Hänsel und Gretel Handlung Als Kinder des armen Besenbinders führen Hänsel und Gretel ein hartes Leben: Sie müssen den Eltern bei der Arbeit helfen und leiden immerzu Hunger. Um den Kummer wenigstens kurzzeitig zu vergessen, heitern sie sich mit lustigen Kinderliedern und Tänzchen auf. Doch oh weh, die Mutter wird böse darüber, dass die beiden ihre Arbeit nicht tun und sie holt aus, Hänsel zu verprügeln. Dabei zerbricht der Milchtopf – die einzige Mahlzeit, die die Familie in Aussicht hatte – und zornentbrannt schickt sie die Kinder zum Beerensuchen in den Wald. Was sie nicht weiß: Inzwischen hat der Vater auf dem Markt genügend Geld verdient, um Frau und Kinder satt zu bekommen. Und als er nach seiner Rückkehr erfährt, was geschehen ist, macht er sich große Sorgen um die beiden, denn er hat grausige Geschichten über eine kinderfressende Knusperhexe gehört, die in jenem Wald lebt... Hänsel und Gretel ahnen währenddessen nichts Böses. Sie füllen ihr Körbchen mit Erdbeeren, doch Hänsel nascht sie alle wieder auf! Zu allem Übel verirren sie sich auch noch und die Dunkelheit bricht über sie herein. Sie lässt den Wald für die Kinder als einen Ort voll lauernder Schrecken erscheinen. Das gute Sandmännchen sorgt dafür, dass sie dennoch in einen geruhsamen Schlaf versinken und am nächsten Morgen werden sie vom Taumännchen sanft geweckt... Als die Kinder weitergehen, stoßen sie auf das Pfefferkuchenhaus der Hexe und „Knusper, knusper Knäuschen...“ nimmt die Geschichte ihren wohlbekannten Lauf. Genau wie im Märchen schafft es auch die schlaue Grete in Humperdincks Oper die Hexe zu überlisten. Am Ende erleidet diese selbst das Schicksal, das sie für Hänsel vorgesehen hat: In ihrem eigenen Ofen wird sie gebacken und all die Kinder, die von ihr zu Lebkuchen verwandelt wurden, sind erlöst. Die Eltern, welche sich voller Angst auf die Suche nach Hänsel und Gretel begeben haben, finden ihre lieben Kinder wieder und die Familie ist glücklich vereint. Über Hänsel und Gretel und ihren Komponisten... Im ausgehenden 19. Jahrhundert, das noch wie gelähmt war von den überwältigenden Neuerungen, die Wagner der Musik zu dieser Zeit beschert hatte, galt der junge Engelbert Humperdinck als die große Hoffnung unter den deutschen Komponisten. Er wurde 1854 in Siegburg nahe Bonn geboren, studierte in Köln am Konservatorium und gewann diverse bedeutende Stipendien. Doch ein Erlebnis erschütterte ihn bis ins Mark und sollte die Richtung seiner künstlerischen Orientierung entscheidend beeinflussen: Während seiner Studienzeit hörte er erstmals die Musik Richard Wagners – vom Komponisten höchstpersönlich dirigiert – und ihm eröffnete sich eine völlig neue Klangwelt, Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks, die er bisher nicht einmal erahnt hatte. Während einer Italienreise besuchte Humperdinck den verehrten Meister und konnte ihn ohne Umschweife von seinem Talent überzeugen. Er wurde sein Protegé, arbeitet in Bayreuth an der Vorbereitung der Parsifal-Uraufführung mit und begegnete im Umkreis Wagners so bedeutenden Zeitgenossen wie Liszt und Saint-Saëns. Doch nur drei Jahre später kam diese anregende Phase in Humperdincks Leben mit dem Tod Wagners abrupt zu ihrem Ende und der junge Komponist verlor nicht nur seinen Lehrer und Freund, dieses Ereignis ließ bei ihm außerdem eine ernsthafte Identitäts- und Schaffenskrise zutage treten, wie er später schrieb: „Seitdem ich zu Wagner nach Bayreuth gekommen bin, hat es mit der eigenen Produktion ein plötzliches Ende genommen... Die Hauptsache ist, daß ich mich selbst wiederfinde, nachdem ich mir neun Jahre entfremdet gewesen.“ So wie Humperdinck fühlten sich seinerzeit viele Komponisten vom Bann des übermächtigen Ideals Wagner in ihrer eigenen Kreativität gehemmt, doch gerade Hänsel und Gretel wird später als vorbildliches Beispiel dafür erachtet werden, wie es gelingen kann, aus einem starken Einfluss heraus ein eigenständigen Stil zu entwickeln. Die Ähnlichkeit der Oper im Klanglichen mit der Musik Wagners ist unüberhörbar, denn verständlicherweise bediente sich Humperdinck gewisser Innovationen, mit denen Wagner das Musiktheater entscheidend weiterentwickelt hatte: Die durchkomponierte Form hebt die Trennung in Rezitativ und Arie auf und gewährleistet somit den Fluss der Handlung, Chromatismen eröffnen ganz neue Möglichkeit, den Klang zu gestalten und eine vereinfachte Form der Leitmotivtechnik stellt Bezüge zwischen verschiedenen Szenen her, indem gewisse Motive wiederkehren, um beim Zuhörer Assoziationen zu früheren Geschehnissen zu wecken. Das prägnanteste dieser Motive ist sicherlich der Abendsegen, welcher mehrmals musikalisch angedeutet wird und dann im zweiten Akt vollends zur Geltung kommt, wenn Hänsel und Gretel, die sich im Wald verirrt haben, in einem ergreifenden Duett um eine behütete Nachtruhe beten. Was Humperdincks Stil grundlegend von dem Wagners unterscheidet, ist die souveräne Einbindung schlichter, volkstümlicher Melodien inmitten allen Klangzaubers: Einfache Kinderlieder stellen das Kernstück der Komposition dar, so legte Humperdinck seinen Protagonisten originale Liedchen wie Suse, liebe Suse und Ein Männlein steht im Walde in den Mund, aber er komponierte für sie auch täuschend authentisch wirkende neue Lieder, etwa Brüderchen, komm tanz mit mir, das der Unwissende für die reinste Volkspoesie halten mag. Für diesen Sachverhalt gab es durchaus einen ganz pragmatischen Anlass, der in der Entstehungsgeschichte der Oper begründet liegt: Im Jahre 1890 sandte Humperdincks Schwester Adelheid Wette dem Komponisten Texte aus einem von ihr verfassten Märchenspiel über Hänsel und Gretel zu mit der Bitte, die Liedchen zu vertonen. Das Stück sollte von ihren Töchtern anlässlich des Geburtstages ihres Mannes aufgeführt werden und Humperdinck versah es mit der humorvollen Bezeichnung „Ein Kinderstuben-Weihfestspiel“ in Anspielung auf die Betitelung des Parsifal als „Bühnenweihfestspiel“. Jedenfalls schien ihn das volkstümliche Sujet zu begeistern und zu inspirieren, denn er arbeitete auf Grundlage des Textes seiner Schwester das Kinderstück zuerst zu einem Singspiel und schließlich zu einer großen, durchkomponierten Oper aus. Alles in allem zog sich der Entstehungsprozess von Hänsel und Gretel über drei Jahre hin, währenddessen Humperdinck von finanziellen Sorgen geplagt wurde und er musste die Arbeit an der Komposition mit seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Musikjournalist in Einklang bringen. Auch der Erfolg seines Werkes war keinesfalls gewiss. Doch es war sicherlich ein gutes Omen, dass gleich drei Theater das Stück zur Weihnachtszeit 1893 auf die Bühne bringen wollten: München, Weimar und Karlsruhe. Aufgrund der Erkrankung einer Sängerin in München wurde Weimar am 13. Dezember 1893 das Privileg zuteil, Hänsel und Gretel uraufzuführen, und zwar unter der Leitung eines weiteren aufgehenden Sterns am Opernhimmel: Richard Strauss. Dessen Urteil hätte für Humperdinck nicht erfreulicher ausfallen können, in einem Brief an ihn verlieh Strauss seiner Begeisterung Ausdruck: „Mein lieber Freund! Soeben habe ich die Partitur Deines »Hänsel und Gretel« durchgelesen und setze mich gleich hin, um zu versuchen Dir zu schildern, in welch hohem Grade mich Dein Werk entzückt hat. Wahrlich ist es ein Meisterwerk erster Güte, zu dessen glücklicher Vollendung ich Dir meinen innigsten Glückwunsch und meine vollste Bewunderung zu Füßen lege; das ist wieder seit langer Zeit etwas, was mir imponiert hat.“ Tatsächlich wurde Humperdincks Oper sogleich ein durchschlagender – und für den Komponisten auch ein finanzieller – Erfolg. Mit der Uraufführung von Hänsel und Gretel wurde nun der Grundstein für eine Aufführungstradition gelegt, die sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut: Als Weihnachtsoper für Kinder hat sich das Stück bewährt, jedes Jahr im Dezember ist es auf den Spielplänen zahlreicher Opernhäuser zu finden. Eigentlich ein Paradox, denn Hänsel und Gretel sammeln schließlich Erdbeeren, was bekanntermaßen nur im Sommer der Fall sein kann... Doch andererseits passt das Märchen als das deutsche Kulturgut schlechthin hervorragend in die Weihnachtszeit, die jedes Jahr aufs Neue die nostalgische Sehnsucht nach Traditionellem weckt. Und der Ursprung dafür findet sich in Humperdincks Jahrhundert, der Zeit der Romantik. Die Bemühungen der Gebrüder Grimm um die Sammlung und Pflege deutscher Volksmärchen ist im Kontext der Heidelberger Romantik zu sehen, wo sich zwischen 1806 und 1808 das Erwachen des Nationalbewusstseins in einem neu geweckten Interesse an volkstümlicher Dichtung, Volksliedern etc. manifestierte und die Deutschen in einer Art geistiger Opposition gegen die napoleonische Besatzung verband. Die Volkspoesie entsprach zudem der idealisierten romantischen Vorstellung von Genie als etwas Ursprünglichem, welches nur die unbewusste Natur hervorzubringen vermag: „Die Volkspoesie lebt gleichsam im Stand der Unschuld, die Kunst hat das Bewußtsein.“ (Rüdiger Safranski) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich einige Opernkomponisten, unter ihnen Humperdinck, erneut den Märchenstoffen zu, somit das Vakuum überwindend, welches Wagner nach seinem Tod im musikalischen Leben zurückließ. Zu dieser Zeit hatte sich allerdings der Blickwinkel auf die Sujets etwas verschoben, sie wurden nicht mehr primär als Ausdruck einer nationalen Identität, sondern – eher im heutigen Sinne – als Literatur für Kinder angesehen, wodurch der pädagogische Aspekt an Gewicht gewann. Aus diesem Grund unterscheidet sich die Handlung der Oper in einem zentralen Punkt grundlegend vom Märchen der Gebrüder Grimm, nämlich erscheinen die Eltern hier nicht als herzlos und selbstsüchtig. Vielmehr begeben sie sich voller Sorge auf die Suche nach den Kindern, nachdem die unwissende Mutter sie aus gutem Grund – um eine Mahlzeit zu besorgen – in den Wald geschickt hat und keineswegs, um sie zu verstoßen. Die Librettistin – selbst eine liebevolle Mutter – legte großen Wert auf einen kindgerechten Verlauf der Handlung und schrieb ein Happy End, das den Tod der klischeehaften bösen Stiefmutter des Originals durch die Darstellung einer vorbildhaften glücklichen und intakten Familie ersetzte. Quellen: - CD-Booklet zur Gesamtaufnahme von Hänsel und Gretel, Darpro 1997. Michels, Ulrich: dtv-Atlas Musik, München u.a. 22005. Pahlen, Kurt: Engelbert Humperdinck. Hänsel und Gretel. Textbuch. Einführung und Kommentar, Mainz 2000. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. Von Schirnding, Albert (Hrsg.): Humperdinck. Hänsel und Gretel, München und Paris 1988.