Das zweite Kapitel des dritten Teiles „Die conditio historica“ trägt

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Dr. Daniel Munteanu
27.5.2006
Referat zum Oberseminar Prag-Erlangen
Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004
2. GESCHICHTE UND ZEIT
Im zweiten Kapitel des dritten Teiles („Die conditio historica“) beabsichtigt Ricoeur, einen
Übergang von der kritischen zur ontologischen Hermeneutik der conditio historica zu
schaffen. Zentral ist die Auffassung des Gedächtnisses im Rahmen einer philosophischen
Anthropologie des fähigen Menschen (l´homme capable) als Fähigkeit oder Vermögen.
Ricoeur spricht von einem „Gedächtnis-tun-können“, das auf der gleichen Ebene stünde wie
das Sprechen-, Handeln- und Erzählenkönnen.
Angestrebt wird ein Dialog zwischen dem Philosophen und dem Historiker. Ricoeur versucht
stets „den Philosophen auf die Baustelle des Historikers herüberzuziehen“.
I. Zeitlichkeit
1. Das Sein zum Tode
Ricoeur weist darauf hin, dass Heidegger mit dem augustinischen Verständnis der Zeitlichkeit
bricht und zwar im Hinblick auf die zentrale Stellung der Gegenwart. Augustinus verstand das
Gedächtnis als „Gegenwart des Vergangenen“, die Anschauung als „Gegenwart des
Gegenwärtigen“ und die Erfahrung als „Gegenwart des Zukünftigen“. Die Privilegierung der
Gegenwart hinge bei Augustinus mit dem platonisierenden Christentum zusammen, nämlich
mit der „Bezugnahme der erlebten Gegenwart auf die Ewigkeit (…), die als ein nunc stans
(…), als eine ewige Gegenwart begriffen wird“ (Anm. 7). Im Unterschied zu Augustinus,
dessen Philosophie im Horizont des christlichen Neuplatonismus entstand und der „Schule
des inneren Blicks“ und der „Metaphysik der Gegenwärtigkeit“ den Weg bereitete, ist
Heidegger in der Tradition des Neukantianismus verankert (544). In seiner „hermeneutischen
Phänomenologie von Sein und Zeit“ verleiht er durch die Hauptkategorie (Metakategorie) der
Sorge den Primat nicht der Gegenwart, sondern der Zukunft. Für das Sein zum Tode ist die
Ausrichtung auf die Zukunft grundlegend.
In seiner fundamentalen Analyse des Daseins bekommt die Zukunft durch die Sorge als Sein
des Daseins ein Vorrecht in der Konstitution der Zeitlichkeit.
Die Kritik Ricoeurs an Heideggers Analytik des Daseins lautet, dass „die in Sein und Zeit
durchgeführte Hierarchisierung der zeitlichen Instanzen – fundamentale Zeitlichkeit,
1
Geschichtlichkeit, Innerzeitigkeit“ ein Hindernis für die „Anerkennung der Ressoucen einer
von der Grundinstanz zur begründeten Instanz“ darstellt (547).
Die Problematik der Ganzheit und der Sterblichkeit
Ganzheit soll als offenes System, als Vollständigkeit und Erschlossenheit (ouverture)
verstanden werden. Jedoch impliziere das „zum“ von Sein zum Tode ein „Zielen auf
Vollendung“. Wenn der Tod die Vollendung darstellt, dann würde die Ganzheit eine
Spannung in der Art eines Oxymorons einschließen: „die Vollendung des Unvollendeten“.
Ricoeur kritisiert das Beharren auf die Thematik des Todes, das die Ressourcen an
Erschlossenheit des möglichen Seins verschließe. Die Angst verdecke zugleich „die Freude
des sich aufschwingenden Lebens“.
Mit Spinoza hält Ricoeur gegen Heidegger an der Weisheit eines Nachsinnens über das Leben
fest. Ricoeur stellt eine „Besessenheit der Metaphysik vom Problem des Todes“ fest, und
glaubt, dass Heidegger in der platonischen Tradition der „Sorge um das Sterben“ (melete tou
thanatou) bleibt, dabei sowohl das Phänomen der Geburt übersehe als auch die Freude an den
von Hannah Arendt erwähnten Kategorien der vita activa: Arbeit, Herstellen, Handeln. Laut
Ricoeur entspricht die Freude des „weiter am Leben seins“ besser der existentiellen
Erschlossenheit des Daseins als das angstvolle Sein zum Tode.
Angesichts der heideggerischen Position des Seins zum Tode, der Interdependenz von
Seinkönnen und Sterblichkeit erleuchtet Ricoeur zwei weiteren Alternativen.
a. Das Verhältnis zum eigenen Leib. Hier erwähnt Ricoeur das Seinkönnen als Begehren
(Spinoza – conatus, Leibniz – Appetition, Freud – libido, Jean Nabert – Wunsch zu sein,
Anstrengung zu existieren).
Aus der Sicht der Biologie stellt der Tod das unausweichliche Schicksal des Körpers. Die
Akzeptanz dieser Tatsache des Sterbenmüssens („Philosophie als sterben lernen“) könne man
als „Frucht der Weisheit“ bezeichnen, wobei der Tod immer noch „erschreckend,
angsteinflößend“ und “radikal fremd“ bleibe.
b. Der Tod des Anderen als „Amputation des Selbst“
Der Tod betrifft nicht ein abstraktes oder banales „man“, in dem Sinne, dass „man sterben
muss“, sondern den konkreten Mitmenschen, den liebsten Nächsten. Die Erfahrung des Todes
des Anderen bedeutet die Erfahrung eines Abbruchs der Kommunikation, des Verlust und der
Trauer. „Der Verlust des anderen ist auf eine gewisse Weise Selbstverlust“, solange das
Liebesobjekt, das zum „integralen Anteil der eigenen Identität“ gehört, für immer verloren
geht.
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Ricoeur fragt sich dabei, ob die Trauer um den anderen nicht als eine Vorwegnahme der
Trauer um den eigenen zukünftigen Tod verstanden werden kann
Der Tod des Nächsten sei der „sanfte“ Tod. Ricoeur versteht in Übereinstimmung mit Levinas
jeden Tod als eine Art Mord im Sinne eines „Mal des Nichts“. Der Mord gehöre zum Wesen
des Todes. Der Mensch ist dem Tod als absolute Gewalt völlig ausgeliefert, machtlos. Jedoch
hält Ricoeur mit Levinas entgegen Heideggers Auslegung des Seins als Sein zum Tode an der
Auffassung des Seins als Sein „Trotz-des-Todes“ bzw. „Gegen-den-Tod“ fest (554).
Der Tod eröffne darüber hinaus eine ethische und politische Dimension. Mit Bezug auf
Montaigne erwähnt Ricoeur deshalb die Gleichheit der Menschen durch die Universalität der
Todes: „Gleichheit ist der Grundpfeil der Gerechtigkeit. Wer kann sich beklagen, wenn ihn
trifft, was alle trifft?“ (Anm.23).
2. Der Tod in der Geschichte
In diesem Abschnitt bietet Ricoeur eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines
Gesprächs zwischen dem Historiker und dem Philosophen auf dem Gebiet der von Heidegger
eröffneten Diskussion des Seins zum Tode.
a. Die erste Möglichkeit liege im Thema Gewissen, das Heidegger mit dem Begriff
Bezeugung verknüpft: „Die Bezeugung ist der Wahrheitsmodus, unter dem sich der Begriff
Ein-Ganzes-sein-Können und der Begriff Sein zum Tode zu verstehen geben“ (556).
Bezeugung hängt nicht nur mit der Zukünftigkeit der Sorge in ihrem antizipatorischen
Vermögen zusammen, sondern mit den drei „temporalen Ekstasen“ der conditio humana
(Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit). Ricoeur betrachtet die temporalen Ekstasen in
Verbindung mit der Sprach-, der Handlungs-, der Erzähl- und der Zurechnungsfähigkeit des
Menschen. Die Gewissheit der präsenten Fähigkeiten „rahmt die Bezeugung für die Zukunft
und das Zeugnis für die Vergangenheit ein“. Ricoeur würdigt bei Heidegger, dass er in seinem
Text der Bezeugung ermöglicht „sich von der Zukunft des Vorlaufens auf die Vergangenheit
der Rückschau hin zu erstrecken“ (556).
b. Die zweite Möglichkeit eines Dialogs zwischen dem Historiker und dem Philosophen bietet
sich durch die „Ontologie des Seinskönnens/Sterbenkönnens“. Hier verfügt die Vergangenheit
nicht über den Status eines äußerlichen Geschehens im Sinne von Exteriorität oder
adversativen Polarität wie bei Koselleck, der von Erfahrungshorizont und Erwartungsraum
sprach.
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In seiner Analyse der Zeitlichkeit der Sorge verknüpft Heidegger die Zukünftigkeit 1 mit dem
Vergangenheitssein durch den Begriff des Schuldigseins (siehe Anm. 25).
Ricoeur kritisiert hier, dass dieser Begriff der „Schuldigkeit“ beraubt und zwar „übermäßig
entmoralisiert“ wird. Bei Heidegger fehle die „eigentlich ethische Dimension der Schuld, ihre
schuldige Dimension“ (558).
Er würdigt jedoch den Begriff des Schuldigseins, weil er die ontologische Dichte und
Kontinuität zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit berücksichtigt. Bei Heidegger ist
die Vergangenheit nicht bloß abgelaufen und außerhalb unserer Reichweite. Das äußert
Heidegger, wenn er dem Begriff Vergangenheit den Begriff „Gewesenheit“ vorzieht. Im
Dialog des Historikers mit dem Philosophen soll die Dialektik zwischen „gewesen“ und
„abgelaufen“, zwischen „Gewesen“ und „Nicht-mehr“ wiederhergestellt werden, solange es
doch ein „schlechthin Abgelaufene(s)“ gibt, nämlich das Unwiderrufliche.
Hier unterscheidet Ricoeur im Hinblick auf die Vergangenheit zwischen der Kategorie des
Vorhandenen (das Abgelaufene) und der des Zuhandenen (das Gewesene). Er erwähnt noch
die Korrelation zwischen Schuldigsein als ontologische Kategorie und Repräsentanz als
epistemologische Kategorie ein. Repräsentanz verweist auf „das Rätsel der anwesenden
Darstellung der abwesenden Vergangenheit“ als „das primäre Rätsel des mnemotischen
Phänomens“. Ricoeur plädiert für den produktiven Dialog zwischen dem Philosoph und dem
Historiker, weil auf diese Weise die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit der
Vergangenheit wiederhergestellt werden könne. Mit Hilfe dieser Dialektik kann die
Vergangenheit als „gegenwärtig-, lebendig-, lebhaft-gewesen“ verstanden werden.
Dem philosophisch-ontologischen Diskurs fügt Ricoeur die historische Erzählung bezüglich
der Sterblichkeitsmerkmale hinzu und damit den Beitrag des Historikers zum Thema Tod. Der
Tod ist in der historiographische Operation eingebunden, indem er „das von
historiographischen Diskurs Abwesende“ signiert. Wie kann aber der Tod von seiner
Schattenseite historiographisch befreit werden? Wie kann der Tod auch vom Historiker
„ontologisch“ erfasst werden?2
Die einzige Möglichkeit sieht Ricoeur im Ritus der Beerdigung, im Einrichten einer
Grabstätte. Die Grabstätte wird hier nicht nur als Ort des Friedhofs, sondern als „Geste der
Bestattung“, als „materieller Ort“ des Trauerns, als „Gedächtnisstütze für die Geste der
„Dasein kann nur eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser
Weise der Zukunft“.
2
Hier stellt sich die Frage, ob man dem Philosophen den Bereich der Ontologie und dem Historiker den Bereich
der Epistemologie überlassen kann, wie Ricoeur annimmt 560.
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Bestattung“ verstanden. Durch die Trauer wird die „physische Abwesenheit des verlorenen
Objekts in eine innere Anwesenheit verwandelt“ (561).
Ricoeur bietet hier in Anlehnung an Michelet und Certeau eine Hermeneutik des Todes und
des Bestattungsaktes. Der Tote als verstummte Spur und Stimme der Vergangenheit wird
durch die Geschichtsschreibung, zum „fehlene(n) Anwesende(n)“. Die Abwesenheit der
Vergangenheit gewinnt einen direkten Bezug zur Gegenwart durch den Akt der Verarbeitung
der Geschichte.
Bei Michelet übernimmt das Erzählen der Geschichte (Historiographie) die literarische
Funktion der Wiederbelebung, der Wiederauferstehung und der Wiederkehr der Toten. Bei
Certeau, der die Bezüge zwischen Geschichte und Mystik stark hervorhebt, gewinnt die
Vergangenheit eine mystische Dimension: „Das Abgelaufene ist das quasi ‚mystische’
Abwesende des historischen Diskurses“.
Ricoeur versteht das Schreiben als Beerdigunsritus mit symbolischer Funktion. Das Schreiben
ermöglicht einer Gesellschaft „sich zu verorten, indem sie sich in der Sprache eine
Vergangenheit gibt“ (564). Sowohl das Schreiben über den Tod als auch die Vergangenheit
verfügen über eine wissenschaftliche, narrative und politische Dimension.
Die Schrift als Bestattungsritus „erlöst“ die Vergangenheit, indem sie „den Toten der
Vergangenheit eine Erde und ein Grabmal“ gibt. Das Gedächtnis hat mit einer doppelten
Abwesenheit zu kämpfen: „des Dings selbst, das nicht mehr da ist“ und des „Ereignisses, das
nie so gewesen ist, wie gesagt worden ist“.
II. GESCHICHTLICHKEIT
Ricoeur versteht die Geschichtlichkeit (historialité) als weiteren Ort der Begegnung des
Philosophen mit den „epistemologischen Ansprüchen der Historiographie“.
1. Der Verlaufsweg des Wortes Geschichtlichkeit
Ricoeur untersucht, wie der Ausdruck „Geschichtlichkeit“ im Verlauf der Jahrhunderte
gebraucht wurde. Dabei bezieht er sich auf Leonhard von Renthe-Fink. „Geschichtlichkeit“
taucht erstmalig im 19. Jhd. auf und wurde von der Philosophie Hegels geprägt. Hegel
verwendete den Begriff in Bezug auf das antike Griechenland, später um die Wirklichkeit des
Menschgewordenen Christus hervorzuheben. Der Ausdruck Geschichtlichkeit steht also unter
dem „doppelten Zeichen Griechenlands und des Christentums“. Hegel stellte sich die
epochale Frage nach der Möglichkeit, dass der Geist eine Geschichte hat und fokussierte auf
die Geschichte des Geistes.
5
Auch Dilthey verstand den Geist als „durch und durch historisch“. Er plädierte für die
Autonomie der Geisteswissenschaften, weil er den Geist als Einheit erfasste und zwar im
Bezug auf die Konstitution des selbst im Vollzug der Selbstbesinnung (572). Er prägte dabei
den Ausdruck von „psychischen Strukturzusammenhang“ oder „lebendigen Zusammenhang“.
Im Gegensatz zu Heidegger fehlt bei ihm die Vorstellung eines Intervalls zwischen Geburt
und Tod. So steht bei Dilthey der Begriff Geschichtlichkeit in bloßer Nachbarschaft zu den
Begriffen Lebendigkeit und Freiheit.
Graf Paul Yorck kritisiert bei Dilthey, dass er „zu wenig die generische Differenz zwischen
Ontischem und Historischem“ betont. Durch diese fehlende Differenz bleibt die
Geschichtsschreibung „rein okularen Bestimmungen“ befangen.
Heidegger führte die Auseinandersetzung zwischen Yorck und Dilthey weiter, indem er die
Geschichtlichkeit thematisiert. Er wies darauf hin, dass es zwischen Anfang/Geburt und
Ende/Tod ein Intervall, ein „Zwischen“ gibt. Heidegger nannte es die „Erstreckung des
Daseins zwischen Geburt und Tod“ (374).
Ricoeur wiederum kritisiert bei Heidegger, dass er die Reflexion über den Leib im Hinblick
auf die Gebürtigkeit auslässt.
Heidegger kommt zu einem ontologischen Verständnis der Geschichtlichkeit, indem er die
Geschehensstruktur des Daseins in ihren existential-zeitlichen Möglichkeitsbedingungen
darlegt: das Seiende ist nicht zeitlich, weil es in der Geschichte steht, sondern existiert
geschichtlich, weil es „im Grunde seines Seins zeitlich ist“ (SZ 376).
2. Geschichtlichkeit und Geschichtsschreibung
In diesem Abschnitt thematisiert Ricoeur die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit
der Vergangenheit anhand der Vorstellung von Spur. Die Vergangenheit darf nicht mit dem
Verständnis von Überrest, Ruine, Altertümern und musealen Gegenständen als erschöpfend
charakterisiert gedacht werden, „weil das Dasein in sich in der Form der Schuld und des
Erbes die Spuren seines Geschehens trägt“ (581). Hierin verbirgt sich „das Rätsel der
ikonischen Repräsentation der Vergangenheit im Gedächtnisakt“.
Ricoeur möchte jedoch den Bruch überwinden, den Heideggers Daseinsanalytik zwischen den
Seinsweisen des Daseienden und des vorhandenen sowie zuhandenen Dings eingeführt. Zur
Überschreitung der Trennung oder der „ontologische(n) Diskontinuität“ der Seinsweisen als
Existentiale und Zuhandene , schlägt Ricoeur einerseits die Berücksichtigung des Phänomens
der
Spur,
andererseits
den
Begriff
GENERATIONFOLGE
WIEDERHOLUNG (Kierkegaard) vor.
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(Dielthey)
und
Der Begriff Generation ermögliche zwar die Überlieferung und das Erbe zu verstehen, habe
aber weniger „leiblichen touch“ als der Begriff Gebürtigkeit. Ricoeur möchte hier auf den
Zusammenhang bzw. das „genealogischen Prinzip“ aufmerksam machen.
Der
Begriff
Wiederholung
historiographischen
zeige
Unternehmens“.
„die
ontologische
Wiederholen
Grundlegung
bedeute
nicht
ein
des
gesamten
nachträgliches
Wiederherstellen oder Wiedervollziehen, sondern ein „von neuem Verwirklichen“, eine neue
Erschließung der Vergangenheit über die Zukunft. Wiederholen habe mit dem „Nachvollzug
(reenactment) der Vergangenheit in der Gegenwart zu tun“ (Collingwod).
Hier bricht Ricoeur mit dem historischen Determinismus, indem er die „Verbindung zwischen
Kontingenz und Notwendigkeit in der geschichtlichen Kausalität“ wahrnimmt. Die
Vergangenheit ist nicht abgeschlossen: „der Sinn dessen, was geschehen ist, (ist) nicht ein für
allemal fixiert; nicht nur können Ereignisse der Vergangenheit anders erzählt und ausgelegt
werden, es kann auch die mit dem Schuldverhältnis gegenüber der Vergangenheit verbundene
moralische Last verstärkt oder erleichtert werden“
Die Vergangenheit kann „Wachgerufen“ werden. Der Historiker und der Leser werden zu
Zeitgenossen der handelnden Subjekte der Geschichte. Sie können und werden aber durch
Geschichte affiziert (Thema Schuld, Schuldigkeit), so dass die Vergangenheit nachwirkt.
III. „In”-der-Zeit-Sein (589)
1. Auf der Bahn des Uneigentlichen
Mit „Innerzeitigkeit” bezeichnet Heidegger die temporale Struktur des Seins. In-der-Welt-sein
gibt es nur als In-der-Zeit-sein, Bei-sein, bei den Dingen der Welt. Die Abhängigkeit von den
Dingen eröffnet das Umfeld der Sorge als Grundstruktur des Seins in Form von Besorgen.
Hier unterscheidet Ricoeur zwischen einer Gegenwartsbezogenheit des Besorgens, eine
Zukunftsbezogenheit des Seins zum Tode und eine Vergangenheitsbezogenheit der
Geschichtlichkeit.
Die Zentriertheit des Besorgens auf die „lebendige Gegenwart“ lässt Ricoeur mit Augustinus
und Husserl übereinstimmen, welche die Zeit um die Instanz der Gegenwart gruppierten. Die
Zeit kann gezählt und datiert werden, wobei die Datierbarkeit einen öffentlichen Charakter
hat. Der Zeit wohnt ein Rhythmus inne (Tag, Nacht, Ruhezeit, Schlaf, Arbeit, Fest). Es gibt
außerdem eine innere Qualifizierung der Zeit als „günstige“ und „ungünstige Zeit“.
Ricoeur schlägt eine „Neuverteilung der Zeit“ in der Symmetrie zur dreifachen Zurechnung
des Gedächtnisses vor – des Selbst/Eigenen, der Nahen, der Fernen.
2. Das In-der-Zeit-sein und die Dialektik von Gedächtnis und Geschichte (591)
7
Die Geschichte soll faktisch und ontisch-zeitlich ausgelegt werden. Die faktische Auslegung
hat mit der „wirkliche(n) Praxis der Historie“ zu tun. Durch die Geschichtsschreibung bemüht
sich der Historiker, „Handlungen und Erlittenes zu ver-gegenwärtigen. Er soll aber nicht nur
„hinter den Toten von heute, den Lebenden von eins“ sehen, sondern ihn auch als
„Handlungsträger“ wahrnehmen. In der Überschneidung von Repräsentanz und Wiederholung
sieht Ricoeur eine „Vernähung zwischen einer Phänomenologie des Gedächtnisses und einer
Epistemologie der Geschichte“. Dabei stößt er auf zwei Gefahren:
a. Die Anmaßung, dass das Gedächtnis in das Feld der Geschichte aufgelöst werden
könnte.
b. Der Widerstand des Gedächtnisses, die Revolte des kollektive Gedächtnisses
a) Das Gedächtnis, eine bloße Provinz der Geschichte? (594)
Durch die Entwicklung einer Geschichte des Gedächtnisses wurde das Gedächtnis als Teil
einer „Geschichte der Geschichte“ angesehen. Das Gedächtnis wurde auf die Funktion von
„Rohstoff der Geschichte“ reduziert, auf den Vorrat, aus dem der Historiker schöpfen kann.
Man misstraute aber dabei dem Gedächtnis, und lehnte es ab, ihm den Vorzug zu geben. Das
Gedächtnis soll aus ihrer „matriziellen Funktion der Geschichte gegenüber“ herausgelöst
werden.
Ricoeur nimmt Bezug auf Krzysztof Pomian3, der die dialektische Beziehung zwischen
Geschichte und kollektivem Gedächtnis darstellte. Das Gedächtnis hat von Anfang an mit
jenseitiger Autorität und Repräsentation zu tun. Die geschriebenen Dokumente stellen den
Status der transzendentalen Autorisierung des Gedächtnisses in Frage. Ein geschichtliches
Ereignis ist von einer Vielzahl von Faktoren umgeben, von Wegen außerhalb des
Gedächtnisses – literarischen und künstlerischen Werke, Größen wie Ökonomie,
Demographie, Soziologie. Es gibt eine Pluralität von Quellen, Dokumenten und Spuren,
welche auf die Schichten oder Differenzierung von „politischer, ökonomischer, sozialer und
kultureller Geschichte“ hinweisen. Die Vergangenheit kann aus einer völlig neuen
Perspektive konstruiert werden, „an die sich niemand hat erinnern können“. Somit hört die
Geschichte auf, Teil des Gedächtnisses zu sein. Das Gedächtnis wird zugleich zum „Teil der
Geschichte“.
Die Spaltung zwischen Geschichte und Gedächtnis ermöglicht einen „Krieg der
Gedächtnisse“ (literarisch, künstlerisch, rechtlich, politisch G.; G. der Eliten, kollektives G.).
Der Preis der kognitiven Emanzipation ist die Krise der durch das kollektive Gedächtnis
3
K. Pomian, De l´histoire, partie de la mémoire, à la mémoire, objet d´histoire, in : Revue de métaphysique et de
morale, Nr. 1, 1998, 63-110.
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gestifteten und projizierten Identität. Ein neues Gedächtnis kann aufgebaut werden, „das sich
über das alte geschriebene Gedächtnis legt“.
b) Das Gedächtnis mit der Geschichte als Last? (599)
Für eine der Unterordnung des Gedächtnisses unter die Geschichte entgegengesetzte These
wählt Ricoeur Richard Terdiman. Dieser zeigt am Beispiel der Literatur als „verbales,
rhetorisches und poetisches Laboratorium“, dass das Gedächtnis durch die Bewegung der
Geschichte seine Selbstoffenbarung, im Sinne von Vertiefung und Erhellung erfährt: „Das
erzählte Historische und das empfundene Mnemonische überkreuzen sich in der Sprache“
(601).
Die Schlussthese lautet, dass „die Geschichte des Gedächtnisses“ und die „Historisierung des
Gedächtnisses“ in einer offenen Dialektik bleiben müssen. Weder darf das Gedächtnis auf ein
Teil der Geschichte reduziert, noch das Gedächtnis zu einem „Vasallen“ der Geschichte
degradiert werden.
Es besteht eine Symmetrie zwischen dem Prozeß der Historisierung des Gedächtnisses, der
die hermeneutische Phänomenologie des Gedächtnisses begünstigt, und dem Prozeß „durch
den die Geschichte ihre Wahrheit berichtigende Funktion einem Gedächtnis gegenüber
ausübt, das nicht aufhört, ihr gegenüber seine matrizielle Funktion auszuüben“ (604).
Seite 561; 601-602: „Die Geschichte der Moderne...“
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