Hein Retter Soziales Handeln, Menschenwürde und Pragmatismus Vorklärungen zur Frage: Sollen Kinder zu künftigen Organspendern erzogen werden? Ungeachtet aller Dynamik der Migration ist Polen heute ein religiös und ethnisch homogenes Land. Der deutsche Soziologe Hans Joas verweist in seinen jüngsten Studien über Pragmatismus, Religion und Menschenwürde mehrfach auf Polen als Vorbild für Europa1, weil sich das polnische Volk in der Präambel zur Verfassung von 1997 zu gesellschaftlicher Pluralität bekennt wie zur Teilhabe an gemeinsamen, unaufgebbaren Werten.2 Die Präambel besagt: Bei uns leben Menschen unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Weltanschauung, unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Gesellschaftliche Pluralität fordert auf zum Glauben an einen gemeinsamen Horizont des Humanen. Dieser gemeinsame Wille stellt ein bindendes Element dar, welches individuelle Differenzen und soziale Heteronomie überwindet. Mein Thema „Organspende“ hat damit zu tun. I. Wenn wir das Soziale ergründen wollen in den gelebten Formen des Alltags, dann stoßen wir angesichts der intra- und interkulturellen sozialen Vielfalt sehr bald auf Grundsatzfragen: Ist der Mensch von Natur aus angelegt auf Individualität oder auf Sozialität? Auf Einheit oder Verschiedenheit? Auf Anpassung an die Verhältnisse oder auf Befreiung von diesen Verhältnissen? Natürlich lässt sich darauf antworten, der homo sapiens sei auf beides angelegt, auf Sozialität und Individualität. Doch diese Antwort wird in ihrer Trivialität der komplexen Realität in keiner Weise gerecht. Sie ignoriert die Fülle der Theorien, die die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen dem individuellen Selbst und dem sozialen Selbst einbinden in übergreifende Kontexte. Sozialtheorien stehen heute nicht isoliert für sich da, sondern sind vernetzt mit Hermeneutik, Semiotik, Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg, 2. Aufl. 2007, S. 147. Ferner: Hans Joas, Interview mit Publik Forum. Zeitschrift kritischer Christen, Nr. 10, 25. Mai 2007. Online: http://www.ev-akademie-rheinland.de/themen/Joas-Religionen-Europa.php 2 „...wir, das Polnische Volk - alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, wir alle, gleich an Rechten und Pflichten dem gemeinsamen Gut, Polen, gegenüber, in Dankbarkeit gegenüber unseren Vorfahren für ihre Arbeit, für ihren Kampf um die unter großen Opfern erlangte Unabhängigkeit, für die Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelt ist, an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend, verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen weiterzugeben, ... [beschließen] uns die Verfassung der Republik Polen zu geben als grundlegendes Recht des Staates ...“Online: http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm 1 2 Sprachphilosophie, Strukturalismus, Konstruktivismus und Politiktheorien. Einer dieser möglichen Kontexte des Sozialen ist der Pragmatismus. Pragmatisch handeln meint, in einer Situation das tun, was machbar ist. Das Gegenteil von pragmatisch ist dogmatisch oder auch prinzipienbestimmt. Das Gute ist gut, das Wahre ist wahr, aber was ist das Soziale? Jedenfalls ist das Soziale nicht einfach nur ein Ideal wie das Wahre und Gute, sondern etwas Hochkompliziertes. Unserem Bewusstsein bietet sich das Soziale als ein Phänomen dar, das sich ständig zwischen Sein und Sollen, Wunsch und Wirklichkeit bewegt. Gewöhnlich meint man mit sozialem Verhalten einen positiven gemeinschaftsbildenden Wert, den wir im Alltag schlicht voraussetzen, wenn wir mit anderen kommunizieren. Bei aller Dynamik der modernen Kommunikation bestimmt der soziale Bezug die Mehrzahl unserer festen Gewohnheiten. Soziale Offenheit ist der Garant unseres Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Alltages. Es war die These von George H. Mead, dass das Soziale ein Konstrukt unserer wechselseitigen Erwartungen darstellt. Die Einlösung unserer Vermutungen durch die Realität ist allerdings oft erwartungswidrig. Das Verhalten von Mensch zu Mensch ist keineswegs immer nur gut im Sinne von Vertrauensbildung, Kooperationsbereitschaft und Fairness. Es kennt ebenso subtile oder offener Gewalt, Konkurrenzstreben, Besitzneid, Ausbeutung und Herrschaft. Wir werden in eine bestimmte soziale Welt hineingeboren. Doch wir lernen im Zuge der Sozialisation auch, die Mitglieder unserer sozialen Netze, Freunde und Partner auszuwählen. Das wichtigste soziale Unterscheidungskriterium, das uns die Evolution mitgegeben hat, ist die Fähigkeit, bei einer Erstbegegnung zu unterscheiden, ob eine andere Person, die wir sehen, zur eigenen Gruppe gehört, so dass man ihr vertraut, oder ob es jemand ist, den man besser meidet. Soziales Erkennen ist lebenswichtig. Für den Literaturnobelpreisträger Octavio Paz (1914-1998) ist die Grundbefindlichkeit der Menschen 9seines Heimatlandes Mexiko nicht soziale Vertrautheit, die Sicherheit schenkt, sondern das Gewahrwerden der eigenen Einsamkeit inmitten von sozialen Fragwürdigkeiten aller Art, die öffentlich unter der Maske ehrbarer Rechtschaffenheit auftreten.3 Wenn man ständig gezwungen ist, das eigene Überleben zu sichern, dominiert das Gefühl des Alleinseins. Soziale Anteilnahme als prägende Grunderfahrung kann sich offenbar nur ausbilden in einer Kultur, die ein Mindestmaß an öffentlicher Gerechtigkeit, persönlicher Sicherheit und Hoffnung gewährt. Nehmen wir an, diese „Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich einsam weiß, das einzige, das nach dem ‚anderen’ sucht. Seine Natur sofern man bei ihm überhaupt davon sprechen kann, da er sich selbst gefunden hat, indem er nein zur Natur sagte ist ein einziges Streben, sich selbst im ‚anderen’ zu verwirklichen. So ist der Mensch Suche und Sehnsucht nach Kommunikation“ (Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit. Essay. Baden-Baden 1984, S. 189). 3 3 Voraussetzung sei in Deutschland wie in Polen gegeben. Müssen wir aus sozialen Motiven dann nicht im Fall des Falles für andere Organspender sein? II. Diese Frage beschäftigt die Bioethik und als das zentrale Expertenforum der Bundesrepublik den Deutschen Ethikrat.4 Sie kennt sowohl grundsätzliche als auch pragmatische Antworten. Anderen todkranken Menschen mit der eigenen Leber, Niere oder Bauchspeicheldrüse ein gesundes Weiterleben zu ermöglichen entspricht sozialethischer Verantwortung. Wie dringend menschliche Organe zur Transplantation benötigt werden, beleuchtete in Deutschland schlaglichtartig der sogenannte Organspendenskandal: In mehreren Transplantationszentren wurde die Reihenfolge in den Wartelisten jener Patienten manipuliert, die dringend eine Organübertragung benötigen. Es sind zu wenig Organe zur operativen Verpflanzung vorhanden.5 Statistisch gesehen sterben täglich drei Patienten in Deutschland, die durch eine Organspende die Chance hätten, weiter zu leben. In einer TV-Sendung des Südwestfunks vom 9.2.2012 hieß es: „Etwa 12 000 Menschen warten derzeit auf ein passendes Organ. Doch obwohl fast 70 Prozent der Deutschen laut Umfragen bereit sind nach ihrem Tod Organe oder Gewebe zu spenden, machen nicht einmal 20% ihre Zusage mit einem Organspende-Ausweis verbindlich.“6 Die Zahl der Organspender ist inzwischen offenbar leicht gestiegen. Eine Meldung de zweiten Jahreshälfte von 2013 besagt: Etwa 11.000 Patienten warten in Deutschland auf eine Organspende: „Laut einer repräsentativen Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind 74 Prozent der 14- bis 75-Jährigen bereit, nach ihrem Tod zu spenden. Doch nur 25 Prozent der Befragten sind in Besitz eines Organspendeausweises.“7 Eine solche Befragung aller Bürger und Bürgerinnen wurde in der Bundesrepublik Deutschland zum 1.11.2012 erstmals durchgeführt. Sie erfolgte durch die Krankenkassen und soll regelmäßig wiederholt werden.8 Vgl. die thematisch relevanten Expertisen, Referate und Pressemitteilungen des Deutschen Ethikrates. http://www.ethikrat.org 4 5 Die Diskussion um eine gerechte Organzuteilung an bedürftige Patienten macht das Dilemma deutlich, dass die Dringlichkeit einer Transplantation in Widerspruch zu deren Erfolgsaussichten stehen kann. Vgl. das Referat des Greifswalder Philosophen Micha H. Werner auf der Plenarsitzung des Deutschen Ethikrates am 26.9.2013 zum Thema: Kriterien gerechter Organallokation (innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft). http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-26-09-2013-werner-ppt.pdf http://www.swr.de/odysso/-/id=1046894/nid=1046894/did=9079648/1ccwi8d/ Zitiert nach: www.organspende-info.de/infothek/gesetze/entscheidungslösung 8 Die „Entscheidung“ für oder gegen Organentnahme will der Gesetzgeber nicht als Verpflichtung zu einer Erklärung verstanden wissen, sondern als eine Motivierung dazu. Sie wird derzeit weder in einem Zentralregister festgehalten, noch besteht ein Zwang, auf die Anfrage der Krankenkasse zu antworten. Es ist geplant, die Bereitschaft zur Organspende auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zu 6 7 4 Sollte nicht jeder Mensch einen Organspende-Ausweis besitzen, der die Einwilligung zur Organ- und Gewebeentnahme dokumentiert bei ärztlicher Feststellung des Hirntodes?9 Beide großen Kirchen gaben dazu ihr grundsätzliches Ja als einem Gebot der Nächstenliebe.10 Der Bochumer Philosoph Klaus Steigleder betont: Die vorherrschende Ansicht in Deutschland unterliege einem fundamentalen Irrtum, wonach die postmortale Organspende zwar für lobenswert gehalten wird, doch nichts sei, „zu dem man verpflichtet sein könnte.“ 11 In Wahrheit erfülle jeder Bürger, jede Bürgerin, mit der Bereitschaft zur Organspende eine für human denkende Menschen selbstverständliche moralische Pflicht. Denn eine erklärte Spendenbereitschaft beinhaltet keinerlei Schadensrisiko im Gegensatz zur Lebendspende, mit der durchaus Risiken der Gesundheitsbeeinträchtigung verbunden sind. In der Tat: Die Organentnahme von für hirntot erklärten Patienten rettet Organempfänger vor dem sicheren Tod und ermöglicht ihnen ein Weiterleben. Jeder könnte selbst in die Lage kommen, auf eine Organ- oder Gewebespende angewiesen zu sein. Das Geben und Nehmen ist wechselseitig. Bei aller Differenz der praktizierten Lebensform, der ethnischen Zugehörigkeit und des religiösen Bekenntnisses ist die Rettung des Lebens von schwerstkranken Mitbürgern durch postmortale Organspenden auch in einer pluralistisch orientierten Gesellschaft ein Wert, der von allen Menschen geteilt werden sollte. Deshalb gilt: „Moralisch gesehen müsste jeder Organe spenden. Er rettet so Leben, ohne sich zu schaden.“12 Aus dieser Perspektive, die sich mit der Stellungnahme vieler die Organentnahme befürwortenden Institutionen deckt, ist die „Organspende“ der moralisch gebotene und gesetzlich zu verankernde Regelfall, Abweichungen werden zugelassen, sollten jedoch nach Steigleder Ausnahmen sein. registrieren, welche zum 1.1. 2014 die Krankenversicherungskarte von 1995 ersetzen soll. Das würde auf einfache Weise die Einrichtung eines Zentralregisters ermöglichen. 9 Als transplantierbare Organe gelten: Lunge, Herz, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm. In Einzelfällen wurden auch Körperteile wie Gesicht, Hände, Arme, Luftröhre, Kehlkopf, Zunge und Penis entnommen. Zu den transplantierbaren Geweben gehören: Haut, Knochen und Knochenteile, Herzklappen, Herzbeutel, Augen, Blutgefäße, Knorpelgewebe, Sehnen und Bänder. http://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/was-es-wirklich-bedeutet-organe-zu-spenden-ein-blick-aufdie-dunkle-seite?context=blog 10 Vgl. die gemeinsame Erklärung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland 1990, wonach die postmortale Organspende Gebot der Nächstenliebe sei. http://www.ekd.de/EKD-Texte/organtransplantation_1990.html 11 Als inhuman kritisiert Steigleder damit die in der Bundesrepublik gültige „erweiterte Zustimmungslösung“ zugunsten der in Österreich und vielen anderen Ländern vorherrschenden „Widerspruchslösung“. Klaus Steigleder, Die Pflicht zu helfen. In: Süddeutsche Zeitung, v. 7.10.2013, Nr. 231, S. 2. 12 Steigleder, ebenda. 5 Zu fragen ist: Gibt es nicht auch sachliche Unklarheiten, medizinische Risiken und persönliche Überzeugungen, die dem Gedanken widersprechen, die postmortale Organentnahme zur fast ausnahmslos geltenden Bürgerpflicht zu erheben? Und es gibt es nicht das Recht, eine solche von der sozialen Norm abweichende Überzeugung öffentlich vertreten zu dürfen, ohne dass Verweigerer befürchten müssten, im gesellschaftlichen Urteil als mitleidslos, unsozial oder unmoralisch zu gelten? Wie also hat eine sozial denkende Gesellschaft zu handeln? Muss sie nicht erwarten können, dass jeder Bürger, jede Bürgerin, den eigenen Körper im Todesfall anderen zum Weiterleben zur Verfügung stellt? Oder wird der Begriff „Spende“ zur Schönfärberei, weil ein unerhört starker medizinischer Bedarf moralische Nötigung erzeugt? Denn es ist auch klar: Nur weil das technische Manko Organmangel in Transplantationszentren vorhanden ist, wird die Gesellschaft in die Pflicht genommen, werden alte Gesetze geändert und neue eingeführt, wird eine in ihrer Art bisher einzigartige gesellschaftliche Mobilisierung zur Steigerung der Organspendenbereitschaft durchgeführt. Haben wir diese Pflicht nicht mit anderen Pflichten in Beziehung zu setzen, die durch Präferierung dieser Pflicht Vernachlässigung erfahren angesichts des Ausmaßes gesellschaftlicher Aktivierung und finanzieller Investierung, um die Anzahl der Organspenden zu erhöhen? Die Transplantationsmedizin benötigt keine Sargleichen, sondern körperwarme, recyclefähige Biomasse, deren weitere Verwendung den Qualitäts- und Sicherheitsstandards der Europäischen Union untersteht.13 Was heißt medizinisch gesehen tot? Der sogenannte Hirntod ist das, worauf sich die Experten einigten. Um sein Eintreten zweifelsfrei festzustellen werden zahlreiche Sicherungen getroffen, aber wann der Hirntod eingetreten ist, beruht auch nach Durchführung einer Vielzahl von diagnostischen Verfahren auf dem Erfahrungsurteil der Ärzte, zumal die gültigen Kriterien für die Diagnose „Hirntod“ in den Ländern der Europäischen Union durchaus unterschiedlich sind. „Ärzte erklären Patienten oft fälschlich für hirntot“, heißt es jüngst in einem Zeitungsbericht.14 Der intensivmedizinisch am Leben erhaltene Hirntote reagiert. Ist die Schmerzempfindlichkeit trotz der sie prüfenden Reaktionstests wirklich voll und ganz auszuschließen, wie behauptet wird? Eine hirntote Frau ist noch gebärfähig. Der Gesamthirntod ist kein absolutes, sondern ein pragmatisches, ja ein womöglich für die Organentnahme „erfundenes“ Kriterium, hinter dem sich ethische Grundsatzfragen verbergen. Richtlinie 2004/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen. 14 Süddeutsche.de vom 18.2.2014. http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/falsche-todesdiagnosen-inkrankenhaeusern-aerzte-erklaeren-patienten-oft-faelschlich-fuer-hirntot-1.1891373 13 6 Der Entscheidungswille und die zu schützende Würde der Persönlichkeit reichen über das individuelle Lebensende hinaus. Die Transplantationsmedizin verbindet mit dem erklärten Hirntod des Menschen ein Verwertungsinteresse, das einerseits dem allgemeinen Wohl dient, andererseits dem Schutz der Person und dem Wunsch, ihm ein Sterben in Würde zu ermöglichen, zu widerstreben scheint.15 Zweifellos hat sich bei der Organentnahme von Hirntoten durch verantwortungsbewusste Ärzte ein Vorgehen herausgebildet, das der Achtung der Menschenwürde Rechnung trägt.16 Aber das schließt Folgeprobleme und Entscheidungsdilemmata nicht aus. Die Statistik vernachlässigt Einzelfälle, die Moral niemals. Die Steigerung der Quote lebensrettender Transplantationen zum gesellschaftlichen Anliegen zu machen bedeutete in vielen Ländern die Einführung der sogenannten Widerspruchsregelung: Sie führt nach erklärtem Hirntod zur Entnahme von Organen zum Zwecke späterer Transplantation nach Prüfung ihrer Unversehrtheit und vollen Funktionsfähigkeit falls beim Hirntoten kein zu Lebzeiten dokumentierter Widerspruch erfolgte. Wer in Ländern mit Widerspruchsregelung in den Urlaub fährt, kann zum Organspender wider Willen werden und muss dort im Falle eines tödlichen Unfalls bei nicht dokumentierter Verweigerung mit der Möglichkeit der Organentnahme rechnen.17 In Deutschland gilt die erweiterte Zustimmungsregelung: Sie besagt, die postmortale Organentnahme bedarf der ausgewiesenen Zustimmung des Spenders. Es besteht noch kein Zwang für Bürgerinnen und Bürger, eine Entscheidung für oder gegen die Organspende zu treffen, und es existiert auch noch kein Zentralregister, sie zu dokumentieren. Mit beidem wird in naher Zukunft wohl zu rechnen sein. Selbstverständlich wird man mit sanfter Nachdrücklichkeit zur Organspendenerklärung in die Pflicht genommen. Wer nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widerspricht, überlässt im Todesfall die Entscheidung den nächsten Angehörigen, die nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entscheiden sollen deshalb spricht man von erweiterter Zustimmung , ansonsten ist die Organentnahme der Medizin gestattet. III. Die persönliche Distanz zur postmortalen Organspende ist, folgt man dem oben entwickelten Gedanken der Pflicht der Vernunft, eine gegen den politischen und moralischen Willen der Gesellschaft 15 Vgl. Sören Hoffmann, Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht. Biomedizin und Menschenwürde. Stellungnahmen von Ulrich Eibach u. a., ZEI Discussion Paper C 97 2001, Bonn 2001, 57-66. Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Bonn. Online: www.ruhr-uni-bochum.de/kbe/Hoffmann01.doc Vgl. Bernd Kottler, Organspende aus Sicht der Intensivmedizin. www.lpbbw.de/publikationen/organ/organ7.htm 16 17 Kann man in Europa zum Organspender wider Willen werden? www.krankenkassen.de/ausland/organspende 7 vollzogene Verweigerung einer humanen Hilfeleistung. Kann man dann noch von freier Entscheidung sprechen, wenn Widerspruch moralischer Geringschätzung unterliegt (die hier nur als mögliche Zukunftsvision unterstellt wird, denn das soziale Klima, in dem das Problem Organspende diskutiert wird, ist in der Bundesrepublik durchaus liberal)? Da reaktionsfähig, ist der hirntote, ohne Bewusstsein künstlich am Leben erhaltene Körper noch als Leib zu bezeichnen, wenn er den Ärzten zur Organentnahme überlassenen wird. Ob er jenseits des rationalen Wachbewusstseins in gewisser Weise noch einer jeder Messung verborgenen „Wahrnehmung“ fähig ist, bleibt unter Medizinern umstritten.18 Wie auch immer darüber geurteilt wird: Wenn der bewusstseinslose Leib mit dem eigenen Ableben noch für andere lebensrettend sein kann, untersteht er nicht mehr voll der eigenen, gedanklich über den Tod hinaus reichenden Verfügungsgewalt. Jeder sollte wissen: Wenn du für tot erklärt bist und du vorher aus welchen Gründen auch immer zögertest, dich zu entscheiden, dann gehört dein gehirntoter Körper der Gesellschaft falls Deine nächsten Angehörigen die befragt werden, auf der Grundlage der vermuteten Kenntnis deines Willens dies nicht verweigern. Die erweiterte Zustimmungsregelung gilt zum Beispiel auch in Dänemark, Griechenland, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz. Die hier skizzierte Problemlage berührt persönliche Einstellungen sowie Fragen des Naturrechts, der Ethik, der Religion, der Menschenwürde. Aber es fehlt auch an hinreichender Information und Aufklärung. Du weißt zwar, wem du im Testament deine Plattensammlung vererbst, mahnt ein OnlineKurzfilm, aber an deine (postmortale) Nierenspende hast du nicht gedacht! Während Belgien, Spanien und Norwegen die Länder mit der höchsten Organspendebereitschaft in Europa sind, ist Deutschland ein „Organ-Importland“.19 Anders als bei uns spielt etwa in Norwegen das Thema Organspende in der öffentlichen Diskussion keine bemerkenswerte Rolle. Doch warum spenden fast 90 % der Norweger, aber nur 20-25 % der Deutschen im Todesfall Organe?20 Darüber kann nur spekuliert werden. Sicherlich sind historische Erfahrungen, unterschiedliche Traditionen und Mentalitäten ein Faktor, aber das erklärt nicht alles. Alle zu diskutierenden Probleme, die den Umgang 18 Die Lehrmeinung geht von der Nichtwahrnehmungsfähigkeit aus. Davon abweichend bezeichnet zum Beispiel der Internist Paolo Bavastro, der über Jahre hinweg eine hirntote Patientin betreute: „Hirntote sind definitiv nach der Biologie und nach den Phänomenen nicht tot. ... Es gibt aber viele Phänomene, auch bei der Organentnahme, die zeigen, dass diese Menschen auf anderen Ebenen, Tiefbewusstseinsebenen oder viel tiefere Ebenen, die wir vielleicht gar nicht benennen können, etwas wahrnehmen.“ www.swr.de/odysso/-/id=1046894/nid=1046894/did.../index.html 19 Süddeutsche.de, 26.1.2012: Warten auf ein Spenderorgan. Deutschland ist Organ-Importland. http://www.sueddeutsche.de/muenchen/warten-auf-ein-spenderorgan-auf-leben-und-tod-1.1264775-2 DIE WELT, 14.10.2012: Transplantationen: Warum Norweger mit ihren Organen spendabel sind. http://www.welt.de/politik/ausland/article109816798/Warum-Norweger-mit-ihren-Organen-spendabelsind.html 20 8 mit menschlichem Leben betreffen, werden bei uns von der historischen Schuld des verbrecherischen Umgangs mit menschlichem Leben in der NS-Diktatur überschattet. Diese historische Erfahrung lässt alle Fragen, die Anfang und Ende des Lebens im Kontext des medizinischen Fortschritts betreffen, besonders gründlich diskutieren, auch wenn die dunkle Vergangenheit der „Rassenhygiene“ die Möglichkeit der Lebensverlängerung durch Organspenden nicht direkt tangiert. Von den Medien aufgegriffene Ereignisse, seien sie negativer Art wie der Organspendenskandal, seien sie positiver Art wie die Rettung von Menschenleben durch Organspenden in besonders dramatischen Situationen, sind allerdings geeignet, die öffentliche Meinung erheblich zu beeinflussen. Davon abgesehen hat die Kultur des prinzipiellen, kritischen und alternativen Denkens bei den Deutschen einen relativ breiten historischen Hintergrund, der in anderen Ländern weniger intensiv anzutreffen ist. Auch der vorliegende Beitrag verzichtet selbstverständlich nicht auf kritische Rückfragen. Über problematische Aspekte der Organentnahme ist angesichts des steigenden öffentlichen Interesses an der Auffüllung der Organbanken verständlicherweise wenig zu hören. Darüber erfährt man mehr bei alternativen Organisationen wie den „Interessen-Gemeinschaften [IG] kritische Bioethik Deutschland“. Sie setzen sich ein für Menschen mit Behinderungen, Koma-Patienten, Alzheimer- und Demenzkranke. Sie kümmern sich auch um Probleme der Pflegebedürftigen, kritisieren die (fremdnützige) Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Menschen, und sie bietet einen Nicht-Organspendeausweis an.21 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die katholische Kirche zwar der postmortalen Organspende ihre volle Zustimmung gibt und Kardinal Josef Ratzinger lange Zeit vor seiner Wahl zum Papst einen Organspende-Ausweis besaß, als Papst Benedikt XVI. jedoch für Organspenden nicht mehr zur Verfügung stand. Dies wurde bekannt, nachdem ein katholischer Münchner Arzt als „bekennender Organspende- und Hirntodkritiker“22 eine Anfrage an den Vatikan richtete. „Der polnische Erzbischof Zygmunt Zimowski sagte der italienischen Zeitung ‚La Republica’, die Leiche des Papstes müsse intakt bleiben, da sie der gesamten Kirche gehöre. Man müsse dies auch im Zusammenhang mit einer möglichen künftigen Verehrung sehen, erklärte Zimowski.“23 Ob Benedict als emeritus daran festhält, und sein Amtsnachfolger, der reformfreudige Papst Franziskus, ebenfalls von der möglichen Organspendebereitschaft entbunden wurde, ist bislang nicht publik geworden. http://www.organspende-widerspruch.de/ http://www.organspendekampagne.de/organspende_news_papst-organspender-02-02-11.html 23 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 4.2.2011: Papst ist kein Organspender mehr. http://www.derwesten.de/panorama/papst-ist-kein-organspender-...1 21 22 9 Als Erziehungswissenschaftler muss ich mich fragen: Sollen Lehrer im Unterricht eine Ethik vermitteln, welche die Organspende als soziale Selbstverständlichkeit einfordert oder ist ein Nachdenken zu fördern, das die Organspendenbereitschaft zur abwägenden Gewissensentscheidung macht, die gegebenenfalls auch zur Verweigerung führt? Eines ist unbestritten: Alle im Zusammenhang mit Fragen der Organspende zusammenhängenden Probleme und Erfahrungen sind ein neues wichtiges Themenfeld für die familiäre und schulische Bildung, das noch der Erschließung harrt. Viele Menschen haben eine „Patientenverfügung“ unterschrieben, um im Sterbeprozess auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Die möglicherweise über viele Jahre sich erstreckende Aufrechterhaltung des komatösen Zustandes durch intensivmedizinische Maßnahmen wird vielfach weder als eine glückliche Form „ewigen Lebens“ auf Erden, noch überhaupt als würdevoll empfunden. Intensivmedizin kann an ein und demselben Patienten einerseits lebenserhaltend, andererseits organprotektiv in Erscheinung treten. „Organspende“ und „Patientenverfügung“ schließen sich theoretisch zwar nicht völlig aus, sind aber praktisch kaum gleichzeitig umsetzbar, denn: „Organe können nur für Transplantationen verwendet werden, wenn der Kreislauf und damit die Blutversorgung im Körper nach einem Hirntod noch weiter funktioniert.“24 Es liegt nahe, den bewussten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen bei Feststellung des irreversiblen Verlöschens aller Hirnfunktionen im Sterbeprozess als moralisch nicht völlig korrekt zu bewerten, weil damit der sozialen Verwertbarkeit des eigenen Körpers nicht Vorrang gegeben wird.25 Moralische Korrektheit, wie sie heute von Politikern und anderen Repräsentanten des öffentlichen Lebens demonstriert wird, signalisiert die beiläufige Erwähnung des eigenen Organspende-Ausweises. Diese Vorbildfunktion schon sozialen Zwang zu nennen wäre übertrieben, aber sie markiert eine Tendenz. Aus diesem Grund erscheint die derzeit in der Bundesrepublik existierende erweiterte Zustimmungslösung in ihrer Liberalität keineswegs inhuman. Sie ist, auch indem sie abgestufte Optionen von Organspendenbereitschaft anbietet, durchaus sinnvoll, um eine individuelle Gewissensentscheidung zu ermöglichen. Wenn man auf Grund erfolgreicher Erziehung das Ausweiden des eigenen Körpers im Todesfall als lebensverlängernde Hilfe für Mitmenschen oder auch nur zur Gewinnung von Substanzen für stern.de, vom 1.11.2012: „Kassen starten Versand von Organspende-Ausweisen.“ http://www.stern.de/wirtschaft/news/reform-tritt-in-kraft-kassen-starten-versand-von-organspendeausweisen-1919084.html 25 Deweys instrumenteller Pragmatismus besagt, „dass das moralische Urteil und die moralische Verantwortung das in uns gewirkte Werk der sozialen Umwelt sind“. John Dewey, Die menschliche Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten. Berlin 1931, S. 327. 24 10 Medikamente positiv zu sehen gelernt hat: sollte dann erlaubt sein, das vom eigenen Körper zu verkaufen, was der aktuelle Stand der Transplantationsmedizin zulässt, um bestehender ökonomischer Existenznot zu begegnen? Wird dem Kind einer armen Familie der regenerierungsfähige Teil einer Leber entnommen, können beide überleben, wenn diese Familie vom vermögenden SpendenEmpfängers zum Beispiel eine lebenslange Rente erhält. Dieser Gedanke ist ethisch absolut verletzend, selbst wenn, wie in dem konstruierten Beispiel, eine für alle Beteiligte hilfreiche Problemlösung sichtbar ist. Der Pragmatismus ist keineswegs unmoralisch, doch er lehnt Absolutsetzungen ab. Ihm kommt es nicht auf das Wesen einer Handlung, sondern auf dessen Ergebnis an. Dass damit der wirtschaftlichen Ausbeutung ärmerer Bevölkerungsgruppen Vorschub geleistet wird, liegt auf der Hand, aber pragmatisches Vorgehen bedeutet nicht, derartig schwerwiegende Konsequenzen außer Acht zu lassen oder gar zu tolerieren. Weltweit gilt der kommerzielle Organhandel als ethisch verwerflich, er findet illegal jedoch statt mit zunehmender Tendenz.26 Die Gesetzeslage zur postmortalen Entnahme von Organen und deren Verwertung ist in den Ländern der Welt extrem unterschiedlich.27 Die staatlich kontrollierte Legalisierung des Organhandels wurde von einzelnen Stimmen schon gefordert.28 Der Verkauf lebenswichtiger Organe des eigenen Körpers verstößt gegen die Menschenwürde, der Verkauf von eigenem Blut in Form einer Aufwandsentschädigung, die von dem betreffenden Blutentnahme-Dienst gezahlt wird ist es nicht. Gegenüber der freiwilligen Blutspende gilt diese Praxis jedoch als moralisch grenzwertig. Werbung zu machen für die bezahlte Blutentnahme ist in Deutschland gesetzlich untersagt. Doch neben echter Spendenbereitschaft ohne Entgelt sind ökonomische Notlagen nach wie vor ausschlaggebend für die gesetzlich erlaubte Abgabe von eigenen Körpersubstanzen gegen Bezahlung. Die Online-Zeitung Bild.de berichtete am 5. Juni 2009 als Folge der Wirtschaftskrise: „US-Bürger verkaufen Blut, Haare und Sperma“. Man spart Bestattungskosten, wenn man seinen Körper nach dem Ableben der Medizin überlässt. In deutschen Universitätskliniken ist das Überangebot an echten Leichen zum Problem geworden.29 „Dramatischer Anstieg des weltweiten illegalen Organhandels“. Von Sven Heymanns, 5. Juli 2012. World Socialist Web Site: http://www.wsws.org/de/articles/2012/07/orga-j05.html 27 In Deutschland bilden das 2012 novellierte „Transplantationsgesetz von 1997 und „Gewebegesetz“ von 2007 den Rechtsrahmen. Zur Übersicht vgl. den Wikipedia-Artikel „Organspende“. http://de.wikipedia.org/wiki/Organspende 28 „Ökonom für Legalisierung des Organhandels. Darf der menschliche Körper veräußerliche Ware sein?“ Online: https://www.thieme.de/viamedici/aktuelles/wissenschaft/26_organspende.html 29 Miriam Olbrisch, Körperspender-Stau: Leichen über Leichen. 14. Mai 2012. 26 11 Wer bereit ist, einem schwerkranken nahen Verwandten eine Niere zu spenden, verdient Respekt. Es wäre verfehlt, hier ein allgemeines moralisches Gesetz in Anwendung bringen zu wollen, das dazu verpflichtet. Es ist ein völlig anderes Motiv, welches Spender nötigt, so zu handeln: Liebe! Zwar kennt auch die Pflichtethik der praktischen Vernunft Immanuel Kants ein Gebot der Nächstenliebe, aber die darin ausgedrückte Solidarität bleibt ein rationales Prinzip, das ein Handeln aus subjektiver Anteilnahme nicht kennt.30 Die Nächstenliebe in ihrer Fülle und emotionalen Tiefe, sei sie christlich begründet, sei sie aus anderen Quellen gespeist, wird damit nicht erfasst. Liebe ist zwar als formales Gebot zu fordern, die Forderung „Du sollst mich lieben!“ ist aber nicht realisierbar, sondern erliegt einer ausweglosen Beziehungsfalle, wie sie der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (19212007) als „Sei-Spontan!“-Paradox beschrieb.31 Folgerichtig ist auch im oben erwähnten Beitrag von Klaus Steigleder, der die „Pflicht zu helfen“ einfordert, von Liebe nicht die Rede. Die moralische Pflicht fordert apodiktisch. Das „Du sollst!“ duldet keinen Widerspruch, kein Ausweichen. Demgegenüber ereignet sich die Liebe in Freiheit. Sie benötigt weder Ausnahmen vom moralischen Gesetz, noch neigt sie dazu, über diejenigen den Stab zu brechen, die diese Liebe nicht aufbringen können oder sich ihr versagen. Sie ist frei vom moralischem Gesetz, dessen Grenzen sie sprengt, ohne es zu missachten. Es scheint mir deshalb nicht hilfreich, die Lebendorganspende dem moralischen Gesetz der Vernunft zu unterstellen, um diese Unterstellung anschließend als „fundamentalen Irrtum“ argumentativ demontieren zu wollen, gleichzeitig jedoch die altruistische Liebe als das ausschlaggebende Handlungsmotiv unberücksichtigt zu lassen. Tatsächlich erwächst die Bereitschaft zur Organspende sei sie lebend oder postmortal erbracht, bei vielen Menschen nicht durch die Moral, sondern aus Nächstenliebe. Es hat seinen guten Grund, dass die gesetzlich geregelte, altruistische Lebendspende auf die nächsten Angehörigen als Spendenempfänger beschränkt bleibt. Die steigende Bereitschaft zur Organ- oder Gewebespende ohne ökonomisches Motiv ist Indiz für ein neues Bewusstsein, das hilfsbereite Bürger sich als Mitglieder einer Solidargemeinschaft verstehen, selbst unter Inkaufnahme von beträchtlichen Risiken. Dass an Blutkrebs erkrankte Kinder vor dem sicheren Tod bewahrt wurden mittels einer Knochenmarkspende, http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/uni-kliniken-klagen-ueber-zu-viele-koerperspenden-a830950.html 30 Kritik an Kants rigoroser Ethik übte bekanntlich Friedrih Schiller mit dem Distichon: Gerne dien' ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin. 31 Vgl. Hein Retter, Studienbuch Pädagogische Kommunikation. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2002, S. 166 ff. 12 berichten Medien immer wieder.32 Die Bereitschaft in der Bevölkerung zur Registrierung und Typisierung des eigenen Knochenmarks ist gewachsen, um im Bedarfsfall als Spender zur Verfügung zu stehen. Die Entnahme von Stammzellen aus dem Beckenkamm eines Spenders oder einer Spenderin ist ein operativer Eingriff unter Vollnarkose, der in der Tat über eine moralische Pflichterfüllung weit hinausgeht. Hier ist Nächstenliebe, die Selbstgefährdung nicht scheut, wirksam. Die OnlineRegistrierung vereinfacht die Erfassung von Spendern. Die Ambivalenzen des Verfahrens werden deutlich, wenn man liest, dass zum Beispiel homosexuelle Männer wegen des erhöhten HIV-Risikos als Spender ausgeschlossen sind.33 Für spendenwillige Betroffene, die helfen wollen, klingt dieses Urteil in seiner Allgemeinheit diskriminierend. Andererseits: Sind Organ-Empfänger tatsächlich sicher vor Risiken, die durch Benennung einer ganzen Anzahl von Risikogruppen frühzeitig ausgeschlossen werden sollen, selbst wenn genauere Untersuchungen bei faktischer Inanspruchnahme des benötigten Transplantates oder Gewebes erfolgen? Für die Übertragung von mit Tollwut infizierten Organen gibt es auf Grund der langen Inkubationszeit keine Diagnosemöglichkeit vor einer geplanten Transplantation.34 Niemand ist vor Risiken und Fehldiagnosen völlig sicher. Glück und Dankbarkeit derjenigen, die der Transplantationsmedizin ein neues Leben verdanken, sind, selbst wenn das neue gewonnene Leben immer Einschränkungen beinhaltet35, allerdings sehr viel höher zu bewerten. IV. Jene aus den USA stammende Philosophie, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte und erst rückwirkend die Bezeichnung „Pragmatismus“ erhielt, begann als eine Methode der Gedankenklärung. Demzufolge werden alle Theorieprobleme klarer, wenn man sie in den Horizont des Handelns stellt und ihre praktischen Konsequenzen bedenkt. Heute müssen wir in vieler Hinsicht die umgekehrte Blickrichtung wahrnehmen: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt eröffnet einen riesigen Handlungsspielraum, dessen Ambivalenzen wir nur bewältigen, wenn wir das pragmatische Spiegel-Online: „Dank Knochenmarkspende: Sarah besiegt den Krebs.“ 15. Februar 2009. http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/dank-knochenmarkspende-sarah-besiegt-den-krebs-a597308.html 33 http://www.dkms.de/de/spender-werden/grundlegende-informationen.html 34 Dieser seltene Fall trat Ende 2004 auf. Mehrere Spendenempfänger erkrankten auf Grund einer mit Tollwut infizierten Spenderin, der nach ihrem Hirntod Organe entnommen wurden. (stern.de 17,2.2005: Transplantation Organspenderin hatte Tollwut). http://www.stern.de/wissen/gesund_leben/transplantation-organspenderin-hatte-tollwut-536651.html 35 Die Unterdrückung der Abstoßungsreaktionen des Körpers gegenüber dem körperfremden Transplantat erfordert ständigen Einsatz von Medikamenten (Immunsuppressiva), die nicht ohne Nebenwirkungen sind. Weitere Verhaltensgebote nach der Organtransplantation betreffen, Ernährung, Hygiene, Meidung von Infektionen und Gesundheitsrisiken wie Rauchen. Vgl. Organtransplantation Info: Zurück im Leben - Der Alltag danach. www.bgv-transplantation.de/danach.html 32 13 Axiom in sehr viel grundsätzlichere Theoriezusammenhänge stellen. Der Pragmatismus entstand in Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants als Kritik an den Absolutsetzungen des deutschen Idealismus.36 Pragmatisten forderten eine einheitliche, dem Leben zugewandte Sicht, welche Erfahrung und Handeln zur einzigen, einheitlichen Quelle der Erkenntnis macht. Dabei dominiert ein naturwissenschaftlich-technisches Erkenntnisinteresse. Für den Pragmatisten gibt es keine letzte Sicherheit der Erkenntnis. Maßstab menschlichen Wissens ist der jeweilige Stand der (Natur-) Wissenschaften.37 Kritisiert wurde am Pragmatismus, er neige zum Positivismus, zum Utilitarismus, zum szientistischen Reduktionismus.38 Besonders scharfe Kritik erfuhr die Wahrheitstheorie des Pragmatismus. Wahrheit ist danach nicht Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit, sondern ein Prozess gelingender Problemlösung. Wahrheit hat pragmatisch gesehen kein Ansichsein, sondern sie wird gemacht letztlich durch die Entscheidung der dafür zuständigen Experten. Paradoxerweise ist es dieser Wahrheitsbegriff, der in der Transplantationsmedizin und im Bedenken ihrer sozialen Implikationen zur Anwendung kommt. Dazu gibt es keine Alternative. In allen komplexen gesellschaftsrelevanten Entscheidungen ist pragmatische Wahrheitsfindung unverzichtbar. Wann das der Menschenwürde unterstellte Leben beginnt, wann es endet und ob der menschliche Leib dem Verwertungsinteresse zum Wohl anderer Menschen unterstehen soll, ist keine nur empirisch entscheidbare Frage, sondern beruht Charles S. Peirce sah die von ihm entwickelte neue Sichtweise als Fundament einer neuen Logik, William James nutzte sie zur Lösung von ethischen und religiösen Fragen, John Dewey eröffnete dem Pragmatismus ein breites Anwendungsfeld in Gesellschaft, Kultur und Erziehung. Alle drei Philosophen verstanden den Pragmatismus als eine Theorie, die die historische Kluft zwischen Rationalismus und Empirismus in der europäischen Philosophie überwinden wollte. 37 Der in Deutschland vorhandene Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ist dem Pragmatisten fremd. Die Grundsatzdifferenz zwischen Sollen und Sein, Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt existiert im Pragmatismus nicht mehr. Bei ihm befinden sich Natur und Gesellschaft in einem ständigen Prozess der Veränderung und Durchdringung. Der gesellschaftliche Prozess beinhaltet organisches Wachstum und Anpassung durch Bewältigung von Schwierigkeiten. Dies gilt insbesondere für den instrumentellen Pragmatismus John Deweys. Er sah die Erziehung in einem ständigen Wandel begriffen. Erziehungsziele wie das Wertvolle, das Gute, das sozial Erstrebenswerte sind nach Dewey nur formal, nicht inhaltlich bestimmbar. Die Inhalte ergeben sich aus dem, was jeweils gesellschaftlich aktuell ist. Der amerikanische Philosoph Victor Kestenbaum zeigt, in welchem Ausmaß Dewey als der geistige Führer des Pragmatismus Amerikas nach dem Ersten Weltkrieg seine Sozialphilosophie mit den höchsten Werten der Menschheit verband. Für Dewey war das Soziale immer auch das Ethisch Wertvolle. Vgl. Victor Kestenbaum, The grace and the severity of the ideal. John Dewey and the transcendent. Chicago 2002. 38 Die Stichhaltigkeit der Vorwürfe ist wiederum umstritten. Vgl. Johannes Bellmann, John Deweys naturalistische Pädagogik. Argumentationskontexte, Traditonslinien. Paderborn 2007, S. 13. 36 14 auf einem Geflecht von öffentlich vor der Gesellschaft zu verantwortenden moralischen Entscheidungen. Es sollte deutlich geworden sein, dass die ethische Begründung der Maßnahmen zur Steigerung der Organspendebereitschaft keineswegs nur über die Inanspruchnahme einer Pflichtethik zu leisten ist. Das Handlungsmotiv von Spendern ist nicht ausschließlich moralischer Natur, sondern entspricht der dem Leben und dem Mitmenschen verbundenen Nächstenliebe. Beidem, dem moralischen Pflichtgefühl und dem altruistischem Handeln, in einem sozialethischen Rahmenkonzept zu ihrem Recht zu verhelfen, vermag die Pflichtethik nur in Gemeinschaft mit einer Tugendethik, welche Liebe und Moral weder nur formal noch in einer einander ausschließenden Konstellation bewertet. Dies gilt für die Sicht der Empfänger ohne das Ergebnis solchen Bemühens im Blick zu haben. Tatsächlich resultiert aus dem allgemeinen Problem geringer Organspendebereitschaft im Vergleich zum Bedarf kein ein unmittelbarer Drang zu altruistischem Verhalten, wie dies im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) als persönliches, direktes Handeln am leidenden Mitmenschen aus Nächstenliebe der Fall ist. Anders als die Lebendspende geschieht die postmortale Organspende als gute Tat für die Allgemeinheit zwar in dem Wissen, dass sie einem bestimmten Menschen lebensverlängernd zugute kommen soll, doch ohne dass derjenige, der sie erhält, den Spendern bekannt sein könnte. Im Bemühen die Organspendenbereitschaft zu steigern, liegt der Wert des moralischen Handelns primär nicht in den Motiven, sondern in den guten gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen dieses Handelns. Die konsequenzialistische Ethik, für die nicht die Motive, sondern die Folgen unseres Tuns maßgebend sind, darf bei dem Thema Organspende keinesfalls vergessen werden. Hierbei spielen auch die Erfolgserwartungen und die Qualität des Handelns eine besondere Rolle. Die Ethik des Pragmatismus steht nicht der Kantschen Pflichtethik, sondern den Großbritannien verbundenen Traditionen der konsequenzialistischen Ethik nahe: Der soziale Endzweck individuellen Handelns liegt in der sozialen Wohlfahrt, das heißt im Glück anderer.39 In Abwandlung eines bekannten Zitates von Erich Kästner lässt sich die moralische Maxime des Pragmatisten auch durch den Satz ausdrücken:40 Es gibt nichts Absolutes, außer man tut es. Auch die moralische Entscheidung ist, pragmatisch gesehen, Vgl. John Dewey (siehe Anm. 25), S. 304f. Von dem Schriftsteller Erich Kästner (1899-1974), dem Verfasser humorvoller Gebrauchslyrik, kritischer Kabarett-Texte und spannender Kinderbücher, stammt der viel zitierte Satz: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ http://www.werhatdasgesagt.de/literatur-zitate/es-gibt-nichts-gutes-ausserman-tut-es/ 39 40 15 erfahrungsgeleitet und nicht an einen Absolutheitsanspruch gebunden. Ob dem jedermann bereit ist zuzustimmen kann der Diskussion überlassen bleiben. Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert die Frage: Ist es die moralische Pflicht jedes Bürgers, nach dem Tod den eigenen Körper für die Entnahme von Organen zur medizinischen Weiterverwendung zur Verfügung zu stellen? Die Frage wird aus der Perspektive der Pflichtethik, der Nächstenliebe und weiterer Gesichtspunkte behandelt. Gleichzeitig werden Konsequenzen für die Erziehung der jungen Generation diskutiert. Der Autor betont, dass die Weckung der Organspendebereitschaft in der Bevölkerung wichtig ist, die Antwort auf die gestellte Frage jedoch nicht durch sozialen Zwang, sondern durch freie Einzelentscheidung getroffen werden sollte, hierfür aber Aufklärung über alle mit der Frage zusammenhängenden Sachverhalte notwendig ist. Die öffentliche Erziehung ist aufgefordert, dies zu leisten. Summery: Should every citizen be committed to approve organ donation and provide the own body for further medical use after death, especially for organ transplantation? The author discuss the problem with regard to ethics, social obligation and charity. There is a need to clarify all facts and views associated with the question, especially in current and futur public education. The author hold the view that parents, teachers and responsible authorities should give sufficient information about all aspects of the matter. Organ donation cannot be induced by coercion, it should be a personal decision, based on free will. Nevertheless it is an indispensable task to motivate people fort organ donation again and again.