Von Respekt, Toleranz und andere Wünschen – die Interviews

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Von Respekt, Toleranz und anderen Wünschen –
alle Interviews
Nese Biyiker: „Mit den Augen meiner Tochter die Welt sehen!“
Nese Biyiker: Mein Name ist Nese Biyiker, ich komme aus der Türkei. Mit acht
Jahren war ich hier. Meine Eltern sind zuerst gekommen, danach hat mein Vater
mich geholt. Ich habe drei Kinder. Meine älteste Tochter ist 27, sie ist geistig und
körperlich behindert, meine mittlere ist 21, sie studiert Wirtschaft. Meine kleine
Tochter geht in die vierte Klasse, sie ist neun Jahre alt.
Viele Eltern, die Kinder mit Behinderungen haben, erleben Benachteiligungen. Wo
erleben Sie Benachteiligungen? Beim Arzt, bei den Ämtern oder wo?
Nese Biyiker: Mehr bei den Ämtern und auf der Straße. Wenn ich mit meiner
Tochter draußen laufe, dann sieht man mir sofort an, weil ich ein Kopftuch trage,
dass ich Ausländerin bin. Und dann mit einem behinderten Kind: „Oh Gott,
Ausländerin mit einem behinderten Kind!“. Man sieht dann sofort, was die Leute
denken über mich und meine Tochter.
Was macht Ihnen zur Zeit am meisten Sorge?
Nese Biyiker: Sorgen hat man ganz viele. Ich pflege meine Tochter, soweit es geht.
Ich weiß nicht, wie lange ich lebe und ich weiß auch nicht, wie lange ich gesund lebe.
Wenn ich nicht mehr da bin, was ist dann mit meiner Tochter? Das macht mir am
meisten Sorgen.
Wodurch könnten Sie am besten unterstützt werden, welche Hilfen könnten Sie
gebrauchen?
Nese Biyiker: Es ist gut, dass es solche Vereine wie InterAktiv, das es solche
Anlaufstellen gibt. Ich kann zwar Deutsch, aber es gibt ganz ganz viele pflegende
Angehörige, die nicht Deutsch können. Die haben dann Riesenprobleme bei den
Ämtern, bei den Ärzten. Wo sie auch hingehen brauchen sie Dolmetscher.
Jeder Mensch hat im Leben einen großen Traum. Wenn Sie sich vorstellen, es
kommt eine gute Fee, was ist Ihr Traum?
Nese Biyiker: Ich würde ganz gerne die Welt mit den Augen meiner Tochter sehen
wollen. Einen Tag mal sehen, wieviel sie von der Umwelt mitkriegt, wieviel sie von
der Familie mitkriegt. Es kann ja auch sein, dass wir vielleicht etwas machen, was ihr
nicht so gefällt. Das würde ich gerne wollen, einen Tag mal die Welt so sehen, wie
meine Tochter es sieht.
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Igor Sanin: „Den Menschen Gutes tun!“
Igor Sanin: Ich heiße Igor Sanin, bin 44 Jahre alt und stamme aus der Ukraine.
Menschen mit Behinderungen, die nicht aus Deutschland kommen erleben im Alltag
viele Barrieren. Welche Barrieren erleben Sie?
Igor Sanin: Bis jetzt habe ich nur Hilfe gefunden.
Gibt es keine Schwierigkeiten aufgrund der Tatsache, dass Sie sehbehindert sind?
Beim Einkaufen oder beim Busfahren?
Igor Sanin: Ich kann das alles nicht selbst machen. Ich brauche immer eine
Begleitung.
Und was wissen Sie über die Hilfen für behinderte Menschen in Deutschland?
Igor Sanin: Es gibt Sprachkurse für Sehbehinderte, es gibt Blindengeld, es gibt
finanzielle Hilfen zum Beispiel für den öffentlich Nahverkehr, mehr kenne ich nicht.
Welche Unterstützung benötigen Sie?
Igor Sanin: Der Sprachkurs ist sehr wichtig und dass ich einen Beruf lernen kann.
Die finanzielle Unterstützung ist auch sehr wichtig, damit ich mir spezielle Hilfsmittel
kaufen kann.
Und was brauchen Sie im Moment am dringendsten?
Igor Sanin: Ich muss die Sprache lernen, vielleicht kann ich einen Beruf lernen.
Welche Berufe könnten Sie sich vorstellen zu lernen?
Igor Sanin: Physiotherapeut.
Wenn Sie sich einen ganz großen Traum erfüllen wollen, welcher wäre das?
Igor Sanin: Ich möchte eine gute Familie, meine Kinder erziehen und den Menschen
Gutes tun.
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Ayman Mohsen: „Freie Länder, freie Grenzen!“
Ayman Mohsen: Mein Name ist Ayman Mohsen. Ich bin 37 und komme aus dem
Libanon, bin aber Palästinenser und lebe jetzt seit 22 Jahren in Deutschland.
Könnten Sie uns kurz Ihre Geschichte erzählen, warum Sie nach Deutschland
gekommen sind? Was ist passiert?
Ayman Mohsen: Ja, es war 1986/87, da herrschte Bürgerkrieg und es gab
Luftangriffe der israelischen Armee. Ich komme aus einem Flüchtlingslager im
Libanon. Ich wurde angegriffen und daher habe ich meine Behinderung, habe meine
Beine und Finger verloren. Vom Roten Kreuz bin ich als einer der
Schwerverwundeten aus dem Ort rausgeholt und nach Frankreich gebracht worden
zur Weiterbehandlung. Da es für mich keine Lebensperspektive im Libanon gab,
wurde ich nach Deutschland gebracht.
In Deutschland sind Sie auch zur Schule gegangen. Sie haben in einem Interview
einmal berichtet, dass Sie sich den Besuch einer Regelschule gewünscht hatten.
Was dies für Vorteile für Sie gehabt?
Ayman Mohsen: Das hätte eine ganze Menge Vorteile gehabt, da ich auf einer
Behindertenschule war. Die Lehrer haben mir damals auch gesagt, dass du
eigentlich gar nicht hierhin gehörst. Aber das Heim, wo ich damals gelebt habe war
der Meinung, ich muss erst mal dahin, weil ich mit zwölf, dreizehn nach Deutschland
gekommen bin und da konnte ich kein Wort Deutsch. Auf einer Realschule oder so
wäre es auch zu schwer gewesen und dann war ich erst mal auf der
Körperbehindertenschule. In der siebten, achten Klasse damals hatte ich gute
Zeugnisse gehabt. Die Lehrer sagten, eigentlich gehörst du hier nicht rein, du
gehörst auf eine andere Schule. Ich weiß nicht, ob da keiner hingehört hat. So habe
ich dann die zehnte, elfte Klasse dort abgeschlossen und dann bin ich aus der
Schule gegangen.
Menschen mit Behinderungen erleben vielfach Barrieren im Alltag. Auf welche
Barrieren stoßen Sie?
Ayman Mohsen: In erster Linie sind das intolerante Menschen, das ist für mich die
erste Barriere überhaupt. Die denken, wenn sie einen Behinderten sehen, in erster
Linie an einen Bettler und nicht an einen Menschen vor sich. Ich habe es wirklich oft
gehabt: Wenn ich vor einer Barriere stehe und bitte um Hilfe, dann denken die „Will
der jetzt betteln?“ und dann gehen sie weiter und beachten mich nicht einmal.
Barrieren gibt es aber auch an Orten, wo ich Treppen sehe. Verwandte, die in der
zweiten, dritten Etage wohnen ohne Fahrstuhl, wo ich dann nur auf ihren Besuch
hoffen und sie nicht selber besuchen kann. Ansonsten bin ich der Meinung, da wo
Barrieren sind, habe ich nichts zu suchen. Ich suche mir was Barrierefreies, davon
hat man genug inzwischen und da gehe ich dann hin.
Behinderung und Herkunft sind zwei Merkmale, aufgrund derer Personen
diskriminiert werden können. Haben Sie selber Diskriminierung erlebt? Wenn ja,
welche war das?
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Ayman Mohsen: Ich habe schon sehr oft Diskriminierung erlebt. Manche sehe ich
mit einem Lächeln, bei manchen grübele ich tagelang drüber nach, ob ich richtig hier
bin oder nicht. Was ich mit einem Lächeln erlebt habe, das ist in einem Supermarkt,
wenn ich einen Kunden, der gerade da steht, darum bitte, mir eine Packung Käse
von einem oberen Regal zu geben: „Nee, will ich nicht!“ Ich dachte, ok, der hat mich
falsch verstanden. Dann wiederhole ich das noch mal und dann sagt er „nee, muss
ich das?“ Ich sage dann „nein, musst du nicht, aber es wäre halt Höflichkeit!“ – „Nein,
dann bin ich halt unhöflich! Ich will es nicht!“ Ok, danke, dafür habe ich ein müdes
Lächeln. Einmal habe ich es auch erlebt, leider im Schnee. Ich bin aus der Wohnung
raus und vor meiner Haustür war ein Haufen Schnee. Ich kam nicht mehr vorwärts,
ich musste erst eine Rampe runter, aber hoch kam ich nicht mehr, weil die Räder
gerutscht haben und da lief einer vorbei und sagte „Ich helf dir!“ Dann hat er es
versucht, mich aber in eine schlimmere Lage gebracht als vorher und dann ist er
gegangen. Das ist für mich Diskriminierung.
Haben Sie auch Diskriminierungen erlebt aufgrund Ihrer Herkunft?
Ayman Mohsen: Ja, habe ich auch schon mal, auf jeden Fall. Ich wohne jetzt seit
zweieinhalb Jahren in Reinickendorf. Vorher habe ich in Spandau gewohnt, da habe
ich es nicht so erlebt, es war alles sehr harmonisch von den Leuten her in Spandau.
In der Gegend, wo ich in Reinickendorf wohne ist es so, dass ich schon öfters, wenn
ich abends auf der Straße war und es dunkel war, die Leute gesagt haben: „Hey,
Ausländer und noch Behinderter dazu. Was willst du eigentlich hier?“ Wenn ich
alleine bin, dann schweige ich einfach, sage gar nichts dazu. Falls ich sehe, dass
derjenige alleine ist, dann stelle ich ihn zur Rede, dann habe ich keine Angst. Aber
wenn er in einer Gruppe ist, dann schweige ich lieber. Das ist keine Angst in dem
Sinne, aber die Gruppe ist immer stärker und die Hemmschwelle sehr niedrig. Die
schlagen dann zu und das wollte ich dann nicht.
Welches Merkmal ist Ihrer Meinung nach bestimmender? Ist es das Merkmal
Behinderung oder das Merkmal Herkunft?
Ayman Mohsen: Das Merkmal Herkunft ist bestimmender. Es kommt auch darauf
an, was in den Nachrichten abläuft. Ich habe nach dem 11. September zum Beispiel
ganz viel erlebt, wo ich sagen kann, ich habe nichts damit zu tun. Es hat mich
genauso betroffen, wie euch alle. Und ich bin der letzte, der solche Gedanken hat.
Ich habe damit nichts zu tun, warum greift ihr mich so an? Aber manche Leute haben
halt nichts im Kopf. Da werde ich wirklich wegen meiner Herkunft angegriffen. Auch
bei Ämtern ist es manchmal so. Die fragen mich „Wo kommen Sie her?“ obwohl ich
jetzt deutscher Staatsbürger bin, dann sage ich trotzdem „Ich bin Palästinenser aus
dem Libanon.“ Dann sagen die „Also, Sie sind Libanese.“ Dann sage ich „Nein. Ich
bin Palästinenser aus dem Libanon.“ – „Ja, können Sie sich denn ausweisen, dass
Sie Palästinenser sind?“ – „Nein, kann ich nicht. Ich habe einen deutschen Pass. Ich
habe auch einen libanesischen Pass.“ In solchen Momenten fühle ich mich auch
diskriminiert, ich vergesse meine Herkunft nicht, obwohl ich Deutscher bin. Das ist
nur ein Ausweis, den ich habe. Aber mein Herz schlägt für beide. Ich habe mein
halbes, mein dreiviertel Leben in Deutschland verbracht, aber meine Herkunft bleibt
meine Herkunft, mein Mutterland, mein Vaterland.
Sie sind ja ganz aktiv im sportlichen Bereich. Welche Rolle spielt der Sport in Ihrem
Leben?
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Ayman Mohsen: Der Sport spielt eine ganz große Rolle in meinem Leben. Das
motiviert mich, mein Leben zu meistern. Das motiviert mich, anderen Menschen ein
Ziel zu geben, ihr Leben weiter zu entwickeln und an sich zu glauben und dass ich
auch selber weiter an mich glaube. Dass ich meiner Familie Mut gebe, dass es mir
gut geht. Denn wenn ich mich hängen lasse, nichts mehr mache, damit schade ich
mir selber und meiner Familie. Mit Sport zeige ich mir selber und meiner Familie „Ich
habe was drauf, ich kann`s noch! Ich mache weiter.“ Das bedeutet der Sport für
mich.
Jeder Mensch hat einen großen Wunschtraum, einen Lebenstraum für sein weiteres
Leben. Was ist Ihr persönlicher Wunschtraum?
Ayman Mohsen: Mein persönlicher Wunschtraum, da habe ich viele. Einer ist,
einmal zu erleben, dass es wirklich, es hört sich zwar unsinnig an für manche, für
mich nicht, dass ich sehe, dass unsere arabischen Länder so wie in Europa werden.
Dass es grenzenfreie Länder gibt, damit ich überall hinreisen könnte, wohin ich
möchte, ohne dass ich da angehalten werde, nach meinem Pass oder Ausweis
gefragt werde. Mein zweitwichtigster Traum ist, dass ich meine Kinder erwachsen
sehe und Enkelkinder sehe.
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Begümhan Akgün: „Ganz woanders hinziehen!“
Begümhan Akgün: Mein Name ist Begümhan Akgün. Ich bin 18 Jahre alt und
wohne in Deutschland, genauer gesagt hier in Berlin.
Sie arbeiten in der Mosaik-Werkstatt. Was machen Sie da genau?
Begümhan Akgün: Ich bin im Büro tätig. Oben im 2. Stock ist es. Da muss man
einen langen Flur entlang laufen, dann kommt man in mein Büro, das ist relativ groß
und da habe ich meinen Arbeitsplatz. Da arbeite ich mit meinen Kollegen zusammen,
wir sind insgesamt zu acht. Alle sind hörend, ich bin die einzige, die nicht hören kann.
Ich bin eben alleine dort, als taube Mitarbeiterin.
Und wie ist das für Sie, allein als taube Mitarbeiterin unter Hörenden zu arbeiten?
Begümhan Akgün: Also der Chef dort kann Gebärdensprache und mein Kollege
auch und weil er es immer mehr übt, geht es besser – ich unterrichte ihn auch ein
wenig.
Wir sprechen gerade über Gebärdensprache: Viele Menschen, die gehörlos sind,
erleben jeden Tag viele Barrieren. Wo erleben Sie die Barrieren?
Begümhan Akgün: Also es gibt natürlich oft Leute, die gar nicht wissen, wie sie mit
mir umgehen sollen, die nicht gebärden können und die sich auch gar keine Mühe
geben, mit mir anders zu kommunizieren. Oft versuche ich dann, mit einem Stift und
einem Zettel zu kommunizieren und zeige das den Leuten und dann verstehen sie
das auch und dann können sie mir auch antworten. Sonst ist es oft sehr schwierig.
Also ich muss auch sagen, dass es vor einiger Zeit, vor allem in der Schule so war,
dass es bis 2008 die Lehrer vor allem so waren, dass sie nicht gebärden konnten.
Sie hatten einfach keine Gebärdensprachkompetenz und ich muss sagen, es war
nicht angemessen, dem, was wir eigentlich gebraucht hätten. Viele haben versucht,
das relativ schnell zu lernen, aber oft hat es nicht ausgereicht für die Schnelligkeit der
Gebärdensprache der Schüler. Das war oft ein großes Problem. Wir mussten auch
viel schriftlich kommunizieren und viel dann aufschreiben, weniger mündlich lernen.
Wenn Sie von der Arbeit nach Hause kommen, was sind Ihre Hobbies, Ihre
Lieblingsbeschäftigung?
Begümhan Akgün: Ich mag total gern am Computer arbeiten, das brauche ich zum
einen auf der Arbeit, aber ich chatte auch gerne mit anderen tauben Freunden, vielen
aus meiner früheren Klasse. Wir setzten einfach die Gespräche, die wir früher in der
Pause hatten, per Chat fort.
Jeder Mensch hat einen großen Wunsch, einen Traum. Was ist Ihr persönlicher
Traum?
Begümhan Akgün: Ich bin ja jetzt in Berlin und könnte mir vorstellen, dass ich
vielleicht in 10 Jahren oder so auch mal ganz woanders hinziehe wo es ein bisschen
ruhiger ist, wo ich auch alleine wohne. Ich müsste natürlich schauen, wie ich das
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bezahlen kann und wieviele Zimmer ich mir dann nehmen kann. Vielleicht mal
irgendwo ins Ruhigere ziehen. Ich glaube, das ist so ein Wunsch.
Veli Filar: „Für 36 Stunden tauschen!“
Veli Filar: Mein Name ist Veli Filar, ich bin 40 Jahre und habe türkische Wurzeln und
bin im Frankenland geboren und aufgewachsen.
Sie arbeiten hier in der Beratungsstelle der Lebenshilfe. Was ist Ihre Aufgabe?
Veli Filar: Ich bin hier als Koordinator in der Beratungsstelle in Neukölln in der
Briesestraße eingestellt.
Welche Funktion hat die Beratungsstelle?
Veli Filar: Das ist die erste Anlaufstelle für Menschen, die in irgendeiner Situation
Hilfe benötigen und wir vermitteln, beziehungsweise begleiten sie zu den richtigen
Fachleuten und Fachstellen.
Mit welchen Problemen kommen die Leute zur Beratung?
Veli Filar: Überwiegend sind es im Moment das Verstehen, beziehungsweise das
Beantworten von behördlichen Schreiben. Die sind zum Teil existenzsichernd, wenn
es etwa um ALG II geht. Bei diesen Schreiben übersetzen wir zum Teil und wirken
auch unterstützend mit bei der Beantwortung. Zum Teil sind das natürlich auch
Familien, die gerade für ihre behinderten Kinder nach Unterstützungsmöglichkeiten
suchen.
Sie sind selbst Rollstuhlnutzer mit Migrationshintergrund. Ist das ein Vorteil in der
Beratung? Wenn ja welcher?
Veli Filar: Ich sehe es sowohl als einen Vorteil als auch einen Nachteil, aber was
auch gleichzeitig ein Ansporn ist. Der Vorteil ist, dass nach dem Peer-Effekt, also
Betroffene beraten Betroffene, mehr Verständnis vorhanden ist. Der Nachteil ist halt
auch der selbe Grund. Dadurch, dass ich in dieser Situation bin, wird von vorne
herein mehr Verständnis erwartet, die Erwartungshaltung des zu Beratenden ist dann
weitaus größer, da man dieses Verständnis für die Situation voraussetzen kann. Der
Ansporn ist dann auch gleichzeitig der, dass man genau dieser Erwartungshaltung
gerecht werden möchte, damit dann alle mit einem Lächeln aus der Beratungsstelle
hinausgehen.
Personen mit einer Behinderung erleben vielfach Diskriminierungen und
Benachteiligungen im Alltag. Wo erleben Sie Benachteiligung?
Veli Filar: Es reicht schon, wenn man vor die Tür geht und mit öffentlichen
Verkehrsmitteln fahren muss. Obwohl sich in den letzten 20 Jahren viel im
Personennahverkehr zum Positiven verändert hat, gibt es aber dennoch ein sehr
großes Verbesserungspotenzial. Das fängt mit den Haltestellen an, die
Unzulänglichkeiten der U-Bahn, die nicht funktionierenden Aufzüge oder wenn auch
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keine Aufzüge vorhanden sind. Wohnraum für behinderte Menschen ist sehr knapp
bemessen. Das alles passiert eigentlich relativ oft.
Behinderung und Herkunft sind zwei Merkmale, aufgrund derer Personen
diskriminiert werden können. Haben Sie selber Diskriminierung erlebt? Wenn ja,
welches Merkmal war Ihrer Meinung nach bestimmender?
Veli Filar: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Behinderung präsenter ist als
die Herkunft, denn sprachlich bin ich bewandert und somit kann ich mich verbal
relativ zur Wehr setzen. Jedoch die Behinderung, die damit verbundenen Barrieren,
die sind allgegenwärtig und da stößt man dann oft einmal an Grenzen, wo die
Mitmenschen, die einen „blinden“ Eindruck machen, obwohl sie sehen können,
einem nicht aus dem Wege gehen. Es führt auch dazu, dass es zu Beleidigungen
kommen kann.
Jeder Mensch hat einen großen Traum, einen Lebenstraum. Was ist Ihr persönlicher
Traum?
Veli Filar: Für 36 Stunden würde ich behinderte Menschen mit nicht behinderten
Menschen tauschen wollen. Damit die Bedürfnisse und die Belange behinderter
Menschen gesehen werden und zum anderen auch den Menschen, die von einer
Behinderung betroffen sind auch mal den Traum zu ermöglichen, für 36 Stunden
gesund zu sein, mobil zu sein.
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Seyran Kismir: „Ein Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt!“
Seyran Kismir: Ich heiße Seyran Kismir und bin 21 Jahre alt. Meine Eltern kommen
aus der Türkei, aber ich bin hier in Berlin geboren.
Sie arbeiten hier in der BWB: Was machen Sie hier genau?
Seyran Kismir: Ich bin in der Abteilung „Digitale Archivierung“. Dort bearbeite ich
Bilder auf dem Computer in dem Programm Photoshop.
Menschen mit einer Behinderung erleben vielfach Barrieren im Alltag – wo erleben
Sie Barrieren?
Seyran Kismir: Wenn ich draußen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahre, dass
der Aufzug beispielsweise defekt ist.
Behinderung und Herkunft sind zwei Merkmale, aufgrund derer Personen
diskriminiert werden können. Haben Sie Diskriminierung erlebt? Wenn ja, was war
das?
Seyran Kismir: Oh ja! In der Oberschule hatte ich einen Klassenlehrer, der mich auf
heftiger Weise diskriminiert hat.
Welches der beiden Merkmale ist Ihrer Meinung nach das Bedeutendere?
Seyran Kismir: Definitiv die Behinderung!
Jeder Mensch hat einen großen Wunsch, einen Traum. Was ist Ihr persönlicher
Wunschtraum?
Seyran Kismir: Dass ich einen Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft finde, also
außerhalb der Werkstatt. Mir gefällt es hier gut, aber ich will mich beweisen.
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Irene Hagelganz: „Medizin studieren!“
Irene Hagelganz: Ich bin Irene Hagelganz, bin 25 Jahre und seit Oktober verheiratet.
Ich komme ursprünglich aus Russland, aus der Republik Tatarstan. Zur Zeit
versuche ich, meine Gesundheit wieder in Ordnung zu bringen, sodass ich wieder
was machen kann.
Sie leben mit einer nicht sichtbaren Behinderung, das macht es oft schwer. Welche
Erfahrungen haben Sie gemacht?
Irene Hagelganz: Ich habe schon viele Probleme damit gehabt. Viele Ärzte kennen
sich erstmal damit nicht aus. Die wissen nicht, was Fatigue ist, die wissen nicht, was
hormonelle Störungen danach sind, nach einer Chemotherapie und Knochenmarktransplantation. Und da sie mich als normalen Menschen ansehen und wenn ich zu
denen komme mit meinen Problemen und brauche eigentlich Hilfe, geben sie mir
einen Krankenschein und sagen, dass ich trinken und gesund essen muss, was ich
eigentlich permanent mache. Das reicht mir nicht, denn ich komme dahin, um Hilfe
zu holen, um Rat zu erhalten. Ich hätte schon gerne gehabt, dass sie sich damit
ausgekannt hätten. Es ist schon schwierig. Man muss schon Ärzte suchen, die sich
damit auskennen. Das Problem ist auch, viele sagen eine Sache, die nicht wirklich
stimmt: Ich kann zwar keine Kinder kriegen und das ist mir auch bewusst, aber ich
komme zum Arzt und der sagt mir permanent „Nein, du kriegst keine Kinder. Du hast
einen Eizellenwert von 0,05. Das ist das Gleiche, als wenn ich einem Blinden sage,
du wirst sehen.“ Da habe ich den Kinderwunsch aufgegeben. Aber mein Mann sagt
„Nein, wir gehen noch einmal in ein großes Krankenhaus“, obwohl ich mich schon
überall erkundigt habe. Doch jetzt waren wir in einem Krankenhaus und mir wurde
gesagt „Ja, es gibt Möglichkeiten.“ Das gilt auch für andere Menschen, die die
gleichen Probleme haben: man muss einfach kämpfen, egal was einem gesagt wird.
Wege gibt es immer, auch wenn es schwierig ist.
Welche Unterstützung würden Sie sich denn von ÄrztInnen oder anderem
medizinischen Personal wünschen?
Irene Hagelganz: Erst einmal, dass sie sich damit auskennen. Und dass sie mich
nicht als schwerbehindert anerkennen aber verstehen, dass ich wirklich krank bin
und mich nicht als ganz gesunden Menschen betrachten. Ich habe hormonelle
Störungen und ohne Hormone kann ich nicht leben. Wenn ich den Ärzten sage, ich
habe Menopause, die lachen mich aus: „Sie sind 25, das kann nicht sein!“ Ich bin wie
eine ältere Frau. Wenn ich meine Hormone absetze, werde ich älter, mein
Gedächtnis lässt nach, ich habe Knochenschmerzen und alles, was ältere Frauen
haben. Stimmungsschwankungen habe ich auch so, da können auch nicht mehr
Hormone helfen oder dass es mir kalt und warm wird. Dass ich jetzt so normal hier
sitze und so aussehe, wird von Hormonen unterstützt.
Sie haben mir auch erzählt, dass Sie Probleme an der Schule hatten, mit Ihrem
Lehrer.
Irene Hagelganz: In der Schule wurde es auch nicht gesehen, dass ich Krankheiten
habe. Ich wollte unbedingt Abitur machen. Es war so, dass ich zwei Jahre durch
meine Krankheit verloren habe. Ich musste schnell meine Abschlüsse nachmachen.
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Ich habe dann meinen mittleren Abschluss gemacht und wollte weiter mein Abitur
machen. Damit konnte ich nicht aber anfangen, da ich zunächst irgend etwas
benötigte, an das ich mich halten kann, einen Beruf, damit ich schon etwas habe. Ich
habe Kosmetikerin gelernt und Sicherheitsfachkraft und dann angefangen mit dem
Abitur. Aber wenn ich dann gesundheitliche Probleme hatte, haben die Lehrer mir
einfach nicht geglaubt. Sie dachten, dass ich eine Simulantin bin. Wenn da ein
drogenabhängiges Mädchen sitzt und es wird ihr schlecht, sagen sie „Geh nach
Hause!“ Das ist alles ok, aber bei mir nicht. Ich hatte Geburtstag und ich wollte zur
Schule gehen. Ich habe diese Schule geliebt, das war mir das Wichtigste überhaupt.
Ich habe einen Kuchen gebacken. Ich war mir sicher, dass ich zur Schule gehen
wollte, ich wurde aber krank, da konnte ich nichts mehr machen, so traurig wie das
war. Und den Kuchen konnte ich nicht alleine aufessen. Ich ging dann zu meinem
Professor und der sagte „Chemie liegt Ihnen wohl nicht!“. Es hat aber nichts damit zu
tun, ob mir Chemie liegt oder nicht. Ich komme zur Schule, um zu lernen. Dann gab
es eine Situation, in der ich zum Gericht musste und er sagte: „Nein, Sie gehen
nirgendwo hin. Entweder Sie gehen in die Klasse oder das war`s mit der Schule!“ Ich
konnte mein Leben nicht aufs Spiel setzen, denn Gericht ist Gericht. Ich habe alle
meine Kräfte für das Abitur ausgegeben. Es ist aber auch so, dass ich nicht so ein
Gedächtnis wie die anderen Kinder habe, die auch schneller lernen. Sie haben auch
Eltern, die sie unterstützen und das einzige was sie machen müssen, ist lernen. Sie
schaffen es sogar, Fernsehen zu gucken und ich dachte whow, wie schaffen die
das? Ich habe im Leben noch viel außerhalb zu erledigen. Ich habe wirklich jede freie
Minute gelernt, ich habe mich wirklich fertig gemacht. Und jetzt habe ich keine Kraft
mehr. Ich weiß nicht, ob es in der Zeit kaputt ging oder ob es mit meiner Krankheit zu
tun hat. Ich war jetzt in einem Krankenhaus, in dem Fatigue behandelt wird, das ist
bei mir eine Art der Erschöpfung, die man nach Krebs hat.
Haben Sie denn auch Benachteiligungen aufgrund Ihrer Herkunft erlebt?
Irene Hagelganz: So grundsätzlich vielleicht nicht. Meine Sprache ist schon ok. Ich
mache da vielleicht Fehler, aber auch Deutsche machen oft Fehler. Ich kann gut
schreiben ohne Fehler, was manche Deutsche auch nicht gut können. Mir kann
keiner sagen, dass ich Deutsch nicht beherrsche. Ich habe mich immer bemüht und
ich bemühe mich weiter. Die Sache ist die, Diskriminierung erlebe ich schon, wenn
ich meine Meinung offen sage, das gefällt denen oft nicht. Ich weiß nicht, ob das
Diskriminierung ist. Es gab schon Fälle, aber ich kann mich jetzt nicht richtig daran
erinnern. Alles, was negativ passiert ist, versuche ich zu verdrängen
Jeder Mensch hat einen großen Wunschtraum, einen Lebenstraum. Was ist Ihr
Lebenstraum?
Irene Hagelganz: Ich möchte Medizin studieren. Und dafür brauche ich mein Abitur
und dann will ich Medizin studieren.
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Mohammed Nasser: „Mehr Toleranz und Akzeptanz!“
Mohammed Nasser: Ich heiße Mohammed Nasser, bin gebürtiger Palästinenser,
seit 1976 in Berlin-Neukölln groß geworden und lebe immer noch in Neukölln.
Mittlerweile bin ich 43 Jahre alt und habe drei süße Mäuse. Momentan arbeite ich im
Nachbarschaftsheim in einem Projekt, in dem wir Eltern mit kranken Kindern und
Vereine in ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement unterstützen.
Ihre Tochter Houda lebt mit einen Behinderung. Was bedeutet das genau für Sie als
Vater, der sich um seine Tochter intensiv kümmert?
Mohammed Nasser: Es war für uns kein Problem, dass wir ein behindertes Kind
bekommen haben. Es ist eher die Sorge und die Angst, die das mit sich bringt und
viel Kraft und Mühe kostet. Man will ja auch allen drei Kindern gerecht werden. Den
Alltag zu meistern ist eine einzige große Hürde, denn seit Houda bei uns ist, hat sich
schlagartig alles verändert. Jeder Tag ist eine Herausforderung. Kleinigkeiten, die für
andere Familien nicht von Bedeutung sind, sind für uns mit großem Aufwand
verbunden.
Auch in Deutschland ist es nicht normal, wenn sich die Väter um ihr behindertes Kind
kümmern. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Mohammed Nasser: Ich habe das Glück, dass ich aus einer Großfamilie stamme, in
der mein Vater uns auch sehr viel Liebe und Zuneigung geschenkt hat, uns viele
Werte beigebracht hat. Ich habe bis 30 gewartet, bis ich selber erwachsen war, um
zu heiraten, da ich selber gerne Kinder haben wollte. Für mich war es vom ersten
Tag an selbstverständlich, dass ich für meine Kinder da bin. Vater sein heißt, Kinder
erziehen, was viele Väter leider auch mittlerweile vergessen haben. Die denken, ich
mache das Kind und dann macht es die Mama weiter. Schon bevor wir Houda
bekamen, habe ich versucht, andere Väter zu sensibilisieren, sich in die Erziehung
ihrer Kinder mit einzubringen, in der Kita, in der Grundschule. Meine Erfahrung war,
dass ich immer nur Frauen gesehen habe. Für manchen scheint es natürlich zu sein,
dass die Mama über 80 Prozent übernehmen muss. Ich wollte das von Anfang an
nicht. Deshalb habe ich angefangen, mich zu engagieren: Väter zu finden, die in der
gleichen Situation sind wie ich, mit behinderten Kindern. In Krankenhäusern habe ich
versucht, die Frauen anzusprechen, warum ihre Männer nicht dabei sind oder warum
sie nicht einmal den Mann schickt. Das was nach der Geburt kommt, das bedeutet
Vater zu sein.
Sie haben den Verein Huda e.V. gegründet: Welche Aufgaben hat sich der Verein
gestellt?
Mohammed Nasser: Unser Ziel ist Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit und Respekt
und Toleranz für Väter mit behinderten Kindern. Ich habe das durch meine eigene
Erfahrung erlebt, dass migrantische Väter schon ohnehin ein Problem haben.
Schwierigkeiten ganz anders als ein europäischer oder deutscher Papa in der
Gesellschaft. Mit einem behinderten Kind werden die Probleme doppelt so schwer.
Sie sind manchmal doppelt isoliert.
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Erst war Huda e.V. ein Ein-Mann-Projekt. Ich habe alleine an tausend Türen geklopft,
die sich nie geöffnet haben. Mittlerweile ist so, dass es viele Väter bei uns gibt, auch
die, deren Kinder keine Behinderung haben. Wir arbeiten für die Inklusion, von der
die anderen meistens reden. Wir tun`s einfach, dass Väter mit gesunden Kindern und
schwerbehinderten Kindern zusammen etwas unternehmen. Es ist unser Ziel, dass
diese Väter nicht aus der sozialen Struktur fallen, weil sie sich etwa einsperren zu
Hause oder nicht mit anderen Menschen kommunizieren. Mir ist es bei mir selbst
aufgefallen, dass ich eine ganz andere Kommunikationsebene habe. Wenn ich mit
einem Vater rede, der selber ein behindertes Kind hat, dann stößt man auf ganz
anderes Verständnis. Das sind manchmal so Gefühlssachen, dass wenn ich mit
jemandem rede, der mich versteht, doch mein Herz auch aufblüht, dass mich endlich
jemand versteht und auch weiß wovon ich rede. Das haben wir uns zu Herzen
genommen, denn das kann nur einer verstehen, der in der gleichen Situation lebt.
Wenn ich einem anderen Papa erzählt habe, ich habe seit zwei Tagen nicht
geschlafen, dann denken Väter mit gesunden Kindern „Der übertreibt!“ Doch wenn
man selbst die gleichen Situationen durchlebt, dann kann man ganz anders
antworten.
Mit welchen anderen Fragen kommen die Väter zu Ihnen?
Mohammed Nasser: Sehr viele Väter wissen zum Beispiel noch nicht einmal über
die Krankheit ihrer Kinder Bescheid. Die wissen nicht, welche Medikamente ihr Kind
kriegt, die wissen nicht, welche Möglichkeiten es an Therapien, an Hilfsmöglichkeiten
gibt. Wir bieten diese Plattform, wir machen sehr viel Öffentlichkeitsarbeit, da die
Väter nicht von alleine kommen. Wenn man helfen will, und das ist nicht böse
gemeint, dann muss man die Leute erst einmal an die Hand nehmen. Erst später
können die Väter dann eigene Fragen stellen: „Wie kann ich das machen?“ oder „Wie
passiert das bei uns?“ Das muss sich entwickeln. Es ist selten, dass jemand mit
konkreten Fragen kam. Migrantische Väter haben auch andere Problem und Sorgen:
Viele haben mit dem Aufenthalt zu kämpfen, viele haben mit der
Hilfsmittelversorgung zu kämpfen. Das ist für sie schon im normalen Alltag sehr
schwierig zu bewältigen – mit einem behinderten Kind ist es doppelt so schwer. Wir
helfen auch bei Sprachproblemen: Wir haben türkische Väter, arabische Väter, wir
können rumänisch weiterhelfen. Es war unser Ziel, dass Huda e.V. interkulturell
arbeitet und das nicht nur ein Wort ist, sondern dass wir uns aus verschiedenen
ethnischen Herkünften gegenseitig helfen. Jede Kultur und jeder Papa hat ganz
andere Sorgen, ganz andere Fragen. Wir versuchen, diese Fragen kultursensibel zu
behandeln.
Wo sind die Barrieren, die Sie mit Houda persönlich erleben?
Mohammed Nasser: Meine Barriere ist einfach da, dass ich nicht die Freiheit habe,
mit meinen Kindern viel zu unternehmen, da es durch die schwere Behinderung von
Houda so eingeschränkt ist. Wir können zum Beispiel nicht verreisen. Ich bin ein
Mensch, der gerne öfters draußen ist, um andere Länder, andere Kulturen kennen zu
lernen. Mit einem schwerstbehinderten Kind kann man das nicht so frei machen. Ich
habe zu Houda auch eine sehr große Bindung, ich kann sie nicht alleine lassen.
Behinderung und Herkunft sind zwei Merkmale, aufgrund derer Personen
diskriminiert werden können. Haben Sie selber Diskriminierung erlebt? Wenn ja,
welche war das?
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Mohammed Nasser: Ja, es gibt ja viele verschiedene Varianten von
Diskriminierung. Leider ist das Thema Behinderung noch ein großes Tabu.
Menschen, die davon offen reden, werden von anderen Menschen, die kein Mitgefühl
haben, ich sage bewusst Mitgefühl, nicht Mitleid, es nicht verstehen, dass ein
Mensch trotz einer schwierigen Lebenssituation offen darüber reden kann und nicht
beschämt ist. Viele Männer haben das Problem, dass ihr Selbstbild als Mann
gefährdet ist, wenn sie kranke Kinder haben. Die andere Art von Diskriminierung
haben wir in Krankenhäusern durchlebt und durchleben sie immer noch. Seitdem
meine Frau das Kopftuch getragen hat, dass sie einfach anders behandelt worden
ist, dass sie öfter ignoriert worden ist, und dass wir wirklich zeitweise total auf uns
gestellt waren, obwohl wir in einer Klinik waren. Die anderen Diskriminierungen
kamen dann von Seiten der Pflegedienste, wenn man Pflegedienste in Anspruch
genommen hat, dass sie die Familien in ihrer Not und Sorge und Angst für blöd
halten und dementsprechend auch so behandeln. Die geben es nicht zu, aber die
behandeln die Menschen, als ob man von nichts eine Ahnung hat. Dann gibt es die
anderen Barrieren, dass ich als Mann sofort verurteilt worden bin, weil meine Frau
ein Kopftuch getragen hat. Dann hieß es sofort, ich sei dran schuld, dass ich sie dazu
gezwungen habe, was nicht der Fall ist. Das sind solche Art Diskriminierungen, die
Männer immer wieder durchleben. Ob es bewusst oder unbewusst ist, kann man
nicht sagen: der migrantische Mann steht automatisch auf der bösen Seite. Alles,
was negativ ist, kommt von seiner Seite. Ich habe das Glück, ich kann gut Deutsch
sprechen. Ich kann auch arabisch sprechen, aber in der arabischen Sprache
verstehe ich nicht die Ironie. Wenn sich jemand anders in Deutsch neben mir über
mich ironisch lustig macht, dass wir Migranten sind, dass man uns an die Hand
nehmen muss, dass wir nichts auf die Reihe kriegen, wenn ich das höre in meinem
Schmerz und meiner Not, dann verzichte ich gern auf diese Hilfe. Das ist uns nicht
nur einmal passiert, das ist uns in den sechs Jahren schon mehrmals passiert, dass
bestimmte Helfe bei uns in die Familie hineinkamen. Das waren entweder Leute, die
selber gerade einen Verein aufbauten und uns als Familie in dem Sinne missbraucht
haben, damit sie uns vorzeigen können. Aber wenn wir nicht so funktioniert haben
wie sie das wollten, haben sie uns ganz bösartig fallen gelassen, von einem Tag auf
den anderen.
Jeder Mensch hat einen großen Wunsch für sein Leben, einen Lebenstraum. Was ist
Ihr persönlicher Traum?
Mohammed Nasser: Mein persönlicher Wunsch ist natürlich, dass meine Kinder,
alle drei, ganz groß und stark werden. Dass meine Maus auch schmerzfreier lebt,
das sind natürlich die ersten Wünsche. Natürlich gibt es auch andere Wünsche, aber
durch die Krankheit von Houda haben sich die Wünsche mehr auf Gesundheit
beschränkt. Dass man gesund bleibt und dass es hoffentlich irgendwann bald mehr
Toleranz und Akzeptanz für Familien mit behinderten Kindern gibt.
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Interviews: H.- Günter Heiden
Übersetzung aus dem Russischen: Sven Piesker
Gebärdensprachdolmetschung: Laura M. Schwengber
Ein Videoprojekt der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben
in Deutschland e.V. – ISL
Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit – BMG
© ISL 2013
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