1 Hein Retter Soziales Handeln, Menschenwürde und

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Hein Retter
Soziales Handeln, Menschenwürde und Pragmatismus 
Vorklärungen zur Frage: Sollen Kinder zu künftigen Organspendern erzogen werden?
Ungeachtet aller Dynamik der Migration ist Polen heute ein religiös und ethnisch homogenes Land.
Der deutsche Soziologe Hans Joas verweist in seinen jüngsten Studien über Pragmatismus, Religion
und Menschenwürde mehrfach auf Polen als Vorbild für Europa1, weil sich das polnische Volk in der
Präambel zur Verfassung von 1997 zu gesellschaftlicher Pluralität bekennt wie zur Teilhabe an
gemeinsamen, unaufgebbaren Werten.2 Die Präambel besagt: Bei uns leben Menschen
unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Weltanschauung, unterschiedlicher ethnischer Herkunft.
Gesellschaftliche Pluralität fordert auf zum Glauben an einen gemeinsamen Horizont des Humanen.
Dieser gemeinsame Wille stellt ein bindendes Element dar, welches individuelle Differenzen und
soziale Heteronomie überwindet. Mein Thema „Organspende“ hat damit zu tun.
I.
Wenn wir das Soziale ergründen wollen in den gelebten Formen des Alltags, dann stoßen wir
angesichts der intra- und interkulturellen sozialen Vielfalt sehr bald auf Grundsatzfragen: Ist der
Mensch von Natur aus angelegt auf Individualität oder auf Sozialität? Auf Einheit oder
Verschiedenheit? Auf Anpassung an die Verhältnisse oder auf Befreiung von diesen Verhältnissen?
Natürlich lässt sich darauf antworten, der homo sapiens sei auf beides angelegt, auf Sozialität und
Individualität. Doch diese Antwort wird in ihrer Trivialität der komplexen Realität in keiner Weise
gerecht. Sie ignoriert die Fülle der Theorien, die die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen
dem individuellen Selbst und dem sozialen Selbst einbinden in übergreifende Kontexte. Sozialtheorien
stehen heute nicht isoliert für sich da, sondern sind vernetzt mit Hermeneutik, Semiotik,
Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg, 2.
Aufl. 2007, S. 147. Ferner: Hans Joas, Interview mit Publik Forum. Zeitschrift kritischer Christen, Nr.
10, 25. Mai 2007. Online: http://www.ev-akademie-rheinland.de/themen/Joas-Religionen-Europa.php
2
„...wir, das Polnische Volk - alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die
Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die
diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, wir alle,
gleich an Rechten und Pflichten dem gemeinsamen Gut, Polen, gegenüber, in Dankbarkeit gegenüber
unseren Vorfahren für ihre Arbeit, für ihren Kampf um die unter großen Opfern erlangte
Unabhängigkeit, für die Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen
Werten verwurzelt ist, an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend,
verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen
weiterzugeben, ... [beschließen] uns die Verfassung der Republik Polen zu geben als grundlegendes
Recht des Staates ...“Online: http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm
1
2
Sprachphilosophie, Strukturalismus, Konstruktivismus und Politiktheorien. Einer dieser möglichen
Kontexte des Sozialen ist der Pragmatismus.
Pragmatisch handeln meint, in einer Situation das tun, was machbar ist. Das Gegenteil von pragmatisch
ist dogmatisch oder auch prinzipienbestimmt. Das Gute ist gut, das Wahre ist wahr, aber was ist das
Soziale? Jedenfalls ist das Soziale nicht einfach nur ein Ideal wie das Wahre und Gute, sondern etwas
Hochkompliziertes. Unserem Bewusstsein bietet sich das Soziale als ein Phänomen dar, das sich
ständig zwischen Sein und Sollen, Wunsch und Wirklichkeit bewegt. Gewöhnlich meint man mit
sozialem Verhalten einen positiven gemeinschaftsbildenden Wert, den wir im Alltag schlicht
voraussetzen, wenn wir mit anderen kommunizieren. Bei aller Dynamik der modernen Kommunikation
bestimmt der soziale Bezug die Mehrzahl unserer festen Gewohnheiten. Soziale Offenheit ist der
Garant unseres Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Alltages. Es war die These von George H.
Mead, dass das Soziale ein Konstrukt unserer wechselseitigen Erwartungen darstellt.
Die Einlösung unserer Vermutungen durch die Realität ist allerdings oft erwartungswidrig. Das
Verhalten von Mensch zu Mensch ist keineswegs immer nur gut im Sinne von Vertrauensbildung,
Kooperationsbereitschaft und Fairness. Es kennt ebenso subtile oder offener Gewalt,
Konkurrenzstreben, Besitzneid, Ausbeutung und Herrschaft. Wir werden in eine bestimmte soziale
Welt hineingeboren. Doch wir lernen im Zuge der Sozialisation auch, die Mitglieder unserer sozialen
Netze, Freunde und Partner auszuwählen. Das wichtigste soziale Unterscheidungskriterium, das uns die
Evolution mitgegeben hat, ist die Fähigkeit, bei einer Erstbegegnung zu unterscheiden, ob eine andere
Person, die wir sehen, zur eigenen Gruppe gehört, so dass man ihr vertraut, oder ob es jemand ist, den
man besser meidet. Soziales Erkennen ist lebenswichtig.
Für den Literaturnobelpreisträger Octavio Paz (1914-1998) ist die Grundbefindlichkeit der Menschen
9seines Heimatlandes Mexiko nicht soziale Vertrautheit, die Sicherheit schenkt, sondern das
Gewahrwerden der eigenen Einsamkeit  inmitten von sozialen Fragwürdigkeiten aller Art, die
öffentlich unter der Maske ehrbarer Rechtschaffenheit auftreten.3 Wenn man ständig gezwungen ist,
das eigene Überleben zu sichern, dominiert das Gefühl des Alleinseins. Soziale Anteilnahme als
prägende Grunderfahrung kann sich offenbar nur ausbilden in einer Kultur, die ein Mindestmaß an
öffentlicher Gerechtigkeit, persönlicher Sicherheit und Hoffnung gewährt. Nehmen wir an, diese
„Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich einsam weiß, das einzige, das nach dem ‚anderen’
sucht. Seine Natur  sofern man bei ihm überhaupt davon sprechen kann, da er sich selbst gefunden
hat, indem er nein zur Natur sagte  ist ein einziges Streben, sich selbst im ‚anderen’ zu verwirklichen.
So ist der Mensch Suche und Sehnsucht nach Kommunikation“ (Octavio Paz, Das Labyrinth der
Einsamkeit. Essay. Baden-Baden 1984, S. 189).
3
3
Voraussetzung sei in Deutschland wie in Polen gegeben. Müssen wir aus sozialen Motiven dann nicht
im Fall des Falles für andere Organspender sein?
II.
Diese Frage beschäftigt die Bioethik und  als das zentrale Expertenforum der Bundesrepublik  den
Deutschen Ethikrat.4 Sie kennt sowohl grundsätzliche als auch pragmatische Antworten. Anderen
todkranken Menschen mit der eigenen Leber, Niere oder Bauchspeicheldrüse ein gesundes Weiterleben
zu ermöglichen entspricht sozialethischer Verantwortung. Wie dringend menschliche Organe zur
Transplantation benötigt werden, beleuchtete in Deutschland schlaglichtartig der sogenannte
Organspendenskandal: In mehreren Transplantationszentren wurde die Reihenfolge in den Wartelisten
jener Patienten manipuliert, die dringend eine Organübertragung benötigen. Es sind zu wenig Organe
zur operativen Verpflanzung vorhanden.5 Statistisch gesehen sterben täglich drei Patienten in
Deutschland, die durch eine Organspende die Chance hätten, weiter zu leben.
In einer TV-Sendung des Südwestfunks vom 9.2.2012 hieß es: „Etwa 12 000 Menschen warten derzeit
auf ein passendes Organ. Doch obwohl fast 70 Prozent der Deutschen laut Umfragen bereit sind nach
ihrem Tod Organe oder Gewebe zu spenden, machen nicht einmal 20% ihre Zusage mit einem
Organspende-Ausweis verbindlich.“6 Die Zahl der Organspender ist inzwischen offenbar leicht
gestiegen. Eine Meldung de zweiten Jahreshälfte von 2013 besagt: Etwa 11.000 Patienten warten in
Deutschland auf eine Organspende: „Laut einer repräsentativen Befragung der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung sind 74 Prozent der 14- bis 75-Jährigen bereit, nach ihrem Tod zu spenden.
Doch nur 25 Prozent der Befragten sind in Besitz eines Organspendeausweises.“7 Eine solche
Befragung aller Bürger und Bürgerinnen wurde in der Bundesrepublik Deutschland zum 1.11.2012
erstmals durchgeführt. Sie erfolgte durch die Krankenkassen und soll regelmäßig wiederholt werden.8
Vgl. die thematisch relevanten Expertisen, Referate und Pressemitteilungen des Deutschen Ethikrates.
http://www.ethikrat.org
4
5
Die Diskussion um eine gerechte Organzuteilung an bedürftige Patienten macht das Dilemma deutlich, dass die
Dringlichkeit einer Transplantation in Widerspruch zu deren Erfolgsaussichten stehen kann. Vgl. das Referat des
Greifswalder Philosophen Micha H. Werner auf der Plenarsitzung des Deutschen Ethikrates am 26.9.2013 zum Thema:
Kriterien gerechter Organallokation (innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft).
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-26-09-2013-werner-ppt.pdf
http://www.swr.de/odysso/-/id=1046894/nid=1046894/did=9079648/1ccwi8d/
Zitiert nach: www.organspende-info.de/infothek/gesetze/entscheidungslösung
8 Die „Entscheidung“ für oder gegen Organentnahme will der Gesetzgeber nicht als Verpflichtung zu
einer Erklärung verstanden wissen, sondern als eine Motivierung dazu. Sie wird derzeit weder in einem
Zentralregister festgehalten, noch besteht ein Zwang, auf die Anfrage der Krankenkasse zu antworten.
Es ist geplant, die Bereitschaft zur Organspende auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zu
6
7
4
Sollte nicht jeder Mensch einen Organspende-Ausweis besitzen, der die Einwilligung zur Organ- und
Gewebeentnahme dokumentiert bei ärztlicher Feststellung des Hirntodes?9 Beide großen Kirchen
gaben dazu ihr grundsätzliches Ja als einem Gebot der Nächstenliebe.10 Der Bochumer Philosoph Klaus
Steigleder betont: Die vorherrschende Ansicht in Deutschland unterliege einem fundamentalen Irrtum,
wonach die postmortale Organspende zwar für lobenswert gehalten wird, doch nichts sei, „zu dem man
verpflichtet sein könnte.“ 11 In Wahrheit erfülle jeder Bürger, jede Bürgerin, mit der Bereitschaft zur
Organspende eine für human denkende Menschen selbstverständliche moralische Pflicht. Denn eine
erklärte Spendenbereitschaft beinhaltet keinerlei Schadensrisiko  im Gegensatz zur Lebendspende,
mit der durchaus Risiken der Gesundheitsbeeinträchtigung verbunden sind.
In der Tat: Die Organentnahme von für hirntot erklärten Patienten rettet Organempfänger vor dem
sicheren Tod und ermöglicht ihnen ein Weiterleben. Jeder könnte selbst in die Lage kommen, auf eine
Organ- oder Gewebespende angewiesen zu sein. Das Geben und Nehmen ist wechselseitig. Bei aller
Differenz der praktizierten Lebensform, der ethnischen Zugehörigkeit und des religiösen Bekenntnisses
ist die Rettung des Lebens von schwerstkranken Mitbürgern durch postmortale Organspenden auch in
einer pluralistisch orientierten Gesellschaft ein Wert, der von allen Menschen geteilt werden sollte.
Deshalb gilt: „Moralisch gesehen müsste jeder Organe spenden. Er rettet so Leben, ohne sich zu
schaden.“12 Aus dieser Perspektive, die sich mit der Stellungnahme vieler die Organentnahme
befürwortenden Institutionen deckt, ist die „Organspende“ der moralisch gebotene und gesetzlich zu
verankernde Regelfall, Abweichungen werden zugelassen, sollten jedoch nach Steigleder Ausnahmen
sein.
registrieren, welche zum 1.1. 2014 die Krankenversicherungskarte von 1995 ersetzen soll. Das würde
auf einfache Weise die Einrichtung eines Zentralregisters ermöglichen.
9
Als transplantierbare Organe gelten: Lunge, Herz, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse und
Dünndarm. In Einzelfällen wurden auch Körperteile wie Gesicht, Hände, Arme, Luftröhre, Kehlkopf,
Zunge und Penis entnommen. Zu den transplantierbaren Geweben gehören: Haut, Knochen und
Knochenteile, Herzklappen, Herzbeutel, Augen, Blutgefäße, Knorpelgewebe, Sehnen und Bänder.
http://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/was-es-wirklich-bedeutet-organe-zu-spenden-ein-blick-aufdie-dunkle-seite?context=blog
10 Vgl. die gemeinsame Erklärung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland 1990, wonach die postmortale Organspende Gebot der
Nächstenliebe sei. http://www.ekd.de/EKD-Texte/organtransplantation_1990.html
11 Als inhuman kritisiert Steigleder damit die in der Bundesrepublik gültige „erweiterte
Zustimmungslösung“ zugunsten der in Österreich und vielen anderen Ländern vorherrschenden
„Widerspruchslösung“. Klaus Steigleder, Die Pflicht zu helfen. In: Süddeutsche Zeitung, v. 7.10.2013,
Nr. 231, S. 2.
12 Steigleder, ebenda.
5
Zu fragen ist: Gibt es nicht auch sachliche Unklarheiten, medizinische Risiken und persönliche
Überzeugungen, die dem Gedanken widersprechen, die postmortale Organentnahme zur fast
ausnahmslos geltenden Bürgerpflicht zu erheben? Und es gibt es nicht das Recht, eine solche von der
sozialen Norm abweichende Überzeugung öffentlich vertreten zu dürfen, ohne dass Verweigerer
befürchten müssten, im gesellschaftlichen Urteil als mitleidslos, unsozial oder unmoralisch zu gelten?
Wie also hat eine sozial denkende Gesellschaft zu handeln? Muss sie nicht erwarten können, dass jeder
Bürger, jede Bürgerin, den eigenen Körper im Todesfall anderen zum Weiterleben zur Verfügung
stellt? Oder wird der Begriff „Spende“ zur Schönfärberei, weil ein unerhört starker medizinischer
Bedarf moralische Nötigung erzeugt? Denn es ist auch klar: Nur weil das technische Manko
Organmangel in Transplantationszentren vorhanden ist, wird die Gesellschaft in die Pflicht
genommen, werden alte Gesetze geändert und neue eingeführt, wird eine in ihrer Art bisher
einzigartige gesellschaftliche Mobilisierung zur Steigerung der Organspendenbereitschaft durchgeführt.
Haben wir diese Pflicht nicht mit anderen Pflichten in Beziehung zu setzen, die durch Präferierung
dieser Pflicht Vernachlässigung erfahren angesichts des Ausmaßes gesellschaftlicher Aktivierung und
finanzieller Investierung, um die Anzahl der Organspenden zu erhöhen?
Die Transplantationsmedizin benötigt keine Sargleichen, sondern körperwarme, recyclefähige
Biomasse, deren weitere Verwendung den Qualitäts- und Sicherheitsstandards der Europäischen Union
untersteht.13 Was heißt medizinisch gesehen tot? Der sogenannte Hirntod ist das, worauf sich die
Experten einigten. Um sein Eintreten zweifelsfrei festzustellen werden zahlreiche Sicherungen
getroffen, aber wann der Hirntod eingetreten ist, beruht auch nach Durchführung einer Vielzahl von
diagnostischen Verfahren auf dem Erfahrungsurteil der Ärzte, zumal die gültigen Kriterien für die
Diagnose „Hirntod“ in den Ländern der Europäischen Union durchaus unterschiedlich sind. „Ärzte
erklären Patienten oft fälschlich für hirntot“, heißt es jüngst in einem Zeitungsbericht.14 Der
intensivmedizinisch am Leben erhaltene Hirntote reagiert. Ist die Schmerzempfindlichkeit trotz der sie
prüfenden Reaktionstests wirklich voll und ganz auszuschließen, wie behauptet wird? Eine hirntote
Frau ist noch gebärfähig. Der Gesamthirntod ist kein absolutes, sondern ein pragmatisches, ja ein
womöglich für die Organentnahme „erfundenes“ Kriterium, hinter dem sich ethische Grundsatzfragen
verbergen.
Richtlinie 2004/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur
Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung,
Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen.
14 Süddeutsche.de vom 18.2.2014. http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/falsche-todesdiagnosen-inkrankenhaeusern-aerzte-erklaeren-patienten-oft-faelschlich-fuer-hirntot-1.1891373
13
6
Der Entscheidungswille und die zu schützende Würde der Persönlichkeit reichen über das individuelle
Lebensende hinaus. Die Transplantationsmedizin verbindet mit dem erklärten Hirntod des Menschen
ein Verwertungsinteresse, das einerseits dem allgemeinen Wohl dient, andererseits dem Schutz der
Person und dem Wunsch, ihm ein Sterben in Würde zu ermöglichen, zu widerstreben scheint.15
Zweifellos hat sich bei der Organentnahme von Hirntoten durch verantwortungsbewusste Ärzte ein
Vorgehen herausgebildet, das der Achtung der Menschenwürde Rechnung trägt.16 Aber das schließt
Folgeprobleme und Entscheidungsdilemmata nicht aus. Die Statistik vernachlässigt Einzelfälle, die
Moral niemals.
Die Steigerung der Quote lebensrettender Transplantationen zum gesellschaftlichen Anliegen zu
machen bedeutete in vielen Ländern die Einführung der sogenannten Widerspruchsregelung: Sie führt
nach erklärtem Hirntod zur Entnahme von Organen zum Zwecke späterer Transplantation nach Prüfung
ihrer Unversehrtheit und vollen Funktionsfähigkeit  falls beim Hirntoten kein zu Lebzeiten
dokumentierter Widerspruch erfolgte. Wer in Ländern mit Widerspruchsregelung in den Urlaub fährt,
kann zum Organspender wider Willen werden und muss dort im Falle eines tödlichen Unfalls bei nicht
dokumentierter Verweigerung mit der Möglichkeit der Organentnahme rechnen.17 In Deutschland gilt
die erweiterte Zustimmungsregelung: Sie besagt, die postmortale Organentnahme bedarf der
ausgewiesenen Zustimmung des Spenders. Es besteht noch kein Zwang für Bürgerinnen und Bürger,
eine Entscheidung für oder gegen die Organspende zu treffen, und es existiert auch noch kein
Zentralregister, sie zu dokumentieren. Mit beidem wird in naher Zukunft wohl zu rechnen sein.
Selbstverständlich wird man mit sanfter Nachdrücklichkeit zur Organspendenerklärung in die Pflicht
genommen. Wer nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widerspricht, überlässt im Todesfall die Entscheidung
den nächsten Angehörigen, die nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entscheiden sollen 
deshalb spricht man von erweiterter Zustimmung , ansonsten ist die Organentnahme der Medizin
gestattet.
III.
Die persönliche Distanz zur postmortalen Organspende ist, folgt man dem oben entwickelten Gedanken
der Pflicht der Vernunft, eine gegen den politischen und moralischen Willen der Gesellschaft
15
Vgl. Sören Hoffmann, Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht. Biomedizin
und Menschenwürde. Stellungnahmen von Ulrich Eibach u. a., ZEI Discussion Paper C 97 2001, Bonn 2001, 57-66.
Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Bonn. Online: www.ruhr-uni-bochum.de/kbe/Hoffmann01.doc
Vgl. Bernd Kottler, Organspende aus Sicht der Intensivmedizin. www.lpbbw.de/publikationen/organ/organ7.htm
16
17
Kann man in Europa zum Organspender wider Willen werden? www.krankenkassen.de/ausland/organspende
7
vollzogene Verweigerung einer humanen Hilfeleistung. Kann man dann noch von freier Entscheidung
sprechen, wenn Widerspruch moralischer Geringschätzung unterliegt (die hier nur als mögliche
Zukunftsvision unterstellt wird, denn das soziale Klima, in dem das Problem Organspende diskutiert
wird, ist in der Bundesrepublik durchaus liberal)?
Da reaktionsfähig, ist der hirntote, ohne Bewusstsein künstlich am Leben erhaltene Körper noch als
Leib zu bezeichnen, wenn er den Ärzten zur Organentnahme überlassenen wird. Ob er jenseits des
rationalen Wachbewusstseins in gewisser Weise noch einer jeder Messung verborgenen
„Wahrnehmung“ fähig ist, bleibt unter Medizinern umstritten.18 Wie auch immer darüber geurteilt wird:
Wenn der bewusstseinslose Leib mit dem eigenen Ableben noch für andere lebensrettend sein kann,
untersteht er nicht mehr voll der eigenen, gedanklich über den Tod hinaus reichenden
Verfügungsgewalt. Jeder sollte wissen: Wenn du für tot erklärt bist und du vorher  aus welchen
Gründen auch immer  zögertest, dich zu entscheiden, dann gehört dein gehirntoter Körper der
Gesellschaft  falls Deine nächsten Angehörigen die befragt werden, auf der Grundlage der vermuteten
Kenntnis deines Willens dies nicht verweigern. Die erweiterte Zustimmungsregelung gilt zum Beispiel
auch in Dänemark, Griechenland, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz.
Die hier skizzierte Problemlage berührt persönliche Einstellungen sowie Fragen des Naturrechts, der
Ethik, der Religion, der Menschenwürde. Aber es fehlt auch an hinreichender Information und
Aufklärung. Du weißt zwar, wem du im Testament deine Plattensammlung vererbst, mahnt ein OnlineKurzfilm, aber an deine (postmortale) Nierenspende hast du nicht gedacht!
Während Belgien, Spanien und Norwegen die Länder mit der höchsten Organspendebereitschaft in
Europa sind, ist Deutschland ein „Organ-Importland“.19 Anders als bei uns spielt etwa in Norwegen das
Thema Organspende in der öffentlichen Diskussion keine bemerkenswerte Rolle. Doch warum spenden
fast 90 % der Norweger, aber nur 20-25 % der Deutschen im Todesfall Organe?20 Darüber kann nur
spekuliert werden. Sicherlich sind historische Erfahrungen, unterschiedliche Traditionen und
Mentalitäten ein Faktor, aber das erklärt nicht alles. Alle zu diskutierenden Probleme, die den Umgang
18
Die Lehrmeinung geht von der Nichtwahrnehmungsfähigkeit aus. Davon abweichend bezeichnet zum Beispiel der
Internist Paolo Bavastro, der über Jahre hinweg eine hirntote Patientin betreute: „Hirntote sind definitiv nach der Biologie
und nach den Phänomenen nicht tot. ... Es gibt aber viele Phänomene, auch bei der Organentnahme, die zeigen, dass diese
Menschen auf anderen Ebenen, Tiefbewusstseinsebenen oder viel tiefere Ebenen, die wir vielleicht gar nicht benennen
können, etwas wahrnehmen.“ www.swr.de/odysso/-/id=1046894/nid=1046894/did.../index.html
19
Süddeutsche.de, 26.1.2012: Warten auf ein Spenderorgan. Deutschland ist Organ-Importland.
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/warten-auf-ein-spenderorgan-auf-leben-und-tod-1.1264775-2
DIE WELT, 14.10.2012: Transplantationen: Warum Norweger mit ihren Organen spendabel sind.
http://www.welt.de/politik/ausland/article109816798/Warum-Norweger-mit-ihren-Organen-spendabelsind.html
20
8
mit menschlichem Leben betreffen, werden bei uns von der historischen Schuld des verbrecherischen
Umgangs mit menschlichem Leben in der NS-Diktatur überschattet. Diese historische Erfahrung lässt
alle Fragen, die Anfang und Ende des Lebens im Kontext des medizinischen Fortschritts betreffen,
besonders gründlich diskutieren, auch wenn die dunkle Vergangenheit der „Rassenhygiene“ die
Möglichkeit der Lebensverlängerung durch Organspenden nicht direkt tangiert. Von den Medien
aufgegriffene Ereignisse, seien sie negativer Art wie der Organspendenskandal, seien sie positiver Art
wie die Rettung von Menschenleben durch Organspenden in besonders dramatischen Situationen, sind
allerdings geeignet, die öffentliche Meinung erheblich zu beeinflussen. Davon abgesehen hat die Kultur
des prinzipiellen, kritischen und alternativen Denkens bei den Deutschen einen relativ breiten
historischen Hintergrund, der in anderen Ländern weniger intensiv anzutreffen ist. Auch der
vorliegende Beitrag verzichtet selbstverständlich nicht auf kritische Rückfragen.
Über problematische Aspekte der Organentnahme ist angesichts des steigenden öffentlichen Interesses
an der Auffüllung der Organbanken verständlicherweise wenig zu hören. Darüber erfährt man mehr bei
alternativen Organisationen wie den „Interessen-Gemeinschaften [IG] kritische Bioethik Deutschland“.
Sie setzen sich ein für Menschen mit Behinderungen, Koma-Patienten, Alzheimer- und Demenzkranke.
Sie kümmern sich auch um Probleme der Pflegebedürftigen, kritisieren die (fremdnützige) Forschung
an nicht-einwilligungsfähigen Menschen, und sie bietet einen Nicht-Organspendeausweis an.21
In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die katholische Kirche zwar der postmortalen
Organspende ihre volle Zustimmung gibt und Kardinal Josef Ratzinger lange Zeit vor seiner Wahl zum
Papst einen Organspende-Ausweis besaß, als Papst Benedikt XVI. jedoch für Organspenden nicht mehr
zur Verfügung stand. Dies wurde bekannt, nachdem ein katholischer Münchner Arzt als „bekennender
Organspende- und Hirntodkritiker“22 eine Anfrage an den Vatikan richtete. „Der polnische Erzbischof
Zygmunt Zimowski sagte der italienischen Zeitung ‚La Republica’, die Leiche des Papstes müsse intakt
bleiben, da sie der gesamten Kirche gehöre. Man müsse dies auch im Zusammenhang mit einer
möglichen künftigen Verehrung sehen, erklärte Zimowski.“23 Ob Benedict als emeritus daran festhält,
und sein Amtsnachfolger, der reformfreudige Papst Franziskus, ebenfalls von der möglichen
Organspendebereitschaft entbunden wurde, ist bislang nicht publik geworden.
http://www.organspende-widerspruch.de/
http://www.organspendekampagne.de/organspende_news_papst-organspender-02-02-11.html
23 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 4.2.2011: Papst ist kein Organspender mehr.
http://www.derwesten.de/panorama/papst-ist-kein-organspender-...1
21
22
9
Als Erziehungswissenschaftler muss ich mich fragen: Sollen Lehrer im Unterricht eine Ethik
vermitteln, welche die Organspende als soziale Selbstverständlichkeit einfordert oder ist ein
Nachdenken zu fördern, das die Organspendenbereitschaft zur abwägenden Gewissensentscheidung
macht, die gegebenenfalls auch zur Verweigerung führt? Eines ist unbestritten: Alle im Zusammenhang
mit Fragen der Organspende zusammenhängenden Probleme und Erfahrungen sind ein neues wichtiges
Themenfeld für die familiäre und schulische Bildung, das noch der Erschließung harrt.
Viele Menschen haben eine „Patientenverfügung“ unterschrieben, um im Sterbeprozess auf
lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Die  möglicherweise über viele Jahre sich
erstreckende  Aufrechterhaltung des komatösen Zustandes durch intensivmedizinische Maßnahmen
wird vielfach weder als eine glückliche Form „ewigen Lebens“ auf Erden, noch überhaupt als
würdevoll empfunden. Intensivmedizin kann an ein und demselben Patienten einerseits
lebenserhaltend, andererseits organprotektiv in Erscheinung treten. „Organspende“ und
„Patientenverfügung“ schließen sich theoretisch zwar nicht völlig aus, sind aber praktisch kaum
gleichzeitig umsetzbar, denn: „Organe können nur für Transplantationen verwendet werden, wenn der
Kreislauf und damit die Blutversorgung im Körper nach einem Hirntod noch weiter funktioniert.“24 Es
liegt nahe, den bewussten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen  bei Feststellung des
irreversiblen Verlöschens aller Hirnfunktionen im Sterbeprozess  als moralisch nicht völlig korrekt zu
bewerten, weil damit der sozialen Verwertbarkeit des eigenen Körpers nicht Vorrang gegeben wird.25
Moralische Korrektheit, wie sie heute von Politikern und anderen Repräsentanten des öffentlichen
Lebens demonstriert wird, signalisiert die beiläufige Erwähnung des eigenen Organspende-Ausweises.
Diese Vorbildfunktion schon sozialen Zwang zu nennen wäre übertrieben, aber sie markiert eine
Tendenz. Aus diesem Grund erscheint die derzeit in der Bundesrepublik existierende erweiterte
Zustimmungslösung in ihrer Liberalität keineswegs inhuman. Sie ist, auch indem sie abgestufte
Optionen von Organspendenbereitschaft anbietet, durchaus sinnvoll, um eine individuelle
Gewissensentscheidung zu ermöglichen.
Wenn man auf Grund erfolgreicher Erziehung das Ausweiden des eigenen Körpers im Todesfall als
lebensverlängernde Hilfe für Mitmenschen oder auch nur zur Gewinnung von Substanzen für
stern.de, vom 1.11.2012: „Kassen starten Versand von Organspende-Ausweisen.“
http://www.stern.de/wirtschaft/news/reform-tritt-in-kraft-kassen-starten-versand-von-organspendeausweisen-1919084.html
25 Deweys instrumenteller Pragmatismus besagt, „dass das moralische Urteil und die moralische
Verantwortung das in uns gewirkte Werk der sozialen Umwelt sind“. John Dewey, Die menschliche
Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten. Berlin 1931, S. 327.
24
10
Medikamente positiv zu sehen gelernt hat: sollte dann erlaubt sein, das vom eigenen Körper zu
verkaufen, was der aktuelle Stand der Transplantationsmedizin zulässt, um bestehender ökonomischer
Existenznot zu begegnen? Wird dem Kind einer armen Familie der regenerierungsfähige Teil einer
Leber entnommen, können beide überleben, wenn diese Familie vom vermögenden SpendenEmpfängers zum Beispiel eine lebenslange Rente erhält.
Dieser Gedanke ist ethisch absolut verletzend, selbst wenn, wie in dem konstruierten Beispiel, eine für
alle Beteiligte hilfreiche Problemlösung sichtbar ist. Der Pragmatismus ist keineswegs unmoralisch,
doch er lehnt Absolutsetzungen ab. Ihm kommt es nicht auf das Wesen einer Handlung, sondern auf
dessen Ergebnis an. Dass damit der wirtschaftlichen Ausbeutung ärmerer Bevölkerungsgruppen
Vorschub geleistet wird, liegt auf der Hand, aber pragmatisches Vorgehen bedeutet nicht, derartig
schwerwiegende Konsequenzen außer Acht zu lassen oder gar zu tolerieren. Weltweit gilt der
kommerzielle Organhandel als ethisch verwerflich, er findet illegal jedoch statt  mit zunehmender
Tendenz.26 Die Gesetzeslage zur postmortalen Entnahme von Organen und deren Verwertung ist in den
Ländern der Welt extrem unterschiedlich.27 Die staatlich kontrollierte Legalisierung des Organhandels
wurde von einzelnen Stimmen schon gefordert.28
Der Verkauf lebenswichtiger Organe des eigenen Körpers verstößt gegen die Menschenwürde, der
Verkauf von eigenem Blut  in Form einer Aufwandsentschädigung, die von dem betreffenden
Blutentnahme-Dienst gezahlt wird  ist es nicht. Gegenüber der freiwilligen Blutspende gilt diese
Praxis jedoch als moralisch grenzwertig. Werbung zu machen für die bezahlte Blutentnahme ist in
Deutschland gesetzlich untersagt. Doch neben echter Spendenbereitschaft ohne Entgelt sind
ökonomische Notlagen nach wie vor ausschlaggebend für die gesetzlich erlaubte Abgabe von eigenen
Körpersubstanzen gegen Bezahlung. Die Online-Zeitung Bild.de berichtete am 5. Juni 2009 als Folge
der Wirtschaftskrise: „US-Bürger verkaufen Blut, Haare und Sperma“. Man spart Bestattungskosten,
wenn man seinen Körper nach dem Ableben der Medizin überlässt. In deutschen Universitätskliniken
ist das Überangebot an echten Leichen zum Problem geworden.29
„Dramatischer Anstieg des weltweiten illegalen Organhandels“. Von Sven Heymanns, 5. Juli 2012.
World Socialist Web Site: http://www.wsws.org/de/articles/2012/07/orga-j05.html
27 In Deutschland bilden das 2012 novellierte „Transplantationsgesetz von 1997 und „Gewebegesetz“
von 2007 den Rechtsrahmen. Zur Übersicht vgl. den Wikipedia-Artikel „Organspende“.
http://de.wikipedia.org/wiki/Organspende
28 „Ökonom für Legalisierung des Organhandels. Darf der menschliche Körper veräußerliche Ware
sein?“ Online: https://www.thieme.de/viamedici/aktuelles/wissenschaft/26_organspende.html
29 Miriam Olbrisch, Körperspender-Stau: Leichen über Leichen. 14. Mai 2012.
26
11
Wer bereit ist, einem schwerkranken nahen Verwandten eine Niere zu spenden, verdient Respekt. Es
wäre verfehlt, hier ein allgemeines moralisches Gesetz in Anwendung bringen zu wollen, das dazu
verpflichtet. Es ist ein völlig anderes Motiv, welches Spender nötigt, so zu handeln: Liebe! Zwar kennt
auch die Pflichtethik der praktischen Vernunft Immanuel Kants ein Gebot der Nächstenliebe, aber die
darin ausgedrückte Solidarität bleibt ein rationales Prinzip, das ein Handeln aus subjektiver
Anteilnahme nicht kennt.30 Die Nächstenliebe in ihrer Fülle und emotionalen Tiefe, sei sie christlich
begründet, sei sie aus anderen Quellen gespeist, wird damit nicht erfasst. Liebe ist zwar als formales
Gebot zu fordern, die Forderung „Du sollst mich lieben!“ ist aber nicht realisierbar, sondern erliegt
einer ausweglosen Beziehungsfalle, wie sie der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (19212007) als „Sei-Spontan!“-Paradox beschrieb.31 Folgerichtig ist auch im oben erwähnten Beitrag von
Klaus Steigleder, der die „Pflicht zu helfen“ einfordert, von Liebe nicht die Rede. Die moralische
Pflicht fordert apodiktisch. Das „Du sollst!“ duldet keinen Widerspruch, kein Ausweichen.
Demgegenüber ereignet sich die Liebe in Freiheit. Sie benötigt weder Ausnahmen vom moralischen
Gesetz, noch neigt sie dazu, über diejenigen den Stab zu brechen, die diese Liebe nicht aufbringen
können oder sich ihr versagen. Sie ist frei vom moralischem Gesetz, dessen Grenzen sie sprengt, ohne
es zu missachten. Es scheint mir deshalb nicht hilfreich, die Lebendorganspende dem moralischen
Gesetz der Vernunft zu unterstellen, um diese Unterstellung anschließend als „fundamentalen Irrtum“
argumentativ demontieren zu wollen, gleichzeitig jedoch die altruistische Liebe als das
ausschlaggebende Handlungsmotiv unberücksichtigt zu lassen.
Tatsächlich erwächst die Bereitschaft zur Organspende sei sie lebend oder postmortal erbracht, bei
vielen Menschen nicht durch die Moral, sondern aus Nächstenliebe. Es hat seinen guten Grund, dass
die gesetzlich geregelte, altruistische Lebendspende auf die nächsten Angehörigen als
Spendenempfänger beschränkt bleibt. Die steigende Bereitschaft zur Organ- oder Gewebespende ohne
ökonomisches Motiv ist Indiz für ein neues Bewusstsein, das hilfsbereite Bürger sich als Mitglieder
einer Solidargemeinschaft verstehen, selbst unter Inkaufnahme von beträchtlichen Risiken. Dass an
Blutkrebs erkrankte Kinder vor dem sicheren Tod bewahrt wurden mittels einer Knochenmarkspende,
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/uni-kliniken-klagen-ueber-zu-viele-koerperspenden-a830950.html
30 Kritik an Kants rigoroser Ethik übte bekanntlich Friedrih Schiller mit dem Distichon: Gerne dien'
ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mich oft, dass ich nicht
tugendhaft bin.
31 Vgl. Hein Retter, Studienbuch Pädagogische Kommunikation. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2002, S. 166
ff.
12
berichten Medien immer wieder.32 Die Bereitschaft in der Bevölkerung zur Registrierung und
Typisierung des eigenen Knochenmarks ist gewachsen, um im Bedarfsfall als Spender zur Verfügung
zu stehen. Die Entnahme von Stammzellen aus dem Beckenkamm eines Spenders oder einer Spenderin
ist ein operativer Eingriff unter Vollnarkose, der in der Tat über eine moralische Pflichterfüllung weit
hinausgeht. Hier ist Nächstenliebe, die Selbstgefährdung nicht scheut, wirksam. Die OnlineRegistrierung vereinfacht die Erfassung von Spendern. Die Ambivalenzen des Verfahrens werden
deutlich, wenn man liest, dass zum Beispiel homosexuelle Männer wegen des erhöhten HIV-Risikos
als Spender ausgeschlossen sind.33 Für spendenwillige Betroffene, die helfen wollen, klingt dieses
Urteil in seiner Allgemeinheit diskriminierend. Andererseits: Sind Organ-Empfänger tatsächlich sicher
vor Risiken, die durch Benennung einer ganzen Anzahl von Risikogruppen frühzeitig ausgeschlossen
werden sollen, selbst wenn genauere Untersuchungen bei faktischer Inanspruchnahme des benötigten
Transplantates oder Gewebes erfolgen? Für die Übertragung von mit Tollwut infizierten Organen gibt
es auf Grund der langen Inkubationszeit keine Diagnosemöglichkeit vor einer geplanten
Transplantation.34 Niemand ist vor Risiken und Fehldiagnosen völlig sicher. Glück und Dankbarkeit
derjenigen, die der Transplantationsmedizin ein neues Leben verdanken, sind, selbst wenn das neue
gewonnene Leben immer Einschränkungen beinhaltet35, allerdings sehr viel höher zu bewerten.
IV.
Jene aus den USA stammende Philosophie, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte
und erst rückwirkend die Bezeichnung „Pragmatismus“ erhielt, begann als eine Methode der
Gedankenklärung. Demzufolge werden alle Theorieprobleme klarer, wenn man sie in den Horizont des
Handelns stellt und ihre praktischen Konsequenzen bedenkt. Heute müssen wir in vieler Hinsicht die
umgekehrte Blickrichtung wahrnehmen: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt eröffnet einen
riesigen Handlungsspielraum, dessen Ambivalenzen wir nur bewältigen, wenn wir das pragmatische
Spiegel-Online: „Dank Knochenmarkspende: Sarah besiegt den Krebs.“ 15. Februar 2009.
http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/dank-knochenmarkspende-sarah-besiegt-den-krebs-a597308.html
33
http://www.dkms.de/de/spender-werden/grundlegende-informationen.html
34 Dieser seltene Fall trat Ende 2004 auf. Mehrere Spendenempfänger erkrankten auf Grund einer mit
Tollwut infizierten Spenderin, der nach ihrem Hirntod Organe entnommen wurden. (stern.de
17,2.2005: Transplantation  Organspenderin hatte Tollwut).
http://www.stern.de/wissen/gesund_leben/transplantation-organspenderin-hatte-tollwut-536651.html
35 Die Unterdrückung der Abstoßungsreaktionen des Körpers gegenüber dem körperfremden
Transplantat erfordert ständigen Einsatz von Medikamenten (Immunsuppressiva), die nicht ohne
Nebenwirkungen sind. Weitere Verhaltensgebote nach der Organtransplantation betreffen, Ernährung,
Hygiene, Meidung von Infektionen und Gesundheitsrisiken wie Rauchen. Vgl. Organtransplantation
Info: Zurück im Leben - Der Alltag danach. www.bgv-transplantation.de/danach.html
32
13
Axiom in sehr viel grundsätzlichere Theoriezusammenhänge stellen. Der Pragmatismus entstand in
Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants als Kritik an den Absolutsetzungen des
deutschen Idealismus.36 Pragmatisten forderten eine einheitliche, dem Leben zugewandte Sicht, welche
Erfahrung und Handeln zur einzigen, einheitlichen Quelle der Erkenntnis macht. Dabei dominiert ein
naturwissenschaftlich-technisches Erkenntnisinteresse. Für den Pragmatisten gibt es keine letzte
Sicherheit der Erkenntnis. Maßstab menschlichen Wissens ist der jeweilige Stand der (Natur-)
Wissenschaften.37
Kritisiert wurde am Pragmatismus, er neige zum Positivismus, zum Utilitarismus, zum szientistischen
Reduktionismus.38 Besonders scharfe Kritik erfuhr die Wahrheitstheorie des Pragmatismus. Wahrheit
ist danach nicht Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit, sondern ein Prozess gelingender
Problemlösung. Wahrheit hat pragmatisch gesehen kein Ansichsein, sondern sie wird gemacht 
letztlich durch die Entscheidung der dafür zuständigen Experten. Paradoxerweise ist es dieser
Wahrheitsbegriff, der in der Transplantationsmedizin und im Bedenken ihrer sozialen Implikationen
zur Anwendung kommt. Dazu gibt es keine Alternative. In allen komplexen gesellschaftsrelevanten
Entscheidungen ist pragmatische Wahrheitsfindung unverzichtbar. Wann das der Menschenwürde
unterstellte Leben beginnt, wann es endet und ob der menschliche Leib dem Verwertungsinteresse zum
Wohl anderer Menschen unterstehen soll, ist keine nur empirisch entscheidbare Frage, sondern beruht
Charles S. Peirce sah die von ihm entwickelte neue Sichtweise als Fundament einer neuen Logik,
William James nutzte sie zur Lösung von ethischen und religiösen Fragen, John Dewey eröffnete dem
Pragmatismus ein breites Anwendungsfeld in Gesellschaft, Kultur und Erziehung. Alle drei
Philosophen verstanden den Pragmatismus als eine Theorie, die die historische Kluft zwischen
Rationalismus und Empirismus in der europäischen Philosophie überwinden wollte.
37 Der in Deutschland vorhandene Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ist dem
Pragmatisten fremd. Die Grundsatzdifferenz zwischen Sollen und Sein, Theorie und Praxis, Subjekt
und Objekt existiert im Pragmatismus nicht mehr. Bei ihm befinden sich Natur und Gesellschaft in
einem ständigen Prozess der Veränderung und Durchdringung. Der gesellschaftliche Prozess beinhaltet
organisches Wachstum und Anpassung durch Bewältigung von Schwierigkeiten. Dies gilt insbesondere
für den instrumentellen Pragmatismus John Deweys. Er sah die Erziehung in einem ständigen Wandel
begriffen. Erziehungsziele wie das Wertvolle, das Gute, das sozial Erstrebenswerte sind nach Dewey
nur formal, nicht inhaltlich bestimmbar. Die Inhalte ergeben sich aus dem, was jeweils gesellschaftlich
aktuell ist. Der amerikanische Philosoph Victor Kestenbaum zeigt, in welchem Ausmaß Dewey als der
geistige Führer des Pragmatismus Amerikas nach dem Ersten Weltkrieg seine Sozialphilosophie mit
den höchsten Werten der Menschheit verband. Für Dewey war das Soziale immer auch das Ethisch
Wertvolle. Vgl. Victor Kestenbaum, The grace and the severity of the ideal. John Dewey and the
transcendent. Chicago 2002.
38 Die Stichhaltigkeit der Vorwürfe ist wiederum umstritten. Vgl. Johannes Bellmann, John Deweys
naturalistische Pädagogik. Argumentationskontexte, Traditonslinien. Paderborn 2007, S. 13.
36
14
auf einem Geflecht von öffentlich vor der Gesellschaft zu verantwortenden moralischen
Entscheidungen.
Es sollte deutlich geworden sein, dass die ethische Begründung der Maßnahmen zur Steigerung der
Organspendebereitschaft keineswegs nur über die Inanspruchnahme einer Pflichtethik zu leisten ist.
Das Handlungsmotiv von Spendern ist nicht ausschließlich moralischer Natur, sondern entspricht der
dem Leben und dem Mitmenschen verbundenen Nächstenliebe. Beidem, dem moralischen
Pflichtgefühl und dem altruistischem Handeln, in einem sozialethischen Rahmenkonzept zu ihrem
Recht zu verhelfen, vermag die Pflichtethik nur in Gemeinschaft mit einer Tugendethik, welche Liebe
und Moral weder nur formal noch in einer einander ausschließenden Konstellation bewertet. Dies gilt
für die Sicht der Empfänger  ohne das Ergebnis solchen Bemühens im Blick zu haben. Tatsächlich
resultiert aus dem allgemeinen Problem geringer Organspendebereitschaft im Vergleich zum Bedarf
kein ein unmittelbarer Drang zu altruistischem Verhalten, wie dies im Gleichnis vom barmherzigen
Samariter (Lk 10,25-37) als persönliches, direktes Handeln am leidenden Mitmenschen aus
Nächstenliebe der Fall ist. Anders als die Lebendspende geschieht die postmortale Organspende als
gute Tat für die Allgemeinheit  zwar in dem Wissen, dass sie einem bestimmten Menschen
lebensverlängernd zugute kommen soll, doch ohne dass derjenige, der sie erhält, den Spendern bekannt
sein könnte.
Im Bemühen die Organspendenbereitschaft zu steigern, liegt der Wert des moralischen Handelns
primär nicht in den Motiven, sondern in den guten gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen dieses
Handelns. Die konsequenzialistische Ethik, für die nicht die Motive, sondern die Folgen unseres Tuns
maßgebend sind, darf bei dem Thema Organspende keinesfalls vergessen werden. Hierbei spielen auch
die Erfolgserwartungen und die Qualität des Handelns eine besondere Rolle. Die Ethik des
Pragmatismus steht nicht der Kantschen Pflichtethik, sondern den Großbritannien verbundenen
Traditionen der konsequenzialistischen Ethik nahe: Der soziale Endzweck individuellen Handelns liegt
in der sozialen Wohlfahrt, das heißt im Glück anderer.39 In Abwandlung eines bekannten Zitates von
Erich Kästner lässt sich die moralische Maxime des Pragmatisten auch durch den Satz ausdrücken:40 Es
gibt nichts Absolutes, außer man tut es. Auch die moralische Entscheidung ist, pragmatisch gesehen,
Vgl. John Dewey (siehe Anm. 25), S. 304f.
Von dem Schriftsteller Erich Kästner (1899-1974), dem Verfasser humorvoller Gebrauchslyrik,
kritischer Kabarett-Texte und spannender Kinderbücher, stammt der viel zitierte Satz: „Es gibt nichts
Gutes, außer man tut es.“ http://www.werhatdasgesagt.de/literatur-zitate/es-gibt-nichts-gutes-ausserman-tut-es/
39
40
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erfahrungsgeleitet und nicht an einen Absolutheitsanspruch gebunden. Ob dem jedermann bereit ist
zuzustimmen kann der Diskussion überlassen bleiben.
Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert die Frage: Ist es die moralische Pflicht jedes Bürgers, nach
dem Tod den eigenen Körper für die Entnahme von Organen zur medizinischen Weiterverwendung zur
Verfügung zu stellen? Die Frage wird aus der Perspektive der Pflichtethik, der Nächstenliebe und
weiterer Gesichtspunkte behandelt. Gleichzeitig werden Konsequenzen für die Erziehung der jungen
Generation diskutiert. Der Autor betont, dass die Weckung der Organspendebereitschaft in der
Bevölkerung wichtig ist, die Antwort auf die gestellte Frage jedoch nicht durch sozialen Zwang,
sondern durch freie Einzelentscheidung getroffen werden sollte, hierfür aber Aufklärung über alle mit
der Frage zusammenhängenden Sachverhalte notwendig ist. Die öffentliche Erziehung ist aufgefordert,
dies zu leisten.
Summery: Should every citizen be committed to approve organ donation and provide the own body for
further medical use after death, especially for organ transplantation? The author discuss the problem
with regard to ethics, social obligation and charity. There is a need to clarify all facts and views
associated with the question, especially in current and futur public education. The author hold the view
that parents, teachers and responsible authorities should give sufficient information about all aspects of
the matter. Organ donation cannot be induced by coercion, it should be a personal decision, based on
free will. Nevertheless it is an indispensable task to motivate people fort organ donation again and
again.
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