
Nachhinein mit dem „Wohl des Kindes“ legitimieren – eine von allen (nicht ganz uninteressierten)
Fachkräften gern bereit gestellte, weil unbeweisbare faule Ausrede – ist mehr als verständlich. Man
will irgendwann in der Nacht auch wieder ruhig schlafen können.
Die Lösung des Problems kann nicht sein, das Bestehende weiterhin zu sichern und erst in zweiter
Linie Neues "pilotstudienmässig" zu testen „wenn noch was von den Ressourcen übrig bleibt". Die
Lösung heisst: Eltern behinderter Kinder haben ein ganz grosses Anrecht darauf, für ihre integrative
Leistung (zum Wohl der Gesellschaft !) massiv gefördert zu werden.
Spezifisch:
Spielgruppen:
Kinder behinderter Eltern sind ebenfalls ausgeschlossen
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Abs 3: die heilpädagogische Früherziehung ist für SCHWERbehinderte MEIST gesichert. Es gibt
u.E. EINDEUTIG aber nicht Schwerbehinderte für die's nicht so ist. Die evtl. notwendige Assistenz
für die Eltern ist dabei NICHT gesichert.
Forderungen:
(2) Wir fordern mehr als nur "Integrative Projekte": die Integration muss Regel, die Segregation
Ausnahme werden.
Schule:
Abs 1: Die baulichen Barrieren wirken SYSTEMATISCH diskriminierend. Wiederum fehlt die
Umkehrung der "Beweislast": heute müssen Eltern springen, überzeugen, organisieren, überreden
etc. damit die Schule Barrieren abbaut. Man könnte das handhaben wie bei Erwachsenen bei der
beruflichen Integration: die Schule ist automatisch und ohne spezielle Aufforderung
VERPFLICHTET behinderte Kinder aufzunehmen, die IV zahlt die Anpassungsosten dann wenn a)
ein behindertes Kind "anfällt" und b) die Schule den Mehraufwand nicht durch gute Planung (z.B.
bei einem grösseren Umbau) hätte vermeiden können.
Abs.2: die "partielle Unterstützung integrativer Schulung" ist völlig ungenügend. Wiederum fehlt
Umkehrung der Logik. Integration muss nicht HÄUFIGER geschehen, sondern DIE REGEL
werden. Ausserdem nimmt die IV-Politik groteske Formen an: sie bezahlt bestenfalls TEURE
SonderpädagogInnen zur Unterstützung eines behinderten Kindes, wo oftmals eine günstige
Assistenz aus der Nachbarschaft vollauf genügen würde - für letzteres fehlt aber das Regulativ (weil
eben immer noch vom Normalfall Sonderschule ausgegangen wird).
(Das alles wird zwar unten in der Liste gesagt - wirkt aber widersprüchlich, wenn's oben in der
Einleitung so "verständnisvoll kaschiert" wird)
Liste (Seite 2):
Assistenz nicht nur für Toilette und Zimmerwechsel - z.B. bei Kommunikationsbehinderungen oder
Lähmungen der Hände auch im Schulunterricht.
Punkt 3 Seite 3: Es fehlt ein Punkt zur Elternunterstützung. Eltern wiederum tendieren dazu ihr
Kind selbst nicht für integrationsfähig zu halten, weil sie nie Kontakt z.B. mit Behinderten gehabt
haben, als sie selbst zur Schule gingen. Hier ist auch massive Aufklärungsarbeit seitens der IV nötig
- bzw. nur eine "Umkehrung des Druckes" wird Wirkungen zeigen. Solange die Beweislast der
Integration bei den Eltern liegt werden solche Vorurteile auch der Eltern den Ausschlag geben.
Punkt 4 Seite 3: Die Teilintegration ("getrennt unter gleichem Dach") funktioniert unseres
Erachtens nicht - ja kann sogar noch schlimmer als die Totalsegregation wirken. (Siehe dazu auch
die wissenschaftlichen Arbeiten von Prof. Schönwiese, Innsbruck): die behinderten Kinder erleben
die volle Wucht der Stigmatisierung (als "Tubeli vom Schulhaus") - ohne dass die entgegengesetzte
Kraft der Übernahme von Mitverantwortung durch (unbehinderte) MitschülerInnen zum Tragen
kommt. Teil-Integration ist ein Kompromiss der die halbherzige Identifikation mit dem
Integrationsgedanken sinnbildlich darstellt - und den (unbehinderten) Kindern klar macht, das die
Erwachsenen nicht wirklich dran glauben.
Forderungen (Seite 4):
1: behinderungsbedingte Mehrkosten die nicht durch integrative Planung vermeidbar wären, sind...
(Verursacher von behinderungsbedingten Mehrkosten z.B. durch unmenschliche Bauplanung sollen
die von ihnen verursachten Mehrkosten berappen).
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2: Es muss eine GLEICHWERTIGE Wahlmöglichkeit...Integrative Schulungsformen müssen zur
Regel, segregative zur Ausnahme...
3 neu: Schul-Angebote die sich an Eltern richten müssen auch behinderten Eltern vollständig und
gleichwertig zugänglich gemacht werden (Barrieren, Gebärdensprache, Materialien auf
Tonkassetten, einfache Sprache für geistig behinderte Eltern etc.)
4. neu: Familien mit behinderten Kindern müssen entsprechend unterstützt werden damit sie trotz
Mehrbelastung die integrative Schulung ihrerseits unterstützen können
5. (alt 3): Die durch... muss SICHERGESTELLT sein
Massnahmen:
Liste ergänzen durch oben eingefügte Zusätze wie Familienunterstützung, Assistenz für Familie und
Kind, Umkehrung des Ansatzes der IV, Klare Vorschriften für Schulbehörden etc. etc.)
Die letzen beiden Punkte umformulieren - wir müssen endlich das "Pilotstudienstadium" verlassen
und die Integration zur Regel machen.
Bundesgetzgebung:
1. Ebenso relevant sind BV 41, Absatz a und c: die Integrität der Familie - das Recht behinderter
Kinder in ihrer angestammten Umgebung ("artgerecht") aufzuwachsen - das Recht z.B.
behinderter Eltern auf Teilhabe und Unterstützung ihrer familiären Rolle etc.
2. IVG. Totale Umkehrung des Ansatzes: Integration als Regel (inkl. Assistenz,
Elternunterstützung etc.) - Segregation als Ausnahme
Finanzierung der Assistenz
Die Frage, wie verhindert werden soll dass z.T. bedeutend progressivere kantonale Ansätze
(Beispiel Kanton Tessin im Gegensatz zu Kanton Basel-Stdt) nicht durch "laue"
Bundesgesetzgebung gefährdet wird ist nicht behandelt.
Erläuterungen:
1. Die Integration-Segregation kann nicht nur vom Gesichtspunkt des Wohls des behinderten
Kindes und seiner Familie aus betrachtet werden (siehe Grundsätzliches am Anfang dieser
Kritik). Eine ethische Frage.
2. Die Spekulationen über die Zufriedenheit der Eltern im gegenwärtigen System sind reiner
Werbespot für die segregative Schulung - unbeweisbar, da nur sehr massive Veränderungen
desSystems echte Alternative böten etc. Den Gesetzgeber würde das nur durcheinander bringen:
was wollen die eigentlich ? WEGLASSEN
3. und 4. sind akzeptabel - unter der Bedingung, dass obige Kritik eingebaut wird
Inhalte (Kasten Seite 6):
Abs 2: ..gemeinsam mit anderen AUCH Nicht-BEHINDERTEN Kindern....
Abs 2 und 3: Alter 18 ist zu spät - wir schlagen 14, 15 oder 16 vor
Abs 5, Punkt 1: Betreuung ganz streichen und durch "Assistenz"ersetzen
Wiederum zufügen:
- Integration Regel, Segregation (zu begründende) Ausnahme
- Zugänglichkeit ausserschulischer Angebote für behinderte Kinder, behinderte Eltern und deren
Kinder
Anmerkung Abs.2 Seite 7: Dieser Absatz gehört zentral in die Überlegungen zum Bundesgesetz,
das fasst zusammen was dort MINIMALST geregelt werden muss.
Anmerkungen zur Revision IVG (Seite 8):
Redaktionell mit Punkt 2(Revision des IVG) auf Seite 5 zusammenfassen - obige Kritik gilt auch
für die Punkte auf dieser Seite.
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Kommunikation
Allgemein
1. Das Papier richtet sich sehr stark nach den bestehende Denkmodellen des IVG. Das mag
pragmatisch sein, wird aber der Sache eines Gleichstellungsgesetzes nicht gerecht. So wird zum
Beispiel der Begriff "Tätigkeit im Aufgabenbereich" unbesehen übernommen ohne zu fragen
welche Auswirkungen diese Frauen diskriminierende Begrifflichkeit z.B. im Bereich der (z.B.
weiblichen) Kommunikationsbehinderungen auslöst. Unsere Aufgabe ist ja nicht, das IVG zu
reparieren (auch das wäre eine Lebensbeschäftigung) sondern ein diesem übergeordnetes
Gleichstellungsgesetz zu skizzieren, welches auf das IVG positive Auswirkungen hat. Natürlich
kann man dann auch IVG-Änderungen vorschlagen - diese müssen aber die gegenwärtige auf
das veraltete Behindertenbild abstützende IVG-Begrifflichkeit mit Hilfe des
Gleichheitsgedankens transzendieren.
2. Den wiederkehrenden Kostenüberlegungen (immer wieder aus der begrenzenden Sicht des
bestehenden IVG) sind einerseits Fristenlösungen (z.B. Videotheken müssen innerhalb von 10
Jahren ein gleichwertiges Angebot bereitstellen - was mit den Möglichkeiten des DVD und der
relativ kurzen Lauffristen von populären Filmen realistisch scheint) und anderseits der
volkswirtschaftliche Nutzen der Integration kommunikationsbehinderter Menschen entgegen zu
stellen.
3. Ganz fehlen im Papier die übrigen Kommunikationsbehinderungen wie z.B. Aphasien,
Dislexien, Legasthenie etc. die z.B. in der Folge einer zerebralen Lähmung (CP) häufig
zusammen mit weiteren Behinderungen vorkommen, aber auch alleinstehend grosse Zahlen von
Menschen betreffen.
4. Im "Zeitalter der Kommunikation" haben auch relativ begrenzte kommunikations-Beeinträchtigungen verheerende Partizipationseinschränkungen für die Betroffenen zur Folge. Menschen die
sich nicht klar verständlich ausdrücken können werden unweigerlich als "Tubeli" diskriminiert
und ausgesondert, in ihren intellektuellen Fähigkeiten unterschätzt, oft weder systematisch
gefördert noch gefordert und vor Allem: sozial isoliert. Was hier mit einer veränderten
Einstellung und entsprechenden Massnahmen (z.B. digital unterstütze Kommunikation)
möglich wäre, zeigen vereinzelte Beispiele - vor allem z.B. aus England auch über den
berühmten Astrophysiker Stephan Hawking hinaus.
5. Ebenfalls zu überlegen ist in diesem Zusammenhang die Auswirkung der rasanten technischen
Entwicklung. Die automatisierte Übersetzung von geschriebenem Text in gesprochenen und vor
allem auch umgekehrt ist diesbezüglich ein zentrales Thema. Unser GBG muss auf diese
Entwicklung vorbereitet sein - darf sie keinesfalls hindern dort wo sich vielen Seh- und
Hörbehinderten neue Möglichkeiten auftun.
6. Die schrift-orientierte Kultur scheint am Ausklingen. Trotzdem gilt die Fähigkeit, sich
schriftlich auszudrücken (d.h. fehlerlos lesen und schreiben können) immer noch als absolutes
Schlüsselkriterium für den Zugang zur gesellschaftlichen Elite. Schriftliche Prüfungen - bei
denen oft auch Orthografie und Grammatik eine zentrale Rolle neben inhaltlicher Beurteilung
spielen - sind in der Schweiz nicht zu umgehen. Andere Länder (z.B. Israel mit seinem sehr
hohen Anteil von Hebräisch-Analphabeten aus immigrationstechnischen Gründen) fördern
systematisch den Zugang von DislektikerInnen und LegasthenikerInnen zur höheren
Ausbildung. Die Tatsache, dass solche Menschen zum Teil aussergewöhnliche Kreativität und
Erfahrung in Problembewältigung mit sich bringen macht diese Strategie wiederum
gewinnbringend für alle Beteiligten.
7. In der Schweiz werden generell Behinderte noch allzu oft in isolierten Ghettos "unter
ihresgleichen aufbewahrt" - das gilt speziell für Menschen mit Kommunikations-
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Beeinträchtigungen. Gerade an ihnen kann exemplarisch aufgezeigt werden wie negativ (z.B.
unterstimulierend) sich das auf sie selbst, aber auch auf die sogenannte "unbehinderte"
Menschheit auswirkt: man lernt nicht miteinander umzugehen - eine Sprachbehinderung wird
zur geistigen Behinderung.
8. Selten verstanden wird (und kommt daher im Papier zu wenig zur Geltung) die besondere
Bedeutung der Gebärdensprache (GS) für Gehörlose.
a) GS ist kein Hilfsmittel als "Krücke zur normalen Sprache", sondern eigenständige,
vollwertige Sprache. Für deutschschweizer Gehörlose welche die Möglichkeit haben mit
anderen Gehörlosen genügend zu kommunizieren, ist die deutsche Sprache eine
FREMDSPRACHE - genauso wie Französisch oder Italienisch - nur viel schwieriger zu
lernen, weil ihre eigene Sprache, die GS, nicht auf einer phonetischen sondern der
mimischen Grammatik beruht.
b) Viele normal intelligente Hörbehinderte tun sich darum ausgesprochen schwer im Lesen und
Schreiben. Untertitelungen oder schriftliche Kommunikation sind daher keine vollwertige
Gleichstellungsmassnahme - sondern bestenfalls Notbehelfe.
c) Gehörlose (im Gegensatz auch zu Schwerhörigen !) sind denn auch die einzige
Behinderungsart die vehement das Recht verteidigt, segregierte, auf GS basierende Schulen
zu führen - wo sie auch ihre nicht-gehörlosen Kinder gerne unterrichtet haben würden
d) Man könnte über obigem verzweifeln wenn da nicht einige weitere Besonderheiten der GS
wären. Die Gehörlosen sind nicht umsonst sehr stolz auf ihre Sprache und verlangen, sie
offiziell als Sprache zu anerkennen. GS ist extrem schnell, elegant und vor allem (nahezu)
UNIVERSELL. D.h. wer GS beherrscht kann sich innert weniger Tage in den meisten
Ländern der Welt frei verständigen.
e) Mit anderen Worten, es gäbe sogar gute Gründe dafür zu plädieren, dass alle Kinder
Grundkenntnisse in GS erwerben. Das wäre ein Weg wie das Problem der totalen Isolation
der (reichen) Welt der Gehörlosen von der übrigen Welt zu lösen ist. Eine Isolation für
welche die Gehörlosen einen immensen Preis bezahlen - und in Kauf nehmen, weil sie so,
über GS, wenigstens emotional nicht alleine sind.
f) So lange GebärdendolmetscherInnen (GBD) benötigt werden (weil niemand GS "spricht"),
diese aber sozusagen als Wohltat an die Gehörlosen von den eigenen Organisation und auf
deren Kosten ausgebildet werden müssen, wird die ewige Diskriminierung der Gehörlosen auch in den Gremien der Behindertenorganisationen - unvermeidlich sein.
g) Analysiert man das Problem aus markt- statt aus sozialwirtschaftlicher Sicht ist klar: es
herrscht einerseits ein enormer ungedeckter Bedarf der aber nicht zur Nachfrage wird, weil
den Betroffenen das Geld fehlt, um auch nur die dringendst benötigten GBD-Dienste zu
"kaufen".
Es herrscht anderseits, so viel wir informiert sind, auch ein Angebotsüberschuss: d.h. es gäbe
viele Menschen die gerne GS lernen würden, aber die nicht marktwirtschaftlich operierenden
Schulen für GBD können diese Lernwilligen gar nicht aufnehmen. Wir meinen deshalb, die
Lösung muss marktwirtschaftlich Sinn machen: wenn Gehörlose genügend Geld für GBD
zur Verfügung haben, können GBD genügend verdienen und die (teure) Ausbildung
bezahlen - marktwirtschaftlich orientierte GS-Schulen würden die Nachfrage bald decken.
Dass Paradigma "subjektorientiert finanzierte Assistenz" scheint uns der richtige
Lösungsansatz u.a. auch weil er erlaubt, auf die individuellen Bedarfs-Unterschiede elastisch
zu reagieren.
h) Das kostet - ist aber mittelfristig nicht zu umgehen, da Gehörlosen der "ungehinderte Zugang
zu Anlagen und Leistungen" zusteht wie allen anderen Menschen auch.
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9. Die völlig anders gelagerte Problematik der Hörbehinderten (im Gegensatz zu Gehörlosen)
sowohl was die Seite der Betroffenen, wie auch was die volkswirtschaftlichen Dimensionen
anbelangt (die "häufigste Behinderung") ist nicht beschrieben.
10. Ebenso fehlt eine vertiefte Diskussion bezüglich der Assistenzbedürfnisse sehbehinderter und
blinder Menschen, der Probleme rund um Hilfsmittel und Führhunde
Spezifisch:
 Es fehlt Kapitel 3: andere Kommunikationsbehinderungen
 Der Verweis auf die anderen Papiere lässt Fragen unbeantwortet - dort werden die
SPEZIFISCHEN Probleme der verschiedenen Kommunikationsbehinderten nur summarisch
angegangen. In diesem Papier müssen die Problemkreise Schule, Bauen, etc. aus dieser
spezifischen Sicht im Detail beleuchtet werden.
 Das Papier ist kann in dieser unvollendeten Form noch nicht abgeliefert werden.
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Bauten und Anlagen
Allgemein
1. Ich schliesse mich aller Kritik am Papier Schneider an. Diese muss aber für die Eingabe an die
Bundesbehörde entfernt werden weil ja GBG Schneider nicht eingereicht werden soll. Es wäre
dann zu überlegen, wie die in der Kritik enthaltenen, teilweise wichtigen Erkenntnisse in
anderer Form mitzuliefern sind.
2. Von ganz enormer Wichtigkeit scheint mir der Hinweis auf die tragende Rolle von Vollzugsund Kontrollinstrumenten und hier scheint mir noch zuwenig hervorgehoben, welch wichtige
Rolle den Betroffenen selbst zukommt. Konkret wäre die Frage anzugehen, mit welchen
finanziellen Mitteln die Betroffenen und ihre Organisationen für diese Staats-Aufgabe
unterstützt werden. Ganz pragmatisch müsste man sonst uns einen Strick drehen, wenn wir die
uns vom Gesetz zuerkannten Kontrollkompetenzen nicht erfüllen könnten, weil wir die nötigen
Strukturen dazu nicht finanzieren können (siehe Konsumenten- und PatientInnenschutz).
Vielleicht eine witzige Nebenbeobachtung: die meisten Gemeindebüros wo Baupläne in der
Einsprachefrist öffentlich aufgelegt werden sind für Mobilitätsbehinderte wegen baulichen
Barrieren nicht erreichbar.
3. In Kommentar und Bemerkungen ist vehement darauf zu achten, dass nicht der Eindruck
entsteht nur Mobilitätsbehinderte seien gemeint. Vielleicht einen speziellen Kommentar dazu
anfügen (Beziehung zwischen totaler Ausgrenzung Körperbehinderter und den Erschwernissen
für z.B. Sinnes- und geistig Behinderte).
4. Es fehlt die Erörterung des Problemkreises "Brand, Brandschutz, Katastrophenschutz".
Einerseits mit der Forderung, dass Vorkehrungen für den Katastrophenfall auch auf behinderte
Personen geplant werden müssen (Beispiel: abgestellte Lifte im Brandfall) - andererseits aber
auch mit der Warnung, dass solche Vorkehrungen nicht GEGEN Behinderte vorgenommen
bzw. Behinderte als Katastrophenrisiko (z.B. in Kinos) interpretiert und so ausgegrenzt werden
dürfen.
Spezifisch
5.1.1. Spezielle Kategorie für öffentlich subventionierte Bauten (z.B. Opernhaus, Kunsthaus) ?
5.1.2.I
Eine Bemerkung (für den Gesetzeskommentar) bezüglich dem Unterschied zwischen
Zugänglichkeit und Benützbarkeit wäre angebracht - speziell im Hinblick auf andere als
Mobilitätsbehinderte.
5.1.2.II. Art.2.
Die Liste wirkt abschliessend - wenn nicht vermeidbar dann fehlen u.a. Anlagen für Unterhaltung,
Spitäler, Arztpraxen etc.
Art.3 und 4.
1. Die heutige kantonale Subventionspraxis bezügl. anpassbare Wohnungen führt perverserweise
zu verfassungwidrigen Einschränkungen der freien Wahl des Wohnsitzes, weil ALLE nach
dieser Norm gebauten Wohnungen nur für Bewohner des (subventionierenden) Kantons
zugänglich sind. Das Gesetz muss klarstellen, dass (subventionierte) Behindertentauglichkeit
kein Luxusgeschenk des Kantons - sondern Erfüllung rechtsstaatlicher Norm ist und darum
nicht auf bestimmte, willkürliche Bezügerkreise beschränkt werden darf.
2. Die Bemerkungen zu Ar. 4 sollten den Unterschied zwischen "Behindertentgerechtigkeit" und
dem fortschrittlicheren Konzept "Anpassbarkeit" erläutern.
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Art. 5.
Hier müssen die Bedürfnisse der Sinnesbehinderten erwähnt werden !
Art 6:
Mindestens in den Bemerkungen auf den Begriff "erforderliche Massnahmen" eingehen. Oftmals
werden teure Luxuslösungen vorgeschoben um nichts tun zu müssen. Der Artikel muss klar
machen, dass z.B. eine 100.-Fr.Blechrampe vor einem Geschäft dass täglich 5000.-Fr.umsetzt
durchaus verhältnismässig ist - auch wenn nur alle 3 Monate mal ein Behinderter die Rampe
benötigt. Scherfälligkeit und Perfektionismus im schweizerischen Bauwesen verhindern oft
einfache Lösungen.
Das Argument der kleinen Benutzerzahl vertuscht oft die Wechselwirkung: man weiss nicht,
wieviele Benutzer es gäbe, wenn die Anlage benutzbar wäre.
Bei gewissen öffentlichen Gebäuden darf es keine Ausnahmen geben, abgesehen von
Übergangsfristen: überall dort wo es sich um Bürgerpflichten (z.B. Gemeindehäuser, Parlamente,
Abstimmungslokale etc.) oder potentiell lebenswichtige Anlagen (z.B. Spitäler, Polizeistationen,
Luftschutzbunker etc.) handelt.
Art. 7. Wie wird die Unabhängigkeit bzw. Anfälligkeit gegen Druckversuche der "bezeichneten
Behindertenorganisationen" gewährleistet ? Organisationen müssen natürlich schon vor dem
Entstehen des Problems bestanden haben - im weiteren soll aber ihre Kompetenz und
Unabhängigkeit ausschlaggebend sein !
Art. 8:
Hier wäre evtl. eine Rückkoppelung möglich: Finanzierung unserer Kontrollfunktion durch
Strafgelder der Missetäter ?
Anhang 1:
Anlagen der Landesverteidigung und Zivilschutz sind NICHT behindertengerecht. Das ist nicht nur
diskriminierend, es ist skandalös. In ganz Jona-Rapperswil z.B. besteht keine einzige
Luftschutzanlage die für meine Frau und mich zugänglich wäre. Im Katastrophen- oder Kriegsfall
wären wir die ersten Opfer.
Wenn Behinderte dannzumal auch ins Militär dürfen (z.B. weil man dort auf Staatskosten wichtige
Berufe erlernen kann, Beispiel Schiffrierspezialisten) werden bauliche Barrieren uns wieder als
Hinderungsgründe ausgrenzen. Von Zeit zu Zeit werden militärische Bauten auch ans Volk zurück
verkauft (Beispiel Zeughäuser) oder vom allgemeinen Publikum mitverwendet (Beispiel
Elternbesuche in der RS, Flugschauen etc.). Es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet der Bund
sich selbst hier von der Behindertengerechtigkeit entbindet.
Diesem Gedankenfaden folgend muss betont werden, dass alles was nicht behindertengerecht
gebaut wird a) auch für nicht Behinderte schlecht gebaut ist und b) früher oder später auf geradem
oder überraschendem Weg wieder zum Problem für Behinderte werden wird - auch wenn
ursprünglich davon ausgegangen wurde, dass dieses Gebäude für sie uninteressant ist. Wie die
Geschichte jenes amerikanischen Football-Teams, das zur Sanierung seiner Trainingsräume einen
Werbefilm mit Szenen in den - "natürlich" nicht rollstuhlgängigen - Katakomben des
Fussballstadiums bei einem bekannten Filmer in Auftrag gab. Ohne zu wissen, dass der ein
Rollstuhlfahrer ist ....
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Integration im Erwerbsleben
Allgemein
1. Die sehr wichtigen Überlegungen zum Behinderungsbegriff an sich sollten m.E. vom Papier
getrennt und separat, übergeordnet eingereicht werden das sie alle Bereiche eines GBG
tangieren. Die darin aufgeworfenen Grundsatzfragen sollten, wie oben dargelegt, vorrangig
diskutiert und entschieden werden.
2. Mir fehlen:
a. Eine Grundsatzdiskussion über "Integrationsansatz" vs. "Bürgerrechtsansatz" wie sie
teilweise aber unvollständig im Begriffspaar Bonus-Malus-Konzept vs. Quotenmodell zum
Ausdruck kommt. Wir sind der Meinung, dass Nicht-Disrkiminierung zur gesellschaftlichen
Norm werden muss und darum diskriminierendes Verhalten (z.B. keine behinderten
MitarbeiterInnen) als Vergehen nicht als Versehen zu werten ist.
b. Eine Diskussion der in der Schweiz speziell wichtigen Fragen rund um die Eingliederung in
die Lehrstellen fehlt sowohl hier wie im Papier "Aus-, Fort- und Weiterbildung". Wohl auch
dort wäre die Diskussion über die immer wichtiger werdende Weiterbildungen am
Arbeitsplatz unterzubringen.
c. Die Diskussion über die Rolle der Berufsberatung unter IVG und im Rahmen der
Arbeitslosenprogramme, Karrierenberatung etc.
d. Die Erörterung des Zusammenhanges zwischen ausserberuflichen Beziehungsnetzen
(Militär, Kirche, Sportvereine etc.), beruflicher Eingliederung und Karriere.
e. Eine Auseinandersetzung mit den Fragen rund um die Geschlechterdiskriminierung und ihre
Interaktion mit Berufs- und Erwerbstätigkeit sowie der beruflichen Rehabilitation von
Frauen.
f. Eine Diskussion über die ausgrenzende Wirkung von gut gemeinten speziellen
Kündigungserschwernissen
g. und - auch in diesem Zusammenhang - einer möglichen Eingliederungsberatung durch die
IV, wie sie z.B. im Rahmen des Bonus-Malus Projektes diskutiert wurde.
h. Direkte und indirekte Diskriminierungen im Bereich der Versicherungen im Arbeitsrecht
insbesondere Alters- und Angehörigenvorsorge, SUVA etc.
i. Eine Diskussion der rechtlichen Dimensionen rund um die "geschützten Arbeitsplätze" Arbeitsverträge, Minimaleinkommen, Schutz vor Missbrauch, etc. etc.
Spezifisch
Seite 6, zum Behinderungsbegriff: Verweis auf ICIDH einbauen
(übrigens "reasonable accomodation" nicht "reasonnable")
3.6. Klagerecht: nicht nur geschützte Personen und "staatliche Institutionen" sondern vor allem auch
Organisationen der Behinderten-Selbsthilfe. Es ist zu erörtern mit welchen Mitteln letztere in
die Lage versetzt werden, diesen wichtigen Beitrag zu leisten.
3.7. Wie 3.6 - es ist aber auch zu prüfen ob nicht Strafgelder eingezogen werden können (weil
diskriminatorische Bedingungen auch immer das allgemeine Publikum der Behinderten treffen)
um diese für die Sicherung der Kontrollfunktion einzusetzen.
3.12. Sehr wichtig !
Peter Wehrli, 3.3.2000
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