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PD Dr. Steffen Augsberg
Organisatorischer Hinweis
Die korrigierten Probeklausuren können ab dem 15. August bei Herrn Leunig im Juristischen
Prüfungsamt (Raum 016) abgeholt werden.
Lösungshinweise:
Die Fallfrage bezieht sich auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesänderung. Das bedeutet
zunächst, daß das Gesetz sowohl auf seine formelle wie seine inhaltliche Verfassungsmäßigkeit zu untersuchen ist. Prinzipiell ist dabei in beiden Fällen auf die unterschiedlichen Bestandteile des Gesetzes (Erhöhung der 5%-Klausel und Streichen der Grundmandatsklausel)
abzustellen.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Formell verfassungsmäßig ist das Gesetz, wenn der Bund insgesamt zuständig für die Änderungen des Wahlrechts ist und keine Verfahrens- oder Formfehler vorliegen.
Vorliegend besteht für beide Änderungen eine (ausschließliche) Gesetzgebungskompetenz
des Bundes aus Art. 38 Abs. 3 GG; Verfahrens- oder Formfehler sind nicht ersichtlich.
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müßte aber auch inhaltlich mit den Vorgaben der Verfassung übereinstimmen.
Insoweit ist zwischen den unterschiedlichen Änderungen zu differenzieren.
1. Einführung der 6%-Klausel
Die Änderung ist verfassungswidrig, wenn die in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG niedergelegten Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der Gesetzesänderung entgegenstehen. Über die in Art. 21 GG garantierte Chancengleichheit der Parteien
könnte hieraus eine subjektive Rechtsverletzung resultieren.
Anmerkung: Die 5-%-Sperrklausel ist im einfachen Recht, nämlich im BWahlG enthalten.
Die Änderung des BWahlG ist am gesamten Verfassungsrecht zu messen. Damit ist hier
nicht nur auf den Demokratiegrundsatz in Art. 20 GG abzustellen, sondern ist hier vielmehr die Vereinbarkeit des geänderten Wahlgesetzes auch mit dem insoweit spezielleren
Art. 38 GG zu prüfen.
a) Möglich ist es, ganz grundsätzlich die Festsetzung einer prozentualen Quote – unabhängig
von deren Höhe –, unterhalb derer einer Partei der Einzug ins Parlament verwehrt wird, als
mit dem speziellen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unvereinbar zu qualifizieren. Die Gleichheit der Wahl ist im strengen Sinn formaler Gleichheit zu verstehen. Eine sol-
che formale Gleichheit beinhaltet zunächst sowohl Gleichheit der Chancen bei der Stimmabgabe, also bezüglich des Zählwertes der Stimme, als auch Gleichheit des Erfolgswertes jeder
Stimme. Die Festlegung einer Klausel, mittels derer Wahlergebnisse unterhalb einer bestimmten prozentualen Quote keine Auswirkung auf die Zusammensetzung des Parlamentes
haben sollen, reduziert aber den Erfolgswert der für diese Parteien abgegeben Stimmen auf
Null. Sie bildet insofern einen Beeinträchtigung der formalen Wahlrechtsgleichheit gem.
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.
b) Allerdings könnte diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden. Dagegen könnte
sprechen, daß sich mit der Erfolgswertgleichheit der demokratische Gedanke einer möglichst
breiten Repräsentation des Wählerwillens in der parlamentarischen Volksvertretung verwirklichen soll. Das GG legt aber nicht fest, ob ein Mehrheits- oder ein Verhältnismäßigkeitswahlrecht anzuwenden ist. In einer Mehrheitswahl entscheidet nur die Mehrzahl der
abgegebenen Stimmen über den jeweiligen Repräsentanten, der in das Parlament entsandt
wird, die übrigen Stimmen wirken sich insofern auf das Ergebnis nicht aus. Mit der Anerkennung des Mehrheitswahlprinzips geht mithin zwingend eine Abkehr von der reinen Erfolgswertgleichheit einher. Dennoch ist das Mehrheitswahlsystem als verfassungskonform anerkannt. Ungleichheiten im Erfolgswert der Stimmabgabe sind demnach nicht schlechthin ausgeschlossen.
Anmerkung: International finden sich sowohl Mehrheits- als auch Verhältniswahlrecht in
als demokratisch anerkannten Staaten. Ein Blick in das geltende Wahlrecht des Bundes,
das zur näheren Ausgestaltung der vom Grundgesetz nicht näher vorgeschriebenen Organisation und Durchführung der Wahlen erlassen wurde, zeigt, daß dieses eine Kombination von Mehrheits- und Verhältnismäßigkeitswahl vorsieht. Das geltende Bundeswahlrecht geht also davon aus, daß bei gleichem Zählwert der Stimmen ein gegebenenfalls unterschiedlicher Erfolgswert zulässig ist.
Sie stehen aber gleichwohl im Widerspruch zur grundsätzlichen Gleichheitsidee. Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung setzt daher einen verfassungsrechtlichen Gegengrund
voraus; es müssen sich verfassungsrechtliche Argumente für die Ungleichbehandlung finden
lassen. Hier könnte ein entsprechender verfassungslegitimer Zweck mit der Sicherstellung
der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes gegeben sein. Wahlen dienen keinem Selbstzweck,
sondern sollen funktionsfähige Repräsentationsorgane bilden. Eine vollständige Abschaffung
der Quote aber könnte das Aufkommen zahlreicher kleiner (Klientel-) Parteien begünstigen.
Eine konstruktive Konsensbildung, wie sie über die größeren Parteien erfolgt, würde damit
deutlich erschwert. Die historische Erfahrung und der Blick über die Bundesgrenzen hinaus
zeigt, daß zur Bildung stabiler Regierungsmehrheiten eine Koalition unter Einbezug zahlreicher kleinerer Parteien weniger geeignet ist. Ein legitimes Ziel der Regelung ist damit grundsätzlich gegeben. Die Einführung einer Quote ist insofern auch ein geeignetes, nicht
schlechthin untaugliches Mittel.
c) Demnach ist die allgemeine Einführung einer prozentualen Quote aus sachlichen Gründen
zulässig. Über die Höhe der Quote ist damit aber noch nichts gesagt. Sie muß sich erneut an
den beiden Vorgaben der Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Arbeit einerseits und
dem Erfordernis einer möglichst breiten Repräsentation des Wählerwillens andererseits orientieren und insofern verhältnismäßig sein. Insofern ist es verfassungsgerichtlich anerkannt,
daß die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine 5%-Hürde umfaßt, wenn diese die Entstehung regierungsfähiger Mehrheiten ermöglichen soll. Insoweit besitzt das gesetzgeberische Anliegen, das der bisherigen Regelung zugrunde lag, Verfassungsrang und rechtfertigt
die damit verbundene Einschränkung der Wahlfreiheit und der Chancengleichheit der Parteien.
d) Damit bleibt aber hier noch zu klären, ob solche hinreichenden sachlichen Gründe auch
für die vorliegend streitige Erhöhung der Quote von 5 auf 6 % gegeben sind. An dieser Stelle
dürfte beides vertretbar sein: Für die Zulässigkeit spricht der grundsätzlich akzeptierte Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers; gegen die Zulässigkeit indes die mittlerweile konsolidierte Parteienlandschaft, die es neu hinzukommenden Parteien ohnehin schwer genug
macht, sich zu etablieren und Parlamentsmandate zu erringen. Letztlich käme es wohl auf
die – hier dem Sachverhalt nicht entnehmende – Gesetzesbegründung an.
Anmerkung: Eindeutiger wäre dies, wenn etwa die Motivation der Wahlrechtsänderung darin läge, einen konkreten politischen Gegner aus dem Bundestag fernzuhalten.
Eine solche Auseinandersetzung muß politisch geführt werden; die Änderung des
Wahlrechts ist dafür kein angemessenes Mittel. Das Parteienprivileg des Art. 21 GG
fordert eine grundsätzlich gleiche Behandlung aller – auch der von anderen, konkurrierenden Parteien für verfassungsfeindlich gehaltenen – Parteien, solange sie nicht vom
BVerfG als verfassungswidrig verboten worden sind. Eine gesetzliche Regelung, deren
primäres Ziel in der Diskriminierung einer kleinen radikalen Partei liegt, ist damit nicht
vereinbar. Die Auseinandersetzung hat auf politischem, nicht rechtlichem Felde zu erfolgen.
Geht man von der Zulässigkeit aus, ist das Gesetz mithin verfassungswidrig, der Antrag zumindest insoweit unbegründet.
Zum Nachlesen: Zur Rechtsprechung des BVerfG zu Sperrklauseln: BVerfGE 1, S. 208 (hier
insbes. S. 241 ff.): 7,5-%-Klausel im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, darin u. a.
folgende Leitsätze: „[…] 9. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verlangt bei der
Mehrheitswahl nur gleichen Zählwert, bei der Verhältniswahl und bei MischWahlsystemen für den Verhältnisausgleich auch gleichen Erfolgswert der Stimmen.
10. a) Ausnahmen von der Gleichheit des Erfolgswertes sind aus besonderen zwingenden
Gründen zulässig. b) Als ein besonderer zwingender Grund ist […] anzusehen. […].“ und
BVerfGE 51, S. 222 (233 ff.): 5-%-Sperrklausel im Europawahlgesetz.
2. Abschaffung der Grundmandatsklausel
Die ersatzlose Abschaffung der Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 6 S. 1 BWahlG ist nur dann
verfassungswidrig, wenn die bisherige Regelung verfassungsrechtlich zwingend geboten ist.
a) Zunächst ist allerdings festzuhalten, daß die Grundmandatsklausel in der bisherigen Form
eine Ungleichbehandlung darstellt.
 Insofern wird zwar einerseits die Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit durch
die 5%-Klausel eingeschränkt.
 Zugleich erfolgt aber eine zusätzliche Ungleichbehandlung im Vergleich zu solchen
Parteien, die keine drei Grundmandate erringen konnten. Auch dies bedarf einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.
 Gegen die Grundmandatsklausel läßt sich anführen, daß damit das an sich ja verfassungskonforme Anliegen (Verhinderung von Splitterparteien, Sicherstellung regierungsfähiger Mehrheiten) geschwächt wird. Auf der anderen Seite kann allerdings
das Erringen von drei Mandaten nach Mehrheitswahlrecht (Erststimme) ein Hinweis
auf eine besondere (regionale) Relevanz einer Partei sein bzw. lieferte ein Indiz für
die dieser in der Bevölkerung entgegengebrachte besondere Unterstützung. Vor diesem Hintergrund wird die Grundmandatsklausel als verfassungskonform angesehen,
weil sie über mit der „Überwindung“ der 5%-Klausel den regional oder thematisch
besonders erfolgreichen Parteien eine weitergehende Beteiligung sichert und damit
ihre integrierende Funktion stärkt.
 Damit ist indes noch keine Aussage über die verfassungsrechtliche Erforderlichkeit
einer entsprechenden Regelung getroffen. Vielmehr ist lediglich von einer verfassungsrechtlich zu rechtfertigenden, damit aber nicht zwingenden gesetzgeberischen
Ausgestaltung auszugehen. Ebenso gut vorstellbar und verfassungsrechtlich tragfähig
ist eine Argumentation, die die regionale Verwurzelung als durch die unmittelbar gewonnenen Direktmandate hinreichend repräsentiert betrachtet und weitergehende
Bevorzugungen ablehnt.
Letztlich braucht hier nicht entscheiden zu werden, ob angesichts dieser Überlegung nicht
sogar die Grundmandatsklausel verfassungsrechtlich unzulässig ist. Zumindest liegt ihre ersatzlose Streichung gleichfalls innerhalb des Gestaltungsfreiraums des Gesetzgebers.
III. Ergebnis
Die Änderung des Bundeswahlgesetzes ist, soweit sie sich auf die Erhöhung der 5%-Klausel
bezieht, verfassungswidrig (a.A. vertretbar). Demgegenüber begegnet die Abschaffung der
Grundmandatsklausel keinen durchschlagenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
Zum Nachlesen: Ein ähnlicher Fall findet sich bei Degenhart, Klausurenkurs im Staatsrecht,
3. Aufl. 2005, Fall 6 (dort allerdings eine entsprechend umfangreiche fünfstündige Examensklausur, die gleichwohl in der Sache nur Grundkenntnisse des Staatsorganisationsrechts voraussetzt).
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