Zum Thema Aggression - AAC Newsletter 2005 Aggression als Kommunikation Dipl.Psych. Lothar Sandfort Der große systemische und konstruktivistische Vordenker Paul Watzlawik hat auf die hohe Bedeutung der nonverbalen Kommunikation hingewiesen. Alle Menschen nutzen sie um eher unbewusst Informationen zu geben oder zu erhalten. Denken Sie nur, wie oft wir die verschiedenen Rituale der Begrüßung nutzen. Wir geben uns dabei zum Beispiel die Hände und erhalten eine Fülle von nonverbalen Aussagen. Menschen mit kognitiven Einschränkungen, etwa Geistig– oder Lernbehinderte, sind Meister in diesem Fach. Ihnen ist die verbale Kommunikation in der Regel nicht unbelastet zugänglich. Zumeist leben diese Menschen dauerhaft in schützenden und fördernden Systemen, etwa in ihren Herkunftsfamilien oder in Wohnheimen. Oft arbeiten sie in Werkstätten. Die Eltern haben zumeist gelernt, ihre Inszenierungen zu verstehen. Auch die Mitarbeitenden in den Einrichtungen wissen, was mit ihnen gemeint ist. Das ist nicht immer leicht. Unmittelbar verstehen wir, wenn jemand zum Kühlschrank geht und ihn öffnet. Stellen Sie sich aber jemanden vor, der immerzu Zeitungen zerkleinert bis zu körnergroßen Schnipseln. Der sie dann in Kisten und Säcke sammelt, so dass nach einer Zeit, sein ganzes Zimmer voll gestapelt ist. Ein sehr sinnvolles Verhalten, wenn es aus einem psychotischen Weltbild heraus entwickelt wird. Da sammelt jemand in einer emotionalen Mangelsituation Vorräte, wie ein Bauer in früheren Zeiten. Das Verhalten beruhigt ihn, und in einer gut versorgenden Einrichtung bricht sich das Bild nicht an der Tatsache, dass der Mensch von Zeitungsschnipseln nicht leben kann. Selbstverständlich ist dieses Verhalten für eine Einrichtung nicht unproblematisch. Für den betreffenden behinderten Menschen ist aber der Betreuer, der einfach nur das Zimmer aufräumen will und sich dabei konsequent durchsetzt, ein Dieb. Es kommt zu Gebrüll, Aggressionen und Misstrauen. Dem Manne kann geholfen werden und mit ihm dem gesamten Team der Einrichtung. Inszenierungen zu verstehen, wie es in der AAC-Praxis und durch ihr Angebot möglich ist, kann eingeübt und gelernt werden. Um die Verständigung eines Menschen über nonverbale Äußerungen hilfreich wirken lassen zu können, bedarf es oft eines therapeutischen Prozesses. Denn Kommunikation geschieht zwischen Sender und Empfänger. Es reicht für eine Therapie nicht aus, den Sender einer Aussage zu verstehen. Die Empfänger müssen in die Lage versetzt werden, diese und ähnliche Äußerungen auch richtig zu interpretieren. Das geht mit einem systemischen Ansatz, der in die Kommunikationstherapie die wesentlichen Systeme eines Klienten mit einbezieht. Betreuerinnen und Betreuer einer Einrichtung sind leider oft in ihrer Ausbildung zu sehr auf das Wort fixiert worden und verstehen zu wenig die ursprüngliche Sprache der Seele, nonverbale Kommunikation. Sie wird dann einfach nicht beachtet. Die nicht verstandenen behinderten Menschen müssen in solchen Fällen zu immer deutlicheren Methoden greifen. Im Extremfall helfen nur Aggressionen. Sie sind also ein Lösungsversuch, ein sicheres Mittel um Aufmerksamkeit zu erreichen. Aufmerksamkeit nicht im Sinne von einfacher Zuwendung. Der oder die so Angesprochenen sollen sich bemühen, zu verstehen. Die Bedeutung des Betreuungspersonals wird in vielen Fällen unterschätzt, auch von diesen selber. Menschen mit kognitiven Einschränkungen wissen unbewusst von ihrer höheren Lebensgefährdung. Fehlende Kompetenzen schaffen sie sich durch Bindung an andere Menschen. Sie verfügen über gute Möglichkeiten, diese Menschen auch an sich zu binden. Oft haben diese Behinderten Betreuer oder Betreuerinnen, die sie wirklich mögen, gegenseitig. Aber auch unangenehme Formen der Bindung sind möglich, wenn die angenehmen nicht funktionieren. Weiß etwa ein behinderter Mensch, dass einer bestimmten Betreuungsperson lediglich Ruhe und Ordnung wichtig sind, kann er sie über Unordnung und Aggression für sich gewinnen. Aber auch das ist Kommunikation. Die Interpretation, dieser Mensch sei einfach böse, entlastet die angesprochene Person nur momentan. Niemand ist einfach aggressiv. Nie ist es auf Dauer hilfreich, der Aggression mit Strafe zu begegnen. Medikamente beruhigen zwar, haben aber vielfältige Nebenwirkungen, nicht nur körperlicher Art. Aggressionen sind auch nicht einfacher Ausfluss einer Behinderung, etwa einer autistischen. Sie sind immer zu verstehen. Sind sie als nonverbale Kommunikation verständlich geworden, können Antworten gefunden werden.