Partizipationskonzept der WG Schlatt, Verein Chupferhammer Verfasst von: Susanne Zwingli Robert Löpfe Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 2 von 10 Inhaltsverzeichnis 1 Definition Partizipation ....................................................................................................3 2 Wieso ist Partizipation wichtig? .......................................................................................4 3 Partizipation in der WG Schlatt .......................................................................................6 3.1 Partizipation, Voraussetzungen und Grundzüge .................................................... 6 3.2 Beispiele ................................................................................................................ 7 3.3 Tätigkeiten der BetreuerInnen ................................................................................ 8 Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer 1 Seite 3 von 10 Definition Partizipation Das Wort „Partizipation“ wird mit verschiedenen Begriffen übersetzt und erklärt. Die meistgenannten Begriffe in diesem Zusammenhang sind: Teilhabe, Mitbestimmung, Mitwirkung oder Beteiligung. Im sozialpädagogischen Alltag trifft man Partizipation in verschiedenen Zusammenhängen an. Soziologisch gesehen, bedeutet Partizipation, dass der einzelne Mensch an Entscheidungs- und Willensbildungsprozessen in der Gesellschaft oder in Organisationen (z.B. am Arbeitsplatz) teilnehmen kann. Dazu gehört beispielsweise, dass Stimmrecht oder die Möglichkeit am Arbeitsplatz bei gewissen Prozessen mitbestimmen und entscheiden zu können. Pädagogisch betrachtet bedeutet der Begriff Partizipation, die Einbeziehung der BewohnerInnen in Entscheidungen und Ereignisse, die das tägliche Zusammenleben betreffen. Im vorliegenden Konzept wird Partizipation vor allem von der pädagogischen Seite her betrachtet. Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer 2 Seite 4 von 10 Wieso ist Partizipation wichtig? Bereits im Leitbild und Konzept des Verein Chupferhammer ist Partizipation in verschiedenen Punkten erkennbar und ableitbar. Im Leitbild sind die folgenden beiden Punkte nachzulesen: «Mitbürgerinnen und Mitbürger, die als behindert bezeichnet werden, sind wertvolle Glieder unserer Gesellschaft und der Chupferhammer ermöglicht ihnen eine optimale Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben». Hier wird möglicherweise mehr der soziologische Aspekt angesprochen. Partizipation beginnt jedoch bereits im Kleinen, sprich in den eigenen vier Wänden. Die wertschätzende Haltung, die im obengenannten Punkt beschrieben wird, kann sich auch in Form von Partizipation ausdrücken. Wertschätzung heisst, sein gegenüber ernst zu nehmen, ihm zu zuhören, sich für seine Meinung interessieren, Kontakt haben, aushandeln können, Konflikte austragen usw. Dies alles sind wichtige Teile und Grundsätze der Partizipation. «Neben Rechten und Pflichten haben Personen mit geistiger oder psychischer Behinderung auch einen Anspruch auf geschützte, aber trotzdem offene Lebensräume, in denen sie ein ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprechendes, gutes und möglichst selbstbestimmtes Leben führen können.» In diesem Punkt des Leitbilds ist die tägliche Gratwanderung im Alltag mit den BewohnerInnen erkennbar. Lebensräume müssen Schutz bieten, Geborgenheit vermitteln und trotzdem offen und individuell sein. Die Lebensräume der WG Schlatt müssen unseren Bewohnern also ermöglichen ein möglich selbstbestimmtes Leben zu leben, in dem sie eigene Wünsche und Ziele verfolgen können. Hier ist wieder Partizipation gefragt, damit wir diese, im Leitbild verankerten Punkte umsetzen können. Im Konzept werden die beiden Prinzipien „Normalisierung“ und „Privatheit“ erwähnt. Das Normalisierungsprinzip beinhaltet kurz zusammen gefasst, dass ein erwachsener Mensch mit geistiger Behinderung sein Leben so normal wie möglich gestalten kann. Aus dieser Sicht kann man sich auch selber fragen, was entscheide ich in meinem Leben, respektive wer oder was entscheidet über mein Leben. Diese Gedanken können als Richtlinie betrachtet werden und auf das Leben unserer BewohnerInnen übertragen werden. Das Konzept hält zum Thema Privatheit fest, dass die Wohneinheiten in erster Linie das Zuhause der BewohnerInnen ist und nicht der Arbeitsplatz der BetreuerInnen. So ist die WG Schlatt das Zuhause der BewohnerInnen und darf folglich auch von ihnen und gemäss ihren Wünschen gestaltet werden. Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 5 von 10 Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen sind für jeden Menschen wichtig. Jeder Mensch hat das Recht, selber Entscheidungen zu treffen und bei Begebenheiten, die ihn betreffen mitzureden. Diese Entscheidungen sind natürlich immer im Zusammenhang mit dem Kontext zu treffen (z.B. gesellschaftliche Normen, WG, Mitbewohner). Partizipation ermöglicht, dass das eigene Leben kontrollierbar und beeinflussbar ist und nicht einfach „passiert“. Wenn über den Kopf von BewohnerInnen entschieden wird, kann das Gefühl entstehen, dass das eigene Leben unkontrollierbar und unbeeinflussbar ist. Die vorangehenden Punkte sollen uns die Wichtigkeit von Partizipation begründen und näherbringen. Das Bewusstsein, die innere Haltung, dass Partizipation wichtig und wertvoll ist im Leben eines jeden Menschen ist eine wichtige Haltung für die tägliche Arbeit mit unseren Bewohnern. Partizipation wird in unserem Alltag nicht immer einfach, gradlinig und erfolgreich verlaufen. Es kann auch ein schwieriger und mühsamer Prozess sein, in dem wir als Betreuer immer wieder gefordert sind, eigene Werte, Vorstellungen und Ideen hinten anzustellen. Genau und vor allem für diese Momente, ist das Bewusstsein, die Überzeugung, weshalb Partizipation in unserem Leben wichtig ist, entscheidend. Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer 3 Seite 6 von 10 Partizipation in der WG Schlatt Die WG Schlatt ist für die BewohnerInnen als ein klar abgegrenzter sozialer Raum mit eigenem Alltag und eigener Geschichte zu erkennen. Das ist eine günstige Voraussetzung für die Arbeit an einem Ort, in dem die BewohnerInnen die Ereignisse des Alltags einordnen und daran mitwirken können. Wir sehen die BewohnerInnen der WG Schlatt als autonome Persönlichkeiten mit eigener Identität und gleichzeitig als untereinander und mit der WG Schlatt verbundene TeilnehmerInnen. Partizipation ist nicht ein Konzept, das zu einem bestimmten Zeitpunkt eingeführt werden kann und dann ab diesem Zeitpunkt von den BetreuerInnen ausgeführt wird. Denn die Handelnden sind nicht die BetreuerInnen, sondern die BewohnerInnen, die sich ins Geschehen der WG einschalten. Ein Team kann Partizipation zu einer Leitidee erklären und an Voraussetzungen arbeiten, dass die Bewohnenden die Fäden in die Hand nehmen, mehr nicht. Das nachfolgend beschriebene sog. Expertendilemma macht deutlich, weshalb Partizipation nicht direkt instruiert werden kann: BetreuerInnen engagieren sich, werden zu Experten der Partizipation, entwerfen zum Teil komplexe Modelle der Beteiligung. BewohnerInnen kommen zur Auffassung, dass Partizipation etwas Kompliziertes ist und dass sie die BetreuerInnen fragen müssen, wie das mit dem Partizipieren richtig geht. Sie greifen eher noch weniger als vorher von sich aus und nach eigenen Vorstellungen ins Geschehen ein. BetreuerInnen können versuchen, dieser Gefahr zu begegnen, indem sie sich in der Kunst des sich Zurücknehmens üben, indem sie beispielsweise darauf verzichten, zu wissen, was richtig und gut ist (eine Meinung sollen sie aber haben!). Partizipation wächst von innen heraus und in dem Masse, wie sich die BewohnerInnen als autonome, handlungsfähige Teile der WG erleben und in dem Masse, wie sie sich die Wohngemeinschaft als ihr Wirkungsfeld aneignen können, BetreuerInnen nicht mehr um Erlaubnis bitten, sondern selbst die Verantwortung übernehmen. 3.1 Partizipation, Voraussetzungen und Grundzüge Soll der Alltag, auf den sich das partizipative Handeln bezieht, der eigene Alltag der BewohnerInnen sein, müssen ihr Wahrnehmen, ihre Emotionen, ihre Auffassungen, ihre Bedürfnisse und Wünsche, ihre Phantasien, ihre Pläne, ihr Handeln als ihre höchstpersönliche Angelegenheit gesehen werden. Für den Aufbau von Partizipation ist das Voraussetzung. Im Partizipieren einer Person können drei wesentliche Elemente festgehalten werden: Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 7 von 10 die Bezugnahme auf die eigene Person Wahrnehmung von Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen, Vorstellungen, von der eigenen gegenwärtigen Situation. Wer bin ich, was will ich, wie geht es mir etc. ? Wesentlich für die Bezugnahme auf die eigene Person sind die emotionale Sicherheit und die Anerkennung als eigene Person in der WG. Wer sicher ist vor Abwertungen, Verhören, Demütigungen, Korrekturen, kann sich leichter wahrnehmen, mitteilen, beteiligen. Bezugnahme auf die WG was geschieht gerade in der WG, was gibt es zu tun, was machen die anderen...? Nur wenn Teilnehmende sich informieren, in der WG orientieren, diese wahrnehmen können, können sie sich tatsächlich in die WG einbringen. Wichtig ist auch Transparenz. Sie ermöglicht es, Ereignisse vorauszusehen, die nicht zu beeinflussen sind. Dadurch sind sie besser zu bewältigen. Wichtig für die Teilnahme im Alltag ist auch, dass die BewohnerInnen darauf Zugriff haben, was im Alltag wichtig ist: Kleidung, Nahrung, Pflegemittel, Küchengeräte, Arbeitsgeräte. Für die BewohnerInnen muss die offene Haltung der BetreuerInnen erkennbar und spürbar sein. Die Instrumente zur Partizipation (z.B. Haussitzung) sind transparent und für alle zugänglich. Dies ist die Voraussetzung, dass die BewohnerInnen eigene Wünsche und Vorschläge einbringen und in die Gestaltung der WG und des Alltags verändernd eingreifen. das Hervortreten, das Wagnis Jedes Handeln aus der eigenen Person heraus braucht Mut, denn niemand sagt im Voraus ob eine Handlung richtig oder falsch ist und auch im Nachhinein nicht. Die Verantwortung selbst zu tragen, braucht Kraft. Deshalb ist die emotionelle Sicherheit wichtig, daneben auch die Sicherheit, dass die aktive Teilnahme mit Freude begrüsst wird. Das schliesst auch das Recht ein, Fehler zu machen. 3.2 Beispiele „Holst Du die Fleischvögel?“ Es war Mittwoch, ein Betreuer aus dem Team wollte gerade losfahren, um Frau U. zu ihrer Arbeitsstelle zu begleiten. Herr S., der gemäss Verabredung im Dorf Fleischvögel einkaufen sollte, sprach den Betreuer an: Wenn Du nach Trogen fährst, dann kommst Du ja grade bei der Metzgerei vorbei. Kannst nicht du die Fleischvögel mitbringen, dann habe ich mehr Zeit für andere Arbeiten. Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 8 von 10 Kuchen mitbringen Frau G. findet es schön, wenn in der Nachmittagspause etwas Leckeres zum Essen da ist. Schon mehrmals brachte sie aus dem Wochenende Kuchen mit für die gemeinsame Pause. Advent Herr S. entwickelt viel Initiative dabei, im Advent das Haus zu schmücken. Dabei geht er von eigenen Vorstellungen aus, achtet aber auch darauf, was in der WG als angemessen betrachtet wird. Drucker Herr S. brachte folgenden Vorschlag: ich habe einen eigenen Drucker, aber keinen Computer und im Flur steht ein Computer ohne Drucker. Ich könnte der WG den Drucker verkaufen, dann können alle drucken und ich kann ja auch weiterhin den Drucker benützen. In allen Beispielen sind in unterschiedlich starker Ausprägung die drei Elemente: Bezugnahme auf die eigene Person, Bezugnahme auf die WG, Hervortreten zu entdecken. 3.3 Tätigkeiten der BetreuerInnen In einer WG mit Partizipation werden in erster Linie die BewohnerInnen als die Handelnden gesehen. Die Funktion der BetreuerInnen lässt sich mit dem Begriff der Assistenz umschreiben: sie leisten Hilfestellungen, damit die BewohnerInnen in Aktion treten können und sichern den Rahmen. BetreuerInnen unterstützen die BewohnerInnen auch in ihren Wahrnehmungen, Emotionen, Auffassungen, Bedürfnissen, Wünschen, Phantasien, Plänen. Wertschätzung, Interesse für die Personen Diese Haltung unterstützt die BewohnerInnen in ihrer Selbstachtung. Wer sich achtet, kann sich besser wahrnehmen, zu sich stehen und für die eigenen Interessen, Bedürfnisse etc. eintreten. Unterstützung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Person Dazu gehören aktuelle und zurückliegende Erlebnisse, Gefühle etc. Häufig sind wir als ZuhörerInnen wichtig, wenn jemand daran ist, sich der eigenen Person zu versichern. Interesse für subjektive Deutungen, wie jemand etwas sieht Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 9 von 10 Handlungen, die Sinn machen, beziehen sich auf die Welt, wie man sie selbst versteht. BewohnerInnen neigen dazu, Deutungen von BetreuerInnen zu ihren eigenen zu machen, deshalb haben wir uns mit Deutungen, Erklärungen etc. eher zurückhalten sollten. Eher haben BetreuerInnen Assistenz zu leisten, wenn jemand sich daran macht, sich selbst oder die Umwelt zu verstehen. Wünsche, Träume erfragen, Phantasie zulassen Wünsche, Vorstellungen etc. zeigen sich häufig auch in spielerischen Zusammenhängen, in lockerer Unterhaltung. Tätigkeit der BetreuerInnen: Aufhorchen! auf die Erfüllung von grundlegenden Bedürfnisse achten Wichtig zu beachten ist das Grundbedürfnis nach Sicherheit. Wer sich bedroht oder in Frage gestellt fühlt, hat sich vor allem damit auseinander zu setzen und kann nicht teilnehmen. Vorschlag: immer wieder den Punkt abchecken: Fühlt sich jemand bedroht? Ähnlich ist es mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Privatsphäre respektieren und gegebenenfalls schützen Das ist ein wichtiger Teil der Anerkennung als eigene Person und berührt das Thema der Sicherheit. Zu überprüfen ist: habe ich mich wirklich in eine persönliche Angelegenheit einzuschalten. Auch auf das gegenseitige Einmischen in persönliche Angelegenheiten ist zu achten. Wer sich abgrenzen kann, kann sich einschalten. Beobachtung der BewohnerInnen hinsichtlich dem sich Einschalten Verschiedenes kann beobachtet werden: Ist jemand in der WG eigenständig, abgegrenzt? Hat resp. zeigt jemand Wünsche, Anliegen, Ansprüche resp. Frustrationen? Ist eine Fixierung auf BetreuerInnen zu beobachten, die das eigenständige Handeln stört? Liegt partizipatives Handeln bereits vor? Fragen um die Meinung oder wie würdest Du das tun? BetreuerInnen sind aufmerksam dafür, dass die BewohnerInnen ihren Alltag mit ihren eigenen Gedanken und Vorstellungen machen. Immer wieder danach fragen - und sich zurücknehmen. Ermutigung Partizipationskonzept Februar 2011 WG Schlatt, Verein Chupferhammer Seite 10 von 10 Dazu gehört das ausdrückliche Begrüssen des Handelns und als Haltung die Neugier, die Vorfreude auf die Handlung. Information, Transparenz, Orientierung Nicht alles, was in der WG passiert, erklärt sich allen von selbst. Es ist dafür zu sorgen, dass Pläne, Schaubilder etc. zur Verfügung stehen, die es allen ermöglichen, sich die WG zu erschliessen. Die Transparenz der WG ist dauernd zu überprüfen resp. weiter zu entwickeln. Zugänge im Haus Wer wörtlich und im übertragenen Sinn immer vor verschlossenen Türen steht, kann sich nicht als handelnde Person im eigenen Haus erleben. Zugänge resp. Schranken sind ständig zu überprüfen. Angelegenheiten, die unsere Genehmigung erfordern, entsprechen bewachten Schranken. Handlungsfelder, Spielräume erkennen Fast jederzeit können sich Begleitende die Frage stellen: Gibt es genau jetzt für die BewohnerInnen etwas zu entscheiden, Freiräume für die eigenständige Gestaltung des Alltags? Partizipation als Schlatter Lebensform... Durch unsere Begleitung im Alltag und durch unsere ausdrückliche Aussage wird klar gemacht, dass es begrüsst und gewünscht wird, dass BewohnerInnen sich einschalten, mitmischen. Überprüfung des eigenen Wirkens BetreuerInnen überprüfen sich, ob sie die Handlungs- und Entscheidungsräume offen halten, ob sie den BewohnerInnen die Möglichkeit lassen für eigene Deutungen und Urteile, ob es noch mehr Möglichkeiten gibt, sich zurückzunehmen. Austausch im Team dient der Weiterentwicklung Partizipationskonzept Februar 2011