Artikel von Karl von Wogau für "Behörden Spiegel" (Entwurf):

Werbung
EUROPÄISCHE SICHERHEITSPOLITIK
VERGANGENHEIT, GEGENWART UND ZUKUNFT
Karl von WOGAU
I. SICHERHEIT: URGEDANKE DER EUROPÄISCHEN EINIGUNG
Jahrhundertelang war Europa Schauplatz häufiger und blutiger Kriege.
Zwischen 1870 und 1945 führten Deutschland und Frankreich dreimal Krieg
gegeneinander. Millionen Menschen kamen ums Leben oder wurden
vertrieben.
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vernichtete Krieg menschliches
Leben in unvorstellbarem Ausmaß. Feindschaft und Verbitterung
kennzeichneten für lange Zeit die Beziehungen der europäischen Völker.
Nach den Verwüstungen und Verheerungen des Zweiten Weltkriegs kamen
einige der in Westeuropa politisch Verantwortlichen zu der Erkenntnis, dass
ein dauerhafter und beständiger Friede in Europa am besten durch eine
wirtschaftliche und politische Vereinigung der europäischen Länder gesichert
werden könnte.
Nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Prozess der Integration.
Er begann mit Kohle und Stahl. Beide Materialien wurden benötigt, um
Waffen zu bauen. Aber Kohle war in jener Zeit auch die wichtigste
Energiequelle in Europa.
1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, die Kohleund Stahlproduktion in Westeuropa zu vergemeinschaften.
1951 gründeten die Belgien, Westdeutschland, Luxemburg, Frankreich, Italien
und die Niederlande die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS).
Die Entscheidungsgewalt über die Kohle- und Stahlindustrie diese Länder
wurde in die Hände einer unabhängigen, supranationalen Institution, der so
genannten "Hohen Behörde" übertragen.
Es gab zudem eine Initiative, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft
(EVG) zu gründen, diese Pläne scheiterten jedoch 1954 in der französischen
Nationalversammlung.
Erfolg der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl einerseits und
Scheitern der Verteidigungsgemeinschaft andererseits führten in den
folgenden Jahrzehnten zu einer immer engeren europäischen Integration im
1
wirtschaftlichen Bereich, während eine politische oder verteidigungspolitische
Integration auf europäischer Ebene unterblieb.
Als mit den Umwälzungen der Jahre 1989/90 der Kalte Krieg endete und eine
neue geopolitische Situation entstand, war die Europäische Union ein
wirtschaftlicher Riese und ein militärischer Zwerg. Und in den Jahren 1989/90
hätten viele Menschen vielleicht auch gesagt, dass nun, wo die Bedrohung
durch den Ostblock weggefallen war, eine engere europäische Kooperation
im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gar nicht notwendig sei.
Aber dann geschah etwas, das die Europäische
Selbstverständnis traf und zu einem Umdenken führte.
Union
in
ihrem
Während so genannter "Ethnischer Säuberungen" auf dem Balkan wurden
tausende Menschen in blutigen Massakern ermordet- und Europa war nicht in
der Lage, das Blutvergießen zu beenden.
Die Jugoslawienkriege ab 1991 spielten sich in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft ab. 1995 überrannten serbische Truppen die ostbosnische
Enklave Srebrenica und ermordeten 8000 Menschen.
Viele nahmen dies als eine Schande für Europa war. Europa war nicht in der
Lage, die Menschenrechte in Europa zu verteidigen. Nur durch militärischen
Beistand der Amerikaner konnte schließlich weiteres Blutvergießen verhindert
werden.
Versagt haben damals die Mitgliedsländer der Europäischen Union. Nur sie
verfügten damals über die notwendigen militärischen Mittel, um dieses
Blutvergießen zu verhindern.
Um diesen Ausbruch von Gewalt zu verhindern, waren Streitkräfte notwendig.
Über solche verfügten damals nur die Mitgliedsländer. Die Europäische Union
hatte dazu weder das Recht, noch die notwendige Organisation.
Europa musste erkennen, dass mit dem Ende des kalten Krieges eben nicht
das
"Ende
der
Geschichte",
das
Ende
innerstaatlicher
und
zwischenstaatlicher Konflikte gekommen war, so wie das der amerikanische
Politologe Francis Fukuyama angekündigt hatte.
Und das Ende des Kalten Krieges hatte auch nicht das Ende aller
Bedrohungen für Frieden und Sicherheit in Europa gebracht.
Noch immer bestanden diverse Risiken für die europäischen Interessen.
Es zeigte sich gar, dass die internationale Sicherheitslage nach dem Ende
des Kalten Krieges unübersichtlicher und unvorhersehbarer geworden war.
Aber noch immer gab es im Rahmen der Europäischen Union keine
Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen.
2
Das Projekt der Europäischen Einigung war zwar von Anfang an ein
Sicherheitsprojekt. Sicherheit war das Urziel der europäischen
Einigungsbewegung.
Aber zu Beginn handelte es sich eben um ein nach innen gerichtetes Konzept
der Sicherheit. Ziel war die „Sicherheit voreinander“. Dass dieses Ziel erreicht
wurde, dass „Sicherheit voreinander“ heute kein Thema mehr ist innerhalb der
Europäischen Union, ist ein großartiger Erfolg.
Doch nun stellte sich die Herausforderung, Europa von einem
binnenorientierten System der „Sicherheit voreinander“ zu einem
außenorientierten System der „Sicherheit miteinander“ weiterzuentwickeln.
„Sicherheit voreinander“ konnte durch weitgehende wirtschaftliche Integration
erreicht werden.
Das Ziel der „Sicherheit miteinander“ erfordert hingegen eine gemeinsame
Handlungsfähigkeit in den Bereichen der Außen-, Sicherheits- und der
Verteidigungspolitik.
Eine solche Zusammenarbeit kam erst in Schwung, als auf dem britischfranzösischen Gipfel in St. Malo 1998 deutlich wurde, dass sowohl Frankreich
als auch Großbritannien den Aufbau einer eigenen Europäischen
Verteidigungsidentität unterstützen.
Auf dem Gipfel der Europäischen Union in Köln 1999 wurde diese dann ins
Leben gerufen und in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
Europäischen Union integriert.
Das ist nur neun Jahre her, aber in diesen sieben Jahren hat sich die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit einer für europäische
Verhältnisse hohen Geschwindigkeit entwickelt.
Schon 1999 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der
Mitgliedsstaaten mit dem so genannten "Helsinki Headline Goal" die Bildung
einer Kriseninterventionstruppe der Europäischen Union von 50.000 bis
60.000 Soldaten, die innerhalb von 60 Tagen einsatzbereit und mindestens
ein Jahr einsetzbar ist.
Ein Jahr später, 2000, wurde im portugiesischen Feira im Rahmen eines
"zivilen Headline Goals" der Aufbau einer 5000 Mann starken Polizeitruppe
für Polizeieinsätze beschlossen.
Der erste Einsatz von Soldaten unter europäischem Kommando fand 2003 im
Rahmen der Operation Concordia in der Republik Mazedonien statt, wo die
Europäische
Union
die
dortige
NATO-Operation
ablöste.
Es folgte ein Militäreinsatz der Europäischen Union im Kongo, um die
Situation in der Krisenprovinz Bunja zu beruhigen.
3
Mittlerweile hat die Europäische Union von der NATO die Verantwortung für
Frieden und Stabilität in Bosnien-Herzegowina übernommen. Dort sind zurzeit
2500 europäische Soldaten unter europäischem Kommando stationiert. Es
sind Streitkräfte der Europäischen Union. Auf ihren Uniformen tragen sie das
europäische Symbol: Die Sterne auf blauem Grund. Im Kosovo läuft
gegenwärtig der EULEX-Einsatz der Europäischen Union an, der die
Kosovaren beim Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und eines
effektiven Justizsystems unterstützen soll.
Heute ist Europa selbst dazu in der Lage, die Sicherheit auf dem Balkan zu
gewährleisten.
II.
AUF DEM WEG ZU EINER EUROPÄISCHEN ARMEE
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist das sich am
schnellsten entwickelnde Politikfeld in der Europäischen Union.
Viele Aufgaben aus den Bereichen Sicherheit und Verteidigung können nur
auf europäischer Ebene wirksam angegangen werden. Ich nenne hier als
Beispiele nur die Sicherung der europäischen Außengrenzen, der Kampf
gegen die internationale Kriminalität oder die Zerschlagung terroristischer
Finanzierungsnetze. Hier sind die einzelnen Mitgliedsstaaten allein
überfordert und die NATO hat keine Instrumente, um beispielsweise
Finanzierungsnetze der Terroristen auszutrocknen.
Die 2003 beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie nennt fünf
Hauptbedrohungen für die Europäische Union: Terrorismus, die Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Scheitern von Staaten
und organisierte Kriminalität.
Die Aufgabe der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik besteht darin,
die Bürger der Europäischen Union vor diesen Gefahren zu schützen.
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat sich seit 1999 nicht
nur schnell entwickelt, sondern sie hat sich auch in eine bestimmte Richtung
entwickelt und bestimmte Charakteristika ausgeprägt.
Das
wichtigste
Merkmal
der
Europäischen
Sicherheitsund
Verteidigungspolitik ist die enge Koordination zwischen unterschiedlichen
Instrumenten.
Die meisten Sicherheitsrisiken, denen wir uns heute gegenüber sehen, haben
eine Sache gemeinsam: Kein einzelner Staat kann sie wirksam alleine
bekämpfen. Das gilt für Terrorismus, internationale Kriminalität, Menschenund Drogenhandel, Klimawandel, AIDS, Vogelgrippe und so weiter.
Ein zweiter Punkt ist, dass diverse Sicherheitsrisiken immer enger
zusammenhängen. Zum Beispiel Klimawandel und Bürgerkrieg. Durch
steigende Temperaturen und sinkende Regenmengen geht im Südsudan und
im Tschad jährlich quatratkilomenterweise fruchtbares Land verloren und wird
4
zu Wüste. Das verschärft den Konflikt zwischen schwarzafrikanischen
Stämmen und den arabischen Reitermilizen in dem Bereich.
Natürlich müssen Bürgerkriege, AIDS und Klimawandel mit ganz
unterschiedlichen Mitteln und Instrumenten bekämpft werden. Aber wenn
Probleme und Risiken miteinander zusammenhängen, so ist es wichtig, dass
auch die Versuche zur Lösung der Probleme und der Einsatz verschiedener
Instrumente zur Bewältigung von Risiken eng und effektiv koordiniert werden.
Und hier war und ist die Europäische Union von Anfang an sehr stark. Die
Europäische Union hat mittlerweile zahlreiche Erfahrungen darin gesammelt,
friedensschaffende und friedenssichernde Maßnahmen, Krisenmanagement,
den Aufbau demokratischer Strukturen, den Aufbau funktionierender
Verwaltungen, Entwicklungszusammenarbeit und Kriminalitätsbekämpfung
miteinander zu verknüpfen.
Die Koordination zwischen zivilen und militärischen Instrumenten ist das
zentrale
Markenzeichen
der
Europäischen
Sicherheitsund
Verteidigungspolitik.
Die
rasche
Entwicklung
der
Europäischen
Sicherheitsund
Verteidigungspolitik hängt neben ihrer Notwendigkeit sicher auch damit
zusammen, dass sie das europäische Politikfeld mit den höchsten
Zustimmungsraten ist.
Nach Eurobarometer-Umfragen unterstützen 77 Prozent der Bürger der
Europäischen Union die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
und diese Unterstützung ist seit 1999 sehr konstant.
In jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union gibt es eine klare Mehrheit,
die eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik unterstützt. Am
höchsten ist diese Zustimmung in Estland mit 87%, gefolgt von Tschechien
und Polen mit je 86%, Lettland und der Slowakei mit je 85% und Ungarn mit
83%. Sogar in Großbritannien beträgt die Zustimmung noch 59%. Und 58
Prozent der Bürger der Europäischen Union unterstützen die Idee einer
europäischen Armee.
Wenn man sich die zahlreichen Entwicklungen im Bereich der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor Augen führt, so könnte man zu dem
Ergebnis kommen, dass wir uns bereits auf dem Weg zu einer Europäischen
Armee befinden. So wurde zum Beispiel in Brüssel eine europäische
Kommandostruktur mit einem Militärausschuss, einem Militärstab und einer
zivil-militärischen Zelle mit einem Operationszentrum geschaffen.
Die neu geschaffene Europäische Verteidigungsagentur soll helfen, die
Rüstungspolitik der Mitgliedsstaaten besser zu koordinieren. Zudem wurde
eine „European Gendarmerie Force“ aufgestellt.
Aber es gibt auch noch große Hindernisse und Schwachpunkte im Bereich
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hierzu gehört vor
allem das Problem, dass noch immer viel Geld aus europäischen
Verteidigungshaushalten ineffizient ausgegeben wird.
5
Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geben jährlich über 180
Milliarden Euro für Verteidigung aus. Es ist höchste Zeit, die Effizienz dieser
Ausgaben zu steigern. Ein großer Teil dieses Geldes fließt leider noch immer
in teure Parallelentwicklungen.
Ein Beispiel hierfür ist die Satellitenaufklärung. Wir brauchen
Satellitenaufklärung für gemeinsame europäische Einsätze und zur
Überwachung unserer gemeinsamen europäischen Außengrenzen.
Informationen, die wir gemeinsam benötigen, sollten wir uns auch gemeinsam
beschaffen.
Dies ist bisher aber nicht der Fall. Mit Helios besitzen Frankreich, Spanien
und Italien ein gemeinsames System von optischen Aufklärungssatelliten. Mit
SAR Lupe verfügt Deutschland über ein eigenes Satellitenaufklärungssystem
mit Radartechnik.
Es wäre sehr sinnvoll, wenn es sich bei der nächsten Generation von
Aufklärungssatelliten um ein gemeinsames europäisches System handeln
würde, das über das Europäische Satellitenzentrum in Torrejón allen
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union offen steht.
Durch ein gemeinsames europäisches System von Aufklärungssatelliten
könnte man erhebliche Steuermittel einsparen und die Effizienz verbessern.
Das wäre ein wichtiger Beitrag für unsere gemeinsame Sicherheit.
Die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ist jedoch nicht nur eine Frage der Weiterentwicklung unserer zivilen und
militärischen Handlungsfähigkeiten.
Wir müssen uns auch Gedanken zu den Entscheidungsstrukturen auf
europäischer Ebene machen.
Entscheidungen im Bereich der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik müssen parlamentarisch kontrolliert werden. Und die
Bürger müssen erkennen können, wer für Entscheidungen in diesem Bereich
verantwortlich ist.
Beides ist nicht oder nur sehr bruchstückhaft der Fall. Die parlamentarische
Kontrolle der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird zudem
dadurch erschwert, dass die Militäreinsätze der Europäischen Union, wie zum
Beispiel der gegenwärtige Einsatz im Tschad, nicht aus dem offiziellen
Haushalt der Europäischen Union finanziert werden, sondern über
Schattenhaushalte und Ad-hoc-Mechanismen.
Für einige Einsätze wurden noch spezielle neue Ad-hoc-Mechanismen
geschaffen und es ist schwer zu sagen, ob es überhaupt irgendwo einen
Menschen gibt, der den Überblick darüber hat, wo das Geld für diesen
Einsatz wirklich herkommt.
Das ist natürlich kein Zustand. Solche Finanzierungsmethoden können weder
durch die nationalen Parlamente noch durch das Europäische Parlament
wirksam kontrolliert werden.
6
Die Entscheidungsprozesse im Bereich der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik transparenter und übersichtlicher gestaltet werden
müssen. Gerade weil ein gemeinsames europäisches Vorgehen im Bereich
der Sicherheit und Verteidigung so wichtig ist, brauchen wir auch eine
wirkliche europäische politische Debatte über Wege und Ziele, über Prinzipien
und Aufgaben der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
III. DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN SICHERHEIT UND VERTEIDIGUNG
Das Ziel: Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität
Die Europäische Union braucht eine starke und wirksame Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, damit sie ihre Interessen in der Welt
vertreten, die Sicherheit ihrer Bürger schützen und die Menschenrechte
verteidigen kann.
Bei dieser Politik müssen sowohl zivile als auch militärische Mittel und
Kapazitäten zum Einsatz kommen, und eine enge und nahtlose
Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren ist unerlässlich. Außerdem müssen
Transparenz und Kosteneffizienz gewährleistet sein, damit die europäische
Verteidigung Rückhalt in der Öffentlichkeit findet.
Zur Stärkung dieser umfassenden GASP/ESVP müssen zunächst folgende
Aspekte eindeutig geklärt werden:
1) die Sicherheitsinteressen der Union;
2) die Strategie zur Verfolgung dieser Interessen;
3) das Handlungspotenzial;
4) der beste Weg zur Ausgestaltung dieses Potenzials.
1. Bestimmung der Sicherheitsinteressen Europas
Bislang bestimmen die Mitgliedstaaten ihre Sicherheitsinteressen auf rein
nationaler Basis. Der Begriff „europäisches Sicherheitsinteresse“ hingegen ist
politisch nach wie vor tabu.
Dieses Tabu jedoch ist nicht länger akzeptabel. In Anbetracht der sich ständig
erweiternden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und der
Herausforderungen der Globalisierung mit ihren länderübergreifenden
Bedrohungen
andererseits
ist
das
Konzept
rein
nationaler
Sicherheitsinteressen in Europa einfach nicht mehr zeitgemäß.
Es ist daher sowohl möglich als auch notwendig, in Absprache die
gemeinsamen Sicherheitsinteressen der Union festzulegen. Diese könnten
sein: Sicherheit in unserer Nachbarschaft, Schutz der Außengrenzen und
kritischer Infrastrukturen, Sicherung der Energieversorgung und der
Handelswege usw.
7
Nur wenn wir eine klare Vorstellung von unseren gemeinsamen
Interessen haben, können wir unsere gemeinsame Politik kohärenter
und effektiver gestalten. Es ist folglich höchste Zeit für eine offene
Debatte darüber, welches die gemeinsamen Sicherheitsinteressen der
Union sind
2. Entwicklung der Sicherheitsstrategie Europas
Die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 analysiert die Bedrohungen
nach
dem
11. September
(Terrorismus,
Verbreitung
von
Massenvernichtungswaffen,
regionale
Konflikte,
Staatszerfall
und
organisiertes Verbrechen) und legt strategische Zielsetzungen fest, die die
Grundlage
für
Teilstrategien
bildeten
(Nichtverbreitung,
Terrorismusbekämpfung usw.).
Im Dezember 2007 beschloss der Europäische Rat die Überprüfung der
Sicherheitsstrategie. Wir begrüßen diese Entscheidung und fordern den
Europäischen Rat auf, eine breite und offene Debatte über eine mögliche
Überarbeitung der Sicherheitsstrategie in Gang zu setzen.
Obwohl viele Elemente der Strategie nach wie vor Gültigkeit haben, gibt es
durchaus einige, die eventuell angepasst werden sollten. Das betrifft
insbesondere die Beziehungen der EU mit Russland und ihr Engagement in
Afrika, aber auch allgemeine Aspekte wie die Verbindung zwischen innerer
und äußerer Sicherheit.
Darüber hinaus schlagen wir vor, die Sicherheitsstrategie regelmäßig aller
fünf Jahre zu Beginn einer jeden neuen Wahlperiode auf den Prüfstand zu
stellen. Dabei sollte sehr gründlich und systematisch vorgegangen und eine
Analyse zugrunde gelegt werden, die zukunfts- statt vergangenheitsorientiert
ist. Im Jahre 2003 wurde die Sicherheitsstrategie als Reaktion auf
vergangene Ereignisse erarbeitet, und auch bei der Überprüfung 2008 wird
auf Entwicklungen der letzten fünf Jahre Bezug genommen. Ideal jedoch wäre
es, wenn die Strategie auf einer Analyse künftiger Bedrohungen aufbauen
würde.
Die Union sollte sich daher langfristig und umfassend damit
auseinandersetzen, wie sie die Sicherheit Europas in Zukunft sieht. Das
beinhaltet eine Beurteilung und Beobachtung künftiger Tendenzen in allen
sicherheitsbezogenen Bereichen mit einem Zeithorizont von mindestens 20
Jahren. Gleichzeitig jedoch muss auch eine befriedigende Umsetzung der
Sicherheitsstrategie gewährleistet werden. Zu diesem Zweck wäre ein
Europäisches Weißbuch zur europäischen Sicherheit und Verteidigung
äußerst nützlich.
Die Europäische Union sollte ihre Sicherheitsstrategie zu Beginn einer
jeden Wahlperiode überprüfen und entsprechend dem sich
verändernden strategischen Umfeld regelmäßig Überarbeitungen
8
vornehmen. Das sollte offen und transparent erfolgen. Außerdem sollte
die Sicherheitsstrategie durch ein Weißbuch – zur Verbesserung ihrer
Umsetzung – und eine langfristige Perspektive ergänzt werden, um sie
zu einem zukunftsorientierten Konzept für eine gezielte Politik zu
machen.
3. Ausbau der Kapazitäten Europas
Die Europäische Union braucht die Mittel zur Umsetzung ihrer Politiken. Sie
muss sowohl über zivile als auch über militärische Kapazitäten verfügen, um
die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken und ihren
internationalen Verpflichtungen nachzukommen.
Im militärischen Bereich hat die Aufstellung von Gefechtsverbänden (Battle
Groups) entscheidend zur Entwicklung der europäischen Fähigkeiten
beigetragen. Die Union braucht jedoch Truppen, die für einen längeren
Zeitraum verfügbar sind. Wir schlagen daher vor, Eurocorps als ständige
Truppe der Europäischen Union zur Verfügung zu stellen.
Dabei zeigen die Erfahrungen, dass im Hinblick auf die Operationen der
Streitkräfte,
die
Grenzüberwachung,
den
Schutz
kritischer
Infrastruktureinrichtungen
und
die
Katastrophenbewältigung
der
Kapazitätsbedarf unter technologischen Gesichtspunkten sehr ähnlich oder
gar identisch ist. Das bietet neue Möglichkeiten zur Nutzung von Synergien
und zur Verbesserung der Interoperabilität zwischen Streitkräften und
Sicherheitskräften.
Die Union sollte daher ihre Anstrengungen auf die Kapazitäten
konzentrieren, die sowohl für Verteidigungs- als auch für
Sicherheitszwecke eingesetzt werden können. Besonders wichtig in
diesem Zusammenhang sind die satellitengestützte Aufklärung,
unbemannte
Flugkörper,
Hubschrauber
und
Geräte
der
Telekommunikation sowie der Luft- und Seeverkehr. Gleichermaßen
bedarf es einer gemeinsamen technischen Norm für geschützte
Telekommunikationsverbindungen und der entsprechenden Mittel für
den Schutz kritischer Infrastruktureinrichtungen.
4. Die Notwendigkeit neuer Strukturen
Zum Aufbau der für eine starke Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik benötigten Kapazitäten müssen die Mitgliedstaaten mehr
und besser zusammenarbeiten als in der Vergangenheit. Das macht eine
stärkere Einbeziehung der Union und Strukturreformen notwendig, vor allem
um bestehende Barrieren zwischen Verteidigung und Sicherheit zu
überwinden.
9
Im Einzelnen sollten unverzüglich die folgenden Schritte unternommen
werden:

Aufstockung der Gemeinschaftsmittel für die Sicherheitsforschung und
Ermöglichung
gemeinsamer
Forschungsprogramme
zwischen
Kommission und EDA;

Schaffung eines europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsmarktes
durch a) Annahme der Legislativvorschläge der Kommission zum
öffentlichen Beschaffungswesen und zur innergemeinschaftlichen
Verbringung und b) die Einleitung weiterer Initiativen, insbesondere in
den Bereichen der Versorgungs- und Informationssicherheit;

Europäisierung strategischer Ressourcen durch a) die Genehmigung
der Nutzung von Galileo und GMES für Sicherheits- und
Verteidigungszwecke und b) die Entwicklung gemeinsamer
Kapazitäten in den Bereichen strategischer Transport und Logistik.

Die geostrategische Lage erfordert im Rahmen der NATO ein
gesamteuropäisches Raketenabwehrsystem, einschließlich der
entsprechenden Kommando- und Kontrollstrukturen und einer direkten
Verbindung
mit
den
in
Europa
stationierten
USRaketenabwehrsystemen, bei dem fortgeschrittene europäische
Technologie zum Einsatz kommt.

Stärkung des Europäischen Verteidigungskollegs und dessen
Umwandlung in eine dauerhafte Struktur, die dazu beiträgt, in der
politischen und militärischen Elite eine spezifische europäische
Sicherheitskultur zu entwickeln.
Es sind Strukturreformen in vielen Bereichen notwendig, um die
Bedingungen für eine starke GASP/ESVP zu schaffen. Dabei kommt es
in erster Linie darauf an, die traditionelle Trennung zwischen ziviler und
militärischer Forschung zu überwinden, einen funktionierenden
Verteidigungs- und Sicherheitsbinnenmarkt zu schaffen, die
europäischen strategischen Ressourcen zu entwickeln und die
Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitskultur zu
fördern.
10
Herunterladen