Ärztinnen und Ärzte als Diagnostiker, Gesprächspartner und Wegweiser Kontrolliertes Trinken (kT) als lösungsorientierte Frühmaßnahme bei zu hohem Alkoholkonsum In der ärztlichen Praxis ergeben sich über Befunde immer wieder Hinweise auf einen hohen oder sehr hohen Alkoholkonsum von Patienten. Dennoch ist es nicht leicht, Patienten direkt auf einen zu hohen Alkoholkonsum anzusprechen. Dies ist vor allem deshalb so, weil es sich bei Deutschland in punkto Alkohol eher um ein 'Hochkonsumland' handelt. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit einem Alkoholkonsum pro Kopf von 12,81 Litern reinem Alkohol pro Jahr auf den vorderen Rängen.1 Alkoholkonsum – auch ein hoher – ist in Deutschland damit eher die Regel; Abstinenzler bilden zahlenmäßig, aber auch von der Wahrnehmung her, die Ausnahme. Der "normale" Konsum vieler Personen ist bei näherem Hinsehen oft bereits als gefährdender oder missbräuchlicher Alkoholkonsum einzustufen – dies ist bei cirka einem Drittel der deutschen Bevölkerung der Fall. Der Patient nimmt aber oft wahr "ich trinke doch nicht mehr als mein Nachbar" und wähnt sich damit auf einer sicheren Seite. Kaum oder nur wenig ins Blickfeld gelangen aber Verhaltensweisen und Trinkmengen von Menschen mit moderatem Alkoholkonsum oder gar Abstinenzlern, die in Deutschland insgesamt immerhin doch 72,9% ausmachen (53,5% moderater Konsum; 19,4% kein Alkoholkonsum).2 Die Einstufung als "Alkoholiker" kann darüber hinaus mit einer – gefühlten oder wahrgenommenen - immensen Stigmatisierung3 verbunden sein, sodass es im vertraulichen Arzt-Patient-Gespräch schwer sein kann, eine Person auch nur in die Nähe einer solchen Diagnose rücken zu wollen. Insofern ist es unterm Strich vielleicht leichter, den (zu) hohen Alkoholkonsum des Patienten nur nebensächlich oder auch gar nicht zu erwähnen; dies auch, um das Arzt-Patient-Verhältnis an sich nicht zu gefährden. Folgende Kommunikationsmöglichkeiten können aber dennoch dabei helfen, den Alkoholkonsum in vertrauens- und respektvoller Weise zu thematisieren: vgl. Global status report on alcohol and health. WHO, 2011, LINK abgerufen am 30.07.2015 (PDF, englisch). 1 vgl. Tabelle vom RKI, Daten und Fakten: Ergebnisse der Studie Gesundheit in Deutschland aktuell 2010. Tabelle ist zu finden im "Drogen- und Suchtbericht" der Drogenbeauftragen der Bundesregierung, 2013, Seiten 18,19. LINK abgerufen am 30.07.2015 (PDF, deutsch). 2 Die Stigmatisierung und oft einhergehende Abwertung wird von Seiten der Autorin des vorliegenden Artikels nicht geteilt. 3 Der Arzt kann den Patienten danach fragen, ob er weitere Informationen zu z.B. zu Alkoholreduktions- oder Abstinenzprogrammen wünscht. o Verneint der Patient dies, kann in Aussicht gestellt werden, dass der Patient später darauf zurückkommen kann, falls er es später möchte. o Bejaht der Patient, können verschiedene Methoden und Möglichkeiten benannt werden. Wichtig dabei ist, dass der Patient selbst entscheidet, ob er weitere Informationen annehmen möchte oder nicht. Eine direktere – und auch denkbare Fragestellung – könnte lauten: Sind Sie mit Ihrem jetzigen Alkoholkonsum so zufrieden oder wollen Sie ihn verändern? o Verneint der Patient, so kann auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass er später noch einmal auf das Thema zurückkommen kann, falls er es möchte. o Bejaht der Patient, können wiederum verschiedene Methoden und Möglichkeiten benannt werden. In solchen Arzt-Patient-Gesprächen sollten drängende Moralisierungen, wie: - (Beispiel:) Bei ihren Werten sollten Sie nun aber mal ein bisschen mehr Elan an den Tag legen. Sie müssen einfach was tun. oder (in)direkte Abwertungen und Angriffe: - (Beispiel:) Liebe Frau Müller, Sie wissen doch selbst, dass diese Mengen nicht gut für Sie sind. Sie müssen ja jeden Tag sturzbetrunken sein! unbedingt vermieden werden. Respektlose Äußerungen (wie obige) würden das Arzt-PatientVerhältnis in der Folge belasten. Eine Alternative zum Gespräch besteht zudem darin, in der ärztlichen Praxis schlicht Informationsmaterial zum Thema auszulegen. Kontrolliertes Trinken (kT) als lösungsorientierte Frühmaßnahme bei zu hohem Alkoholkonsum Beim kontrollierte Trinken (kT) handelt es sich um ein verhaltenstherapeutisch basiertes Programm, welches von Prof. Dr. Joachim Körkel entwickelt wurde. Es umfasst die folgenden standardisierten Kurseinheiten: Ist-Stand: Wo stehe ich? Basiswissen Alkohol Gründe für eine Veränderung Bilanz ziehen Eigene Ziele festlegen Risikosituationen erkennen Strategien zur Trinkkontrolle Umgang mit Belastungen 'Neinsagen' - soziale Kompetenzen trainieren Umgang mit Ausrutschern Auf Kurs bleiben und die Freizeit genießen Teilnehmer bearbeiten nach einem festgelegten Schema Arbeitsblätter in Eigenregie und füllen täglich ein Trinktagebuch mit Trinkmengen und Trinkanlässen aus. Ein begleitender kT-Trainer stellt neue Themen vor und fasst wichtige Arbeitsergebnisse in Worten oder visuell zusammen. Wichtig beim kontrollierte Trinken (kT) ist, dass der Trainer nicht zu einem reduzierten Konsum drängt oder mahnt, sondern den Raum dafür öffnet, dass der Teilnehmer seine eigenen Argumente, Gefühle und Gedanken rund um das Für & Wider eines reduzierten (oder auch nicht-reduzierten) Konsums entdeckt. Das kontrollierte Trinken (kT) kann dem Patienten im ärztlichen Gespräch insbesondere dann empfohlen werden, wenn beim Patienten trotz eines hohen Alkholkonsums noch ein intaktes soziales Umfeld (Partnerschaft, Wohnung, Beruf) vorhanden ist.4 Trotzdem ist das kontrollierte Trinken (kT) grundsätzlich aber auch bei komplexeren Problemlagen geeignet. Prof. Dr. Joachim Körkel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass "… es problematisch ist, nach der vereinfachten Formel "riskanter Alkoholkonsum beziehungsweise Alkoholmissbrauch = kontrolliertes Trinken möglich" und "Alkoholabhängigkeit = kontrolliertes Trinken unmöglich" zu verfahren. Denn auch Personen mit einer Alkoholabhängigkeit können vom kontrollierten Trinken (kT) grundsätzlich profitieren. "Es deutet sich aber an, dass schwere Entzugserscheinungen, ein geringes Zutrauen in das eigene Vermögen des kontrollierten Trinkens, eine schlechte soziale Einbindung und fehlende Unterstützung im sozialen Umfeld die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bemühungen der Trinkkontrolle reduzieren." Zitat aus: "Kontrolliertes Trinken als neue Behandlungsoption – Riskanter und schädlicher Alkoholkonsum". Prof. Dr. Joachim Körkel, 2002. Diese Arbeit erschien zuerst in "Der Allgemeinarzt" 17/2002. LINK abgerufen am 30.07.2015 (PDF, deutsch). 4 Unterm Strich liegt die Trinkmengenreduktion bei der Durchführung eines Programms zum kontrollierten Trinken (kT) im Mittel bei 50%. An dieser Stelle ist zudem darauf hinzuweisen, dass sich kT Trainer durchaus als auch Wegweiser und Vermittler verstehen, die, wenn sinnvoll, auf das stationäre Hilfesystem mit Abstinenzziel verweisen und ebenso für dieses werben. Man kann es somit auch so sehen: "Kontrolliertes Trinken kann sich (…) als sinnvolles Zwischenstadium für weitergehende Veränderungsprozesse erweisen …" Prof. Dr. Joachim Körkel bezeichnet dies als "Stepped Care".5 Kontraindikatoren für das kontrollierte Trinken Wenn ein Interessent direkt von einem Abstinenzwunsch berichtet und auch zu einer stationären Entgiftung und Therapie motiviert werden kann, ist das kontrollierte Trinken als kontraindiziert anzusehen. Auch bei Schwangerschaft und/oder anderen medizinischen Indikationen, die eine Abstinenz nötig machen, stellen stationäre Entgiftung und Therapie die bessere Wahl dar, sofern diese vom Patienten angenommen werden. Als 'hartes Ausschlusskriterium' für eine Teilnahme am kT muss auch eine frühere Abstinenztherapie angesehen werden. Es erscheint wenig angemessen und moralisch fragwürdig, Teilnehmer hinter ein bereits erreichtes Ziel zurückzuführen. Auch, wenn ein solche Interessent davon berichtet, dass er sich das "kontrollierte-Trinkenkönnen" wünscht und in Zukunft plant, seine bereits erreichte Abstinenz eigenständig aufzugeben, um dann einen nunmehr kontrollierten Konsum aufzunehmen, sollte keine Ermutigung zum kontrollierten Trinken erfolgen, sondern eher ein Hinweis darauf, das genannte Vorhaben mit der (früher) behandelnden Suchtklinik noch im Vorfeld abzustimmen. Vorteile des kontrollierten Trinkens Die Vorteile des kontrollierten Trinkens (kT) liegen vor allem in folgenden Bereichen: Präventionsgewinn, Entstigmatisierung und Nachhaltigkeit. Die Möglichkeit das Alkoholproblem im Vorfeld eines völligen Kontrollverlustes – hier wäre beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes, der Verlust der persönlichen Beziehungen und der Verlust der individuellen Lebensbewältigungskompetenz gemeint – im Sinne eines 'Präventionsgewinnes' zu minimieren oder gar zu lösen, muss als positiv eingestuft werden. Zitat aus: "Kontrolliertes Trinken als neue Behandlungsoption – Riskanter und schädlicher Alkoholkonsum". Prof. Dr. Joachim Körkel, 2002. Diese Arbeit erschien zuerst in "Der Allgemeinarzt" 17/2002. LINK abgerufen am 30.07.2015 (PDF, deutsch). 5 Gelingt dieser Lösungsversuch mit dem kontrollierten Trinken nicht, kann bei dem Teilnehmer die Erkenntnis wachsen, dass eine stationäre Maßnahme – in seinem Fall – als nunmehr einzig verbleibende Option noch in Frage kommt. Damit mag ein Umweg gegangen worden sein; ein Umweg aber, der eine tiefgehende Abstinenzmotivation entstehen lässt und spätere Fragen, wie 'Ist die Abstinenz für mich wirklich nötig?' und 'Hätte ich es nicht doch auch mit dem kontrollierten Trinken geschafft?', in dieser Weise klar beantwortet: 'Ja, es ist für mich nötig, denn mit dem kontrollierten Trinken habe ich mein Ziel nicht erreicht'.6 Ist es aber so, dass der Lösungsversuch 'kontrolliertes Trinken' zum Erfolg führt, so darf dieser als entstigmatisierend und besonders nachhaltig eingestuft werden. Entstigmatisierend, weil der Konflikt noch weitgehend unter einer sichtbaren Oberfläche gelöst werden konnte; mit der Konsequenz, dass sich der Teilnehmer auch weiterhin ohne 'Etikett Alkoholiker' wahrnehmen kann. Als nachhaltig darf ein solcher Versuch durchaus gewertet werden, da eine Stärkung der persönlichen Ressourcen und die (weitgehend) eigene Steuerung der Reduktion aus Sicht der Autorin eher zu einer besonders positiven Prognose im Hinblick auf die zukünftige Vermeidung eines zu hohen Suchtmittelkonsums führt. Differenzierte Angebote Obgleich die Suchthilfelandschaft hinsichtlich der Frage 'kontrolliertes Trinken' versus 'Abstinenz' noch immer in sich gespalten erscheint, mahnen verschiedene Stimmen dazu, die Debatte zu entemotionalisieren und die Vor- und Nachteile der verschiedenen Angebote wahrzunehmen und entsprechend differenziert anzubieten. In diesem Zusammenhang spielen Ärzte eine wichtige Rolle – denn Ärzte erreichen die gefährdeten Personen im Zuge der allgemeinmedizinischen Versorgung am ehesten.7 Dipl.-Psych. A. Böing Anbieterin von LöWe ~ Lösungswege Hannover LöWe ~ Lösungswege Hannover bietet verschiedene Konsumreduktionstrainings (Alkohol, Cannabis, Zigaretten) und Bewegungsprogramme bei Adipositas (z.B. EAST) an und weist Interessenten regelmäßig auf einen begleitenden Arztbesuch hin (zu Beginn, währenddessen, am Ende des Programms). Kann für den Teilnehmer keine befriedigende Lösung durch ein Training oder Programm gefunden werden, kann über den bereits bestehenden Kontakt zum Arzt schnell eine Einweisung in eine geeignete Fachklinik erfolgen. Sept. 2015 6 vgl. "Stepped Care" "Kontrolliertes Trinken als neue Behandlungsoption – Riskanter und schädlicher Alkoholkonsum". Prof. Dr. Joachim Körkel, 2002. Diese Arbeit erschien zuerst in "Der Allgemeinarzt" 17/2002. 7 KONTAKTANGABEN LöWe ~ Lösungswege Hannover Dipl.-Psychologin und Fitness- und Gesundheitstrainerin (DTA) Agnes M. Böing Leo-Rosenblatt-Weg 6 30453 Hannover Mobilnummer: 0152 / 274 895 40 www.loesungswege-hannover.de [email protected]