Redebeitrag von Siegfried Helias

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EU-Erweiterung:
Chancen und Risiken einer Mitgliedschaft der Türkei
11. März 2003, 19.00 Uhr
Paul-Löbe-Haus, Europa-Saal (Raum 4.900)
Redebeitrag von Siegfried Helias, MdB
„Projekt Europa“ - Weichenstellung für die Zukunft
Mit Prof. Dr. Heinrich Winkler von der Humboldt-Universität bin ich der
Meinung, dass Europa einer Grundsatzdebatte bedarf - einer Debatte über die
Grenzen der Erweiterbarkeit der Europäischen Union, über ihre Identität und
ihre Zukunft. Und ich bin auch der Meinung, dass wir uns für diese Debatte Zeit
nehmen sollten.
Als 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, bestand
sie aus sechs Staaten, die alle zum historischen Okzident gehörten: Frankreich,
die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und
Luxemburg. Dasselbe gilt für die Staaten, die bisher der Europäischen
Gemeinschaft beigetreten sind - mit einer einzigen Ausnahme: Griechenland,
das 1981 Mitglied der EG wurde, ist ein Teil des byzantinisch geprägten
Europas.
Die ehedem kommunistische regierten Staaten Ost-, Mittel- und Südosteuropas,
die aufgrund der Beschlüsse des Kopenhagener Gipfels vom Dezember 2002 im
Jahr 2004 in die Europäische Union aufgenommen werden können, gehören
zum historischen Okzident.
Langfristig sollen alle südosteuropäischen Demokratien, auch die islamisch
geprägten, eine Beitrittsperspektive haben.
Der Beitritt der Türkei ist also kein abstraktes Gedankenspiel. Das zeigt ein
Blick in die Vergangenheit. So wurde im September 1963 ein
Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
und der Türkei unterzeichnet. Bereits hier wurde der Türkei eine spätere
Vollmitgliedschaft in Aussicht gestellt.
Die Türkei gehört seit 1952 dem Atlantischen Bündnis an, ist also, militärisch
gesehen, ein Land des Westens. Eine enge Verbindung mit Westeuropa lag
schon deshalb im beiderseitigen Interesse.
1995 - ein weiterer Punkt der bisherigen gemeinsamen Wegstrecke beschlossen die EU und die Türkei die Bildung einer Zollunion.
Im nächsten Schritt einigten sich Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union im Dezember 1999 darauf, der Türkei den Kandidatenstatus zu gewähren.
Kritiker geben zu bedeuten, mit der Türkei ein Land Mitglied der EU werden
würde, das geographisch überwiegend nicht zu Europa gehört und dass sich die
politische Kultur der Türkei zu sehr von der des Westens unterscheiden würde.
Andererseits gilt festzuhalten, dass die Türkei der einzige durch freie Wahlen
legitimierte, rein weltliche Nationalstaat im islamischen Nahen Osten ist.
Das Problem des türkischen Beitritts ist die Nagelprobe für die Zukunft des
Projekts Europa. Die „türkische Frage“ erzwingt nicht nur aus meiner Sicht eine
längst überfällige Debatte über die „europäische Frage“. Diese Frage betrifft
auch die Außengrenzen und die Identität der Europäischen Union.
So fragte die FAZ am 19. Februar 2003 nach der Sinnhaftigkeit der EU. Sind
wir eine Wirtschafts- oder Wertegemeinschaft? Die Frage des Beitritts der
Türkei entscheidet auch über den künftigen Weg Europas.
Wir haben also eine historische Weichenstellung vor uns.
Rächt es sich jetzt, dass die Europäer sich allzu geschäftig auf die technische
Organisation ihrer wachsenden Gemeinschaft konzentrieren und die Diskussion
über die politischen Ziele, die gemeinsamen Werte und Überzeugungen und
über ihre Vision von der künftigen Rolle und Beschaffenheit Europas
vernachlässigen?
Gerade weil Europa sich in den letzten Jahren kaum selbstbewußt als Werteund Kulturgemeinschaft ausgewiesen hat, erscheint die EU nach außen in erster
Linie als Gemeinschaft zur Organisation wirtschaftlicher Interessen und damit
weitgehend als kultur- und wertneutral.
Die ökonomischen Vorteile gerade für Länder, deren Wirtschaftskraft noch
erheblich hinter dem Durchschnitt der EU zurückbleibt, haben eine große Zahl
von Beitrittskandidaten und Verhandlungswünschen hervorgerufen, zum Teil
von Ländern, an die man bei der Gründung der ursprünglichen EWG als
Mitglied der Gemeinschaft nie gedacht hätte.
Je weniger sich die EU als Wertegemeinschaft profiliert, desto rascher muss sich
die Vorstellung ausbreiten, dass der Zutritt nur über wirtschaftliche Kennziffern
geregelt wird.
Der EU-Vertrag bekennt sich allerdings ausdrücklich zur kulturellen Vielfalt
seiner Mitgliedstaaten. Eine kulturelle Abschottung ist in einer globalisierten
Welt nicht wünschenswert. Die EU ist keine Religionsgemeinschaft, sondern ein
Zusammenschluss von Staaten auf der Grundlage von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, dem Schutz der Menschenrechte und einer liberalen
Wirtschaftsverfassung.
Sollte die Türkei diese Anforderungen erfüllen, muss die Gemeinschaft ihr
genauso offen stehen, wie den übrigen mittel- und osteuropäischen Staaten.
Mein CDU-Bundestagskollege Reinhard Grindel hat kürzlich zu Recht darauf
hingewiesen, dass auch bei den EU-Beitritt Spaniens die alten Mitgliedsländer
große Sorgen wegen der Freizügigkeit gehabt hätten. Heute leben weniger
Spanier in den anderen EU-Ländern als vor 1986 und mehr Deutsche in Spanien
als Spanier in Deutschland leben. Angesichts von 3,4 Millionen deutsche
Touristen in der Türkei ist eine solche Entwicklung auch bezogen auf die Türkei
nicht auszuschließen.
Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wäre ein erheblicher Stabilitätsgewinn im
Verhältnis zu den 2,5 Millionen türkischen Mitbürger ergeben. Das wäre auch
ein glaubwürdiges Integrationsangebot an alle hier lebenden Türken und würde
gleichzeitig helfen, die fanatischen Auswüchse des Islamismus zu bekämpfen.
Die Türkei hat als NATO-Mitglied eine wichtige strategische Funktion. Wer ihr
die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft verwehrt, verhält sich widersprüchlich.
Man darf gegen die Türkei kein Kulturkampf „christliches Abendland gegen
Islam“ führen. Aus der Türkei stammen - geschichtlich betrachtet - wesentliche
Komponenten unseres europäischen Geschichts- und Kulturerbes.
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