25 3 Strukturelle und methodologische Besonderheiten in der Diagnostik bei geistig Behinderten Holger Schmidt Dem Bemühen, bei geistig behinderten Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten zu einer nachvollziehbaren Diagnose zu gelangen, stehen zahlreiche Besonderheiten und diagnostisch-methodische Probleme entgegen. 3.1 Besondere Merkmale Meist sucht nicht der behinderte Mensch selbst um Hilfe nach, sondern die Betreuungs- und Bezugspersonen. Diese sollten die Anzeichen einer psychiatrischen Erkrankung erkennen und in ihrer Bedeutung verstehen (Moss 1999), um weitere Schritte einleiten zu können. Heutzutage wird dies durch einen steten Wechsel der betreuenden Umgebung erschwert, sodass Verlaufsbeurteilungen und Vergleiche zu früheren Zeiten kaum noch möglich sind. Die Exploration des geistig behinderten Menschen selbst ist durch Einschränkungen in der Kommunikation (sowohl vermindertes Sprachverständnis als auch unzulängliche sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, teilweise Dysarthrie und individueller Jargon) und unzureichende Introspektionsfähigkeit zumindest deutlich erschwert. Häufig werden Fragen des Untersuchers im Sinne sozialer Erwünschtheit beantwortet. Teilweise sind die „Antworten“ eine Wiederholung der letzten Worte der Frage, die dadurch nur scheinbar beantwortet wird. Dementsprechend erhält die Fremdanamnese im Vergleich zur subjektiven Schilderung der Beschwerden eine deutlich höhere Gewichtung. Infolge dieser Besonderheiten ist die Explorationsdauer deutlich verlängert, da Denk- und Sprechtempo des geistig behinderten Menschen meist unterdurchschnittlich sind. Günstig ist ein reizarmes Setting mit wenig Ablenkung wie Telefon, laute Umgebung und Störung durch Dritte. Bei dem Versuch, neben einer körperlichen Untersuchung auch apparativ-diagnostische Maßnahmen durchzuführen (Blutentnahme, EKG, EEG, bildgebende Diagnostik), treten meist weitere Schwierigkeiten auf. Je ausgeprägter die intellektuelle Minderbegabung ist, umso häufiger fehlt die Kooperationsbereitschaft des behinderten Patienten aufgrund fehlender Einsicht in die eigene Erkrankung und in die Notwendigkeit dieser Untersuchungen in Verbindung mit Angst und fehlenden Kompensationsmöglichkeiten. Deswegen erfordert die Durchführung dieser Maßnahmen neben der Schaffung der juristischen Voraussetzungen oft einen hohen zeitlichen und personellen Aufwand, bzw. die Sedierung oder Kurznarkose des Betroffenen. Tabelle 3.1 fasst die Besonderheiten der Diagnostik bei Menschen mit Intelligenzminderung zusammen. 3.2 Interpretation der Verhaltensauffälligkeiten Die Zuordnung und Interpretation von Verhaltensauffälligkeiten oder Änderungen der Verhaltensweisen eines geistig behinderten Menschen selbst stellt den Untersucher vor Schwierigkeiten. Zum einen sind diese Verhaltensauffälligkeiten oft Tab. 3.1: Besondere Merkmale der Diagnostik bei Menschen mit geistiger Behinderung Zuführung zur Diagnostik und Behandlung erfolgt über Dritte Eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit des behinderten Menschen: • vermindertes Sprachverständnis • verminderter sprachlicher Ausdruck • Dysarthrie • individueller Jargon Unzureichende Introspektionsfähigkeit Beantwortung der Fragen nach sozialer Erwünschtheit Unabsichtliches Wiederholen von Teilen der Frage als „Antwort“ Fremdanamnese erhält deutlich höhere Gewichtung Deutlich verlängerte Explorationsdauer Unzureichende Kooperationsbereitschaft durch fehlende Einsicht 26 3 Strukturelle und methodologische Besonderheiten in der Diagnostik bei geistig Behinderten unspezifisch, zum anderen häufig nur in einem bestimmten Setting zu beobachten. Ohne begleitende Wahnsymptomatik sind beispielsweise akustische und visuelle Halluzinationen deutlich häufiger als bei nicht geistig behinderten Menschen auch bei schweren, dann psychotischen, Depressionen zu beobachten. Andere, vermeintlich klassisch psychiatrischen Krankheitsbildern zuzuordnende Symptome können durch körperliche Begleiterkrankungen oder medikamentös induzierte Veränderungen hervorgerufen werden. Eine erhebliche psychomotorische Unruhe kann nicht nur Ausdruck einer psychiatrischen Erkrankung (z. B. agitierte Depression) sein, sondern auch durch körperliche Schmerzen (z. B. Otitis media, vereiterter Zahn), massive Obstipation, medikamentös induzierte Restharnbildung (auch bei jüngeren Patienten bzw. bei Frauen) oder durch eine Neuroleptika bedingte Akathisie hervorgerufen werden. Einige dieser Verhaltensauffälligkeiten sind nur in einem bestimmten Milieu (z. B. Wohngruppe) zu beobachten, während sie in einer anderen Umgebung (z. B. während des Wochenendbesuch bei den Eltern oder am Arbeitsplatz) deutlich geringer ausgeprägt sind oder sogar überhaupt nicht auftreten. Häufig führt dies zu dem Trugschluss, dass beispielsweise die Wohngruppe einen „pathogenen Faktor“ darstellt, weil die Verhaltensauffälligkeiten nur in diesem Umfeld zu beobachten sind. Eine andere Erklärung wäre, dass sich der behinderte Mensch nur in seiner Wohngruppe so sicher und geborgen fühlt, dass er hier „krank sein“ und seine Symptome zeigen darf, wohingegen er aus Angst vor den Hänseleien am Arbeitsplatz oder aus Freude, seine Eltern besuchen zu dürfen, sich dort bis zum Äußersten anstrengt, um keine Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen. Ein Großteil der geistig behinderten Patienten mit Verhaltensauffälligkeiten benimmt sich wäh- rend der ersten Zeit auf einer psychiatrischen Behandlungsstation eher unauffällig und zeigt erst nach einer Eingewöhnungsphase (meist mehrere Tage) auch dort diese Verhaltensweisen. Nur zu häufig werden diese eigentlich dringend therapiebedürftigen Menschen vorschnell aus der stationären Behandlung entlassen. 3.3 Diagnostischmethodische Probleme Verhaltensauffälligkeiten, wie z. B. Unruhe oder Bewegungsstereotypien, sind bei vielen geistig behinderten Menschen anzutreffen, ohne dass eine behandlungsbedürftige Erkrankung zugrunde liegt. Durch die erhöhte „Basisrate auffälligen Verhaltens“ (Seidel 2000) werden andere psychopathologische Phänomene fälschlicherweise dem üblichen Verhaltensrepertoire dieses Menschen zugeordnet und in der Folge das Hinzutreten einer psychischen Störung nicht erkannt (diagnostic overshadowing; Sturmey 1999) (Tab. 3.2). Ebenso kann der Beginn einer psychischen Störung bereits vorbestehende Verhaltensweisen verstärken, sodass sich weniger die Qualität der Verhaltensauffälligkeiten als vielmehr die Quantität im Sinne der Häufigkeit oder des Ausprägungsgrades bestimmter Verhaltensweisen erhöht (baseline exaggeration; Sovner 1986). Beispielsweise kann sich das leichte Schaukeln des Oberkörpers durch eine psychotische Störung so verstärken, dass der Betroffene den Hinterkopf an die Wand schlägt und eine blutende Platzwunde entsteht. Durch eine Minderung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten sowie des Sprachverständnisses und der häufig eingeschränkten Introspektionsfähigkeit können der Umwelt psychopathologische Phänomene (z. B. Tab. 3.2: Diagnostisch-methodische Probleme Schwierigkeit Kennzeichen Overshadowing psychiatrische Symptome werden fälschlicherweise dem aus der geistigen Behinderung resultierenden Verhalten zugeordnet Baseline exaggeration vermehrtes Auftreten vorbestehender Verhaltensweisen im Rahmen einer psychischen Störung Underreporting durch eingeschränkte Fähigkeiten zur Kommunikation und Introspektion werden psychopathologische Phänomene nur unzureichend mitgeteilt Psychosocial masking Verminderung sozialer Fähigkeiten durch die intellektuelle Minderbegabung führt zu undifferenzierter Präsentation psychiatrischer Störungen Cognitive disintegration Übermaß an einströmenden Reizen kann nicht in sinnvollen Zusammenhang gebracht werden 3.4 Abhilfen Zwangsgedanken, Störungen der Ich-Grenzen, Halluzinationen) nicht oder nur unzureichend mitgeteilt werden (underreporting). Diese Phänomene werden nicht erkannt und entsprechend gewertet, solange sie nicht durch Beobachtung erschlossen werden können. Somit besteht die Gefahr des Nichterkennens einer psychischen Störung. Ein weiteres Phänomen wird hervorgerufen durch die verminderten sozialen Fähigkeiten, verbunden mit den nur eingeschränkten Möglichkeiten, vielseitige Lebenssituationen differenziert zu erfahren. Dies kann zu einer stark vereinfachten und wenig abgestuften Ausprägung psychiatrischer Störungen führen, die dann wiederum nicht als solche erkannt werden (psychosocial masking; Sturmey 1999). Ein Übermaß an Außenreizen in Verbindung mit weiteren Stressoren soll dazu führen, dass die einströmenden Reize nicht mehr in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können (Sturmey 1999). Gewissermaßen käme es zu einem Zerfall der kognitiven Prozesse (cognitive disintegration; Sturmey 1999), wodurch bizarre, psychoseähnliche Verhaltensweisen auftreten sollen. Es bleibt kritisch anzumerken, ob bei intellektuell minderbegabten Menschen nicht tatsächlich kurze psychotische Episoden durch starke Stresssituationen induziert werden können. 3.4 Abhilfen Intelligenzminderung Um diese Fallstricke und methodischen Probleme zu vermeiden, bewährt sich das Einbeziehen ver- Abb. 3.1: Syndromgeleitete Diagnostik (nach Schanze 2005) Familie/Arbeit/ Wohnheim 27 schiedener, im Umgang mit geistig behinderten Menschen erfahrener Mitarbeiter, die als multiprofessionelles Team aus unterschiedlichen Berufsgruppen stammen. Auch die ausreichend lange und unter verschiedenen Gesichtspunkten durchgeführte Beobachtung des Patienten erhält meist eine stärkere Gewichtung als bei nicht geistig behinderten psychiatrischen Patienten, da sich psychische Störungen, insbesondere bei schwerer ausgeprägter Intelligenzminderung, häufig in einer Vielzahl psychomotorischer Phänomene manifestieren. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten einer operationalisierten Diagnostik bei diesen Menschen bewähren sich zwei diagnostische Ansätze: l Zum einen ein syndromgeleiteter Ansatz, d. h. in einem ersten Schritt die Zusammenfassung der psychopathologischen Phänomene zu einem Syndrom (z. B. katatones Syndrom) (Abb. 3.1). Unter Berücksichtigung sämtlicher Informationen und Ausschluss bestimmter Faktoren (körperliche Erkrankungen, Medikamenteneinflüsse etc.) wird in einem zweiten Schritt eine Arbeitsdiagnose erstellt, die im weiteren Verlauf der Behandlung immer wieder kritisch zu hinterfragen ist. l Zum anderen erweist sich im klinischen Alltag eine typologische Diagnostik (Dilling 1999) zur Einleitung weiterer therapeutischer Schritte als hilfreich. Anhand charakteristischer Querschnitt- und Verlaufssymptomen wird ein möglichst ähnlicher Prägnanztyp herangezogen, um die Erfahrungen mit ihm auf den aktuellen Patienten zu übertragen. • nosologische Ebene (z.B. katatone Schizophrenie) ICD-10 Diagnose • Syndromebene (z.B. katatones Syndrom) • Symptomebene (z.B. Stupor, Mutismus, Erregungszustände, Haltungsstereotypien) • Alltagsverhalten (z.B. Patient liegt über Stunden bewegungslos im Bett, verharrt in Bewegungen, redet nicht mehr oder nur leise, zerrei§t plötzlich Kleidung, schlägt sich und andere)