Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 11 – 29. August 2011 – Aussenpolitik _________________________________________________________________________ Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen Ein wenig bekanntes Instrument für Gewerkschaften zur Durchsetzung der Rechte von Arbeitnehmenden multinationaler Konzerne Die Revision der OECD-Leitsätze, die Ende Mai 2011 vom OECD-Ministerrat verabschiedet wurde, stärkt die Verantwortung der multinationalen Unternehmen im Bereich der Menschenrechte und der Lieferkettenkontrolle. Die Leitsätze gewinnen bei grösserem Bekanntheitsgrad, denn die Gewerkschaften können diese bei einer mutmasslichen Verfehlung eines multinationalen Unternehmens einsetzen. Die OECD-Leitsätze sind Empfehlungen, die 30 OECD-Mitgliedstaaten sowie 12 weitere Staaten an die multinationalen Unternehmen richten. Sie enthalten freiwillige Normen für ein verantwortungsvolles Verhalten der multinationalen Unternehmen in mehreren Bereichen: Beschäftigung und Arbeitnehmerrechte, Menschenrechte, Umwelt, Offenlegung von Informationen, Wettbewerb, Besteuerung, Korruptionsbekämpfung, Wissenschaft und Technologie. Obwohl sie rechtlich nicht bindend sind, haben die Leitsätze dennoch einen klar ersichtlichen Wert: Es sind die einzigen vollständigen Regeln über korrektes Unternehmensverhalten im Rahmen der internationalen Investitionen, die von den Regierungen multilateral genehmigt wurden. Da die Wirtschaft sich immer stärker globalisiert, gewinnen die Leitsätze an Bedeutung, insbesondere für die Schweiz, die das Land mit den höchsten Pro-Kopf-Investitionen im Ausland ist. Der Wert der Leitsätze geht aus zwei Gründen noch über den freiwilligen Verhaltenskodex der Unternehmen hinaus: Erstens beziehen sie die Verantwortung der Regierungen ein, und zweitens werden sie durch ein richtiges Umsetzungsverfahren gestützt. Im Juni 2000 wurde eine wichtige Revision der Leitsätze verabschiedet, die insbesondere die Ausdehnung des Geltungsbereichs auf Länder, deren Regierungen die Leitsätze nicht angenommen haben – beispielsweise China und andere Entwicklungsländer – sowie die Berücksichtigung aller grundlegenden Arbeitsnormen beinhaltete. Verbessert wurden auch die Kapitel zur Offenlegung von Informationen, zur Korruption und zur Umwelt. Die kürzlich abgeschlossene Revision verbessert klar den Inhalt der Leitsätze, der nun ein neues Kapitel zu den Menschenrechten umfasst und die Verantwortung der Unternehmen gegenüber ihren Lieferanten (Supply Chain oder Lieferkette) stärkt. Das Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 11 – 29. August 2011 – Aussenpolitik _________________________________________________________________________ Kapitel zur Arbeit wurde an die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation angepasst, und jenes zur Umwelt bezieht den Klimawandel besser ein. Das Umsetzungsverfahren bleibt ungenügend Für die Umsetzung der Leitsätze haben sich alle beteiligten Staaten verpflichtet, einen Nationalen Kontaktpunkt (NKP) einzurichten, dessen Aufgabe darin besteht, die Leitsätze bei den internationalen Unternehmen zu fördern, aber auch, ein Verfahren einzuleiten, wenn Missachtungen gemeldet werden. Der Schwachpunkt der vorliegenden Revision ist, dass sie Struktur, Rolle und Funktionsweise der NKP nur sehr geringfügig verbessert hat. So sind bei Verfehlungen immer noch keine Sanktionen vorgesehen, und es ist nicht einmal obligatorisch, eine Verletzung der Leitsätze anzuzeigen, obwohl manche NKP, zum Beispiel in Grossbritannien, das tun. Der NKP der Schweiz – dem regelmässig Fälle gemeldet werden – versteht sich lediglich als Schlichtungsstelle zwischen den Parteien. Ein weiteres Problem ist, dass die Staaten weiterhin einen zu grossen Handlungsspielraum bei der Strukturierung ihrer Nationalen Kontaktpunkte haben. Während diese in mehreren Ländern tripartit (unter Einbezug der Sozialpartner) oder sogar quadripartit (plus NGO) aufgebaut sind, ist der NKP Schweiz eine reine Regierungsinstanz. Da er dem Seco, Ressort Internationale Investitionen und multinationale Unternehmen, angegliedert ist, verfügt er nicht über die zur Vermeidung von Interessenkonflikten erforderliche Unabhängigkeit. Deshalb fordert Travail.Suisse, dass der NKP Schweiz umstrukturiert wird und vermehrt die Sozialpartner und allenfalls auch unabhängige Experten einbezieht. Diese Entwicklung, die angesichts der zunehmenden Bedeutung der internationalen Investitionen nötig ist, hat auch zur Folge, dass die finanziellen und personellen Ressourcen des NKP Schweiz aufgestockt werden müssen. In den Fällen, die dem NKP Schweiz gemeldet werden1, tritt dieser lediglich als Schlichtungs- und Dialoginstanz auf, was klar ungenügend ist. Deshalb hat Travail.Suisse verlangt, dass der NKP Schweiz nach Abschluss eines Falls zumindest eine Empfehlung publiziert, welche die Verstösse gegen die Leitsätze – falls vorhanden – aufführt und die zuwiderhandelnde Partei auffordert, diese zu beheben. Das wäre zumindest ein erster Schritt in Richtung Urteil oder klare Stellungnahme, wenn die Leitsätze verletzt werden. 1 Gemäss seinem Jahresbericht 2010/2011 hat sich der Nationale Kontaktpunkt Schweiz mit mehreren Fällen befasst: Konflikte in Zusammenhang mit der Schliessung von Produktionsstandorten von Triumph International in Thailand und auf den Philippinen, doch der vom NKP Schweiz angebotene Dialog führte zu keinem positiven Ergebnis. Im Oktober 2010 wurden dem NKP Schweiz drei verschiedene Fälle von Kinderarbeit bei Lieferanten von Schweizer Firmen in Usbekistan vorgelegt. Das Verfahren läuft. Schliesslich wurde im April 2011 ein Fall gemeldet, bei dem Vorwürfe gegen eine Tochterfirma eines schweizerisch-kanadischen Unternehmens in Sambia erhoben wurden. Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 11 – 29. August 2011 – Aussenpolitik _________________________________________________________________________ Travail.Suisse hat auch mehrfach verlangt – bisher allerdings ohne wirklichen Erfolg –, dass Schweizer Unternehmen, die Exportrisikogarantien erhalten, sich ausdrücklich verpflichten, die Leitsätze einzuhalten. Das ist beispielsweise in den Niederlanden oder Frankreich der Fall. Die Arbeit des Seco zur Bekanntmachung der Leitsätze bei den Schweizer Exportunternehmen ist zwar lobenswert, reicht aber nicht aus, um den Unternehmen ihre soziale Verantwortung wirklich begreiflich zu machen. Das gilt insbesondere, wenn sie in Ländern tätig sind, wo die grundlegenden Arbeitsrechte, die Menschenrechte und die Umweltnormen noch sehr lückenhaft umgesetzt werden. Denis Torche, Leiter Aussenpolitik, Travail.Suisse Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 11 – 29. August 2011 – Aussenpolitik _________________________________________________________________________ Travail.Suisse, Hopfenweg 21, 3001 Bern, Tel. 031 370 21 11, [email protected], www.travailsuisse.ch