3. Ein Rundgang durch die Ausstellung

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3. Ein Rundgang durch die Ausstellung
PROLOG:
Vom Imperfekt-Sein
Jede Kultur definiert immer wieder neu, welche Körper als vollkommen
gelten sollen. Die Bilder, die sich eine Gesellschaft vom perfekten
Körper macht, entscheiden darüber mit, wer sozial anerkannt oder
ausgeschlossen wird. Bilder von „perfekten“ Körpern bilden darum den
Ausgangspunkt des Prologs.
Im Zentrum steht der Gläserne Mensch. Das zuerst 1930 gezeigte
Leitobjekt des Deutschen Hygiene-Museums kann als eine historisch
gewordene Ikone des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, die den
Menschen als scheinbar perfekt funktionierende Maschine idealisiert.
Der Gläserne Mensch wird mit einer Galerie von modernen Altären der
Vollkommenheit konfrontiert, die zentrale gesellschaftliche Leitideale
präsentieren: Schönheit, Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Genussfähigkeit, Autonomie und Rationalität.
Daneben stehen mythologische Idealisierungen des Menschen, die
fest im kollektiven Bildgedächtnis verankert sind. Gemessen an diesen
medialen Bildern der Perfektion ist jede menschliche Realität
imperfekt.
Das Archiv der Unvollkommenheit zeigt den Menschen darum als ein
Mängelwesen. Es präsentiert in zwölf Archivschränken menschliche
Eigenschaften, die als Mangel wahrgenommen werden: Der Mensch
ist auch ängstlich, schwach und vergesslich; seine Sinne sind
begrenzt, und er entwickelt seine Fähigkeiten „unökonomisch“
langsam; seine Körperstruktur bietet ungeschützte Angriffsflächen und
er leidet an körperlichen und seelischen Schmerzen; obwohl er
abhängig ist von anderen, ist er zugleich destruktiv, vergeblich plant er
seine Zukunft, er vermag den Alterungsprozess nicht zu stoppen und
erweist sich zuletzt als sterblich.
Kultur entsteht u.a. als Kompensation solcher Mängel. Sie ist der
Versuch, die Natur, auch die eigene, nach den immer neu ent- und
verworfenen Bildern der Perfektion zu verbessern und umzubauen.
Vorstellungen der Vollkommenheit können Höchstleistungen provozieren, zugleich aber auch ein aggressives Potential gegen das nicht
Perfekte entfalten. Der perfekte Mensch wäre der an sein Ende
gekommene Mensch. Die Wahrnehmung eigener Unvollkommenheit
dagegen eröffnet die Möglichkeit zu stetiger Entwicklung.
DIE GRENZE
An den Prolog schließt sich die Abteilung „Die Grenze“ an. Sie
thematisiert die nahezu unüberwindbare Grenzlinie zwischen ”normal”
und ”behindert”, die durch das Scheitern gewohnter Kommunikationsformen markiert wird.
Nobody is perfect - aber nicht jeder ist behindert. ”Behinderung”
bezeichnet einen gesellschaftlichen Ernstfall, markiert die Grenze, an
der Verschiedenheit zum Problem wird. In ihrer interaktiven Installation
”Raus mit der Sprache” öffnet die Berliner Medienkünstlerin Enna
Kruse-Kim unbekannte Sprachwelten und konfrontiert zugleich mit
gesellschaftlichen Methoden sprachlicher Abgrenzung.
WELTEN
Hören oder nicht hören, sehen oder nicht sehen – die Vorstellung, die
wir uns von der Welt machen, hängt davon ab, mit welchen Sinnen wir
sie erfassen können. Die Welt kann laut sein oder absolut still, sie
überflutet das Fassungsvermögen oder sie ist nur aus der Nähe
begreifbar. Interaktive Installationen, Video-Interviews und Objekte
lassen unbekannte Wahrnehmungs-Welten für alle Besucher erlebbar
werden.
SEHEN
Verschiedene Mittel zur Erschließung des Raumes zeigen, dass man
einen Weg nicht sehen muss, um sich zu orientieren. Ein astronomischer Globus macht selbst den Weltraum tastbar. Das tibetanischdeutsche Braille-Wörterbuch, von der blinden Tibetologin Sabriye
Tenberken für ihr in Tibet gegründetes Blindenzentrum entwickelt,
verweist auf die Reichweite des Blindenstocks. Unterschiedliche
Formen tastbarer Schriften und Schreibsysteme eröffnen eine
weitgehend unbekannte Geschichte der Kommunikation. Die
Installation ”Every Human Light” des Hamburger Künstlers J. Georg
Brandt schließlich verweist auf etwas Gemeinsames: Das
geschlossene Auge, in spezifischer Weise manipuliert, zeigt Sehenden
wie nicht Sehenden Lichtpunkte.
HÖREN
Auch wenn man nicht hören kann, bleibt die Welt nicht stumm.
Gebärdensprachliche Umsetzungen von Texten und Musik zeigen die
Komplexität von Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen, die auf
das Visuelle konzentriert sind und die Welt als Zeichen erschließen.
Ein durch Schallwellen vibrierendes Trommelfell vermittelt ein
ungewöhnliches musikalisches Erlebnis: Ein Solo der gehörlosen
Schlagzeugerin Evelyn Glennie, das nur über Schallwellen übertragen
wird.
VERSTEHEN
Der Arzt Alois Alzheimer konnte die Welt seiner Patientin Auguste D.
nicht verstehen, aber über das Protokollieren und Systematisieren der
Symptome seiner Patienten gelangte er zur Klassifikation der
Alzheimer-Krankheit. Ein schizophrener Patient einer Zürcher Klinik
systematisierte seine Wahrnehmung der Welt in einem ”Symbolkalender”, der durch seine Komplexität fasziniert und sich dem
Verständnis doch entzieht. Wie viele Formen des Denkens gibt es
neben dem uns vertrauten rationalen Zugang, den wir für unersetzlich
halten?
BEWEGEN
Der Verweis auf die zunehmende Beschleunigung jeder Form von
Bewegung ist zum festen Bestandteil heutiger Zivilisationskritik
geworden. In einem vier Meter hohen “Hamsterrad” werden rastlose
Formen der beschleunigten Überwindung von Distanzen projiziert.
Gegenüber zeigt eine zweite Projektion Bilder von Situationen, die
Gefallen an der Langsamkeit demonstrieren. Leichtigkeit, Harmonie,
Souveränität eines Menschen werden auch aus seinen Bewegungsmustern abgeleitet. Wer Erfolg haben will, darf nicht unbeweglich sein.
So sind Rollstuhl und Macht bis heute kaum vereinbar, und folgerichtig
ließ sich der frühere US-Präsident Franklin D. Roosevelt nur selten in
seinem Rollstuhl fotografieren.
BERÜHREN
”LA ZATTERE DEI SENSI” (”Flöße der Gefühle”), eine interaktive
Raum-Installation der italienischen Künstlergruppe ”Studio Azzurro”,
konfrontiert den Besucher mit unterschiedlichen Dimensionen des
Berührens und Entziehens von Körpern. In diesem Bereich stehen
behinderte Menschen vor fast unüberwindbaren Schwierigkeiten: Oft
sind sie Objekte pflegerischer oder medizinischer Eingriffe in die
Intimsphäre, denen sie sich nicht entziehen können, nur selten sind sie
Subjekte erwünschter Berührungen, z.B. im Bereich der Sexualität.
RASTER – EINGRIFFE UND AUSBRÜCHE
Das Spektrum der gesellschaftlichen Reaktionen auf behinderte
Menschen ist seit jeher widersprüchlich: Es ist gekennzeichnet von
Hilfe, Förderung und Schutz auf der einen, von Entmündigung,
Korrektur und Verwahrung auf der anderen Seite. Durch Flucht oder
durch künstlerische Arbeit, durch politisches Engagement oder durch
die Gestaltung ihres Alltags versuchen die Betroffenen, den
Zumutungen der Normierung ihre Lebens zu entkommen. Historische
und zeitgenössische Objekte, Medien und Rauminszenierungen geben
Einblicke in die Kultur- und Sozialgeschichte der Beziehungen
zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen.
NORMIEREN
In pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Konzepten
spiegeln sich die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen wider.
Die bürgerlichen Tugenden des Maßhaltens, des aufrechten Gangs,
der inneren und äußeren Ruhe wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts
auch zur Zielsetzung therapeutischer und medizinischer Bemühungen.
Mit diesen Tugenden war zugleich der ”falsche Körper” definiert, der
”wider die Natur” war und so nicht bleiben durfte, der Unterstützung
brauchte und zugleich zurechtgestutzt wurde. Je festgefügter die
gesellschaftlichen Normen in der Vergangenheit waren, desto größere
Anpassungsleistungen wurden von behinderten Menschen erwartet
und desto eher wurden Hilfsmittel zu Instrumenten der Repression.
In der Abteilung Normieren ermöglichen medizinhistorische Objekte
Einblicke in eine Geschichte, die sich zwischen Förderung und
Repression behinderter Menschen bewegt. Eine Galerie vorwiegend
historischer Abbildungen stellt eine Systematik der unterschiedlichen
Blicke auf behinderte Menschen auf, die den abweichenden Körper
aus der Ordnung des “Normalen” herauslösen.
MAUERN
Prägend für die Abteilung Mauern ist das architektonische Bild der
Anstalt, die seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum der medizinischen
und heilpädagogischen Bemühungen um Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen steht. Gegründet in der Absicht, Schutz, Bildung
und Hilfe zu garantieren, entwickelten die Anstalten sich zugleich zum
Sinnbild für Abschiebung, Verwahrung und Entmündigung. Von ihren
Anfängen bis zum heutigen System von Sondereinrichtungen für
Wohnen, Lernen und Arbeiten spiegelt sich in der “Anstalt” die ganze
Ambivalenz der Gesellschaft im Umgang mit ihren behinderten
Bürgern wider.
Was die Ordnung der Körper durch ein Übermaß an Vollkommenheit
oder an Unvollkommenheit stört, wird in Ober- und Unterwelten, in
Zwischenreiche oder am Rand der Erde ausgesiedelt: in Träume und
die Kunst, in Narrentürme, Pflegeheime, Operationssäle, wissenschaftliche Laboratorien, Horrorfilme, Varietés oder Wunderkammern.
Die Ausstellung zeigt in einer Galerie der Verkörperungen zahlreiche
Beispiele für Götter und Freaks, Trolle, Haarmenschen und vieles
andere mehr.
SELEKTION
Die Selektion und Ermordung von über 200.000 psychisch
kranken und behinderten Menschen zwischen 1940 und 1945
fand überwiegend in Anstalten statt. Objekte und Dokumente
zeigen, wie die nationalsozialistische Bevölkerungs- und
Rassenpolitik an Traditionen der Unterscheidung zwischen
”minderwertig” und ”wertvoll” und an die räumliche Aussonderung in den Anstalten anknüpfte. Doch erst das nationalsozialistische System setzte die Idee einer ”Reinigung des
Volkskörpers” von ”erblich Belasteten” in einer Politik der
Massenvernichtung um.
NORMALISIEREN
Die Gestaltung der nächsten Abteilung als Baustelle zeigt, dass das
Konzept der Normalisierung weiterhin eine fundamentale Herausforderung bleibt. »Es ist normal, verschieden zu sein« - dieser Satz
des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1993)
steht als Postulat über den Entwicklungen im Bereich der Behindertenhilfe und –selbsthilfe. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich
Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen durch ihr eigenes
Engagement immer größere Freiräume erkämpft. Filmsequenzen
belegen die Bedeutung der Medien in diesem Prozess: Einerseits sind
sie Mittel der Selbstverständigung und dokumentieren wichtige
Stationen der Emanzipation, andererseits können sie durch die
Produktion von Klischees positive Entwicklungen aber auch hemmen.
Die Forderung nach einem ”selbstbestimmtem Leben” hat individuelle
und gesellschaftliche Ebenen und sie hat politische und soziale
Konsequenzen.
PERFORMANCE
Einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipation von behinderten
Menschen haben Künstler mit Behinderungen geleistet. Individuelle
Sichtweisen und Ausdrucksformen schaffen erst die Voraussetzungen
für die Produktion von Kunst. Eine flexible Handhabung des Akzeptablen ist charakteristisch für den Kunstbetrieb. Das Besondere als
Lifestyle, als Performance, als Ausdrucksform ist außerhalb der Kunst
kaum denkbar. Selbstbewusste Auftritte behinderter Schauspieler,
Musiker oder Tänzer sind (fast) schon Bestandteil der Normalität
geworden. Spannender bleiben die Randbereiche: Eine VideoInszenierung vermittelt über die Bereiche Tanz, Musik und Theater
eigene Formen und Rhythmen des ästhetischen Aufbruchs.
BILDENDE KUNST
Die Abteilung Bildende Kunst zeigt Werke einer länger zurück reichenden Tradition. Mit der ”Bildnerei der Geisteskranken” 1922 und der ”Art
Brut” nach 1945 sowie der Durchsetzung eines ”Erweiterten Kunstbegriffs” seit den sechziger Jahren sind die Grenzen der Kunst
fließend geworden. Professionelle Künstler haben sich von den
differenzierten künstlerischen Innenwelten der ”Außenseiter” anregen
lassen, und umgekehrt hat die Außenseiterkunst mittlerweile einen
festen Platz im Kunstbetrieb. Die Künstler Blalla W. Hallmann, Hans
Krüsi, Alida Schaap und Werner Voigt, die in diesem Raum vorgestellt
werden, repräsentieren ganz unterschiedliche Arbeitsumfelder,
Motivationen und Stile. Allen gemein ist das Bedürfnis, die eigene
Weltwahrnehmung künstlerisch zu fassen. Die jeweilige psychische
oder geistige Behinderung fließt als ‚biographisches Moment‘ (Peter
Gorsen) in die Arbeiten mit ein, taugt aber nur sehr bedingt als
Bewertungskriterium der Werke.
DIE LICHTUNG
Das Bild des letzten Raums ist das der Lichtung: Helligkeit, Licht und
Klarheit sind Metaphern für die Vernunftkultur der Aufklärung. Heute
wachsen die Möglichkeiten, gestaltend in den menschlichen Körper
einzugreifen. Die Aussichten auf diese künftigen Möglichkeiten wecken
Träume der Perfektion ebenso wie Alpträume einer normierten,
gezüchteten Gesellschaft, denen Visionen gegenüber stehen, die den
Schutz der Schwachen und eine Kultur der menschlichen Verschiedenheit ins Zentrum stellen.
Die aktuelle Debatte über die moralischen Grenzen der Forschung und
die Zulässigkeit gendiagnostischer Verfahren ist noch nicht
abgeschlossen. Neue bio-medizinische Möglichkeiten werfen alte
Fragen auf, zum Beispiel nach der Bestimmung von Leben und Tod.
Die letzte Abteilung der Ausstellung konfrontiert unterschiedliche
gesellschaftliche Positionen miteinander, und sie stellt Menschen mit
Behinderungen ins Zentrum, die diese vor dem Hintergrund ihrer
biographischen Erfahrungen reflektieren und kommentieren.
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