1 Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) Beratungsgremium Friedenspolitik Für eine Gemeinsame Sicherheits- und Friedenspolitik (GSFP) der Europäischen Union Der EU-Verfassungsentwurf aus friedenspolitischer Sicht Zusammenfassung Der vom EU-Konvent erarbeitete Entwurf für eine europäische Verfassung enthält wichtige Weichenstellungen für die zukünftige gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Entwurf folgt in weiten Teilen der vom Europäischen Rat im Dezember 2003 beschlossenen „Europäischen Sicherheitsstrategie“. Diese sieht weltweit fünf „neue Bedrohungen“ für Europa (Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Scheitern von Staaten, organisierte Kriminalität). Sie will diesen Gefahren mit drei Strategien begegnen: Abwehr von Bedrohungen, Stärkung der Sicherheit in den Nachbarregionen Europas und Einsatz für eine Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus. Der Verfassungsentwurf sieht die Stärkung der militärischen Fähigkeiten der EU und eine Ausweitung der Bandbreite für mögliche Aktionen außerhalb des Gebiets der EU vor. Eine Bewertung dieser Strategien und der vorgesehenen Verfassungsbestimmungen aus friedenspolitischer Sicht zeigt, dass die Chance verpasst wird, das Potenzial der Europäischen Union zu nutzen, um für Europa und über Europa hinaus den Frieden zu fördern, wie es der Verfassungsentwurf als Ziel der Union festlegt. Aus Sicht des Beratungsgremiums Friedenspolitik der AGDF braucht die EU eine Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die entschlossen auf das Instrumentarium gewaltfreier politischer Maßnahmen und ziviler Fähigkeiten zur Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung setzt. Das Beratungsgremium nennt wichtige Elemente für eine mögliche globale und aktive Friedenspolitik der Europäischen Union. Doch ist es nicht das Ziel dieser Stellungnahme, dem EU-Verfassungsentwurf eine ausgearbeitete Alternative gegenüber zu stellen. Sie soll auf problematische Entwicklungen und Bestimmungen hinweisen und zur öffentlichen Diskussion anregen. Vorbemerkung In dem Diskussionspapier „Frieden in Gerechtigkeit“ hat sich das Beratungsgremium Friedenspolitik der AGDF für einen strikten, verantwortungsethisch handelnden Pazifismus ausgesprochen. Es sieht darin „den Dritten Weg und das eigentlich konstruktive Programm zwischen dem desinteressierten Wegschauen oder der Hinnahme des angeblich unabänderlichen Unrechts einerseits und der Anwendung von Gewalt andererseits. Das gilt sowohl für solche Konfliktszenarien, bei denen gewaltfrei handelnde Akteure soziale Kämpfe zur Überwindung von Unrecht und zur Durchsetzung berechtigter Anliegen führen (von sozialen Bewegungen bis zu 2 gewaltlosen Revolutionen) wie für jene Konfliktszenarien, bei denen es den gewaltlos Agierenden primär um die Verhinderung von Gewalteskalation geht. Deshalb versucht ein verantwortungsethischer Pazifismus, den Raum für Gewaltfreiheit persönlich und politisch so lange und so weit wie möglich offen zu halten.“ Daraus ergeben sich die friedenspolitischen Leitfragen: Welche gewaltfreien Alternativen gibt es? Wie können sie im öffentlichen Bewusstsein und in der politischen Praxis stärkeres Gewicht bekommen? Wie können innerstaatlich die rechtlichen und international die völkerrechtlichen Kriterien zur Kontrolle von Gewalt geschärft und wie kann ihre internationale Anwendung überhaupt garantiert werden?1 Die „Europäische Sicherheitsstrategie“ Das Scheitern des EU-Gipfels im Dezember 2003 in Rom, der die künftige Europäische Verfassung verabschieden sollte, eröffnet noch einmal eine Chance, die Bestimmungen des Entwurfs zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union an friedenspolitischen Kriterien und Werten zu messen und auf Änderungen zu dringen. Dazu ist freilich notwendig, nicht nur den vorliegenden Text des Entwurfs, sondern auch dessen welt- und europapolitischen Kontext im Blick zu haben. Gemessen an den genannten friedenspolitischen Leitfragen befindet sich die Europäische Union auf einem Irrweg, der in eine zunehmende Militarisierung führt. Die Marschrichtung gibt die von Javier Solana, dem Verantwortlichen für die GASP, entwickelte und am 13. Dezember 2003 vom Europäischen Rat beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie mit dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ an. Sie folgt der National Security Strategy der USA von 2002 insofern, als sie deren globales Bedrohungsszenario übernimmt und wie diese auf eine Sicherheitspolitik mit erhöhten militärischen Mitteln zielt. Sie kommt jedoch wesentlich weniger martialisch daher als die National Security Strategy und betont viel stärker die Notwendigkeit, auch gewaltfreie zivile Mittel zu Krisenprävention und Konfliktbearbeitung einzusetzen. Mit ihrem Willen zu eigenständiger militärischer Stärke und ihrer Betonung des Ziels einer multilateralen Weltordnung stellt sie eine Herausforderung an die Führungsmacht USA dar. Die Europäische Sicherheitsstrategie verspielt freilich ihre eigentliche Chance, nämlich eine gewaltfreie politische Alternative auf der Basis ihres eigenen Potenzials zu entwickeln. Unter den Zielen der Europäischen Union, die der Verfassungsentwurf in Artikel 3 festlegt, kommt der Förderung des Friedens hohe Priorität zu: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“ 2 Absatz 4 liest sich wie ein umfassendes friedenspolitisches Programm: Die Union „trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur 1 2 „Frieden in Gerechtigkeit“, epd-Dokumentation Nr. 48, 24. November 2003, Seite 10f Artikel 3 Abs. 1 3 Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ Kaum eine Aufgabe, die sich eine verantwortliche und nachhaltige Sicherheits- und Friedenspolitik geben wird, fehlt in dieser Auflistung. In der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ ist davon wenig zu finden. Auch sie spricht von „Chancen“ für eine bessere Welt, sieht aber in erster Linie Bedrohungen und definiert Sicherheit von solchen Bedrohungen her. Dabei argumentiert sie mit einem gegenüber traditionellen Vorstellungen stark erweiterten Sicherheitsverständnis3. Durch weltweite Verflechtungen sei Europa mit seinem gewaltigen wirtschaftlichen Potenzial nicht nur „zwangsläufig ein globaler Akteur“, sondern auch in hohem Maße anfällig für die Turbulenzen und Krisen, die sich aus Armut und Hunger, aus dem Wettstreit um Naturressourcen, aus Energieabhängigkeit und wirtschaftlicher Konkurrenz ergeben. „Sicherheit“ lässt sich, so gesehen, weder sachlich noch geographisch eingrenzen, sondern umfasst weltweit alles, was die – vor allem wirtschaftliche – Stabilität Europas bedrohen könnte. Dem entsprechend muss die Europäische Union sicherheitspolitisch mit einem breiten Spektrum von Maßnahmen reagieren, das politische, wirtschaftliche, aber eben auch und im Ernstfall ganz gewiss militärische Instrumente einschließt.4 Das aber bedeutet konsequenterweise, dass das ganze genannte Spektrum „ziviler Mittel und Maßnahmen letztlich in den Dienst europäischer Macht- und Interessenpolitik gestellt wird, deren „Glaubwürdigkeit“ – sprich: Durchsetzungsfähigkeit – von der militärischen Stärke abhängt. Der Nachdruck, mit dem die Militarisierung der Europäischen Union vorangetrieben und sicherheitspolitisch gerechtfertigt wird, spricht eine deutliche Sprache. Im Kontext des angedeuteten globalen Krisenszenarios sieht die Europäische Sicherheitsstrategie Europa mit fünf „neuen Bedrohungen“ konfrontiert: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Scheitern von Staaten („failed states“5), organisierte Kriminalität. Um ihnen zu begegnen, sind drei Strategien vorgesehen: Abwehr von Bedrohungen6, Stärkung der Sicherheit in den Vgl. „Friedenspolitische Richtlinien“ der Kooperation für den Frieden, Dezember 2003, Punkt 3.2: Während in der Vergangenheit die Sicherheit eines Landes in erster Linie als Sicherheit vor militärischen Angriffen auf sein Territorium verstanden wurde, wird seit Ende des Ost-WestGegensatzes zunehmend ein erweiterter Sicherheitsbegriff konstruiert, der eine Vielfalt von so genannten „Risiken“ in die Bedrohungsanalyse einbezieht. Die „Kooperation für den Frieden“ ist ein Zusammenschluss von über 30 Organisationen der Friedensbewegung (Adresse c/o Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 53111 Bonn, E-mail: [email protected], Homepage: www.koop-frieden.de) 4 In den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ des deutschen Bundesministers für Verteidigung liest sich das so: „Deutsche Sicherheitspolitik ist umfassend angelegt und berücksichtigt politische, ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen und Entwicklungen. Sicherheit kann weder vorrangig noch allein durch militärische Maßnahmen gewährleistet werden. Vorbeugende Sicherheitspolitik umfasst politische und diplomatische Initiativen sowie den Einsatz wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer, rechtsstaatlicher, humanitärer und sozialer Maßnahmen. Gleichwohl sind die politische Bereitschaft und die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte, Stabilität und Sicherheit notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen oder wiederherzustellen, unverzichtbare Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit eines umfassenden Ansatzes von Sicherheitspolitik.“ (Verteidigungspolitische Richtlinien vom 21. Mai 2003, Absatz 36 und 37). 5 „Failed states“ ist nicht ein freundlicherer Ausdruck für die „Schurkenstaaten“ der US-Strategie. Gemeint sind Staaten, die durch Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen, zivile Konflikte von innen her zerfallen. 6 „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Die Proliferationsrisiken nehmen immer mehr zu; ohne Gegenmaßnahmen werden terroristische Netze immer gefährlicher. Staatlicher Zusammenbruch und 3 4 Nachbarregionen Europas und Einsatz für eine Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus. Um diese Strategien wirksam umzusetzen, müssen die europäischen politischen Akteure aktiver, kohärenter und handlungsfähiger werden, und sie müssen mit anderen zusammenarbeiten. Aktiver: „Dies gilt für die gesamte Palette der uns zur Verfügung stehenden Instrumente der Krisenbewältigung und Konfliktverhütung, einschließlich unserer Maßnahmen im politischen, diplomatischen, militärischen und zivilen, handels- und entwicklungspolitischen Bereich. ... Wir müssen eine StrategieKultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert.“ Die EU müsse mehrere Operationen zugleich durchführen können, bei denen „sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten“ eingesetzt werden. „Durch präventives Engagement können schwierigere Probleme in der Zukunft vermieden werden.“ Handlungsfähiger: Damit die Streitkräfte der Union zu „flexibleren, mobilen Einsatzkräften“ umgestaltet werden können, „müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden“. Die Einrichtung einer europäischen Rüstungsagentur zum Beispiel führt in die „richtige Richtung“. Die EU sollte an ein „breiteres Spektrum von Missionen“ denken. „Hierzu könnten gemeinsame Operationen zur Entwaffnung von Konfliktparteien, die Unterstützung von Drittländern bei der Terrorismusbekämpfung und eine Reform des Sicherheitsbereichs zählen.“ Kohärenter: „Entscheidend ... ist, dass wir stärker sind, wenn wir gemeinsam handeln. ... Die Herausforderung besteht nun darin, die verschiedenen Instrumente und Fähigkeiten, darunter die europäischen Hilfsprogramme und den Europäischen Entwicklungsfonds, die militärischen und zivilen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und andere Instrumente zu bündeln ... In einer Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen.“ Zusammenarbeit mit Partnern: Die transatlantischen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA sind „unersetzlich“ und haben Priorität. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist kein Ersatz für, sondern eine notwendige Ergänzung zur NATO und kann „den Kern eines europäischen Pfeilers der Allianz“7 bilden. Aber auch mit Russland sind engere Beziehungen nötig. „Insbesondere müssen wir danach streben, strategische Partnerschaften mit Japan, China, Kanada und Indien sowie mit all jenen zu entwickeln, die unsere Ziele und Werte teilen und bereit sind, sich dafür einzusetzen.“8 „Verstärkte europäische militärische Fähigkeiten“ organisierte Kriminalität breiten sich aus, wenn ihnen nicht entgegengewirkt wird – wie in Westafrika zu sehen war. Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“ Eine ganz ähnliche Liste von Risiken und Bedrohungen enthalten die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der deutschen Bundesregierung. Auch hier ist die Konsequenz: „Mehr denn je ist eine auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten abzielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik erforderlich. Diese muss alle Optionen – auch die militärischen – mit einbeziehen“ (Punktation des Bundesministers der Verteidigung für die Pressekonferenz am 21. Mai 2003). 7 „Verteidigungspolitische Richtlinien“ der Bundesregierung, Abschnitt 33 8Die Zitate in diesem Abschnitt stammen aus dem EU-Strategiepapier, Seite 11-14 5 Die „Europäische Sicherheitsstrategie“ gibt sich optimistisch: „Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben.“ Dabei kann jedoch bisher von einer „kohärenten“ Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU im Ernst keine Rede sein, wie sich im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg dramatisch erwiesen hat. Die Aussagen des Strategiepapiers sind vielfach Absichtserklärungen, die oft wenig Anhalt an den politischen Realitäten haben, zudem sind sie teilweise doppeldeutig. Was bedeutet ein „frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen“? Was ist „präventives Engagement“? Zwar unterstreicht die Bundesregierung den vorbeugenden, vor allem auf zivilen Mitteln aufbauenden Sicherheitsansatz der EU.9 Was aber ist von dieser Aussage im Strategiepapier zu halten: „Bei nahezu allen größeren Einsätzen ist auf militärische Effizienz ziviles Chaos gefolgt. Wir brauchen eine verstärkte Fähigkeit, damit alle notwendigen zivilen Mittel in und nach Krisen zum Tragen kommen“? Hier scheinen die Prioritäten und die Rollen eindeutig verteilt und die schlimmsten Befürchtungen ziviler Friedenskräfte bestätigt. Am klarsten bleiben Angaben, die sich auf den Ausbau von flexiblen und mobilen Einsatzkräften beziehen. Hierbei kann die „Europäische Sicherheitsstrategie“ auf bereits bestehende Abmachungen und begonnene Umsetzungen zurückgreifen. 1997 definierte der Amsterdamer Vertrag die verteidigungspolitischen Aufgaben der EU unter der Bezeichnung „Petersberger Aufgaben“. Zu ihnen gehört auch der Kriseneinsatz von Kampftruppen zur so genannten Friedenswiederherstellung bzw. Friedenserzwingung. Dem folgte 1999 in Helsinki der Beschluss des Europäischen Rats, zur Wahrnehmung dieser Aufgaben eine gemeinsame europäische Streitmacht von 60.000 Soldaten aufzustellen. Bei einem vorgesehenen halbjährlichen Turnus von Vorbereitung, Einsatz und Pause bedeutet dies das dreifache Potenzial an Truppenbereitstellung. Planung und Aufstellung dieser europäischen Elite-Einheit bilden das Kernelement der europäischen Militarisierung.10 Der Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999, aber auch der Irak-Krieg 2003, beide nach UN-Charta und Völkerrecht rechtswidrige Angriffskriege, demonstrierte den europäischen Partnern, dass sie unabhängig von den USA militärisch und damit auch machtpolitisch wenig ausrichten konnten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Irak-Kriegsgegner die Initiative zur weiteren Aufrüstung Europas ergriffen. Im April 2003 hielten Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien in Brüssel ein Gipfeltreffen ab. Ihr Ziel: „ ... bei der Schaffung des Europas (!) der Sicherheit und der Verteidigung, das auf verstärkten europäischen militärischen Fähigkeiten gründet, eine neue Phase einzuleiten“11. Um dieses Ziel zu erreichen, schlugen sie dem Verfassungskonvent vor, eine Reihe von Grundsätzen in die künftige europäische Verfassung aufzunehmen. Dabei taucht wieder die Idee einer „verstärkten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich“, aber ebenso auch einer „Europäischen Agentur für Entwicklung und Beschaffung So betont die Bundesregierung, auf ihre Intervention hin sei der umstrittene Begriff „preemptive engagement“ durch „preventive engagement“ ersetzt worden (Homepage des Auswärtigen Amts: EUPolitik: GASP:ESS) 10 vgl. Martin Singe, „Die Militarisierung der EU“, FriedensForum 5/2003, Seite 31-34 11 „Gemeinsame Erklärung Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs und Belgiens zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, Brüssel, 29. April 2003 (Pressemitteilung des Auswärtigen Amts). Die Motivation für diese Initiative wird in der Gemeinsamen Erklärung mit wünschenswerter Deutlichkeit ausgesprochen: „Die Europäische Union muss über eine glaubwürdige Sicherheits- und Verteidigungspolitik verfügen. Denn glaubwürdig – und somit wirksam – ist die Diplomatie nur, wenn sie sich auf wirksame zivile und militärische Fähigkeiten stützen kann.“ 9 6 militärischer Fähigkeiten“12 auf. Gebündelt sind diese Vorschläge im Konzept einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion“ (ESVU13), deren Aufgabe es sein soll, „die Mitgliedstaaten zusammen zu bringen, die bereit sind, raschere und weiter reichende Fortschritte bei der Verstärkung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich zu erzielen“. Es geht also um die Schaffung eines „militärischen Kerneuropa“ mit Vorreiterfunktion. Um voran zu kommen, beschlossen die vier Staaten zugleich einige „konkrete Initiativen“. Dazu gehören u. a. die Schaffung einer „europäischen schnellen Reaktionsfähigkeit“ („Initial-Entry-Fähigkeit“ mit der deutsch-französischen Brigade als Kern), die Einrichtung eines „europäischen strategischen Lufttransportkommandos“ und der Aufbau einer Kernstelle für kollektive Planung und Führung von EU-Militäreinsätzen unabhängig von NATO-Strukturen, allerdings in enger Verbindung zum NATO-Hauptquartier. Vor allem der Gedanke eines „Kerneuropa“ ist freilich umstritten. Doch haben Frankreich und Deutschland nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ wieder massiv ins Spiel gebracht. Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Verfassungsentwurf Vor diesem Hintergrund sind die Bestimmungen in dem Entwurf einer künftigen europäischen Verfassung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu sehen und friedenspolitisch zu bewerten. Der Verfassungsentwurf schreibt de facto die schon eingeschlagene Entwicklung zur Militarisierung der europäischen Politik fort. Grundsätzlich hat die Europäische Union vier Optionen, wie sie ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestalten kann.14 Sie hält am Atlantischen Bündnis fest, beteiligt sich am Krieg der USA gegen den Terrorismus und hofft auf bessere Zeiten unter einer neuen US-Regierung (Beibehaltung des bisherigen Status militärpolitischer Abhängigkeit). Sie versucht, sich von den USA sicherheitspolitisch zu emanzipieren und die EU zu einer Militärmacht auszubauen, die allein oder mit den USA (NATO) militärische Machtpolitik betreibt (zweite militärische Macht). Sie versucht, sich von den USA sicherheitspolitisch zu emanzipieren, verstärkt ihre zivilen, politischen und wirtschaftlichen Anstrengungen, verzichtet aber nicht auf Streitkräfte, die in Krisenfällen, etwa zur Mitwirkung bei VNFriedenseinsätzen, zur Verfügung stehen (ziviles Modell mit begrenzter Militärmacht). Dazu heißt es bezeichnenderweise: „Diese Agentur wird dazu beitragen, ein günstiges Umfeld für eine wettbewerbsfähige europäische Rüstungsindustrie zu schaffen.“ 13 Die konzeptionelle Genese lässt sich schon an der Nomenklatur ablesen. Aus der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion“ (ESVU) wurde in der Endfassung der Europäischen Sicherheitsstrategie die „Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (ESVP), im Verfassungsentwurf schließlich – in Anpassung an die GASP – die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP). In der Sache hat sich trotz anderer Begriffe nichts geändert. 14 Zum folgenden vgl. Gerald Mader, „Europäische Verfassung und Friedenspolitik“, 23. November 2003, im Internet:http://www.aspr.ac.at/mader8.htm 12 7 Sie strebt eine Sicherheits- und Friedenspolitik an, die freiwillig auf die Anwendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung von wirtschaftlichen oder geopolitischen Interessen sowie zur Schaffung von Sicherheit verzichtet und stattdessen auf ihre „weiche Macht“ setzt (friedenspolitisches Modell). Prüft man die Bestimmungen des Verfassungsentwurfs, so wird deutlich, dass er gleichsam unschlüssig zwischen der Option einer zweiten militärischen Macht und einem zivilen Modell mit begrenzter Militärmacht hin und her schwankt. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und fällt mit dieser in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Union. Die GSVP wird „schrittweise“ festgelegt und muss abschließend vom Europäischen Rat einstimmig beschlossen werden, ebenso beschließt der Ministerrat operative Einsätze in deren Rahmen einstimmig.15 Der Zwang zur Einstimmigkeit ist aus friedenspolitischer Sicht zu begrüßen. Beängstigend ist die Bandbreite möglicher Aktionen außerhalb des Gebiets der EU, die in die Verfassung aufgenommen werden sollen. Solche Missionen, „bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann“, umfassen „gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“16 Das ist ein extrem weit gefasstes Mandat für weltweit mögliche EU-Einsätze. Es beruhigt wenig, dass immer wieder formelhaft „zivile und militärische“ Mittel und Fähigkeiten zusammen genannt werden und der Artikel 40 mögliche Aktionen an die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen bindet. Vielmehr drängt sich die skeptische Einschätzung auf, dass die zivilen Mittel und Fähigkeiten faktisch in den Dienst geopolitischer Machtinteressen und militärischer Einsätze gestellt werden sollen. So muss es im höchsten Maße misstrauisch machen, dass zwischen zivilen und militärischen Missionen und den dabei einzusetzenden Mitteln gerade nicht unterschieden und keine Kriterien zum Einsatz der einen oder der anderen Fähigkeiten im Rahmen der GASP angegeben werden. Gewiss, einige der genannten Möglichkeiten für EU-Einsätze sind zu begrüßen und legen es nahe, dass sie von zivilen Akteuren durchgeführt werden. Die politischen Erfahrungen und Entwicklungen der letzten Jahre lassen indes wenig Raum für Hoffnung: politisch, finanziell und strategisch hat die militärische Komponente eindeutige Priorität, während für zivile Fähigkeiten der Krisenprävention, der Konfliktbearbeitung und der Friedensförderung wenig übrig bleibt. Der Verfassungsentwurf hat das im April 2003 von Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg vorgesehene Modell eines militärischen Vorreiter- und Kerneuropa übernommen. „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die 15 16 Artikel 15 Abs. 1, Artikel 40, Abs. 2 und 4 Artikel III-210 Abs. 1 8 militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“17 Der Ministerrat kann die Mitgliedstaaten, die eine solche „strukturierte Zusammenarbeit“ aufgebaut haben, mit der Durchführung besonderer Missionen betrauen. Wollen neue EU-Mitgliedstaaten in diesen Club der militärischen Elite eintreten, entscheiden darüber allein die bisher dazu gehörenden Staaten. Auch an Beschlüssen über die Weiterentwicklung der „strukturierten Zusammenarbeit“ nehmen allein sie teil. Insgesamt ist ein deutlich abgestuftes System der militärischen Integration vorgesehen. Nach Artikel 40 Abs. 3 verpflichten sich die Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ – mit anderen Worten: aufzurüsten. Diesem Ziel soll auch ein „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ dienen, das bei der Ermittlung des operativen Bedarfs, bei der Koordinierung und Optimierung der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und bei der waffentechnologischen Forschung und Entwicklung mitwirkt. „Eine solche Aufrüstungsverpflichtung der Mitgliedsländer eines neuen staatlichen Gebildes dürfte einmalig in der internationalen Verfassungsgeschichte sein. Hier hat sich die Militärund Rüstungslobby durchgesetzt, die seit Jahren stereotyp die Behauptung aufstellt, dass die militärischen Fähigkeiten der EU und ihrer Mitgliedsländer zu gering sind. Dies trifft aber nur dann zu, wenn man die EU zu einer militärischen Weltmacht ausbauen will.“18 Im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist zusätzlich ein erhebliches Defizit an demokratischer Mitwirkung und Legitimierung festzustellen. Die Entscheidungskompetenz über operatives Vorgehen und militärische Einsätze der Union liegt einseitig beim Europäischen Rat bzw. beim Ministerrat19. Zwar entscheiden die nationalen Parlamente über ihre Budgets, welche zivilen und militärischen Fähigkeiten sie der Union zur Umsetzung von deren Gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen. Der Ministerrat jedoch hat die Steuerungsmacht, denn er entscheidet über die Ziele der GSVP und deren Umsetzung. Kann also der Deutsche Bundestag künftig noch unabhängig von der EU, wie dies das Bundesverfassungsgericht verbindlich festgelegt hat, über Auslandseinsätze der Bundeswehr entscheiden? „Wie man so sagte: ExekutivOrgane setzen sich in den europäischen Hauptstädten in Flugzeuge und mutieren in Brüssel beim Ausstieg zu Legislativ-Organen.“20 Noch weniger hat das Europäische Parlament zu sagen. Es ist zu den „wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen“ der GASP und der GSVP regelmäßig zu hören und über deren Entwicklung auf dem Laufenden zu halten.21 Informationspflicht ist aber kein Beschlussrecht. Dabei sollen doch laut Verfassung die Entscheidungen der Europäischen Union „so offen und so bürgernah wie möglich“ getroffen werden.22 17 Artikel 40 Abs. 6 und Artikel III-213 Gerald Mader a. a. O. 19 Artikel 40 Abs. 4 und Artikel 198 Abs. 1 20 Martin Singe a. a. O. 21 Artikel 40 Abs. 8 und Artikel III-205 22 Artikel 45 18 9 Für eine gewaltfreie Sicherheits- und Friedenspolitik „Ziel der Union ist es, den Frieden ... zu fördern.“ So legt es die künftige Verfassung der Europäischen Union fest.23 Damit bleibt sie dem Ansatz treu, mit dem nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die europäische Einigung begann: Frieden durch gegenseitige Verflechtung, Verpflichtung und Solidarität statt der bisherigen machtpolitischen Konkurrenz und militärischen Konfrontation. Entspricht die Konzeption der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik diesem Ziel? Ist die gegenüber einem globalen Szenario von Bedrohungen entwickelte Sicherheitsstrategie geeignet, in diesem Sinne Frieden für Europa und über Europa hinaus zu fördern? Welches Gewicht sollen bei ihrer Umsetzung zivile, gewaltfreie Mittel haben und welche Rolle kommt militärischen Fähigkeiten zu? Die Frage verschärft sich im Blick auf die umfassenden und differenzierten friedenspolitischen Aufgaben, in die der Verfassungsentwurf das Generalziel „den Frieden fördern“ auffächert.24 Eine Antwort, die dem genuinen Ansatz der Europäischen Union und ihrem selbst gesetzten Ziel gerecht wird, kann wohl nur so aussehen: die Europäische Union braucht eine Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die entschlossen auf das Instrumentarium gewaltfreier politischer Maßnahmen und ziviler Fähigkeiten zur Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung setzt. Mit anderen Worten: Gefragt ist eine globale und aktive Friedenspolitik der Europäischen Union, die deren berechtigte Sicherheitsinteressen einschließt und in einem umfassenderen Rahmen wahrnimmt. In der Konsequenz bedeutet dies eine gewaltfreie friedenspolitische Alternative zur „Europäischen Sicherheitsstrategie“, wie sie im Papier von Solana entwickelt und im Entwurf für die künftige EU-Verfassung fixiert ist. In Grundzügen ist eine solche Alternative in den „Friedenspolitischen Richtlinien“ der Kooperation für den Frieden entfaltet25. Sie geht aus vom „Human security“-Ansatz der Vereinten Nationen, nach dem menschliche Sicherheit durch Entwicklung, Recht und demokratische Partizipation gefördert wird. Chancen zur Deeskalation und Beilegung heutiger so genannter asymmetrischer gewaltsamer Konflikte26, etwa bei der Bekämpfung des Terrors, bieten demnach gerade nicht militärische Einsätze, sondern die Fortentwicklung und der Ausbau der Krisenprävention und Zivilen Konfliktbearbeitung. „Neben dem Abbau von Gewalt will eine Strategie des Friedens Bedingungen für die Gestaltung des positiven Friedens erhalten, herstellen und optimieren, und zwar auf allen Ebenen des Handelns und in allen Feldern des Lebens: politisch, ökonomisch, ökologisch, soziokulturell, individuell. Das unterscheidet eine Strategie des Friedens von einem Verständnis von Sicherheitspolitik, das den vorbeugenden Einsatz politischer, diplomatischer und ökonomischer Mittel nie ohne das militärische – als letztes und äußerstes – Mittel sieht. Friedenspolitik in einem umfassenden Sinn beschäftigt sich nicht nur mit der Abwehr konkreter Kriegsgefahr, sondern schafft mittel- und langfristig Bedingungen 23 Artikel 3 Abs. 1, siehe oben Seite 2 Artikel 3 Abs. 4, siehe oben Seite 2 25 Siehe oben Anmerkung 4 auf Seite 3 26 „Private ‚Gewaltunternehmer’ wie kriminelle Organisationen und Terrorismusnetzwerke, oft unterstützt von staatlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen, beeinflussen entscheidend Form und Ausgang von gewaltsamen Konflikten und Kriegen – und damit die sich entwickelnden politischen Ordnungssysteme.“; aus: Friedenspolitische Richtlinien, a. a. O. Punkt 3.2 24 10 für einen Frieden, der auf Gerechtigkeit, Solidarität und einem nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen beruht.“27 Egon Bahr, ein ideologisch eher unverdächtiger „Realpolitiker“, konstatiert: „Welch ein Modell hat Europa schon jetzt geschaffen? Seine Prinzipien der Zusammenarbeit, des Gewaltverzichts, der friedlichen Regelung von Konflikten, des Kompromisses für die Regeln der Kooperation, der gegenseitigen Rücksicht, des jeweils möglichen Fortschritts durch die Zustimmung aller – sind das nicht Grundlagen für das Zusammenleben in einer multipolaren Welt? Bestimmt eröffnen diese Prinzipien einen menschenfreundlicheren Weg in die Zukunft als das Dominieren durch die Macht der Waffen. Das Modell, das die EU der Welt bietet, ist jedenfalls ganz unverwechselbar und gar nicht bedrohlich. Seine militärische Schwäche ist politisch seine Stärke.“28 Exkurs: Militärische Gewalt als ultima ratio? Ist eine solche gewaltfreie Alternative angesichts der globalen Spannungen und Interessenkonflikte realistisch? Kann ein wirtschaftliches und politisches Potenzial wie die Europäische Union es sich leisten, auf militärische Stärke zu verzichten? Muss sie nicht bereit sein, ihre Rolle als „globaler Akteur“ zu übernehmen und auch militärisch „Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen“29? Man kann auch sehr viel grundsätzlicher fragen: Ist das einer solchen Friedenspolitik zu Grunde liegende Menschenbild realistisch? Rechnet sie genügend mit der menschlichen Selbstsucht, Gier und Gewaltbereitschaft? Viele und darunter auch solche, die sich ganz dem Frieden verpflichtet wissen, antworten darauf, dass kriegerische Operationen als „letztes Mittel“ notwendig sind, um Bedrohungen abwenden sowie notfalls Gewalt beenden und Frieden erzwingen zu können. Auch die Kirchen nehmen großenteils diese Position ein, die unter den oben genannten Optionen dem zivilen Modell mit begrenzter Militärmacht entspräche. Vieles legt diese Sicht der Dinge nahe, doch muss sie sich zwei kritischen Rückfragen stellen. Die erste betrifft die Kriterien, mit denen festgestellt werden soll, wann denn in einer Konfliktlage die zivilen Mittel ausgeschöpft sind und der Krieg als „ultima ratio“ geboten ist.30 Dazu gibt es eine unendliche Diskussion, die aber bisher zu keinen praktikablen Ergebnissen geführt hat, sondern an der politischen Realität immer gescheitert ist. Gerade hier bleibt das Papier zur „Europäischen Sicherheitsstrategie“ verschwommen, in seinen Zielsetzungen diffus und in der Zuordnung entsprechender Mittel ungenau. Insgesamt spielen die zivilen Mittel eine nachrangige Rolle, die militärische Komponente hat viel zu großen Vorrang. Eine verantwortliche Prüfung, die kriegerische Einsätze wirklich auf das äußerste und letzte Mittel begrenzen will, ist auf dieser Basis kaum möglich. Der Eindruck bleibt, dass mit kriegerischen Aktionen nicht nur gerechnet wird, sondern sie auch für macht- und geopolitische Interessen bewusst in Kauf genommen werden. 27 a. a. O. Punkt 5 Egon Bahr „Wo ist Raum für ein selbst bestimmtes Europa? Zeit-Fragen Nr.46, 8. Dezember 2003 29 So in der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ 30 Von den nach dem geltenden Völkerrecht möglichen ultima-ratio-Fällen wird „Selbstverteidigung“ bis auf absehbare Zeit keine Rolle spielen. Kriegerische Einsätze von EU-Truppen oder mit ihrer Beteiligung kämen also nur als „humanitäre Einsätze“ in Frage. 28 11 Die zweite kritische Rückfrage betrifft die zerstörerischen Folgen, die jeder Krieg oder kriegerische Einsatz mit sich bringt – gleichgültig, auf welcher Rechts- oder Interessengrundlage er durchgeführt wird.31 Die Erfahrung, wie die USA und ihre Partner im Irak zwar den Krieg, nicht aber den Frieden gewinnen konnten, sollte Anlass sein, daraus die Lehre zu ziehen: Krieg kann keinen Frieden schaffen, Krieg kann nicht einmal die Gewalt beenden. „Wer angesichts der immer komplexer werdenden Welt und angesichts der Entwicklung in Afghanistan und Irak glaubt, den Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und das Chaos in den Failed States mit primär militärischen Mitteln und mit immer obszöner werdenden neuen Waffensystemen erfolgreich bekämpfen und mehr Sicherheit schaffen zu können, geht nicht von der politischen Realität, sondern von Wunschvorstellungen aus. Eine Weltordnung lässt sich nicht mit Gewalt, sondern nur mit der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, friedlicher Konfliktbearbeitung und Versöhnung aufbauen.“32 Was können wir tun? Für diejenigen, die sich gegen die jetzige GSVP wenden und für eine gewaltfreie Sicherheits- und Friedenspolitik der EU einsetzen, stellt sich zunächst das Problem, dass dieses Thema aktuell nicht öffentlich diskutiert wird. Das liegt insbesondere daran, dass - die Politik der EU von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt wird und – so die allgemeine Wahrnehmung – durch demokratische Meinungsbildung kaum beeinflusst werden kann. Dadurch entsteht ein allgemeines Desinteresse an der EU. - von den Medien das Thema „Militarisierung der EU“ nur sehr am Rande aufgegriffen wird. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zunächst die eigenen Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen und über die sicherheitspolitischen Strategien und die militärischen Planungen der EU zu informieren.33 Zum einen geht es dabei um eine möglichst breite Sachinformation. Es ist viel zu wenig bekannt, welche Bestimmungen und Perspektiven der EU-Verfassungsentwurf enthält. Zum anderen muss es das Ziel sein, den öffentlichen Meinungsbildungsprozess zu beeinflussen. Aus der breiten Ablehnung des Irak-Krieges kann nämlich keineswegs geschlossen werden, dass die politischen und gesellschaftlichen MultiplikatorInnen und EntscheidungsträgerInnen oder gar weite Teile der Bevölkerung Krieg als Mittel der Politik generell ablehnen. Das Modell „humanitärer militärischer Interventionen“ als „ultima ratio“ findet (noch) breite Akzeptanz34. Deshalb ist eine „Auseinandersetzung um die Köpfe“, ist politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit, aber auch Diskussion mit EntscheidungsträgerInnen notwendig35. 31 Die bereits zitierte Feststellung des EU-Strategiepapiers, dass bei nahezu allen größeren Einsätzen „auf militärische Effizienz ziviles Chaos gefolgt“ sei, ist eine fast zynische Bestätigung dieser Tatsache. 32 Gerald Mader a. a. O. 33 Eine Übersicht über Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen aus der Friedensbewegung findet sich auf der Homepage des Kasseler Friedensratschlags www.unikassel.de/fb10/frieden/themen/europa/ 34 vgl. dazu den obigen Exkurs „Militärische Gewalt als ultima ratio? (Seite 10) 35 Die Evangelische Akademie Arnoldshain führt am 2.-4. April 2004 die Tagung „Militärmacht EU – Neue Strategien für das alte Europa“ durch. 12 Hierzu gibt es bereits einige Aktivitäten. Die „Kooperation für den Frieden“ hat beschlossen, bei ihrer Vollversammlung am 15. Mai 2004 und bei der Strategiekonferenz am 18./19. September 2004 die Militarisierung der EU zum Schwerpunkt zu machen. Ziel ist es dabei, die verschiedenen Aktivitäten zu bündeln und in einer breiten Kampagne politisch wirksamer werden zu lassen. Bereits ab April 2004 läuft eine Aktion zur Befragung von KandidatInnen für das Europaparlament. Unterstützt von der „Kooperation für den Frieden“ wird z. Z. von der DFG/VK ein Fragebogen entwickelt, mit dem Friedensgruppen ihre jeweiligen KandidatInnen vor Ort im Rahmen von öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen nach ihrer Position zu Fragen der Sicherheitspolitik der EU befragen können. Der Verfassungsentwurf selber kann zum Anlass genommen werden, die GSVP der Europäischen Union zu thematisieren. So wurde vom „Kasseler Friedensratschlag“ zusammen mit der Informationsstelle Militarisierung die „Erklärung gegen diese EUVerfassung! ’Für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert’“ initiiert. Sie wurde auch von der AGDF unterzeichnet.36 Daneben ist es notwendig, bei diesen Aktivitäten das Demokratiedefizit der Europäischen Union selber zum Thema machen. Solange die Politik der EU von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt wird und die nationalen Parlamente, das Europaparlament und auch die öffentliche Meinung auf wesentliche Politikfelder kaum einwirken können, ist eine friedenspolitische Einflussnahme nur in sehr geringem Umfang möglich37. Dies gelingt am ehesten noch über eine europäische Bündnisstrategie, wie sie – mit einem anderen Fokus – über die Europäische Plattform für Zivile Konfliktbearbeitung oder die Europäischen Sozialforen bereits praktiziert wird. Von daher sollen zu der erwähnten Strategiekonferenz der „Kooperation für den Frieden“ VertreterInnen von Friedensinitiativen anderer europäischer Länder eingeladen werden. Bonn, 18. Februar 2004 36 Mitglieder des Beratungsgremiums Friedenspolitik der AGDF: Jan Gildemeister, Bonn Dr. Regine Mehl, Bonn Michael Mildenberger, Isernhagen Christine Schweitzer, Hamburg Eingestellt auf die Homepage der Informationsstelle: www.imi-online.de Die Evangelische Akademie Loccum greift mit der Tagung „Der Prozess europäischer Verfassungsgebung und die Öffentlichkeit“ am 27.-29. Februar 2004 das Thema auf. 37