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Pressezentrum
Dokument 2752 MA
Sperrfrist:
Samstag, 31. Mai 2003; 16:00 Uhr
Veranstaltung:
Themenbereich Werkstatt Christen und Juden
Titel:
Biomedizin am Lebensanfang
Referent/in:
Prof. Dr. Ulrich Körtner, Wien/Österreich
Ort:
Universität der Künste, Konzertsaal (Charlottenburg)
Programm Seite:
85
Unbestimmtheit des Lebensanfangs und biblisches Zeugnis
1. Der evangelische Theologe W. Trillhaas hat Ethik als „in jedem Sinne angewandte
Anthropologie“ charakterisiert. Die im Thema formulierte Frage greift allerdings zu kurz, weil
es nicht das christliche Menschenbild und das jüdische Menschenbild gibt, sondern religiös
und weltanschaulich geprägte Menschenbilder in unterschiedlichen Variationen. Die übliche
Rede von dem christlichen Menschenbild stellt also eine Vereinfachung dar. Gewiß gibt es
grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Konfessionen, was die Sicht des
Menschen, seiner Größe und seines Elends, seiner Bestimmung, seiner Not und seiner
Verheißung betrifft. Doch zwischen den Sichtweisen der großen christlichen Traditionen
bestehen durchaus signifikante Unterschiede. Die christliche Sicht des Menschen weist also
eine gewisse Pluralität auf, die z.T. sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es
sachgemäßer, statt von dem christlichen Menschenbild von christlichen Menschenbildern im
Plural zu sprechen. Der ökumenische und interreligiöse Diskurs über Fragen der Ethik hat
diesem Umstand Rechnung zu tragen.
2. Im Judentum werden im Blick auf den Lebensanfang des Menschen Positionen vertreten,
die zwar im Widerspruch zur lehramtlichen Position der römisch-katholischen Kirche stehen,
jedoch auch von evangelischen Ethikern eingenommen werden. Es ist gerade das von der
evangelischen Theologie betonte Kriterium der Schriftgemäßheit, welches unterschiedliche
Sichtweisen des Lebensanfangs zuläßt, weil die biblischen Grundlagen einer christlichen
Anthropologie keineswegs so eindeutig sind, wie es kirchliche Stellungnahmen häufig
unterstellen.
3. In diesem Zusammenhang muß auch ein eklektizistischer Umgang kirchlicher
Verlautbarungen mit biblischen Texten kritisiert werden. Die stereotype Zitation von Gen
1,26, die kurzschlüssige Gleichsetzung der Gottebenbildlichkeit mit dem seinerseits
klärungsbedürftigen Personbegriff und seine umstandslose Übertragung auf Blastozysten
sind kaum das Ergebnis solider Exegese. Die eingehende Beschäftigung mit den
Ergebnissen wissenschaftlicher Bibelauslegung, die auf die Vielschichtigkeit biblischer
Aussagen über den Lebensbeginn hinweist, sucht man in den ökumenischen Texten zu
Bioethik vergebens.
4. Die wissenschaftliche biblische Exegese weist darauf hin, daß der Gedanke der
Gottebenbildlichkeit kein Allgemeingut biblischen Denkens ist, sondern sowohl im Alten
Testament bzw. der jüdischen Bibel als auch im Neuen Testament eine theologische
Spitzenaussage ist, die – das mag überraschen – eine allenfalls marginale Rolle spielt. Auch
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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wenn das systematisch-theologische Gewicht derartiger Aussagen in keiner Weise
geschmälert werden soll, ist doch zu beachten, daß die Bibel zumal das Alte Testament vom
Lebensbeginn „nicht nur auf der Ebene theologischer Begründungen, sondern viel konkreter,
auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung alltäglicher Phänomene wie Zeugung,
Schwangerschaft und Geburt“ (H. Utzschneider) redet. Von der Bibel ist zu lernen, wie
theologische Aussagen lebensweltlich eingebettet und vermittelt werden müssen.
5. Es ist exegetisch höchst problematisch, wenn ontologische oder metaphysische
Grundannahmen in biblische Texte eingetragen werden, um diese einer systematischtheologischen Gesamtinterpretation biblischer Theologie dienstbar zu machen. Texte wie
Ps 139 oder Hiob 10 lassen sich gerade nicht ohne weiteres mit kirchlichen Positionen zur
Bioethik kurzschließen. Vor allem widerspricht es den biblischen Texten, wenn der
ontologische und moralische Status von Embryonen abstrakt diskutiert wird. Der Mensch
wird vielmehr als ein Beziehungswesen gesehen, dessen Menschwerdung und Leben ein
Prozeß und ein Beziehungsgeschehen sind.
6. Aus biblischer Sicht ist der Lebensbeginn „ein dreidimensionales Geschehen:
1. Der Mensch geht aus der intimen Gemeinschaft der Eltern hervor, wächst im Mutterleib
heran und bringt sein Leben in die größere Gemeinschaft der Familien und Sippen ein. In
dieser Gemeinschaft ist er von seiner Zeugung an aufgehoben (soziale Dimension).
2. Der Lebensbeginn ist an stoffliche, wir würden sagen: ‚natürliche’ Substrate gebunden,
den Samen und den Mutterleib. In dieser stofflichen Umgebung und aus ihr heraus wird der
Mensch, wie es gelegentlich in einer durchaus technischen Metapher (vgl. Dtn 25,9) heißen
kann, ‚gebaut’ (biologische Dimension).
3. Der Mutterleib ist schließlich auch der diskrete Ort, an dem durch göttliches Wirken,
jedenfalls aber auf wunderbare und unverfügbare Weise das Individuum, die Person gebildet
wird, die später zu sich selbst ‚Ich’ zu sagen vermag (‚schöpfungstheologische’ Dimension).
In allen drei Dimensionen ist der Lebensbeginn kein isolierbarer Augenblick, kein Zeitpunkt,
sondern eine Lebensphase, ein Prozeß, in dem der Mensch biologisch Gestalt gewinnt, sie
über seine Eltern einem sozialen Kontext einstiftet und – in der Rückschau des Erwachsenen
– durch Gottes Schöpferhand seine Personalität und Individualität, seine Würde, empfängt“
(H. Utzschneider, S. 139f).
7. Die von den Kirchen in Deutschland eingenommene Position, wonach mit der
Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle bereits ein neues menschliches Individuum, ein
Mensch bzw. ein menschliche Person existiert, läßt sich allein auf biblischer Grundlage gar
nicht hinreichend begründen. Sie läßt sich aber auch naturwissenschaftlich bzw.
embryologisch nicht zwingend begründen, sondern operiert mit einer Reihe von
philosophischen bzw. ontologischen Zusatzannahmen. Das ist eine legitime, jedoch
keineswegs die einzig mögliche Position im Streit um den ontologischen, moralischen und
rechtlichen Status von befruchteten Eizellen oder von Embryonen.
8. Überhaupt zeigt eine Durchsicht der verschieden Positionen, die in der Frage des Status
von Embryonen eingenommen werden, daß ihre Bedeutung für die bioethische
Entscheidungsfindung häufig überschätzt wird. Die Alternative besteht nicht zwischen der
vermeintlich objektiven Grenzziehung bei der Kernverschmelzung und anderen, scheinbar
willkürlichen Definitionen des Lebensanfangs, da in jedem Fall empirischnaturwissenschaftliche Daten und anthropologische Deutung zu unterscheiden sind. Keine
der eingenommenen Positionen kommt deshalb ohne Zusatzannahmen aus.
9. Was wir sehen, ist immer mehr als die bloße Empirie. Ob wir in einem Embryo lediglich
einen Zellhaufen oder aber einen werdenden Menschen sehen, hängt immer schon von
unseren Intentionen und Deutungsmustern ab. Wer freilich die Charakterisierung von
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Embryonen als „Zellhaufen“ kritisiert und kritisch betont, daß mit Sprache Politik gemacht
wird, sollte selbstkritisch einräumen, daß auch die in kirchlichen Stellungnahmen
anzutreffende Sprachregelung, wonach es sich bei Embryonen und sogar schon bei
befruchteten Eizellen (Zygoten) um „embryonale Menschen“ handelt, eine Form der
Sprachpolitik ist, die als gegeben annimmt, was allererst zu beweisen wäre.
10. Die für die katholische Position grundlegende Instruktion „Donum vitae“ der Kongregation
für die Glaubenslehre (1987) erklärt die Lehre, mit der Befruchtung der Eizelle beginne das
Leben eines neuen menschlichen Wesens, das bereits Person sei und eine „Geistseele“
besitze, für verbindlich. Wenngleich diese nicht aus den experimentellen Ergebnissen der
Embryologie zu beweisen sei, lieferten diese jedoch „einen wertvollen Hinweis, um mit der
Vernunft eine personale Gegenwart schon von diesem ersten Erscheinen eines
menschlichen Wesens an wahrzunehmen.“ Suggestiv wird die Frage angeschlossen: „Wie
sollte ein menschliches Individuum nicht eine menschliche Person sein?“ Auch wenn sich
das katholische Lehramt „nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festgelegt“
habe, sei diese im Kontext der Abtreibungsproblematik entwickelte Lehre „unveränderlich“.
11. Die Gleichsetzung von Zygoten – gleich ob in vivo oder in vitro – mit voll entwickelten
Menschen läuft freilich auf eine petitio principii hinaus. Bereits die gemeinsame Erklärung
von EKD und Deutscher Bischofskonferenz „Gott ist ein Freund des Lebens“ aus dem Jahre
1989, der sich die übrigen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft christlicher
Kirchen angeschlossen haben, gibt daher Anlaß zu kritischen Rückfragen. Diese
Stellungnahme, die für die späteren gemeinsamen Texte zur Bioethik von grundlegender
Bedeutung ist, behauptet eine Übereinstimmung zwischen biblischer Anthropologie und
moderner Embryologie. Diese habe „zu dem eindeutigen Ergebnis“ geführt, daß „von der
Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle an“ ein neues und individuelles menschliches
Lebewesen vorliege. Sodann wird gefolgert, daß diesem menschlichen Lebewesen, d.h.
bereits der Zygote, in vollem Umfang der Personstatus und damit Menschenwürde
zukomme. Diese Einsicht gelte gleichermaßen für Embryonen in vivo wie in vitro. Daher
seien an Embryonen in vitro allenfalls Heilversuche zulässig, keinesfalls aber Eingriffe, die
ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nähmen, also z.B. die Gewinnung von humanen
embryonalen Stammzellen aus der inneren Zellmasse der Blastozyste. Bereits 1989
erklärten die Kirchen gemeinsam: „Schon die kleinste Bewegung in Richtung auf die
Zulassung ‚verbrauchender’ Forschung an Embryonen überschreitet eine wesentliche
Grenze.“ Letzten Endes gehe es beim Embryonenschutz um die Einhaltung von Art. 1 und 2
des deutschen Grundgesetzes. Doch gibt es hierzu eine differenzierte verfassungsrechtliche
Debatte. Im übrigen sollte auch die unterschiedliche verfassungsrechtliche Situation in den
übrigen Ländern Europas nicht außer Acht gelassen werden.
12. Das bisherige Modell einer Konsensökumene der Kirchen stößt nicht nur auf dem Gebiet
der Glaubenslehren (Dogmatik), sondern auch auf dem Gebiet der Ethik an seine Grenzen.
Von einer nahtlosen Übereinstimmung in Fragen der Bioethik am Lebensanfang, wie es in
Deutschland von Kirchenleitungen immer wieder behauptet wird, kann jedenfalls bei
genauerer Betrachtung keine Rede sein, es sei denn, man wollte nur die bioethischen
Positionen des Rates der EKD als authentische protestantische Stimme gelten lassen.
13. Gerade wenn gefordert wird, daß christliche Positionen in anthropologischen und
ethischen Fragen biblisch begründbar sind, kann dies nicht ohne wenn und aber die einzig
denkbare evangelische Position sein. Abgesehen davon, daß die evangelische Kirche die Invitro-Fertilisation keineswegs generell ablehnt, ist jedoch die Frage, wann das Leben eines
Menschen beginnt, nicht nur embryologisch, sondern auch philosophisch und theologisch
schwer zu beantworten. Mehrheitlich wird auch in der evangelischen Kirche die Position
vertreten, das Leben des Menschen beginne mit der Befruchtung, genauer: mit der
Verschmelzung der Vorkerne. Anthropologisch muß man aber wohl von einer
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Unbestimmtheit des Lebensanfangs sprechen, die sich auch durch theologische Argumente
nicht beseitigen läßt. Dies tut z.B. die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Österreich zu
Fragen der Bioethik „Verantwortung für das Leben“ (2001).
14. Bei dieser Unbestimmtheit des Anfangs handelt es sich nicht etwa nur um eine
empirische, etwa durch noch bestehende Wissenslücken der embryologischen Forschung
begründete Unbestimmbarkeit, sondern um eine erkenntnistheoretisch-prinzipielle. Zwar war
jeder geborene Mensch an seinem Anfang eine Zygote, aber nicht jede befruchtete Eizelle
entwickelt sich zu einem Menschen. Mit einem plumpen Biologismus oder einem
naturalistischen Fehlschluß, wie gelegentlich unterstellt wird, hat diese Feststellung gar
nichts zu tun. Im Gegenteil ist es abstrakter Biologismus, wenn Potentialitäts- und
Kontinuitätsargumente, die man für die Zygote in vivo diskutieren kann, unbesehen auf
befruchtete Eizellen in vitro übertragen werden, zumal sie sich isoliert von einem
mütterlichen Umfeld (Gebärmutter) gar nicht zu einem Menschen entwickeln können. Zwar
war jeder geborene Mensch einmal eine befruchtete Eizelle, aber nicht jede befruchtete
Eizelle wird zum Menschen. Wer isolierten Zygoten in vollem Umfang Menschsein zuspricht,
ohne z.B. den gesetzlichen Zwang zu ihrem Transfer zwecks Schwangerschaft oder ein
Verbot von Nidationshemmern zu fordern, verwickelt sich in gravierende Widersprüche.
15. Daraus folgt keineswegs, sich von einem möglichst strikten Embryonenschutz zu
verabschieden. Im Gegenteil: Wenn jede Festlegung eines Zeitpunktes mehr oder weniger
willkürlich erfolgt, sprechen gute Gründe dafür, gerade deshalb einen vorsorglich
frühestmöglichen und umfassenden Schutz werdenden Lebens zu fordern und auch
gesetzlich zu verankern. Das entbindet uns aber nicht davon, im Einzelfall, z.B. im Fall des
Schwangerschaftskonfliktes, Abwägungen vornehmen zu müssen. Um derartige
Abwägungen kommt man m.E. auch auf dem Gebiet der Stammzellenforschung nicht herum,
zumindest dann nicht, wenn es sich um die Stammzellen von „überzähligen“ Embryonen
handelt, d.h. von solchen, die bei der In-vitro-Fertilisation angefallen sind, aber aus
medizinischen Gründen nicht mehr für die Reproduktionsmedizin verwendet werden.
(Ethisch ist dies die Position eines gemäßigten Tutiorismus.)
16. Zweifellos besteht die Gefahr, daß intendierte Handlungsoptionen in die ethische
Begründung einfließen können. Das gilt aber für jede der im Streit um den Status von
Embryonen eingenommenen Positionen. Die Statusfrage ist zwar ein unumgängliches
Element der bioethischen Urteilsbildung, aber nicht die entscheidende Lösung z.B. für das
Problem der Gewinnung und Verwendung von embryonalen Stammzellen. So wird die
ethische Legitimität einer Güterabwägung im Fall der Gewinnung von humanen embryonalen
Stammzellen keineswegs nur von solchen Ethikern behauptet, die der Zygote oder dem
Embryo den Personstatus absprechen, sondern z.T. auch von solchen Ethikern anerkannt,
die bereits der Zygote den Personstatus zuerkennen wollen, aber z.B. eine Analogie
zwischen der Gewinnung von embryonalen Stammzellen von überzähligen Embryonen und
der Organentnahme bei Hirntoten sehen.
Weiterführende Literatur:
Anselm, R./Körtner, U. (Hg.), Streitfall Biomedizin. Orientierung in christlicher Verantwortung,
Göttingen 2003
Körtner, U.: Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik,
Neukirchen-Vluyn 2001
Utzschneider, H.: Der Beginn des Lebens. Die gegenwärtige Diskussion um die Bioethik und das Alte
Testament, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 46, 2002, S. 135-143
Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin, im Auftrag
des Evangelischen Oberkirchenrats A. und H.B. der Evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich
erarbeitet von Ulrich H.J. Körtner in Zusammenarbeit mit Michael Bünker, Wien 2001
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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