Manuskript der Predigt über das Märchen: Hänsel und Gretel von Martin Quant – Predigt in der ev.-ref. Gemeinde Braunschweig August 2013 Märchen gelten gewöhnlich als unwirklich, unwahr Dabei sind sie uralte Zeugnisse gelebter Menschlichkeit Sie erzählen in verschlüsselter Bildersprache von den Urerfahrungen der Menschen mit sich, mit anderen, mit der Welt, mit Gott. Sie sind aus dem gleichen Stoff wie viele biblische Geschichten Jemand hat den Unterschied so beschrieben: biblische Geschichten gehen von dem allumfassenden Gott aus und streben in die Mitte, Märchen gehen von einer geheimen Mitte aus und streben nach außen auf die allumfassende göttliche Wirklichkeit hin. Es ist also gut beide im Auge zu haben, sie miteinander ins Gespräch zu bringen. Märchen schenken uns Bilder und Geschichten für unsere inneren Erfahrungen. Kinder identifizieren sich selbstverständlich mit der Hauptpersonen und werden ermutigt: am Ende wird alles gut. Kinder brauchen keine Entschlüsselung. Beide: biblische Geschichten und Märchen sprechen von der Wahrheit des Lebens, die nicht verrechenbar ist, einer Wahrheit der tieferen Dimension. Sie bringen zum Ausdruck, was uns von innen bewegt Märchen erzählen vom Geheimnis unseres Lebens Hauptbotschaft: Sei unverzagt und zuversichtlich! Am Ende wird alles gut. Es sind Geschichten gegen die Ängste . Sie ermutigen, den Kampf gegen die Gefahren des Lebens aufzunehmen und durchzuhalten. Es sind Entwicklungsgeschichten, erzählen von inneren Prozessen Das Leben ist voller Gefahren. Wenn ich den Kampf aufnehme gewinne ich. Das Gute ist am Ende stärker. Die Menschen sind füreinander bestimmt. Die Gefahren des Lebens bestehen Hänsel und Gretel nur gemeinsam, mal ist es Hänsel, manchmal Gretel, die ermutigen. Aber alle Personen im Märchen sind auch Stimmen meines Inneren da gibt es die Hänselstimme: 'gräme dich nicht, ich will uns schon helfen. schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen,' die Gretelstimme: 'nun ists um uns geschehen. Die Mutterstimme: wir wollen Morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, Die Vaterstimme: wie sollt ich es übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen, die wilden Thiere würden bald kommen und sie zerreißen.' Auch die Hexenstimme: Ich hab dich zum Fressen gern Hänsel und Gretel handelt von der Urangst jedes Menschen: der Angst des Kindes verlassen zu werden, aus der bergenden Wärme des Elternhauses vertrieben zu werden Die häusliche Geborgenheit hat eine Kehrseite Es gibt auch eine verschlingende Liebe Diese Kehrseite der Liebe ist gemeint, wenn wir vom „Hotel Mama“ sprechen. Ja da muss man heraus. Vor allem, wenn die innere Not zu groß wird für alle, müssen die Kinder hinaus ins Leben, in den dunklen tiefen Wald geschickt werden. Wir müssen unsere Kinder loslassen... leicht gesagt „Ach die Mutter leidet sehr.... da besinnt sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.“ Die Vorstellung, dass die Mutter/die Eltern auch die Aufgabe haben, die Kinder in die Welt zu schicken, widerspricht unseren Vorstellungen von Muttersein so sehr, dass aus der Mutter in der ersten Fassung des Märchens sehr bald die Stiefmutter geworden ist. Aber auch das ist bei jedem/jeder von uns auch eine innere Stimme oder innere Person. Die Bibel spricht von dem gleichen Vorgang der Entwicklung etwas anders in der Paradiesgeschichte: Da schickt der himmlische, göttliche Vater Adam und Eva aus dem Paradies. Vertreibung aus dem Paradies als Strafe für das Essen vom Baum der Erkenntnis. Ist es wirklich eine Vertreibung? Ist es nicht auch eine Befreiung? Dieser innere Prozess, zu erkennen, wer wir sind und was gut ist und was böse? Der Auftrag an Abraham (Gen. 12), der vorhin verlesen wurde ist eine Ermutigung zu diesem Prozess: Gehe aus deinem Vaterhaus... das Ziel bleibt offen...Sich aufzumachen im Vertrauen, den Weg zu finden. Das Leben ist ein Abenteuer eine Wanderung durch den dunklen gefährlichen Wald. Wir leben nicht im Paradies, nicht im paradiesischen Elternhaus, kein Paradies im Mutterschoß wir müssen und dürfen aufbrechen Dazu müssen wir immer wieder ermutigt werden : eine Wanderung durch einen tiefen tiefen Wald. Wir sind verzagt wie Gretel 'nun ist´s um uns geschehen.' Werden ermutigt wie Hänsel es tut schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.' Eine Gefahr auf der Lebenswanderung ist die Verführung, die Verlockung, das Hexenhäuschen: Die verschlingende Liebe begegnet uns immer wieder: Tritt vielleicht noch einmal sehr mächtig auf, wenn Mütter steinalt werden. Es fällt oft schwer, sich gegen verschlingende Liebe zu wehren. Sie meint es doch so gut.... Aber mit etwas Pfiffigkeit und Überlebenswillen löst sich die Hexerei auf. Im inneren entdeckt man dann wie Hänsel und Gretel reiche leuchtend Schätze, immaterielle Edelsteine. Kennen Sie das? Nach Überwindung einer schweren Krise sagen Menschen: Es war schlimm. Aber jetzt möchte ich diese Erfahrung nicht missen. So schlimm sie war, sie hat mich reicher gemacht. Und dann geht es plötzlich ganz schnell aus dem Wald heraus. Das Dickicht hat sich gelichtet. Ein letztes Hindernis: das große Wasser. Verbunden und im Einklang mit der Natur lässt sich auch dieses Problem lösen. Eine Ente als Fährfrau bietet sich an. Anders als bisher führt das Erwachsenwerden auch zu Vereinzelung. Hänsel und Gretel überqueren einzeln das Wasser, eine neue Beziehung zum Elternhaus bzw. Vaterhaus beginnt. Die Beziehungen leiden nicht mehr unter innerer Verarmung und Mangel. Ich wünsche ihnen das Vertrauen von Hänsel: Gott wird uns nicht verlassen wir werden den Weg schon finden Der Segen Gottes begleite sie. 30. Martin Quandt Juni 2013