Klassische Soziologische Theorien - Supervision

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Suchtheorie der Sozialen Arbeit – A. Knoll
Klassische Soziologische Theorien
Die soziologischen Theorien haben ihren Niederschlag bereits in der systemischen Therapie gefunden.
Hier geht es um die Frage, warum ein bestimmtes Gesellschaftssystem Suchtverhalten bei manchen seiner
Mitglieder erzeugt. Dabei wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Zuständen und Individuen untersucht.
Die Struktur der Konsumgesellschaft erzeugte in der Schulklasse von Heike Becker, aus dem oben
angeführten Fallbeispiel, soziale Zustände die vom Konsumverhalten der Kinder geprägt waren. Um anerkannt zu sein, mußte man eine bestimmte Jeansmarke tragen und nach der Schule in einem amerikanischen Schnellrestaurant einkehren. Diese gesellschaftlichen Anforderungen erzeugten bei Heike Anpassungsdruck und Streß. Von diesem Streß wurde sie von den Eltern entlastet, indem diese ihr die nötigen
Dinge finanzierten. Dadurch bleibt Heike nun aber von der materiellen Zuwendung durch die Eltern abhängig und kann nur unter erschwerten Bedingungen zur eigenen Persönlichkeit reifen. Die ideale Droge
für Heike wären in diesem Falle Appetitzügler. Diese Medikamente steigern auf der einen Seite die Aktivität und das Leistungsvermögen, wodurch Langeweile und innere Leere reduziert werden. Andererseits
versprechen Appetitzügler das Figurproblem zu lösen. Dies könnte der Einstieg in eine Medikamentenabhängigkeit oder Magersucht werden.
Die soziologischen Theorien gehen von gesellschaftlichen Sitten und Normen des Suchtmittelgebrauches
aus. Dann untersuchen sie die davon abweichenden tatsächlichen Gebrauchsmuster des Gemeinwesens
und fragen danach, mit welchen Sanktionen die Gesellschaft diejenigen belegt, die von den anerkannten
Gebrauchsnormen abweichen. Dabei wurde festgestellt, daß in einer Gesellschaftsordnung häufig eine bestimmte Anzahl von Drogen- oder Alkoholabhängigen produziert und toleriert werden. Das könnte bedeuten,
daß diese Gesellschaft die suchtkranken Menschen als Abweichler von der Normalität benötigt, um selbst im
Gleichgewicht zu bleiben. So ist der Trinker im Dorf den meisten Einwohnern als eine Art „Dorfdepp“ bekannt.
Indem er diese Rolle einnimmt, erfüllt er für das Gemeinwesen die Außenseiterposition und ermöglicht es den
anderen Bürgern sich davon abzugrenzen. Alle anderen, besonders die heranwachsende Generation, kann
nun von ihm und durch ihn „lernen“. Indem die Kinder ein Negativmodell haben, von dem sie sich abgrenzen,
lernen sie den normgerechten Alkoholgebrauch und vermeiden so Außenseiter zu werden. Dieses Phänomen kann man auch auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen. Indem die relativ kleine
Gruppe der schwer Drogenabhängigen immer wieder in die gesellschaftliche Außenseiterposition gerückt
wird, wird die sehr große Gruppe der Alkoholkranken versteckt. Somit kann die Alkoholindustrie für ihre Produkte weiterhin ungezügelt werben.
Bei den soziologischen Theorien gibt es zwei Schulrichtungen, die sich ähnlich gegenüberstehen wie die
Lerntheorie und die Psychoanalyse in der Psychologie. Sie heißen Strukturfunktionalismus und Symbolischer
Interaktionismus.
Die strukturfunktionalistische Theorie
Diese Theorie untersucht die Folgen, die die Sucht für die Gesellschaft hat. Sie gibt uns weniger einen
Aufschluß über die Entstehung süchtigen Verhaltens. Das Suchtproblem wird hier viel mehr aus der Perspektive des Gemeinwesens untersucht. Im Gemeinwesen gibt es aus dieser Sicht klare Rollendefinitionen für die
Menschen; z.B. Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Diese Menschen müssen sich gemäß bestimmter Rollenerwartungen verhalten, damit die Gesellschaft konfliktfrei funktioniert. Wenn jetzt unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen die Menschen Suchtmittel konsumieren, so fragt man sich nach dem Sinn, den der
Drogenkonsum für den Bestand dieser Gesellschaftsstruktur hat. So gesehen stellt beispielsweise der Medikamentenmißbrauch einer Hausfrau, der „die Decke auf den Kopf fällt“, kein Problem dar, wenn sie es
dadurch aushält in ihrer angestammten Rolle zu bleiben und nicht auszubrechen. Wenn der Ehemann
abends Alkohol trinkt um sich zu entspannen, tut er das, um am nächsten Tag im Beruf wieder zu funktionieren. Störend wird der Suchtmittelmißbrauch erst dann, wenn er dazu führt, daß die Individuen ihre Rollenerwartungen nicht mehr erfüllen können. Dies wäre der Fall, wenn die Hausfrau durch ihren Medikamentenmißbrauch den Haushalt nicht mehr versorgen kann oder die Kinder nicht mehr beaufsichtigt. Wenn der
Ehemann abends so viel Alkohol zu sich nimmt, daß er anderntags in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt ist,
wäre dies ebenfalls ungünstig für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Gesamtgesellschaftlich
kann man jedoch den krankhaften Suchtmittelmißbrauch der Eheleute auch als einen Anpassungsversuch
des Systems Konsumgesellschaft sehen. Indem sich die Familie durch den Suchtmittelmißbrauch zu Au1
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ßenseitern macht stabilisiert sie den Rest der Gesellschaft, der sich jetzt von ihr abgrenzt und anders sein will.
So gesehen haben die suchtkranken Menschen eine wichtige Funktion für die übrige Gesellschaft. Sie machen die Konsumgesellschaft eigentlich erst möglich, weil die übrigen Menschen durch ihr abschreckendes
Beispiel dazu angeregt werden, diszipliniert mit Suchtstoffen umzugehen.
Der symbolische Interaktionismus
Der symbolische Interaktionismus sieht im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus die Gesellschaft nicht
als ein starres System mit festen Rollenvorgaben an. Die Individuen handeln, dieser Theorie zufolge, immer
wieder miteinander aus, was richtig und falsch ist. Dadurch befinden sich die gesellschaftlichen Normen und
Werte in einem andauernden Veränderungsprozeß. Von den Menschen muß nun erwartet werden, daß sie
fähig sind an diesem Aushandlungsprozeß teilzunehmen. Dies ist nötig, weil jedes Individuum seine ganz
eigene Sinnwelt hat. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung sind diese Aushandlungsprozesse und
die Fähigkeit zur Kompromissbildung Grundanforderungen an die Gesellschaftsmitglieder. Menschen, die zu
diesen Aushandlungsprozessen nicht fähig sind, zeigen ein „abweichendes Verhalten“. Alkoholismus und
Drogenabhängigkeit sind Anzeichen davon.
Der symbolische Interaktionismus kennt drei wesentliche Theorien abweichenden Verhaltens, die hier nur
sehr verkürzt dargestellt werden können.
Der Ettikettierungsansatz (Labeling Approach) sieht in der Reaktion der Umwelt auf abweichendes Verhalten den Grund dafür, daß dieses sich verfestigt. Beispiel: Die oben erwähnte Hausfrau nimmt Medikamente, weil ihr die „Decke auf den Kopf fällt“. Irgendwann merkt ihre Umwelt das und interpretiert dieses Verhalten
als „haltlos, süchtig und verantwortungslos“. Mit dieser Interpretation bekommt die Hausfrau gleichsam ein
Etikett angehefetet wo draufsteht: „Süchtige, haltlose und verantwortungslose Schlampe“. Jetzt ist diese
Hausfrau quasi dazu aufgefordert das zu erfüllen, was auf dem Etikett steht. Sie wird zur „süchtigen Schlampe“ weil sie diese Rolle mit ihrer Umwelt – gewollt oder nicht gewollt – ausgehandelt hat.
Die Anomietheorie sieht den Grund für abweichendes Verhalten im Mißverhältnis zwischen kulturell anerkannten Zielen und Normen einerseits, sowie dem einzelnen zur Verfügung stehenden Mitteln andererseits.
Beispiel: Es ist mittlerweile kulturell anerkannt, daß für manche Frauen Hausfrauentätigkeit nicht ausfüllend
genug ist. Man hat Verständnis dafür, daß diese Frauen das Gefühl haben, ihnen könnte „die Decke auf den
Kopf fallen“. Wenn diese Frauen dann wieder eine Berufstätigkeit aufnehmen, so entspricht das durchaus den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Normen. Es gibt aber Frauen, die haben nicht die Mittel eine Berufstätigkeit
aufzunehmen. Sei es weil sie keine qualifizierte Ausbildung haben, aus anderen Gründen arbeitslos geworden sind oder aus ihrer familiären Situation heraus keine passende Stelle finden. Diesen Konflikt bezeichnet
die Soziologie als „anomische Situation“, an die sich die betroffenen Individuen anpassen müssen. Einige
wenden dies indem sie Volkshochschulkurse besuchen oder Sport treiben, andere ziehen sich enttäuscht
zurück. Der Medikamentenmißbrauch wird dann als Form des sozialen Rückzuges verstanden. Die kulturellen Ziele werden abgelehnt, um sich weitere Enttäuschungen zu ersparen. Dadurch fällt die medikamentenabhängige Hausfrau aus der Gesellschaft heraus, sie ist nur noch Bevölkerungsmitglied. Erst durch eine Behandlung kann sie sich wieder resozialisieren und in die Gesellschaft zurückkehren.
Die Subkulturtheorie beschreibt eine neue Form der Anpassung an ein Problem. Unter einer Subkultur
versteht man hier eine gemeinsame Problemlösung mehrerer Individuen. Das Beispiel der medikamentenabhängigen Hausfrau eignet sich hierzu nicht so gut, weil angenommen werden muß, daß medikamentenabhängige Menschen sich eher sozial isolieren und sich kaum mit ihresgleichen treffen. Der durch berufliche
Belastungen zum Trinker gewordene Ehemann allerdings geht zum Trinken an den Kiosk um die Ecke, wo
ihm andere Menschen begegnen, die beruflich gescheitert sind und infolgedessen zu Trinken begonnen haben. Es bilden sich also Gruppen von Saufkumpanen, die aus Unzufriedenheit mit der eigenen Situation in
der Gesellschaft die allgemein gültigen Werte und Normen in das Gegenteil verkehren. Das beste Beispiel
hierfür liefert uns die Drogenszene, in der oftmals völlig eigene Normen und Verhaltensweisen vorkommen.
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Fazit der gesellschaftskritischen Überlegungen
Als gesellschaftskritisches Fazit zur Suchtproblematik kann man zunächst sehen, daß die bestehenden
Gesellschaftsordnungen mit ihren Institutionen die Menschen und deren Charakter maßgeblich beeinflussen
und prägen. Dies wird zumeist von den Individuen in deren Alltag kaum bemerkt. Da aber heute die soziale
Welt immer früher in die Entwicklung der zukünftigen Generation eingreift, stellt man durch die wissenschaftliche Analyse fest, daß auch das unbewußte Gefühlsleben und die Persönlichkeitsstruktur immer mehr von
den gesellschaftlichen Institutionen geprägt werden. Die heutige Gesellschaftsordnung greift durch die Medien
und die Bildungsangebote schon viel früher in die Entwicklung junger Menschen ein. Der Einfluß der Familie
geht zurück, weil einerseits die Familie in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr geschwächt und die öffentlichen Institutionen gestärkt wurden. Fernsehprogramme für Zweijährige sind nichts ungewöhnliches mehr.
Institutionalisierte Erziehung fängt heute bei kleinen Kindern oft schon im ersten Lebensjahr an. Der Verlauf
der öffentlichen Erziehung sieht heute so aus: Mutter-Kind-Gruppe (Pekip) ab dem sechsten Lebensmonat –
Krabbelgruppe ab dem ersten Lebensjahr – Kindergarten ab drei – Grundschule ab sechs ..usw. Um sich
später in dieser postmodernen Gesellschaft1 zu orientieren, ist es von Vorteil, an diesen Erziehungsangeboten teilzunehmen, denn die Kinder werden später mehr und mehr darauf angewiesen sein, soziale Beziehungen aktiv zu gestalten.
In diesen Zusammenhängen müssen Kinder lernen, was in der Konsumgesellschaft gefährlich ist und was
ungefährlich ist. So gesehen fängt Suchtvorbeugung schon im Kleinkindalter an.
Die bestehende Gesellschaftsordnung bietet den Menschen großen Wohlstand, Rechtssicherheit und ein
hohes Maß an Freiheit. Diesen positiven Ergebnissen langer Entwicklungsprozesse stehen allerdings eine
große Anzahl „unerwünschter Nebenwirkungen“ gegenüber. Diese Nebenwirkungen werden untersucht,
wenn man sich wissenschaftlich mit der Gesellschaft befaßt. Daher ist eine Gesellschaftsanalyse immer auch
Gesellschaftskritik. Die Ergebnisse der Gesellschaftskritik können dann in Politik umgesetzt werden, die dann
versuchen kann die unerwünschten Nebenwirkungen aufzufangen. So wäre es eben auch die Aufgabe der
Sucht- oder Abstinenzverbände, sich mit den gesellschaftlichen Ursachen und Folgen des Suchtmittelgebrauches auseinanderzusetzen und mit den Ergebnissen die Politk zu beeinflussen. Die Selbsthilfegruppen
haben es geschafft ein gut funktionierendes Hilfeleistungssystem für die von Alkoholismus betroffenen Menschen aufzubauen. In ihrer politischen Wirkung hingegen bleiben sie relativ schwach. Möglicherweise liegt in
der politischen Artikulation und Aktion die Zukunft der Selbsthilfegruppen und Suchtverbände.
Zusammenfassen läßt sich folgendes sagen: Der Mensch wird in eine bestehende Gesellschaftsordnung
hinein geboren, die bereits das Erziehungsverhalten und die Persönlichkeitsstruktur seiner Eltern geprägt hat.
Je nachdem wie sich diese Gesellschaftsordnung auf seine Eltern ausgewirkt hat, so wird seine Persönlichkeitsstruktur durch das Erziehungsverhalten der Eltern geprägt. In diese Erziehung durch die Familie greift die
Gesellschaft schon früh ein und verstärkt die positiven und negativen Einflüsse von zu Hause. Später, als
Heranwachsender und als Erwachsener, trifft der Mensch dann wieder auf die „unerwünschten Nebenwirkungen“ der bestehenden Gesellschaft. Je besser er als Kind nun darauf vorbereitet wurde, um so besser
kann er diese Konflikte als Erwachsener bewältigen. Wenn also ein Mensch während seiner Kindheit nicht
gelernt hat, kritisch mit den Konsumangeboten der Gesellschaft umzugehen, so wird dieser Mensch als Erwachsener dazu neigen die Probleme und Krisen des Alltagslebens durch Konsum zu lösen. So gesehen
sind dann der Alkohol oder die Droge die klassischen Problemlösungsmittel einer unkritischen Konsumgesellschaft.
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Unter dem Begriff postmoderne Gesellschaftsordnungen werden die weiter oben beschriebenen Strukturen, Konsumgesellschaft, Risikogesellschaft und Informationsgesellschaft Zusammengefaß. Der Bgriff fand durch den deutschen Soziologen Ulrich Beck in den achziger Jahren verbreitung (Beck, Risikogesellschaft,1986)
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