Text - Monty Schädel

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Monty Schädel
interessante / wichtige Veröffentlichungen und Artikel
Thema: EU-Verfassungsdiskussion
aus:
vom: 13.12.2003
Thema EU-Verfassung
Die Union der 25 – militärisch klotzen, demokratisch kleckern?
Mit dem Vertragsentwurf wird die neoliberale Grundstrategie in den Verfassungsrang erhoben
Von Hans Modrow
Scheitert die »Europäische Verfassung«? Die Zeichen für den
EU-Gipfel am Wochenende standen auf Sturm. Gleichwohl
nutzen die Mitgliedstaaten die Vorgaben des Entwurfes, um
den militärischen Arm der Union zu stärken. Noch bevor die
Regierungs- und Staatschefs das letzte Wort gesprochen
haben, ist schon klar: Die EU wird militanter werden. Doch
wird sie auch demokratischer?
Gegenüber nationalen Verfassungen weist die künftige EUVerfassung eine geschichtlich beispiellose Besonderheit auf: Sie
bezieht sich nicht – wie die französische oder das deutsche
Grundgesetz – auf ein konkretes Staatsvolk. Dennoch hat sie mit
den klassischen Vorläufern eines gemeinsam: Es wird das in
gesellschaftlichen Umwälzungen Erreichte für längere Zeit
festgeschrieben, Rahmen und Regeln für weitere
Auseinandersetzungen werden durch Rechtsnormen bestimmt.
Der PDS-Politiker ist
Mit veränderten inneren Reproduktionsbedingungen des
Europaabgeordneter und sitzt für die Kapitalismus und nach dem Ende des realsozialistischen
Fraktion der Vereinten Europäischen Versuchs in Europa haben wir es mit einer solchen Zäsur zu tun.
Linken / Nordische Grüne Linke im
Wissenschaftliche und technologische Umwälzungen,
Ausschuss für Entwicklung und
Informations- und Kommunikationstechnologien werden in den
Zusammenarbeit
Marktradikalismus einfunktioniert und verstärken seine
ND-Foto: PDS-Online
Krisenprozesse. Zerstörungen des Sozialstaates und
Privatisierung der Daseinsvorsorge sind Bestandteil einer
grundlegenden gesamtgesellschaftlichen antidemokratischen Entwicklungstendenz und
beschleunigen sie. Politische Institutionen und Mechanismen der einzelstaatlichen repräsentativen
Demokratie degenerieren unter der Herrschaft des Geldes und sind immer weniger geeignet,
selbstzerstörerischen Widersinn aufzuhalten und elementare Interessen der Bevölkerungsmehrheiten
in Staatspolitik zu transformieren. Autoritäre Züge der Machtausübung werden verstärkt.
Neue soziale Widersprüche
Mit der Vergrößerung der EU von 15 auf 25 Staaten etabliert sich ein Machtfaktor in neuer Dimension.
Zugleich entstehen mit der Erweiterung unter den gegenwärtigen Bedingungen neue soziale Gräben,
Verwerfungen, Widersprüche zwischen den mächtigsten Finanz- und Kapitalgruppierungen und neue
Konfliktpotenziale, was auch die gegenwärtige Regierungskonferenz zu dem Vertrag der EUMitgliedstaaten über eine Verfassung der Union widerspiegelt.
Unter diesen Voraussetzungen muss ein gewisses Maß an »wirtschaftlichem, sozialem und
territorialem Zusammenhalt« innerhalb der Europäischen Union gesichert werden. Eine weitere
Beteiligung an der Ausbeutung der Mehrheit der Weltbevölkerung und eine Abschottung Europas
gegen die Ärmsten wiederum können materielle Spielräume zur Konfliktregulierung in der
»europäischen Gemeinschaft« schaffen.
Diese Ausrichtung ist eine spezifische europäische Variante der USA-dominierten neoliberalen
Globalisierung. Und sie ist auf der Grundlage des gegenwärtigen Vertragswerkes der Union
strukturell, faktisch und juristisch weit fortgeschritten, verfestigt und abgesichert. So wird mit der
gegenwärtigen Zerstörung des Sozialstaates u. a. in der Bundesrepublik nachweisbar
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»Koordinierungspolitik« der Europäischen Union zum Arbeitsmarkt und zum Arbeitsrecht, zur
Rentenpolitik, zum Gesundheitswesen und zur Altenpflege umgesetzt.
Insoweit steht die Europäische Union, wenn ihre Mitgliedstaaten den entworfenen Verfassungsvertrag
verabschieden, nicht mehr an einem Scheideweg, sondern ihre mächtigsten Schrittmacher haben
(sich) bereits entschieden. Bis hier vollzogene Umwälzungen sollen fest- und fortgeschrieben werden.
Widerspruch und Widerstand vor allem von Gewerkschaften und Bewegungen, Generalstreiks und
Massendemonstrationen haben in Griechenland, Portugal, in Italien, Spanien und Österreich
zumindest Aufschub und Abstriche an Elementen dieser EU-Strategie in ihren Ländern erwirken
können. In der Bundesrepublik entwickelt sich Widerstand. Im europäischen Rahmen sucht und
formiert sich Widerspruch und Gegenmacht aus mannigfaltigen Interessenlagen von immer mehr
betroffenen Menschen.
Welche Rolle könnte dabei die Verfassung spielen?
Verpflichtung zur Aufrüstung
Der Kern des wirklich Neuen an dem Verfassungsentwurf im Verhältnis zum bisherigen Vertragswerk
besteht wohl darin, dass es die Mitgliedstaaten zur militärischen Aufrüstung verpflichtet und die
Bereitschaft zu weltweiten »Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden
schaffender Maßnahmen« fordert. Das EU-Militär könne auch »durch die Unterstützung für
Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet« beitragen. (Art. I-40, Abs.3
und III-210) Angesichts des unbestimmten oder durch den USA-Imperialismus definierten
»Terrorismus« ist dies eine Blankovollmacht zur militärischen Einmischung wo und in wessen
Interesse auch immer in der Welt. Mit der Festschreibung einer möglichen »strukturierten
Zusammenarbeit« einiger Mitgliedstaaten, die über höchste »militärische Fähigkeiten« verfügen, wird
die Strategie eines »Kerneuropas« oder eines »Gravitationszentrums« der gesamten Union eben auf
dem militärischen Sektor festgemacht.
Frankreich, die Bundesrepublik und Großbritannien sind bereits dabei, dieses Konzept umzusetzen.
Die Union ist für »alle Bereiche« einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zuständig, und alle Mitgliedstaaten werden zur »aktiven und vorbehaltlosen Unterstützung« dieser
Politik (Art. 1-11 und 15) verpflichtet. Das legt den Gedanken nahe, dass dieser Strategie eine
zentrale Funktion im gesamten weiteren Integrationsprozess in Europa zukommt. Und
selbstverständlich sind mit dieser Ausrichtung weitere Einschränkungen für demokratische und soziale
Spielräume programmiert.
Darüber, dass mit dieser Verfassung die gegenwärtigen neoliberalen Grundstrategien in der
Wirtschafts- und Währungspolitik der EU in den Verfassungsrang erhoben und Beschäftigungs- und
Sozialpolitik der »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« untergeordnet werden, sind sich
Befürworter und Gegner des Dokuments wohl einig. Kapital und Einzelstaaten können innerhalb der
Union weiter um die niedrigsten Kosten der Arbeitskraft und den zunehmenden Zwang zu Lohnarbeit
unter schlechtesten Bedingungen konkurrieren.
Militarisierung, Marktradikalismus, Privatisierung sind per se antidemokratisch. Wie kann dann aber
die Europäische Union mit dieser Verfassung demokratischer werden?
Die einzig demokratisch gewählte Instanz innerhalb der EU ist das Europäische Parlament, dessen
Rechte zwar erweitert, aber gegenüber Organen der Exekutive noch immer eingeschränkt sind. In der
Außen- und Sicherheitspolitik, bei Rüstung, Militarisierung und Militäreinsatz hat das Parlament nicht
einmal Mitwirkungsrechte. Es soll regelmäßig gehört und auf dem Laufenden gehalten werden (Art. I39). Nationale Parlamente sollen in Entscheidungsfindungen der EU besser einbezogen werden und
können bei Verletzung des Subsidiaritätsprinzips beim Gerichtshof der Union klagen. Forderungen
nach deutlich mehr Mitwirkungsrechten für kommunale und regionale Körperschaften und den
Ausschuss der Regionen blieben im Verfassungsentwurf weitgehend unberücksichtigt, wie auch die
angestrebte Aufnahme einer Charta der kommunalen Selbstverwaltung.
Keine Chance für Bürgerbegehren
Eine Million Bürger »aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten« können die Europäische
Kommission auffordern, »Themen zu unterbreiten«, um einen Rechtsakt der Union anzuregen (Art. I46). Im Unterschied zu nationalen Gesetzgebungen können nicht Lösungsvarianten für Probleme in
Gesetzesform vorgeschlagen werden. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als folgende Stufen einer
Volksgesetzgebung sind nicht vorgesehen. Gegenüber dem Grundgesetz wäre diese minimale
Regelung allerdings noch immer ein Fortschritt.
Der tatsächliche Grundrechtsschutz für EU-Bürger würde hinsichtlich der individuell einklagbaren
Bürger- und Freiheitsrechte im Wesentlichen wie bisher durch die Europäische
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Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte bestimmt. Die darüber hinaus gehenden Sozialnormen im Grundrechtekatalog des
EU-Verfassungsentwurfs würden – wie bisher vergleichbare bzw. weitergehende soziale Grundrechte
aus völkerrechtlich verbindlichen Konventionen – auch auf der Grundlage dieser EU-Verfassung nicht
individuell einklagbar sein.
Umfassender und detaillierter als im bisherigen Vertragswerk ist in dem Verfassungsentwurf die
Einbeziehung von »Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft« in die Vorbereitung und
Durchführung von Entscheidungen der EU geregelt. Dazu sollen vor allem die so genannten
europäischen Agenturen ausgebaut werden. »Repräsentative Verbände« sollen in geeigneter Weise
in Information und transparenten Meinungsaustausch einbezogen werden. (Art. I-46) Mitwirkungs- und
Mitentscheidungsrechte, Veto-Rechte für sie sind nicht vorgesehen. Da aber innerhalb dieser
repräsentativen Verbände regelmäßig oligarchische Machtstrukturen bestehen, können bereits hier
Widerspruch und Widerstand der Organisierten abgeschwächt, ausgegrenzt, kanalisiert und nach
einzelstaatlichen Vorbildern in den EU-Beratungsstrukturen durch die Führungen unter dem Druck des
ökonomisch Stärkeren schließlich in Zustimmung gewandelt werden. Aber selbstverständlich wird hier
auch eine gewisse Ambivalenz dieser Bestimmungen deutlich. Dieses repräsentative Muster der
Einbindung, Entgegensetzung und Spaltung von Interessen der Erwerbsabhängigen könnte durch die
Emanzipation der Organisierten selbst, durch kämpferische Aktions- und Organisationsformen
durchbrochen werden. Dann wären diese Bestimmungen der Verfassung zumindest nutzbar,
Positionen von Gegenmacht auf der EU-Ebene zu artikulieren und weitere Einbindung zu blockieren.
Ausschluss vieler Organisationen
Die Grenzen dieser Nutzbarkeit sind jedoch im Unterhaus der Norm gleich mitdefiniert: Die Festlegung
auf »repräsentative« Verbände würde den legalen Ausschluss aller Organisierten ermöglichen, die
nicht »repräsentativ« sind oder die nicht den von der Europäischen Kommission definierten
zivilgesellschaftlichen Status haben. Der verlangt ein Bekenntnis zum demokratischen System,
Teilnahme an Diskursen und Verständigungsprozessen, »die dem allgemeinen Interesse dienen« und
die schließlich »als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und Bürgern« fungieren. Wer hat dann die
Auslegungshoheit? Arbeitslosen-, Obdachloseninitiativen, Sozialforen auf allen Ebenen,
Friedensbewegungen, Abrüstungsinitiativen, Bewegungen des zivilen Ungehorsams und andere
Aktionsstrukturen des Widerstandes, die nicht zum etablierten Machtgefüge gehören, werden sich
nicht in ein solches Korsett zwängen lassen.
Der gesamte Verfassungsentwurf legt die Europäische Union expressis verbis auf die »repräsentative
Demokratie« fest (Art. I-45). Das heißt, auf Wahlen, politische Parteien, politische
Vertretungsmechanismen und -körperschaften, die bisher in der Union und innerhalb der
Mitgliedsländer, selbstverständlich differenziert, durch die faktische Herrschaft des Geldes, Korruption
und Fäulnis immer weniger geeignet sind, existenzielle Interessen des größten Teils der Bevölkerung
in Staatspolitik umzusetzen. Diese Ausrichtung entspricht einer Festlegung in der USA-dominierten
»Interamerikanischen Demokratiecharta« von 2001 auf die »repräsentative Demokratie« als einzig
mögliches politisches Modell für Lateinamerika. Bei Abweichungen wird mit Sanktionen gedroht. Wer
für politische Entscheidungen gegen den Marktradikalismus streitet, wird mit neuen Inhalten auch für
neue Formen des Politikmachens im nationalen und europäischen Zusammenhang streiten müssen.
Das Europäische Sozialforum in Paris hat dafür Signal und Anstoß gegeben.
Eine Verfassung, die sich die Menschen für ihr Zusammenleben geben, kann nur dann demokratisch
sein, wenn sie im Ergebnis von Aufklärung, in breiter öffentlicher Aussprache, Widerspruch und
Gegenvorschlag zustande kommt und nicht an repräsentative Zustimmung delegiert wird.
(ND 13.12.03)
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